Hier enthalten sind alle Autoren der seit 1949 erschienenen Hefte.
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Bâ, Marima
- 5/1983 | Der scharlachrote Gesang
Ba, Oumar
- 2/1967 | Mein Afrika
Babel, Isaak
- 5-6/1962 | Das Ende des Armenhauses. Aus den Odessaer Geschichten
- 5/1964 | Von der Arbeit des Schriftstellers
Bächler, Wolfgang
Bachmann, Ingeborg
- 6/2022 | »Ich muss mich drum auch hüten, mir Hoffnungen auf Arbeit zu machen«. Briefwechsel mit Theodor W. Adorno
Bachtin, Michail
Baczynski, Krzysztof Kamil
- 5/1989 | Gedichte
Badia, Gilbert
- 6/1976 | Pariser Gespräch mit Claude Prévost, Jean Tailleur, Jean Guégan, Jaqueline Verger, Claude Seibisch, André Gisselbrecht, Michèle Tailleur und Jean-Paul Barbe über die Prosa der DDR
Baermann Steiner, Franz
- 3/1950 | Gedichte
Bagrizkij, Eduard
- 6/1950 | Till Ulenspiegel
Bagrjana, Elisaweta
- 3/1972 | Erkenntnis
Bahadur Singh, Shamsher
- 4/1969 | Die Sache wird sprechen
Bahro, Rudolf
- 6/1963 | Auf einen Helden, den ich liebe
Baier, Lothar
- 3/1991 | Exil und Tod in Martinique
- 6/1996 | Verschwinden in flackernder Beleuchtung. Über Marguerite Duras
Baierl, Helmut
- 2/1966 | Mysterium Buffo. Variante für Deutschland
- Sonderheft Probleme der Dramatik/1966 | Gesichtspunkte. Über die Arbeit von Manfred Wekwerth
- Sonderheft Probleme der Dramatik/1966 | Johanna von Döbeln. Szenen 3-7
- Sonderheft Probleme der Dramatik/1966 | Wie ist die heutige Wirklichkeit auf dem Theater darstellbar
- 6/1970 | Der kleine Soldat. Nach Motiven des Erinnerungsbuches »Unterwegs zu Lenin« von Alfred Kurella
- 1/1971 | Il Tricheco
- 6/1971 | Wie ich zur Literatur kam
- 5/1972 | Horst Salomon
- 4/1973 | Es geht um die Erde ein rotes Band
- 3/1976 | Der Sommerbürger
- 5/1979 | Rückspiele
- 1/1982 | Meine drei Brigaden
Baissette, Gaston
- 5/1949 | Die große Verbindungsstraße
- 6/1950 | Das Fieber
- 1/1954 | Paul Eluard
- 6/1955 | Die Dichter und die Kosmogonien
- 5-6/1960 | Die Trauben meines Weinbergs
Bakin, Dmitri
- 6/2017 | Bleiben: verwehrt
Baklanow, Grigori
- 6/1982 | Babitschew
Bakowski, Peter
- 5/2023 | Bildnis eines Schlaflosen. Gedichte
Balaschow, Pjotr
- 3/1969 | Ein Künstler der neuen Horizonte
Balaschowa, Tamara
Baldauf, Helmut
- 5/1981 | Gespräch mit Reinhard Lettau
Balden, Theo
- 5/1984 | Notate
Baldwin, James
Ballard, James G.
- 2/1994 | Kriegsfieber
Bambote, Makombo
- 2/1967 | Youlou
Bán, Zsófia
- 3/2017 | Der Turulvogel und der Dinosaurier. Fabulamento
Banerji, Chris
- 5/1996 | Pater Noster
Banulescu, Stefan
- 1/1974 | Gaudeamus
Barataschwili, Nikolos
- 6/1970 | Gedichte
Barbe, Jean-Paul
- 6/1976 | Pariser Gespräch mit Claude Prévost, Jean Tailleur, Jean Guégan, Jaqueline Verger, André Gisselbrecht, Gilbert Badia, Claude Seibisch und Michèle Tailleur über die Prosa der DDR
Barber, Fritz Martin
- 5/1974 | Diskussion - Die neuen Leider der jungen Lyrik
Barboza, David
- 1/1996 | Gespräch mit David Riesman
Barbu, Eugen
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Serenus Zeitblom
Barenboim, Daniel
- 5/2002 | Gespräch mit Edward Said
Barlach, Ernst
- 5/1950 | Der Graf von Ratzeburg. Drama aus dem Nachlaß
- 1/1951 | Aufzeichnungen aus einem Taschenbuche von 1906
- 1/1989 | Ehrlichgemeinte eigene Überzeugung
Barlay, Lászlo
- 3/1972 | Wissenssoziologie als Kulturgeschichte?
Barnes, Julian
- 1/2008 | Ein Inspektor kommt
- 1/2010 | In Rom weilend... Arthur Hugh Clough und die ewige Stadt
- 6/2011 | Dachskrallen. Jules Renards »Natur-Geschichten«
- 5/2012 | »Gegen Herzeleid gibt es kein Heilmittel.« Joan Didion, Joyce Carol Oates und das Trauern
- 1/2014 | Hinter der Glaslaterne. Félix Fénéon, der Unsichtbare
- 6/2015 | »Was der Tod alles mit sich bringt.« Gespräch mit Vanessa Guignery und Ryan Roberts
- 6/2015 | Wo Sibelius verstummte
- 2/2020 | Das nötige Talent. Berthe Morisot
- 6/2020 | Robespierres Nachttopf. Huysmans als Kunstkritiker
- 6/2023 | Kann ein Kaninchen mit einer Katze reden? Der Photograph und Filmer Jacques Lartigue
Barnet, Miguel
Barth, Helmut
- 4/1979 | Meinungen zu Claus Träger, »Revolution und Literatur bei Marx«
Barthes, Roland
Bartis, Attila
- 2/2019 | Bläulicher Dunst. Erzählungen
Bartók jun., Béla
- 1/1983 | Erinnerungen an meinen Vater
Bartsch, Kurt
- 1/1963 | Junge Lyrik der deutschen demokratischen Republik
Bartsch, Wilhelm
- 2/1987 | Religiosität des Realismus
- 4/1992 | Gedichte
- 5/2006 | Novalis-Gedichte
- 4/2007 | Uckermärkische Gedichte
- 4/2008 | Östliches Gelände
- 5/2008 | Gedichte
- 1/2020 | Schuscha, die Raubmordstätte. Mit Ossip Mandelstam in Bergkarabach
- 4/2022 | Die Zukunft geht am Stock. Gedichte
Bärwinkel, Roland
- 6/2008 | Mein See
Bashan, Mykola
- 2/1977 | Nachtgedanken eines alten Meisters
Bašić, Adisa
- 5/2019 | Das Haareschneiden
Basistow, Juri
- 3/1971 | Literatur im Lande des Himalaja
Basse, Michael
- 3/2006 | Geisterbegegnung. Cavaleanti und / oder Ezra Pound
Batt, Kurt
- 4/1964 | Jeremias Gotthelfs Erzählungen
- 1/1966 | Gespräch mit Joachim Seyppel
- 3/1966 | Zwischen Idylle und Metropole. Sozialtyp und Erzählform in westdeutschen Romanen.
- 3/1967 | Fritz Reuters »Ut mine Stromtid«
- 4/1969 | Variationen über Unmittelbarkeit. Zur ästhetischen Position der Anna Seghers
- 6/1969 | Muzes Flöte und Liebknechts Reden. Robert Wolfgang Schnell als Erzähler
- 5/1970 | Schwedische Odyssee
- 6/1971 | Barlachs Briefe
- 6/1972 | Die Exekution des Erzählers
- 2/1973 | Die Exekution des Erzählers (II)
- 6/1973 | Lob der Phantasie
- 3/1974 | Leben im Zitat
- 4/1974 | Geschichten kontra Geschichte
Bauer, Christopher
- 6/1980 | Hier arbeite ich
Bauman, Zygmunt
- 4/1992 | Die Außerordentlichkeit des Genozids
- 4/2011 | Leben und Konsum. Gespräch mit Jochen Rack, S. 590 Leseprobe
Bauman, Zygmunt
Leben und Konsum. Gespräch mit Jochen Rack
JOCHEN RACK: Sie haben sich in zwei kürzlich erschienenen Büchern mit der konsumistischen Gesellschaft auseinandergesetzt. Konsum als Königsweg zum Glück, sagen Sie, ist eine Illusion, die von der heutigen Zeit gefördert wird. Wie begründen Sie das?
ZYGMUNT BAUMAN: Zunächst muß ich sagen, daß ich mich weniger für den Konsum als für den Konsumismus, weniger für die Konsumgesellschaft als für die Gesellschaft der Konsumenten interessiere. Konsum als solcher ist ein banaler Aspekt des Lebens. Als menschliche Wesen sind wir aufgrund unserer Natur zwangsläufig Konsumenten: Wir müssen uns auf den Metabolismus der äußeren Welt einlassen. Das galt schon immer. Das Neue und Besorgniserregende heute ist die Expansion des Konsumismus, all jener Verhaltensweisen also, die im Prozeß des Konsumierens entstehen und sich inzwischen über die ganze Gesellschaft ausbreiten. Mich interessieren die Folgen dieser Kolonisation. Vor hundert Jahren begriff man die Menschen vor allem als Produzenten. Die Position, die der einzelne im Arbeitsleben einnahm, bestimmte seinen Ort in der Gesellschaft. Sie definierte auch die Beziehungen der Menschen untereinander. Heute wird all das durch den Konsum definiert. Wenn es früher eine ökonomische Krise gab, versuchte man sie zu lösen, indem man an der Produktion etwas änderte, heute hört man von den Regierungen, nur steigender Konsum könne uns aus der Krise führen. Unsere staatsbürgerlichen Pflichten bestehen darin, in die Geschäfte zu gehen, Geld auszugeben und die Wirtschaft am Laufen zu halten.
RACK: Konsum als die erste Bürgerpflicht?
BAUMAN: Ja.
RACK: Die Pointe Ihrer Argumentation aber ist, daß die konsumistische Struktur unserer Gesellschaft auf die Menschen selbst zurückschlägt: Sie modellieren sich nach der Form von Waren.
BAUMAN: Die Macht der Machtlosen in der konsumistischen Gesellschaft ist der Konsum. Menschen sind nicht von vornherein und in allem determiniert, sie haben die Möglichkeit, sich selbst zu erschaffen, sich selbst zu definieren. Diese Macht realisieren sie, indem sie sich ins Marktgeschehen einmischen, indem sie einkaufen und konsumieren und dadurch eine bestimmte gesellschaftliche Position einnehmen. Aber es geht beim Konsum – wie man naiverweise vielleicht annehmen könnte – nicht um den Besitz von Dingen. Die konsumistischen Verhaltensmuster beruhen nicht auf dem Wunsch, immer mehr zu besitzen, sondern auf der Sehnsucht nach dem schnellen und stetigen Wechsel. Die Verlockungen des konsumistischen Lebensstils entspringen dem beschleunigten Veralten der Dinge, also man muß sie umgehend wieder loswerden. Deshalb werden enorme Mengen von Abfall produziert. Nur das Neue wird geschätzt. Wir mögen hervorragende Telefone oder Computer haben, die noch jahrelang funktionieren würden, aber wir schmeißen sie weg, nur weil es modernere gibt, wir schmeißen sie weg, als würden wir uns ihrer schämen. Das ist es, was Günter Anders prometheische Scham nannte: die Scham vor der ›beschämend‹ hohen Qualität der selbstgemachten Dinge. Und um den Makel, der das für uns bedeutet, loszuwerden, erwerben wir sie.
RACK: Aber diese Scham richtet sich letztlich gegen uns. Denn wir behandeln uns und die anderen nun wie Waren, die wir benutzen und wegwerfen können.
BAUMAN: Wer zum Beispiel ein technisch überholtes Handy hat, schämt sich, weil er von seinen Freunden ausgelacht wird. Die Reklame für eine Armbanduhr lautet: »Es ist Ihre Uhr, die alles darüber sagt, was Sie sind.« Das heißt, man drückt seine Identität, sein Selbst, seine Qualität oder Position dadurch aus, daß man seine Uhr zeigt. Ein großer Autohersteller wirbt mit dem Slogan: »Sie kaufen nicht ein Auto, sondern ein Stück von sich selbst.« Früher sah man im Konsum ein Mittel, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Hatte man sie befriedigt, war man für den Markt verloren. Ende des neunzehnten Jahrhunderts fand man andere Methoden, um Käufer anzulocken. Man weckte in ihnen die Sehnsucht nach neuen, attraktiven Dingen. Man versprach ihnen angenehme Überraschungen. Man stimulierte Bedürfnisse nach Gütern, die es noch nicht gab. Einen Schritt weiter gehen die heutigen Shopping-Malls. Sie werden mit dem Ziel gebaut, potentielle Käufer durch Schönheit, Wohlgeruch, einschmeichelnde Musik usw. zum Kaufen zu animieren. Einem, der in eine Mall geht, um ein Pfund Zucker zu kaufen, begegnen auf dem Weg zum Lebensmittelstand so viele neue, anziehende Dinge, daß er sich wie aus einer Laune heraus und gänzlich unbeabsichtigt noch mit ganz anderen Sachen eindeckt. Von diesen Neuheiten erwartet man gar nicht, daß man sie braucht, man ist nur beeindruckt von den in ihnen steckenden Möglichkeiten und freut sich daran.
RACK: Sie beziehen sich wiederholt auf Siegfried Kracauers berühmte Schrift »Die Angestellten«, worin der Autor bereits in den zwanziger Jahren derartige Phänomene beschrieb. Was wäre das Neue an unserer Situation?
BAUMAN: Kracauer war einer der wenigen Sozialwissenschaftler, die prophetische Gaben besaßen. Als die ganze Entwicklung gerade erst begann, sah er schon voraus: Wir alle müßten uns demnächst in gut verkäufliche Waren verwandeln. Kracauer sah die Anfänge, heute ist es fast schon trivial, darauf hinzuweisen, denn das alles ist längst alltäglich geworden. Heute sind wir mit radikal neuen Möglichkeiten konfrontiert, aber die Sehnsucht ist immer dieselbe: uns attraktiver für den Arbeitsmarkt, auch den Beziehungsmarkt zu machen. Und wir wissen, daß wir uns diese Sehnsucht nur erfüllen können, indem wir uns mit den neuesten Produkten ausstaffieren.
RACK: Als Gegenthese könnte man sagen: Die Möglichkeit, sich in veränderter Weise in der sozialen Welt zu präsentieren, auch ästhetisch zu repräsentieren, ist auch eine Form von Freiheit. Die liberale Deutung des Phänomens firmiert unter dem Begriff des Self-Fashioning. Man lobt die erweiterten Ausdrucksmöglichkeiten des postmodernen Menschen. Es ließe sich auch an eine These von Nietzsche anknüpfen, der »das Dasein nur als ästhetisches Phänomen« gerechtfertigt sah. Deshalb die Frage: Ist es konformistischer Druck, der auf dem einzelnen lastet, oder eröffnet sich ihm hier ein neuer, unerwarteter Freiheitsspielraum?
BAUMAN: Sie weisen auf einen gewichtigen dialektischen Widerspruch hin: Unsere Freiheit wird definiert durch die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Produkten zu wählen. Wir haben die Wahl, aber indem wir sie ausüben, vertiefen wir unsere Abhängigkeit vom Markt. Man kann nicht eindeutig sagen, ob es Freiheit ist oder Sklaverei. Ich meine: es ist Sklaverei durch Freiheit, und Freiheit durch Sklaverei. Das eine ist nicht ohne das andere zu denken. Es ist wie in manchen Ehen: der eine kann nicht ohne den andern leben, und doch liegt man ständig miteinander im Streit. Dieselbe Spannung, derselbe Konflikt zwischen Freiheit und Abhängigkeit existiert auch in der Gesellschaft der Konsumenten: er erneuert sich von Tag zu Tag. Neue Produkte, für die es kein Bedürfnis gab, ehe sie auf den Markt kamen, werden haufenweise angeboten. Das Problem der Verkäufer ist es, für entsprechende Nachfrage zu sorgen. Etwa nach dem Motto: Ich habe eine Antwort, aber was ist die Frage? Was soll man den Leuten versprechen, damit sie es kaufen? Das ist ein Unternehmen voller Risiken, und es geht nur über Trial and Error. Darum ist die konsumistische Gesellschaft eine Wegwerfgesellschaft. George Bernard Shaw, ein begeisterter Amateur-Fotograf, sagte einmal: Ein Fotograf ist wie ein Kabeljau, er muß tausend Eier legen, damit ein Nachkomme bleibt. Um ein perfektes Foto zu schießen, muß man tausend Aufnahmen machen und 999 davon wegwerfen. Um einen Song erfolgreich am Markt zu plazieren, müssen Hunderte von ihnen produziert werden. Aber nur einer davon wird die Imagination fesseln, die anderen werden verschwinden, ohne je Profit abzuwerfen.
RACK: Wie ist es überhaupt möglich, zwischen wahren und falschen, zwischen echten und eingebildeten Bedürfnissen zu unterscheiden? Läge in einer Antwort darauf nicht das normative Fundament für eine kritische Theorie der Konsumgesellschaft?
BAUMAN: Ich würde gern eine Antwort geben, aber ich habe keine. Die Konsumgesellschaft hat enorme Fähigkeiten, jede Kritik an ihr zu absorbieren. Ein gutes Beispiel dafür sind die ökologischen Produkte. Sie wurden zu einem profitablen Geschäft. Nehmen wir den Kaffee, der aus dem sogenannten Fair Trade kommt. Er ist teurer als der herkömmliche, aber man weiß nicht genau, wer eigentlich den Gewinn einstreicht, ob es der Produzent in Afrika oder Lateinamerika ist oder doch nur irgendeines der etablierten Handelsunternehmen. Das ist ein Mechanismus, der überall in der konsumistischen Ökonomie anzutreffen ist. Widersetzt man sich der einen Form von Praxis, bereitet man einer anderen den Boden. Es ist ein Teufelskreis, und ich weiß nicht, wie man aus ihm herauskommt.
RACK: Wenn ich richtig verstehe, sagen Sie: Der liberale Markt sei auf eine bestimmte Art und Weise totalitär?
BAUMAN: Sie erinnern sich, daß Jürgen Habermas in seinen »Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus«, einem Buch, das großen Eindruck auf mich machte, behauptet hat, der zeitgenössische Staat habe die Funktion, für die Reproduktion der kapitalistischen Ökonomie zu sorgen. In der Gesellschaft der Produzenten braucht die Wirtschaft ein Zusammenkommen von Unternehmern und Arbeitern – und dementsprechend sorgt der Staat, sollte es nötig sein, finanziell für die Aufrechterhaltung ihrer Beziehungen. Habermas lenkte schon damals unsere Aufmerksamkeit auf den Übergang von der produktions- zur konsumtionsorientierten Ökonomie. Wie die Produktionsökonomie auf dem Zusammenkommen von Arbeitern und Kapitalisten beruhte, so beruht die konsumistische Ökonomie auf dem Zusammenkommen von Käufern und Verkäufern. Dieses Zusammenkommen wirtschafts- und finanzpolitisch zu sichern gehört zur Funktion des modernen Staates. Das zeigte sich auch in der jüngsten Finanzkrise, die ja im Kern eine Kreditkrise war. Wie hat der Staat reagiert? Er hat Milliarden von Dollar und Euro in die Banken gepumpt, damit sie weiterhin Kredite vergeben können. Das ist die Logik unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Es gab einen Konsens aller Politiker, nicht nur in England oder den USA, auch im Rest Europas, daß der Staat intervenieren muß, um die Sache wieder ins Lot zu bringen. Ohne Einspringen des Staates keine Rückkehr zur Normalität. Und Normalität heißt, den Menschen zu ermöglichen, sich Geld zu leihen, damit sie es ausgeben können und so die konsumistische Gesellschaft am Laufen halten. Eben das ist die Logik, die zur Krise führte. Wir haben nicht nur keinen Ausweg aus ihr gefunden, wir haben lediglich die Voraussetzungen wiederhergestellt, damit sie neuerlich ausbrechen kann.
[...]
SINN UND FORM 4/2011, S. 532-543
Baumbach, Gerda
- 3/2007 | Gespräch mit Peter Hacks, Gottfried Fischbach und Rolf Rohmer (1974)
Baumert, Walter
- 1/1986 | Das Ermittlungsverfahren
Baumgart, Reinhard
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Beim Wiederlesen Thomas Manns
Baumgärtner, Klaus
- 3/1960 | Interpretation und Analyse. Brechts Gedicht »Die Literatur wird durchforscht werden«
Bayer, József
- 4/1995 | Gespräch mit Ralf Dahrendorf
Baykurt, Fakir
- 3-4/1965 | Viel Allah, wenig Recht
Bazin, Hervé
- 2/1981 | Feuer, das Feuer verzehrt
Bazinger, Irene
- 5/1991 | Gezeitenwechsel. Ruth Berghaus' Inszenierung von Debussys »Pelléas et Mélisande«
- 1/1992 | Volkswagner. Eine Geschichte von Mut und Anpassung, Widerstand und Feigheit
Becher, Johannes R.
- 6/1949 | Gedichte
- 4/1950 | Neue Dichtungen
- 2/1951 | Aus dem Tagebuch 1950
- 5/1951 | Das Altersgedicht
- Sonderheft Johannes R. Becher/1951 | Sterne unendliches Glühen. Die Sowjetunion in meinem Gedicht. 1917-1951 [Titelei und Inhaltsverzeichnis]
- Sonderheft Johannes R. Becher/1951 | Dank an die Freunde in der Sowjetunion
- Sonderheft Johannes R. Becher/1951 | Erster Teil [Gruß des deutschen Dichters an die Russische Föderative Sowjet-Republik (1917); Der an den Schlaf der Welt rührt - Lenin; Ein russischer Arbeiter; Die Herren der Werke; Der Revolution Iliade - Der Hungerjahre Odyssee; Am Grabe Lenins]
- Sonderheft Johannes R. Becher/1951 | Zweiter Teil [Der große Plan, Epos des sozialistischen Aufbaus (erschienen 1931)]
- Sonderheft Johannes R. Becher/1951 | Dritter Teil [Über den Eingang der UdSSR; Hier wird gelernt; Arbeiter fährt auf Urlaub; Hotel der neuen Welt; Schöner Tag in Moskau; Der Fruchtbaum; Fünfzackiger Stern; »Prüfe die Lage, Genosse, und sage -«; Unser Heldentum; Zusammenspiel; Es haben die Werke erfüllt den Plan; Die tanzende Kirche; Radio; Altes Haus in Moskau; Moskau; Sommer in Bolschewo; Die Freude; Gastmahl der Fünftausend; Der Zauberwald; Hoch über der Stadt; Letzter Schnee; Tauwetter; Frühlingsanfang; Erwachen am 1. Mai; Valentinowka; Kinderheime in Bikowo; Trinklied; Lied von der schönen Aussicht; Birken im Herbst]
- Sonderheft Johannes R. Becher/1951 | Fünfter Teil [Die Baumwollpflückerin; Pavillon; Tod des Kommissars; Majakowskij; Versunkenes U-Boot; Der Lesende; Tolstoi; Der Bittere / Maxim Gorki; Der Ziehharmonikaspieler; der Panzerriese; B. P.; Der tausendjährige Lenin; Lenin in München; Linin im Schwäbischen; Hirtenjunge bei Suchum; Auf einen Namen; Als der Frühling so kam;]
- Sonderheft Johannes R. Becher/1951 | Vierter Teil [Ich weiß von Siegen]
- Sonderheft Johannes R. Becher/1951 | Sechster Teil [Hymne auf einen Namen; Hymne auf ein Schiff; Hymne auf eine Stadt; Hymne an die Nachwelt]
- Sonderheft Johannes R. Becher/1951 | Siebenter Teil [Jalta]
- Sonderheft Johannes R. Becher/1951 | Achter Teil [Das Holzhaus]
- Sonderheft Johannes R. Becher/1951 | Neunter Teil [Als Stalin sprach; Das große Hoffen; Die heiligen Acht; Am Dnjepr; Rußland; Heiliger Wille; Wer Lenin war; Schlachtfeld um Stalingrad; Kühnheit; Die Schlacht am Birkenbaum; Moskau; Salut in Moskau]
- Sonderheft Johannes R. Becher/1951 | Zehnter Teil [Sterne unendliches Glühen; Hymne auf die UdSSR]
- 2/1952 | Dichtung
- 4/1952 | Verteidigung der Poesie
- Sonderheft Arnold Zweig/1952 | Mitglieder der Deutschen Akademie der Künste an ihren Präsidenten [Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Friedrich Wolf]
- 1/1953 | Der Weg nach Füssen. Schauspielin fünf Akten
- 2/1953 | Danksagung. Zum Tode J. W. Stalins
- 5/1953 | Tolstoi
- 6/1953 | Poetische Konfession
- 2/1954 | Programmerklärung des Ministeriums für Kultur der Deutschen Demokratischen Republik. Zur Verteidigung der Einheit der deutschen Kultur
- 5-6/1954 | Poetische Konfession. (Aus dem Zweiten Teil)
- 1/1955 | Lessingpreisträger 1955 Herbert Ihering. Rede des Ministers Dr. h. c. Johannes R. Becher anläßlich der erstmaligen Verleihung des Lessing-Preises am 22. Januar 1955
- 3/1955 | Gruß an Thomas Mann
- 3/1956 | Philosophie des Sonetts oder Kleine Sonettlehre. Ein Versuch
- 5-6/1956 | Gedichte
- 1-2-3/1957 | Maß und Würde gelehrt und vorgelebt. Aus der am 18. August 1956 gehaltenen Gedenkrede
- 6/1957 | Zwei Gedichte
- 5-6/1958 | Gedichte
- 2/1961 | Fragmente aus dem Nachlaß
- 5/1963 | Der Allernächste. Geschrieben 1940 in Moskau anläßlich des 70. Geburtstages von W. I. Lenin
- 1-2/1965 | Maß und Richtung
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Briefe an Willi Bredel
- 2/1966 | Johannes R. Becher, Heinrich Mann: Briefwechsel
- 5/1967 | Gruß des deutschen Dichters an die russische föderative Sowjet-Republik
- 2/1970 | Der an den Schlaf der Welt rührt. Lenin
- 5/1978 | Unser Bund
- 1/1981 | Becher und die Insel. Ein Briefwechsel
- 5/1984 | Briefe
- 3/1988 | Selbstzensur
- 2/1990 | Brief
- 2/1990 | Gedichte
- 1 1991 | An den Sowjetischen Schriftstellerverband
- 1/1991 | Zu einer Erklärung von Georg Lukács
- 1/1991 | Stenographisches Protokoll der Pressekonferenz des Ministers für Kultur Dr. J. R. Becher
- 4/1991 | Briefwechsel (mit Heinrich Mann)
- 6/2008 | Zwei Gedichte
Becher, Ulrich
- 6/1990 | Gespräch mit Josef-Hermann Sauter
Beck, Herta
- 6/2021 | Besuch bei Erich Fried, S. 848 Leseprobe
Beck, Herta
Besuch bei Erich Fried
»Wenn du schon nach London fährst, besuch Erich Fried. Gewinne ihn für unseren Beirat.« Mario gab mir die Adresse. 24, Dartmore Road.
Ich wollte in den Semesterferien nach London fahren und dort die Hausbesetzerszene kennenlernen. Wir hatten in Heidelberg mal eine Villa besetzt, die Frauengruppe, es sollte ein autonomes Frauenzentrum werden, statt Abriß. Ein Chaos, das nach wenigen Tagen mit der Räumung endete. Das ist nun fast ein halbes Jahrhundert her.
Fried gehörte zu einer Gruppe bekannter Linker, deren Namen man oft unter Resolutionen und Aufrufen las, wie Drewitz, Gollwitzer, Abendroth. Eine solche Gruppe sollte unser selbstverwaltetes revolutionäres Studentenwohnheim in Heidelberg nun vor der bevorstehenden Auflösung durch die Univerwaltung retten. Frieds Gedichte sprachen mich an, besonders die »Anweisungen zum Schlachten von Freunden«. Ich hatte aber nicht vor, bei ihm vorbeizugehen. Nur: Beim »Squatters Advisory Service« (es gab tatsächlich eine Beratungsstelle für Hausbesetzer in London) wußten sie nicht so recht etwas mit mir anzufangen. Ich irrte umher, mit Rucksack und Schlafsack.
Mit allem Mut, der mir zur Verfügung stand, fuhr ich in die Dartmore Road. Sie hieß aber Dartmouth, eine andere gab es im Straßenverzeichnis nicht. Und 22 statt 24. Aus der alten Villa (sie ist auf Fotos viel kleiner, als ich sie in Erinnerung habe) trat gerade eine alte Frau. Erich Frieds Mutter, aber das wußte ich noch nicht. Als sie weg war, klingelte ich – da stand tatsächlich »Fried« auf dem Klingelschild, und er erschien auch gleich in Person. Überzeugt, ich würde weggeschickt, spulte ich sehr viele Sätze in sehr kurzer Zeit ab. Bedrohtes linkes Projekt, Selbstverwaltung, Beirat, gerade in London. Er sagte einfach freundlich »Guten Tag«, nahm mir Rucksack und Parka ab. »Du brauchst sicher einen Schlafplatz. Meine Tochter ist übers Wochenende bei einer Freundin, solange kannst du ihr Zimmer haben. Möchtest du duschen?«
Frieds Arbeitszimmer: Wände aus Büchern, Mappen, Schachteln, heraushängenden Blättern, Ordnern, Bildern. In der Mitte ein Tisch von der Größe einer Tischtennisplatte. Papierstapel jeglicher Höhe, einzelne Blätter, noch mehr Ordner, Schachteln, Mappen, Bücher, eine Schreibmaschine, ein Telefon – beschämt dachte ich an die akribische Ordnung in meinem Heidelberger Zimmer. Vom Erker sah man in den Garten. Dem Beirat wollte Fried nicht beitreten, die Begründung habe ich vergessen.
Aber er erzählte. Über die Briten, eine Szene, die er nach seiner Ankunft in London 1938 beobachtet hatte: wie vor einem Kaufhaus Zeitungen verkauft wurden, rechts die der Kommunistischen Partei, links die der Faschisten. Da mußte der kommunistische Verkäufer pinkeln. Er fragte den faschistischen Kollegen, ob er solange seine Zeitungen mit verkaufen könne. Klar, machte er. Fried lachte. Die Episode gefiel ihm. Er sprach über die RAF: daß Ulrike Meinhof unmöglich Selbstmord begangen haben konnte, daß Rudi Dutschke ihr den bewaffneten Kampf ausgeredet hätte, wenn er wie sie der Meinung gewesen wäre, sie sei eine passendere Frau für ihn als Gretchen, und sie, so wie sie es sich vorgestellt hatte, ein Paar geworden wären.
Er sagte: »Man muß nicht denken, daß man ein besserer Mensch ist, wenn man links ist.« Meine Ehrfurcht für Fried geriet kurzzeitig ins Wanken – konnte das stimmen?
Ziemlich oft klingelte das Telefon. Fried sprach Wiener Englisch. Einmal drang Kindergeschrei durch die Tür, ein lauter Streit zwischen zwei Jungs, dann eine Frauenstimme. Er zögerte, ging dann raus, dirigierte die Jungs mit väterlicher Autorität, das Geschrei ebbte ab, er kam zurück. Kurz darauf schoß Catherine ins Zimmer, seine Frau, gut einen Kopf größer als er, sagte, jedes einzelne Wort betonend, auf englisch: wenn sie was mit den Jungs auszutragen habe – »Do not intervene«. Die Argumente flogen hin und her, sie rief: »Male chauvinist pig!« und knallte die Tür zu.
Ich durfte tatsächlich übers Wochenende bleiben, frühstückte mit der Familie. Auf dem Klo ein kleines Bücherregal, Bände auf deutsch, Gedichte, eine Bibel. Catherine blieb etwas reserviert, aber freundlich, man nahm nicht allzuviel Notiz von mir.
Zurück in Heidelberg erfuhr ich, daß ich beileibe nicht die einzige war, die Frieds einfach so bei sich aufgenommen hatten – allein in meinem Bekanntenkreis sagten binnen kurzem drei auf meinen stolzen Bericht hin: Ich war auch dort. Noch Jahre später hörte ich das gelegentlich. Nach der Lektüre von Catherine Frieds »Über kurz oder lang« wußte ich, was sie damals ertragen mußte: daß immerzu höfliche und unhöfliche, ordentliche und unordentliche, rücksichtsvolle und rücksichtslose deutsche Linke einzeln, in kleinen und in großen Gruppen vor der Tür standen, den Rucksack fallen ließen und Gastfreundschaft beanspruchten.
Bei der Lektüre von »Mitunter sogar Lachen« wurde mir dann klar, was ich schon hätte wissen können. Daß Fried ein Leben vor der Studentenbewegung gehabt hat. Daß er in der Emigration unzähligen Menschen geholfen hat, bei denen mehr auf dem Spiel stand als das Gelingen einer Ferienreise oder die Erhaltung eines selbstverwalteten Studentenwohnheims. Daß sein Vater von einem SS-Mann totgetreten und seine Großmutter in Auschwitz ermordet wurde. Daß Fried – auch das hatte er damals erzählt, als es um die Bedeutung von einzelnen für den Lauf der Dinge ging – 1938 um ein Haar verhaftet worden wäre: »Ich fragte den Polizisten: Muß das sein?« Der Polizist habe sich kurz besonnen, dann nein gesagt und ihn laufenlassen.
Mag Erich Fried über Linke und bessere Menschen gedacht haben, was er wollte: Er war ein besserer Mensch, das weiß ich genau.
SINN UND FORM 6/2021, S. 848-849
Becker, Claudia
- 6/1997 | »Lebenswelten« oder Handke liest Hofmannsthal
Becker, Jurek
- 5/1987 | Bronsteins Kinder
Becker, Jürgen
- 5/1994 | Vom Dichten nebenbei
- 1/1995 | Für einen Brief an meinen Sohn
- 3/1996 | Korrespondenzen mit Landschaft
- 4/1999 | Paradiesruinen
- 1/2000 | Renshi
- 6/2006 | Journalsätze. Aus der Geschichte der Augenblicke
- 6/2009 | Schillers unverwischbare Spur
- 6/2010 | Gespräch mit Renatus Deckert
- 2/2012 | Gedichte
- 4/2013 | Was wir noch wissen. Journal der Augenblicke und Erinnerungen, S. 406 Leseprobe
Becker, Jürgen
WAS WIR NOCH WISSEN Journal der Augenblicke und Erinnerungen
Die Zeit vergeht, und Jörn wird alt. Er sagt, daß er in diesen Jahren noch einen Roman schreibt, vielleicht auch zwei oder drei, und jeder Roman besteht aus einem einzigen Satz, vielleicht auch aus zweien oder dreien.
Jetzt sitzt er auf einem Stuhl einer Bank gegenüber, die leer ist. Steht er auf und wechselt auf die Bank, sitzt er einem Stuhl gegenüber, der leer ist.
Überm Kopf ein Rauschen, wie von Flügelschlägen eines Kranichschwarms, der sich von den Wiesen am Bodden erhoben hat.
Dann wieder unterwegs auf der Straße, die hinauf ins Hügelland führt, unterwegs durch Vororte, denen man noch ansieht, daß es früher Dörfer waren, um den Stadtrand sich herumziehende Siedlungen, zwischen denen flaches Land lag mit Wäldern, Feldstücken, Bachläufen, Mühlen, Gutshöfen, Herrensitzen, alle ein paar hundert Jahre alt. Vertraute Gegenden, trotz fortwährender Veränderungen, trotz aller Vernichtung von etwas, das nur in der Erinnerung noch vorkommt. Es hat angefangen zu schneien, aber der Schnee bleibt nicht liegen.
…
Jörn Winter kennt man aus früheren Erzählungen. Er ist eine Person, die der Verfasser mit seinen eigenen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Gewohnheiten versehen hat. Dennoch ist er kein Spiegelbild. In den Vorstellungen des Verfassers hat Jörn eine eigenständige Identität. Was er denkt und sagt, was er tut und wie er sich verhält, dafür hat der Verfasser keine Muster parat. Er korrespondiert mit Jörn, und wenn es mitunter so aussieht, als äußere sich Jörn im Sinne des Verfassers, dann weiß er im voraus doch nicht, was sein Korrespondent alles so mitzuteilen hat. Natürlich gibt es ein Netz von Spuren, aus denen Jörn nicht herauskommt, die biographischen Spuren des Verfassers. Jörn weiß das und richtet sich danach, indem er sich an die Möglichkeiten hält, die seiner Existenz, einer imaginären Existenz, gegeben sind.
…
Sätze, die dir bekannt vorkommen. Gib acht. Es könnten Zitate sein, die eigenen. Wenn es Wiederholungen sind, sind es absichtliche Wiederholungen, in der Annahme, daß etwas nicht angekommen oder begriffen worden ist, daß es nicht gewirkt hat, daß es um den Rest des Ungesagten geht.
Der Schnee bleibt nicht liegen, aber es schneit weiter und weiter, und irgendwann
bleibt er liegen.
…
Einen Film sehen, in dem man sich selber auf der Wiese am Rand des Wäldchens stehen sieht und hört, was man dem Mann hinter der Kamera sagt. Jörn weiß, wie der Film zustande gekommen ist, wie er darin mitgewirkt hat als Darsteller eines Verfassers, den der Film porträtiert. Als Rezensent würde Jörn über den Film rein Professionelles sagen, und er käme dabei gut weg. Als Beteiligter wundert er sich, daß er in diese Rolle überhaupt hineingeraten ist. Er sagt, mir ist alle Öffentlichkeit so fremd geworden, daß ich darin gar nicht mehr auftreten möchte, und nun mache ich doch mit wie ein altes Zirkuspferd, das gleich angetänzelt kommt, sobald die Manege ruft. Daß er so oft im Widerspruch mit sich selbst lebt, ist für Jörn nicht neu, aber eine Konsequenz ist ihm bislang nicht eingefallen. Jörn sagt auch, daß er Leute, die stets und eindeutig auf Spur bleiben, ebenso bewundert, wie er ihnen mißtraut, wenn er sie nicht gar fürchtet.
…
Gestern abend hat ein Schulfreund angerufen. Er schlägt ein Wiedersehen vor, vielleicht mit ein paar anderen aus der Klasse. Aber nicht unten in der Stadt, wo sie alle hingezogen sind, sondern oben hinter den Hügeln, zwischen den Dörfern, wo die Schule war.
Ein paar Jahre nach dem Krieg, als ich in die Klasse kam, bald nach der Thüringer Zeit. Ein großer Haufen Bauernjungens, die in der Frühe alle noch im Stall gestanden hatten. Neue Klamotten gab es noch keine, und so saßen alle in ihren alten Jungvolkuniformen da, braune Hemden, schwarze Blousons, Überfallhosen; einer, der Älteste, hatte Reitstiefel an.
Abgebrochene Stuhlbeine, zerkratzte Tische, zerbrochene Spiegel, eingedrückte Schranktüren. Viele der Möbel hatten die Flucht nicht gut überstanden.
Lastwagen, Fuhrwerke, Güterwaggons. Zuletzt, beim Ausladen im Fabrikhof des Onkels, ging Mutters Barocktisch aus dem Leim.
Wochentags Rübenkraut, sonntags Apfelkraut.
Die Mädchen in der Klasse hatten Zöpfe. Einige drehten sie zu Schnecken oder zu einem Haarkranz.
In der Schlafkammer zwei Betten und vier Kinder.
Spät, wenn wir uns was zu erzählen hatten, schüttete die Tante noch einmal eine Kanne Kaffee auf.
Einer aus der Verwandtschaft kam aus englischer Kriegsgefangenschaft heim. Seine Haut war gelb, er hatte im Afrikakorps gekämpft. Um das Abitur nachzumachen, ging er noch mal in unsere Schule mit. Als er später von der Brücke sprang, hieß es, komisch war er schon immer, der Fritz, und jetzt, eine Art von Wüstentrauma vielleicht.
…
Wenn hier einer ich sagt, sagt Jörn, dann bin ich es.
…
Die Rückenschmerzen. Im Sommer hatte es wieder angefangen. Kaltes Meer, harter Sand; es wurde schlimmer. Nach der Operation die Wochen in der Klinik, schön gelegen zwischen Bodden und Meer. Herbststürme, Spazierwege. Die Stellen am Strand, wo wir im Sommer gelegen hatten, von der Brandung überrollt. Möwen, ohne die Flügel zu bewegen, lassen sich treiben vom Wind. Einzelne Kormorane flattern aufs Meer hinaus.
Berliner Flaksoldaten. Das wäre ein Zitat, oder eher eine Anspielung, die nicht aus dem eigenen Repertoire kommt. Wo Jörn sie hergenommen hat … er sagt, wer will, kann ja im Internet danach suchen. Das Entstehen, der Verlauf von Assoziationen folgt Signalen, die man so bewußt nicht wahrnimmt. Sicher ist, daß unterhalb des Hohen Ufers im Strandgeröll zwei Betonkolosse liegen, Reste von Geschützbunkern, die zu den Stellungen der Küstenbatterie gehörten; Ende der dreißiger Jahre sind sie auf dem Kliff angelegt worden. Jörn, als er mit Lene Anfang der neunziger Jahre zum ersten Mal aufs Fischland kam, entdeckte die von der Dünung umspülten Relikte bei seinen Erkundungen einer Gegend, die ihn Jahr für Jahr aufs neue anzieht und beschäftigt. Sicher ist auch, daß in den alten Fischerdörfern viele Berliner ein Zuhause haben, für immer, für die Ferien, fürs Wochenende. Jörn seufzt ein bißchen, wenn er sagt, lebten wir in Berlin, zum Wochenende kämen wir auch hierher. Wie alle die Freunde, die er in Käthe Miethes Haus besucht, mit denen er sich im Dünenhaus, im Baltischen Hof, bei Saatmann oder oben in der Buhne 12 trifft. Manchmal findet er in Lenes Collagen Motive aus der Gegend wieder, und einmal ist zu einem dieser Bilder ein Text entstanden mit Wörtern, die aus dem Tagebuch von Felix Hartlaub stammen, seit Kriegsende verschollen in Berlin, im September 39 in der Nähe hier bei der Flak.
Alte Leute danach fragen, ob sie aus der Kindheit noch die Häschenschule kennen. Nachdem in einer Berliner Bombennacht Wohnung und Atelier ausgebrannt waren, siedelte Fritz Koch-Gotha, der Urheber unserer Kinderfibel, endgültig über in seine Büdnerei an der Fulge. Dora Koch-Stetter, seine Frau, malte Bilder, die nicht nur besser waren … im Grunde, sagt Jörn, überragen sie alles, was die ganze Ahrenshooper Künstlerkolonie an Bilderwerk hervorgebracht hat. Aber unter den Malweibern war sie ja eine Verheiratete, und so kam sie wegen Haus und Hof, Kind und Mann nur wenig zum Malen. Jörn kommt alle paar Tage an der Fulge vorbei und bringt einen Packen Zeitungen mit. Der Enkelsohn und seine Frau haben sich einen Namen als Keramiker gemacht, und die junge Frau Klünder ist immer ganz glücklich, wenn Jörn die überregionale Presse in der Werkstatt ablädt. Zum Einwickeln taugen die großen Formate besonders gut, und so kommt es, daß sich in seiner Ferienbleibe die Zeitungsknäuel wieder häufen, wenn Jörn reihenweise Becher, Schalen, Teller und Teetassen mitgenommen hat.
Jörn versucht sich zu erinnern. Aber es gibt für ihn keine Erinnerung an Jahre und Tage, als Gesine Cresspahl, ein paar Häuser weiter, in den Ferien hier war. Wir waren ja als Flüchtlinge gekommen, sagte die alte Dame, aber das durften wir nicht laut sagen, weil es immer hieß, daß wir als Umgesiedelte gekommen waren.
Abends flattern die Kormorane, einzeln oder zu zweit, landeinwärts zurück.
[...]
SINN UND FORM 4/2013, S. 591-602
- 1/2022 | Die Rückkehr der Gewohnheiten. Journalgedichte
Beckett, Samuel
Beckford, William
- 4/2018 | Träume, Taggedanken und Wechselfälle des Lebens. Reise durch Deutschland (1780). Mit einer Vorbemerkung von Gernot Krämer, S. 491 Leseprobe
Beckford, William
Träume, Taggedanken und Wechselfälle des Lebens. Reise durch Deutschland (1780). Mit einer Vorbemerkung von Gernot Krämer
Vorbemerkung
Mit einem einzigen Buch ist William Beckford in die Literaturgeschichte eingegangen, dem 1786 veröffentlichten orientalischen Roman »Vathek«, der nicht weniger als neunmal ins Deutsche übersetzt worden ist. Zu dessen Berühmtheit hat die exzentrische Gestalt des Autors sicherlich ebenso beigetragen wie die Legende, er habe ihn in einem drei Tage und zwei Nächte währenden Schaffensrausch niedergeschrieben (nach einer anderen Selbstaussage sogar in zwei Tagen und einer Nacht). Die anderen Werke Beckfords blieben gleichsam im Schatten dieses Romans, konnten aber zum Teil auch erst posthum im 20. Jahrhundert erscheinen. Als »England’s wealthiest son«, Englands reichsten Sohn, bezeichnete Lord Byron den Schriftsteller 1812 im ersten Gesang seines »Childe Harold«. Das galt dem märchenhaften, auf Zuckerrohrpflanzungen in Jamaika zurückgehenden Reichtum seines Vaters William Beckford des Älteren (1709 – 1770), eines wegen seines aufbrausenden Temperaments und seiner Unerschrockenheit selbst in Gegenwart des Königs »William Hurricane « genannten Whig-Politikers, Parlamentsmitglieds und zweimaligen Lord Mayors von London. Eine solche Laufba hn war auch dem einzigen ehelichen Sohn vorherbestimmt, der allerdings weder an Politik noch an standestypischen Betätigungen wie etwa dem Jagen Interesse fand. Mit zehn war er Halbwaise, die Erziehung lag – von der sittenstrengen, aus schottischem Adel stammenden Mutter Maria Hamilton überwacht – in den Händen des Hauslehrers Reverend Dr. John Lettice, der »Geschmack und Gefühl als Errungenschaften von minderer Bedeutung neben dem rechten Gebrauch des Verstandes « ansah, wie er 1773 an Premierminister William Pitt schrieb. Er zwang den Jungen etwa, einen Stapel seiner »orientalischen« Zeichnungen eigenhändig zu verbrennen, um vermeintlich schädliche Einflüsse zu neutralisieren. Für eine umfassende künstlerische Ausbildung durch angesehene Lehrer war dennoch gesorgt, besonders in Gestalt von Beckfords weitgereistem Zeichenlehrer Alexander Cozens (1717 – 1786), der seinen Geschmack entscheidend im Sinne einer frühromantischen Kunstauffassung prägte. Nicht umsonst zählte Beckford später zu den Förderern William Turners. In diesem Geiste veröffentlichte er 1780 anonym sein erstes (von Lettice mit einer so kurzen wie umständlichen Vorbemerkung versehenes) Buch, die satirischen »Biographical Memoirs of Extraordinary Painters«. Im Stil hagiographisch geschriebener Künstlerviten treibt er darin, mehr oder minder diskret auf prominente Zeitgenossen anspielend, Schabernack mit den erfundenen Malern Aldrovandus Magnus, André Guelph, Og de Basan, Sucrewasser von Wien, Blunderbussiana und Watersouchy. Der überraschende Erfolg führte bald zu einer zweiten Auflage, die Beckford zum Verdruß der Familie mit seinem Namen zeichnete. Andere Texte aus dieser literarisch produktiven Zeit, wie der Roman »The Vision« und mehrere Erzählungen, blieben zu Lebzeiten unveröffentlicht. Der Bildungsweg eines vermögenden Gentleman wäre jedoch kaum vollständig gewesen ohne die obligatorische Kavalierstour, die er im Juni 1780 in Begleitung seines Tutors Lettice antrat. Die Reise ging vom heimatlichen Wiltshire über Ostende durch Flandern und die Niederlande nach Deutschland und weiter zum eigentlichen Ziel Italien – zweitausend Kilometer in sechs Wochen, im Mittel knapp fünfzig pro Tag. Neben Kunstschätzen und Bauwerken galt Beckfords Interesse vor allem der Landschaft. Oft ließ er unterwegs halten, um Orte und Stimmungen, die seine Imagination besonders ansprachen, auszukosten. Den melancholischen Grundzug, der in seinen Aufzeichnungen vielfach zum Ausdruck kommt, sprach er einige Monate vor der Reise selbst ganz offen an, in einem Brief an Louisa Beckford (geborene Pitt), die sechs Jahre ältere Frau seines Cousins Peter, mit der er eine Affäre hatte: »Visionen umspielen mich, und in feierlichen Augenblicken verfalle ich in poetische Trance. Während ich mich in Träumen und zauberischem Schlummer verliere, gleiten meine Stunden flüchtig dahin. Ich habe niemanden, der mich aufwecken könnte – niemanden, der meine Gefühle nachempfinden könnte. Diejenigen, die ich liebe, sind abwesend. Einsam und verlassen suche ich Zuflucht in Luftgesprächen und rede mit Geistern, deren Stimmen im Sturmwind murmeln.« In Venedig, wo er einige Zeit verweilte, packte ihn die Leidenschaft für einen jungen Adligen der Vendramin-Familie. Seine Kusine und alsbald innige Vertraute Lady Charlotte Hamilton, die er in Neapel besuchte, bemühte sich redlich, ihm die Sache auszureden, indem sie ihn an seine familiäre und gesellschaftliche Verantwortung erinnerte. Daß er auf dem Rückweg erneut über Venedig reiste, konnte sie freilich nicht verhindern. Beckford, auf den in England das Korsett der Verpflichtungen und verdrießliche Angelegenheiten wie eine juristische Auseinandersetzung mit einem illegitimen Halbbruder warteten, bemühte sich, die Reise durch einen Aufenthalt in Paris zu verlängern. Am 14. April 1781 schrieb er von dort an Lady Hamilton: »Ich fürchte, ich werde nie (…) zu etwas anderem auf dieser Welt taugen als dazu, Melodien zu komponieren, Türme zu bauen, Gärten zu gestalten, altes japanisches Porzellan zu sammeln und Reisen nach China oder zum Mond zu beschreiben.« Eine weitgehend zutreffende Vorhersage, wie sich noch zeigen sollte. Wenig später kehrte er nach zehnmonatiger Reise doch heim auf das stattliche Landgut Fonthill bei Salisbury, das sein Vater im palladianischen Stil hatte erbauen lassen. Während seiner Grand Tour hielt Beckford Stationen und Eindrücke wohl nur stichwortartig fest, wie ein einzelnes erhaltenes Notizbuch erkennen läßt, benutzte seine Aufzeichnungen aber für die Niederschrift des Reisebuchs, das möglicherweise schon in Paris, vielleicht aber auch erst in Fonthill begonnen wurde. Der erste Absatz gibt den Ton vor: »Soll ich Ihnen meine Träume erzählen? – Rechenschaft davon zu geben, wie ich meine Zeit verbringe, ist, ich versichere es Ihnen, kaum besser. Oft schwebt mir feiner Nebel vor den Augen, und durch dieses Medium sehe ich so undeutliche und verschwommene Gegenstände, daß ihre Farben und Formen dazu angetan sind, mich in die Irre zu führen. Das ist ein seltsames Geständnis für einen Reisenden, sagen weise Leute; so einer wird schöne Berichte liefern von den fremdartigen Ländern: Seine Briefpartner werden von so kurzsichtigen Beobachtungen zweifellos großen Gewinn haben: – Doch halt, Freunde, einen Augenblick Geduld! (…) Wenn meine visionäre Art zu schauen — behagt, bin ich ganz und gar zufrieden.« Der mit dem Spiegelstrich angedeutete Adressat war allem Anschein nach sein Zeichenlehrer und Vertrauter, der aus Sankt Petersburg gebürtige Landschaftsmaler Alexander Cozens. Es wäre aber falsch, von »echten« Briefen zu sprechen, diese – im ganzen 18. Jahrhundert beliebte – Form ist hier eher eine literarische Fiktion mit einem imaginierten Briefpartner. Die Ausarbeitung, die sich bis ins Frühjahr 1783 hinzog, erfolgte in enger Zusammenarbeit mit einem Dritten, dem Reverend Samuel Henley, der die Funktion eines Anregers und kritischen Gegenübers oder, modern gesprochen, eines Lektors ausübte; übrigens der gleiche Henley, der 1786 Beckfords Vertrauen mißbrauchte und gegen dessen ausdrücklichen Wunsch eine unautorisierte englische Übersetzung des »Vathek« veröffentlichte, wodurch dieser sich genötigt sah, möglichst rasch die französische Originalfassung herauszubringen. An die Publikation der Briefe knüpfte er große Hoffnungen. So schrieb er Lettice am 31. August 1781: »Sie wissen, daß mein Herz am Erfolg meines Buches hängt und kein Genügen daran hätte, wenn dieses bloß als muntere, malerische Rundreise gerühmt würde.« Im Mai 1782 brach Beckford zu einer zweiten Reise nach Neapel auf, die Anlaß zur Aufnahme sieben weiterer Briefe ins geplante Buch bot. Die Equipage umfaßte neben Lettice einen Arzt, einen Cembalisten, einen Aquarellmaler (Cozens’ Sohn John Robert, der sich bereit erklärt hatte, Landschaften festzuhalten, die dem Auge seines Auftraggebers schmeichelten) sowie mehrere Diener. Die Route war mit jener der ersten Reise identisch. Ende März oder Anfang April 1783 war das Buch fertig gedruckt und gebunden, es wurde auch schon annonciert; aber plötzlich gab Beckford dem Druck seiner Familie nach, die die Veröffentlichung aus Sorge um ihren Ruf und die erhoffte politische Karriere des Sohnes zu unterbinden suchte. Die fünfhundert Exemplare wurden zum größten Teil verbrannt, nur ganz wenige behielt Beckford oder vertraute sie engen Freunden an. »Wie könnte ich mein Buch aus Träumen ertragen«, schrieb er Henley einige Monate später, »wenn ich bedenke, welche verdrießlichen Taggedanken es uns beschert hat? Wenn Sie gewillt sind, mich mit ihm zu versöhnen, so seien Sie versichert, daß Sie nicht minder mein zugewandter Freund wären, wie wenn Sie die zischenden Schlangen in Fonthill zum Schweigen brächten. Weder Orlando noch Brandimart wurden in verwunschenen Burgen je von Geistern und Dämonen so gequält wie William Beckford im eigenen Saal von seinen nächsten Anverwandten.« Die Erwartung, daß sich dieses Opfer für ihn auszahlen würde, erfüllte sich nicht. Zwar heiratete er 1783 Margaret Gordon, wurde Vater und zog im Jahr darauf ins Parlament ein, doch im Herbst 1784 nutzten politische Gegner Gerüchte über seine homosexuelle Beziehung mit dem sechzehnjährigen Adligen William Courtenay, um einen Sittenskandal zu entfesseln. Beckford hatte ihn bereits Jahre zuvor kennengelernt und war ihm rasch verfallen. »Ich merkte«, schrieb er am 22. Februar 1781 in bemerkenswerter Offenheit an die Tante des Jungen, »daß es eine Freude war, jemand anderen als sich selbst zu lieben, und empfand, daß es ein größerer Luxus wäre, für ihn zu sterben als für den Rest der Welt zu leben.« Ein gutes Jahr lang trotzte er dem Sturm, der in der Presse tobte, dann entzog er sich einer Situation, wie sie auf noch dramatischere Weise später Oscar Wilde erlebte, ging mit seiner Familie ins Exil und lebte fünfzehn Jahre auf dem europäischen Festland, vorwiegend in Frankreich und Portugal. Auch dort freilich nicht unbehelligt: Als seine Frau nach offenbar glücklicher Ehe im Kindbett starb, wurde in England verbreitet, dies könne nur an der rohen Behandlung durch ihren Mann gelegen haben, worauf die Bürger von Vevey ihrem Gast öffentlich bescheinigten, daß er sich stets als zärtlicher, liebevoller und fürsorglicher Gatte betragen habe. Nach seiner Rückkehr 1799 lebte Beckford zurückgezogen in Fonthill und entfaltete eine rege Bautätigkeit. Er ließ das Gut durch eine lange Mauer einfrieden, gestaltete den Landschaftspark um und errichtete anstelle des von seinem Vater gebauten Herrenhauses, das abgerissen wurde, in der Nähe als neuen Wohnsitz eine monumentale gotische »Abtei«. Siebzehn Jahre dauerte der Bau, bis zu 950 Arbeiter taten Tag und Nacht Dienst. Der alles überragende Turm in seiner Mitte, der u. a. die kostbare Bibliothek aufnahm, erhob sich bis in 90 Meter Höhe; zweimal stürzte er ein, zweimal wurde er wieder aufgebaut. Das Bauwerk gilt neben Schloß Strawberry Hill bei Twickenham (London) als maßstabsetzendes Exempel des Gothic Revival, der Neugotik, die alsbald von hier aus ihren Siegeszug antrat. Wie Fonthill Abbey war Strawberry Hill die Schöpfung eines Schriftstellers, Horace Walpole, und auch dieser war, wie Beckford, der Mann eines Buches, der gothic novel »Die Burg von Otranto« (1764). Die verschwenderische Bau- und Sammeltätigkeit des Hausherrn von Fonthill ließ sein Vermögen rasch dahinschmelzen, die aufkommende Rübenverarbeitung drückte die Nachfrage nach Zucker aus Jamaika, und auch Napoleons Kontinentalsperre tat das ihre. 1822 verkaufte Beckford die Abtei, wenig später auch einen Großteil seiner Kunstschätze, die sich heute in vielen Museen der Welt (darunter in Berlin) befinden. Die Abtei wurde nach und nach abgebrochen, die Steine dienten als Baumaterial für Gebäude in der näheren Umgebung; nur ein kleiner Teil der Anlage blieb erhalten. Beckford zog nach Bath und ließ sich bei Lansdown Crescent einen neuen Wohnsitz bauen, natürlich wieder mit einem Turm, wenn auch einem bescheideneren. Dort nahm er sich die immer noch unveröffentlichten Briefe über seine mehr als fünfzig Jahre zurückliegende Kavalierstour wieder vor, bearbeitete und kürzte sie und veröffentlichte 1834 das Buch »Italy with Sketches of Spain and Portugal«. Von allzu Persönlichem, allzu Schwärmerischem, wie es die frühere Version oft auszeichnete, ist es gereinigt; zweideutige, zu Mißverständnissen einladende Passagen wurden gestrichen oder redigiert; ergänzt wurden, wie der Titel schon verrät, Aufzeichnungen über Spanien und Portugal. An letztere knüpfte Beckford 1835 in einem weiteren Band an, den noch im gleichen Jahr auf deutsch erschienenen »Erinnerungen von einem Ausfluge nach den Klöstern Alcobaça und Batalha«. Die folgende Übersetzung – ein Auszug aus dem achten, mit ca. 45 Druckseiten weitaus umfangreichsten Brief – beruht auf der seinerzeit unterdrückten ursprünglichen Fassung, die erst seit 1971 in einer modernen Ausgabe vorliegt. Auf deutsch erscheint er hier zum ersten Mal.
Gernot Krämer
11. Juli Mögen diejenigen, deren Entzücken eine malerische Landschaft ist, sich an die Ufer des Rheins begeben und jene Straße nehmen, die wir von Bonn nach Coblentz einschlugen. An manchen Orten hängt sie wie ein Gesims über dem Wasser, an anderen windet sie sich hinter ragenden Klippen und gebrochenen Hängen entlang, beschattet von Wäldern und bedeckt von einer endlos wechselnden Fülle von Pflanzen und Blumen. Einige grüne Pfade führen durch diese Vegetation zu Felsengipfeln, die oft als Sockel von Klöstern und Burgen dienen, deren hohe Dächer und Türme über den Bergesklippen aufragen und die Reisenden mit einer grandiosen Erhabenheit beeindrucken, welche wohl bei weiterer Annäherung verschwinden mag. Da ich nicht wünschte, etwas von meinem günstigen Vorurteil zu verlieren, hielt ich mich in achtungsvoller Entfernung, wann immer ich meine Kutsche verließ, und ging lieber an den Ufern des Flusses entlang. Kurz bevor wir nach Andernach kamen, einer altehrwürdigen Stadt mit seltsamen, maurisch aussehenden Türmen, erblickte ich ein Floß, mindestens dreihundert Fuß in der Länge, auf welchem zehn oder zwölf Hütten errichtet waren und eine große Menge Menschen Holz sägte. Die Frauen saßen spinnend an ihren Türen, während die Kinder zwischen den Wasserlilien spielten, die am Rande des Stromes üppig blühten. Ein Rauch, der von diesen Wasserbehausungen aufstieg, verdeckte teilweise die Berge dahinter und fügte ihrer Wirkung nicht wenig hinzu. Alles in allem war die Szene so originell und amüsant, daß ich eine halbe Stunde dasaß und sie betrachtete, von einer Anhöhe aus, im Schatten einiger laubreicher Nußbäume, und ich wollte nur gar zu gerne ein bewegliches Dorf errichten, es mit meinen Freunden bevölkern und so dahinfahren von Insel zu Insel und von einer bewaldeten Küste des Rheins zur anderen. Würde Ihnen eine solche Exkursion gefallen? Ich müßte mich sehr täuschen, wenn Sie nicht unter den ersten wären, so die Schatten und Felsenvorsprünge erkunden würden, unter denen es uns entlangtriebe; doch glaube ich nicht, daß Coblentz, wo wir gezwungen waren, über Nacht zu logieren, sehr nach Ihrem Geschmack wäre. Es ist eine dürftige, schmutzige Ansammlung von vergipsten Häusern, mit Farbe gestreift und mit hölzernen Galerien versehen, im noblen Geschmack von St. Giles. Droben auf einem Felsen steht das Schloß des Kurfürsten, das durch nichts bemerkenswert scheint außer seiner Lage. Viele Blicke ließ ich diesem Gebäude nicht zukommen, während ich den Berg hinauffuhr, über welchen uns die Straße nach Mainz hinwegführte.
12. Juli Als wir den Gipfel erreicht hatten, sahen wir eine weite, unregelmäßig geformte Landschaft vor uns liegen und fanden uns im Weiterreisen zwischen vielen Wiesenhügeln, von Wäldern umgrenzt und rot vom Thymian. Diese Art der Aussicht erstreckte sich auf weite Meilen, und so stieg ich aus, ging auf dem Grasboden weiter und sog begierig die frischen Lüfte ein, die über das Kraut wehten, bis ich zu einem steilen Abhang kam, überwachsen mit Liguster und verschiedenen wuchernd blühenden Sträuchern; dort ruhte ich im Schatten, sammelte Blumen, lauschte den Bienen, beobachtete ihren Fleiß und verbrauchte einige müßige Momente mit großer Befriedigung. Ein wolkenloser Himmel und heller Sonnenschein machten mich recht abgeneigt, mich weiter fortzubewegen, aber die Reize der Landschaftsformen, die sich jeden Augenblick steigerten, zogen mich voran. Ich war nicht weit gegangen, ehe ein sich schlängelndes Tal aufging, von Felsen und Bergen eingeschlossen, die bis zu den äußersten Gipfeln von dichtestem Wald bedeckt waren. Ein breiter Fluß, der drunten an den Felsenklippen entsprang, spiegelte die sich herabneigende Vegetation und sah so ruhig und grasumwachsen aus, daß ich entschied, ihn besser kennenzulernen. Zu diesem Zwecke fuhren wir auf einem Zickzackwege ins Tal hinab und bewegten uns, so gut es ging, weiter am Ufer der Lahn entlang (denn so heißt der Fluß), worauf wir mit einem Male auf die Stadt Ems stießen, berühmt aus Gründen der Mineralogie; dort fanden wir sehr gute Unterkunft und richteten uns für ein Indianerleben in Wildnis und Bergen ein. Nach dem Abendessen wandelte ich auf einem ebenen Rasen am Flusse, um zu beobachten, wie der Mond durch eine ganze Welt aus silbernen Wolken fuhr, die über das Antlitz des Himmels verstreut lagen. Es war ein milder, freundlicher Abend: Ein jeder Berg warf seinen breiten Schatten auf die Flußoberfläche; Lichter flackerten weit entfernt in den Hügeln und brannten dann stille. Alles schlief, nur eine weibliche Gestalt in Weiß nicht, in deren Haar Glühwürmchen schimmerten. Sie ging lange trostlos hin und her: Manchmal hörte ich sie seufzen, und falls Erscheinungen Seufzer ausstoßen, muß dies wohl eine gewesen sein. Ich zog nach meiner Rückkehr tausend Erkundigungen ein, doch konnte ich keinerlei Auskunft zu dieser Gestalt und ihren leuchtenden Begleitern erlangen.
13. Juli Die reine Morgenluft lud mich zeitig in die Berge. Ich mietete mir ein Boot und ruderte etwa eine Meile stromabwärts, um an einer sanft abfallenden Wiese zu landen, die unten eine Höhe mit dem Wasser hatte und frischgemäht war. Heuhaufen lagen noch hier und dort unter den Baumgruppen, die auf allen Seiten dieses kleine abgeschiedene Paradies umrandeten. Welch ein Ort für ein Zelt! Ich könnte hier Monate kampieren, ohne seiner müde zu werden. Es verginge kein Tag ohne die Entdeckung eines neuen Felsvorsprungs, einer unbetretenen Grasweide, eines ungeahnten Tales, wo ich unter Wäldern und Felsschroffen weilen könnte, verschollen und vergessen. Ich gäbe Ihnen und noch zwei oder dreien den Schlüssel zu meinem Labyrinth – niemand sonst sollte um seinen Eingang wissen. Voll solcher angenehmer Träumereien wanderte ich durch die Uferwiesen und wußte kaum, wohin ich ging: Manchmal führte mich ein buntschimmerndes Insekt vom Weg ab, und noch öfter taten es meine eigenen sonderbaren Phantasien. Durch beiderlei Ablenkungen war ich ganz und gar verwirrt und hätte mein Boot nie wiedergefunden, hätte mir nicht ein alter deutscher Naturkundler, der in den Felsen Fossilien suchte, seinen Ort gewiesen. Als ich heimkam, war es schon spät, und ich nahm nun wahr, daß ich den ganzen Tag keine Erfrischung zu mir genommen hatte außer dem Duft des Heus und einigen Walderdbeeren – eine luftige Nahrung, werden Sie sagen, für jemanden, der noch keine Aufnahme ins Reich Dschinnistan gefunden hat.
14. Juli Ich habe soeben festgestellt, daß dieser Ort so voller Müßiggänger und Wasserschlucker ist, wie es Ihre Hoheiten von Oranien und Hessen-Darmstadt nur wünschen können, denn ihnen fällt der ganze Profit der heilkräftigen Quellen anheim. Ich möchte betonen, daß ich noch gestern gar nichts von alledem wußte, so sehr nahmen mich die Felsen und Wiesen in Anspruch; keine Chance, Karten- oder Billardspielern in jenen Einsamkeiten zu begegnen. Aber von beiden wimmelt es in Ems, wo sie von Ball zu Ball hüpfen und flattern, des kühnen Naturschauspiels in der Nachbarschaft unbewußt und völlig fühllos dessen Reizen gegenüber. Es kam ihnen nicht in den Sinn – ihnen doch nicht! –, kahle Felsen und Bergeszinnen zu bewundern, wo selbst der Herrgott sich verirren würde (wie ein grobschlächtiger Lümmel, mit Sternen und Orden geziert, mir gegenüber geistreich bemerkte). Auch waren sie nicht in der Lage, irgendein Vergnügen darin zu erkennen, daß man wie eine Ziege in den Felsklippen herumkletterte und dann in Wälder und Spalten hinabsprang, wohin die Sonne niemals drang – wo es keine Spieltische gab, wo keine mit jambon de Mayence garnierten Buffets warteten, wo einem keine Tabakspfeifen gereicht wurden und wo es nichts von den allergewöhnlichsten Genüssen gab, die man in den ordinärsten Gastwirtschaften antrifft.
All dem pflichtete ich mit vollkommenster Ergebenheit bei, ließ den Redner aber sogleich alleine, damit er einen Kreis ältlicher Damen und wettergegerbter Offiziere unterhalten könne, der sich soeben um ihn bildete. Kaum hatte ich dieser guten Gesellschaft den Rücken gedreht, als Monsieur l’Administrateur des bains, ein stattlicher pompöser Bursche, der in einer hohen deutschen Familie maître d’hôtel gewesen war, herantrat – offenbar eigens, um mich zu unterrichten, daß die Bäder die Ehre hätten, als Gast Fürst Orlow hier zu haben, »avec sa grande Maîtresse, son Chamberlain, et quelques Dames d’Honneur«. Daß seine Hoheit ferner hierhergekommen war, um sich von den mühseligen Aufgaben am Hofe zu Petersburg zu erholen, und daß Fürst Orlow hoffe, er könne bald wieder – grâce aux eaux! – auf die Ländereien zurückkehren, die eine gnädige Herrscherin ihm geschenkt hatte, um bei tadelloser Gesundheit ein Vater seines Volks zu werden. Indem ich Monsieur d’Orlow allen erdenklichen Erfolg wünschte, hätte ich die Gesellschaft am liebsten weit hinter mir gelassen, doch ein gewaltiger Regenguß hielt mich vom Aufbruch ab und zwang mich, auf meine Zimmer zurückzukehren. Der immer stärker werdende Regen verdeckte die Aussicht auf die Berge und verhängte das Tal mit solcher Düsternis, daß meine Lebensgeister um fünfzig Grad sanken; eine neblig-stickige Atmosphäre trug nicht wenig hierzu bei. Gegen Einbruch der Nacht nahmen die Wolken ein noch dunkleres, drohenderes Aussehen an. Der Donner rollte fürchterlich an den fernen Bergeshängen entlang, und an einigen Stellen stürzten Wasserbäche die Abhänge hinunter. Da es mir unmöglich war, drinnen zu bleiben, stellte ich mich in einen offenen Portikus und lauschte dem Rauschen des Flusses, das sich mit dem lauten Geräusch des fallenden Wassers vermengte. Hie und da ließ ein bläulicher Blitz die unruhige Oberfläche des Flusses sehen und zeigte auch zwei, drei ängstliche Frauen, die durch das Gewitter rannten und zu allen Heiligen des Paradieses um Beistand schrien. So standen die Dinge, als der Redner, der so brillant über die Nichtigkeit des Erkletterns von Bergen doziert hatte, unter dem Portikus Zuflucht suchte, sofort eine Unterhaltung anknüpfte und mich mit einer kläglichen Geschichte von Mordtaten regalierte, die sich kürzlich ereignet hatten, und zwar genau auf der Straße, der ich am nächsten Morgen folgen wollte. »Mein Herr«, sagte er, »Ihre Reiseroute ist gewiß sehr gefährlich, zur Linken haben Sie einen Abgrund, in den Sie beim geringsten Erschrecken Ihrer Pferde unweigerlich hinunterstürzen; zur Rechten hängt ein undurchdringlicher Wald herab, und dort, mein Herr, gibt es – das kann ich Ihnen versichern – Wölfe genug, um ein ganzes Regiment aufzuzehren. Ein wenig weiter, und Sie durchqueren ein ödes Waldstück, wo die Wege so tief und verworren sind, daß Sie von Glück sagen können, wenn Sie in zehn Minuten ebenso viel Schritt vorangekommen sind. Dort lauern die wildesten Banditen Europas, die wegen ihrer neulich erfolgten Proskription durch den Fürsten von Oranien so erzürnt sind und so desperat, daß Sie keine Gnade erwarten dürfen, wenn sie Sie angreifen. Wenn Sie sich morgen in diesen gefährlichen Bezirk wagten, dann würden Sie aller Wahrscheinlichkeit nach auf eine Gruppe von Leuten stoßen, die soeben die Stadt verlassen haben, um nach den schrecklich zugerichteten Leichen ihrer Verwandten zu suchen, aber um Gottes willen! mein Herr! Lassen Sie sich nicht von müßiger Neugier verführen, in so gefahrvolle Landstriche vorzudringen, wie malerisch deren Erscheinung auch sein mag.« Ich gestehe, daß ich einigermaßen eingeschüchtert war durch eine so gefährliche Aussicht und nahe daran, meinen Plan zur Überquerung dieser Berge aufzugeben und statt dessen zurückzufahren und – weiß Gott, wo – außenherum weiterzureisen. Doch da es mir in den Sinn kam, daß ein solcher Schritt ganz unheroisch wäre, beschloß ich, meine Ängste der düsteren Stimmung des Augenblicks zuzuschreiben und der dadurch hervorgerufenen Niedergeschlagenheit. Es war fast neun Uhr, ehe mein freundlicher Berater abließ, mir Furcht und Schrecken einzujagen: Als ich mich dann frei sah, zog ich mich ins Bett zurück, erfüllt von nicht sehr angenehmen Eindrücken, und nachdem ich mich in der Erregung unruhigen Schlafes lang hin- und hergeworfen hatte, erhob ich mich am Morgen des 15. Juli um sieben, befahl die Pferde und brach ohne weitere Ungelegenheiten auf. Obwohl es nahezu die ganze Nacht hindurch gedonnert hatte, hing die Luft immer noch voll Nebeldunst, die Berge badeten in feuchten Wolken, und die Szenerie, die ich so bewundert hatte, war nicht länger zu erkennen. Am Rande des Steilhangs entlangfahrend, vor dem ich gewarnt worden war, entkamen wir nach etwa einer Stunde dieser Gefahr und querten den Hang eines ungeschlachten, heidekrautbestandenen Hügels, in ständiger Erwartung von Gegnern und Mördern. Ein Nebelregen hinderte, daß wir weiter als zehn Yards weit sehen konnten, und jede unförmige Eiche, jede Felsformation, der wir uns näherten, ließ uns an lauernde Spione oder riesenhafte Feinde denken. Einmal wirkte der Klang des Windes in den unsichtbaren Buchenwäldern wie ein Hilfeschrei, dann wieder ahmte das Prasseln eines Sturzbaches, den wir nicht sehen konnten, Musketensalven nach. In dieser mißtrauischen Weise durchreisten wir den Wald, der vor so kurzem die Szene von Angriffen und Raubzügen gewesen war. Schließlich kamen wir, nachdem wir einige ruhelose Stunden kreuz und quer die düsteren Waldwege abgefahren hatten, ins offene Tageslicht. Der Himmel hellte sich auf, ein mit Äckern und Wiesen bebautes Tal lag vor uns, und die Abendsonne, die hell durch den Dunst drang, warf einen fröhlichen Schein auf Kornfelder und schien bessere Zeiten zu versprechen. Ein paar Minuten, und wir langten sicher im Dorfe Wiesbaden an, wo wir in Ruhe und Frieden schliefen.
16. Juli Unsere Ängste waren nun ganz verflogen, und wir erhoben uns erfrischt und munter vom Schlaf, fuhren durch Mainz, Oppenheim und Worms und überquerten munter die Ebene, auf welcher Mannheim liegt. Die Sonne sank, ehe wir dort anlangten, und es war das milde Licht des aufgehenden Mondes, welches mich zuerst das breitgelagerte kurfürstliche Schloß sehen ließ und jene langen geraden Straßen und ordentlichen weißen Häuser, welche diese elegante Hauptstadt so sehr von fast allen anderen unterscheiden.
Eine große Zahl wohlgekleideter Menschen amüsierte sich mit Musik und Feuerwerk auf den Plätzen und offenen Anlagen: Andere Gruppen schienen, vor ihren Türen im Kreise in Gespräche vertieft, den heiteren Abend zu genießen. In fast jedem Fenster blühten Nelken, und wir konnten kaum eine Straße überqueren, ohne den Klang der deutschen Flöte zu hören. Eine Szene von so viel Glück und Muße gab den angenehmsten Kontrast zu den düsteren Befürchtungen ab, welche wir hinter uns gelassen hatten. Keine Stürme, keine schlimmen Abgründe konnten uns hier schrecken; keine Schlagetots oder gesetzlosen Räuber; um uns her nur Friede, Sicherheit und Zufriedenheit in ihrer reizvollsten Tracht.
17. Juli Trotz aller Ungeduld, jene herrliche klassische Region zu erreichen, die bereits jetzt – wie ich oft gesagt habe – die bessere Hälfte meines Geistes in Anspruch nimmt, war nicht daran zu denken, Mannheim unerforscht hinter uns liegen zu lassen, und so beschloß ich, diesen Tag den Sälen und Galerien des kurfürstlichen Schlosses zu widmen. Diejenigen, welche die Gemäldesammlung und die Elfenbeinskulpturen umfassen, bilden eine regelrechte Suite aus neun immensen Räumen, etwa dreihundertzweiundsiebzig Fuß lang, wohlproportioniert und einheitlich mit Holzintarsien ausgelegt. Jeder Raum hat breite Klapptüren, reichvergoldet und lackiert. Sieht man sie in perspektivischer Flucht, bieten diese Durchgänge den prächtigsten nur vorstellbaren Effekt. Nichts kann noblere Begriffe vom Raume geben als eine solche Enfilade von Salons, unverstellt von schwerem Mobiliar, wo die Blicke ohne Unterbrechung schweifen. Ich wanderte allein von einem zum anderen und wurde es niemals müde, die Vielfalt von Bildern zu betrachten, welche die Szenerie beleben und dem Besucher den höchsten Begriff vom Geschmack des Sammlers vermitteln. Als meine Neugier ein wenig gestillt war, verließ ich diese amüsante Reihe von Räumen mit Bedauern, besuchte die Bibliothek, welche der gegenwärtige Kurfürst zusammengebracht hat (ihr großer Umfang entspricht dem seiner anderen Sammlungen), und sah nach einer Besichtigung des übrigen Schlosses das Opernhaus, das sich rühmen darf, eines der ersten Orchester Europas beherbergt zu haben. Von dort kehrte ich sehr musikalisch gestimmt nach Hause. Ein ausgezeichnetes Cembalo sekundierte dieser Geneigtheit und beschäftigte mich bis spät in den Abend; da wurde ich müde, gab dem Einfluß des Schlafes nach und fand mich im Augenblick in ein weit entzückenderes Schloß versetzt als das des Kurfürsten, wo ich durch duftende, gelb beleuchtete Zimmer schweifte und mich mit keinen anderen als Albani und Claude Lorrain unterhielt, bis die Strahlen des Morgens in mein Zimmer drangen und meine Besuchsgefährten zwangen, flüsternd die Flucht zu den Schatten anzutreten. Ich muß sagen, daß es mir leid tat, Mannheim zu verlassen, obwohl alle meine Bekanntschaften dort solche mit leblosen Gegenständen waren. Die heitere Stimmung und großzügige Offenheit der Galerien würde schon auf Tage hinaus meinem Amüsement genügen; wie Sie wissen, könnte ich sie mir selbst mit Phantomen bevölkern. Vielleicht zehn Meilen aus der Stadt hinaus liegen die berühmten Gartenanlagen von Schwetzingen. Da äußerst warmes Wetter herrschte, waren wir froh, uns hier im Schatten ergehen zu können. Es gibt dort eine große Zahl von Springbrunnen, umgeben von Gebüsch, Dickicht und kühlen Nebenwegen, die zu Baumgärten mit Spalieren führen, an denen Kapuzinerkresse und Winden hochklettern. Verschiedene Trompeten- und Sumachbäume in voller Blüte verliehen der Szenerie große Üppigkeit, und als wir unter ihnen einhergingen, regte ein frischer Wind sanft ihre Wipfel. Die hohen Pappeln und Akazien, die in der Luft zitterten, warfen unzählige Schattenflecken auf die Rasenflächen dazwischen und ließen, ihre Äste bewegend, andere Wege dahinter sichtbar werden und ferne Fontänen, die sich über das Laub erhoben und im Sonnenlicht glitzerten. Nachdem wir eine große Zahl schattiger Alleen passiert hatten, die auf Tempel oder Statuengruppen gingen, folgten wir unserem Führer durch eine Art gewölbter Laube zu einer kleinen Lichtung im Walde, säuberlich gepflastert mit verschiedenfarbigen Kieseln. Auf der einen Seite sah man verschiedene Nischen und Alkoven, geziert mit Holz und poliertem Marmor, auf der anderen eine Voliere, und vorne stand ein wunderbarer Pavillon mit Bädern, Säulenveranden und Kabinetten, aufs Eleganteste und Luxuriöseste angeordnet. Der Gesang exotischer Vögel, die Frische des uns umgebenden Grüns, erhöht noch durch herabfallende Bäche, und jenes dubios poetische Licht, das durch dichtes Laub herunterdrang, so angenehm nach der Grelle eines schwülen Tages, ließen mich einige Zeit lang in einem Alkoven verweilen, wo ich Spenser las und mir vorstellte, ich sei nur einige Schritte von seinem See der Müßigkeit entfernt. Ich hätte noch gerne eine Stunde an diesem zauberischen Ruheplatz zugebracht, aber der Gärtner, dessen Geduld erschöpft war und der noch nie vom Ritter mit dem roten Kreuz und dessen Taten gehört hatte, zerrte mich fort zu einem sonnenverbrannten, verachtungswürdigen Hügelchen, von dem aus man auf einen gewundenen Graben hinabsah und das den Titel Jardin Anglois führen durfte. Etwas, das aussieht wie verfallene Kalkmeiler und verrottende Öfen, ist in amphitheatralischer Anordnung am Hang dieser gigantischen Erhebung zu sehen, und es sollen noch Efeu und ein Wasserfall und was nicht alles hinzukommen, wie mein Führer bemerkte. Ein einziger Blick auf diese Karikatur englischer Gärten genügte mir; ich ging dann beleidigt davon, da man mich aus meiner Ruhelaube verjagt hatte, und knurrte den ganzen Weg nach Enzweihingen vor mich hin, wo wir zu unserem Unglück unter Schweinen und Ungeziefer unterkamen, die sich in meinem Streit mit ihrem Heimatland wohl zu rächen wußten.
20. Juli Nachdem wir ein, zwei Poststationen hinter uns gebracht hatten, gelangten wir an eine grüne Heide mit vielen einzeln gelegenen Wäldern und Dörfern; die Donau zog majestätisch dahin, und die Stadt Ulm erhob sich an ihren Ufern. Die Wiesen in ihrer Umgebung waren übersät mit Linnen, das in der Sonne bleichte und auf die Barken wartete, die es den großen Fluß hinabbringen – in zehn Tagen nach Wien, und von dort durch Ungarn fort mitten ins türkische Reich hinein. Ich neidete den Kaufleuten fast ihre Reise, stieg hinab zum Rand des Stromes, verrichtete meine Gebete an den Flußgott, Vater Donau, und bat ihn, die Länder, die er durchfließt, von mir zu grüßen. Ich versprach ihm einen Altar und feierliche Rituale, sollte er meine Bitte erfüllen, und war sehr götzendienerisch, bis die Schatten, die auf der endlosen Ebene an seinem Ufer länger wurden, mich daran gemahnten, daß die Sonne bald gesunken sein würde und ich noch über fünfzehn Meilen vor mir hatte. Ich pflückte am Ufer eine purpurne Schwertlilie und steckte sie mir zu seinen Ehren an, und ich habe Grund zu der Annahme, daß mein frommer Sinn belohnt wurde, denn keine Fliege, kein Insekt wagte es den ganzen Abend hindurch, mich zu umsummen. Nie sah man einen helleren Himmel oder leuchtendere Wolken als die, welche nun unseren Horizont vergoldeten. Die Luft war mit dem Duft von Klee gesättigt, und auf zehn Meilen in die Weite erblickten wir nichts als ebene Flächen, wie emailliert mit Blumen und hie und da besetzt mit Eichenhainen, hinter denen eine lange Reihe von Bergen erschien, welche die Ferne und der Abend mit interessantem Azur färbten. Pater Lafiteau lehrt uns, daß im Inneren Amerikas viele solche weiten und blumigen Wiesenflächen liegen, zu denen sich die wandernden Indianerstämme ein- oder zweimal in jedem Jahrhundert begeben, um dort ihre Jagdrechte abzugrenzen und ihre feierlichen Tänze aufzuführen; und daß diese Versammlungen einen so tiefen Eindruck im Geiste dieser Wilden hinterlassen, daß die höchste Vorstellung von einem zukünftigen Glück, die sie sich machen können, im immerwährenden Genuß der Lieder und Tänze auf den grünen, endlosen Rasenflächen ihres Elysiums besteht. Inmitten dieser visionären Ebenen erhebt sich die Stätte Aneantsic, umringt von den Chören dahingegangener Häuptlinge, die im Takt des traurigen Speerklirrens springen, wenn die Waffen auf den Panzer der Schildkröte schlagen. Ihre liebsten Diener, lange auf Erden von ihnen getrennt, werden in dieser Ätherregion wieder mit ihnen vereint und schweben frei über den weiten ebenen Raum hinweg, wobei sie nun diese Gruppe geliebter Freunde mit Rufen begrüßen, nun jene. Sterbliche, die vom Tode neu in diese Welt aus reinem blauem Himmel und grenzenlosen Wiesen geführt werden, sehen die langverlorenen Gegenstände ihrer Zuneigung über das Gras näherkommen, bis man sich begegnet. Schwärme bekannter Vögel, denen manch eine irdische Jagd gegolten hatte, folgen nun wieder ihrer Bahn, während die Schatten der treuen Hunde drunten miteinander um die Wette zu laufen scheinen. Leises Murmeln und melodisches Klimpern füllen das ganze Rund, und wenn die neuen Bewohner vorwärts gehen, werden diese Töne immer lauter, bis die Abgeschiedenen der zauberischen Musik nicht länger widerstehen können und ekstatisch voranspringen, um sich dem ewigen Tanz anzuschließen. Etwas von dieser himmlischen Verzückung teilte sich mir mit, während mein Blick über die Ebene wanderte, welche sich in dem Maße zu weiten schien, in dem das Dämmerlicht einsetzte. Die Stunde des Zwielichts, für Beschwörungen günstig, ermöglichte es mir, daran zu glauben, daß sich die Geister dahingegangener Freunde nicht weit entfernt von den Wolken aufhalten mochten, die sich allem Anschein nach in der Ferne lagerten und die Oberfläche des Horizonts mit lebhaften Farben tingierten. Dieses Leuchten hing immer noch über der Landschaft, nachdem die Sonne schon verschwunden war; und in diesen friedvollen Momenten, da kein Laut außer dem Grasen des Viehs zu mir drang, stellte ich mir vor, daß aus dem goldenen Dunst gütige Blicke auf mich geworfen wurden, und ich schien dort den Anblick schwach umrissener Formen zu erhaschen, die mir einst so teuer waren, und glaubte sogar, in meinem Ohr wohlbekannte Stimmen klingen zu hören, die auf Erden längst schon verstummt waren. Als die warmen Farben des Himmels nach und nach verblaßten und die fernen Gehölze ein tieferes, melancholischeres Blau annahmen, war mir, als sähe ich eine Form, die Thisbe glich, rasch dahinschießen und manchmal in der Ferne anhalten und einen Blick voll Zuneigung auf ihren alten Herrn werfen, welcher besagen mochte: Wenn du dich einst deiner letzten unvermeidlichen Stunde näherst und die blassen Gefilde von Aneantsic sich vor dir erstrecken, dann will ich deinen Schritten vorangehen und sie sicher durch die wilden Labyrinthe geleiten, welche jene Welt von der unseren trennen. Ich war so eingenommen von dieser Idee und so voll der Erinnerung an diese arme zuneigungsvolle Kreatur, von deren elendem Ende Sie Zeuge waren, daß ich einige Minuten lang unsere Ankunft in Günzburg gar nicht wahrnahm. Als ich eilig zu Bett gegangen war, schien ich in meinem Schlummer die verbotene Grenze, welche unsere Erde von der Region indianischer Glückseligkeit trennt, zu überqueren. Thisbe lief behende vor mir her; ihre weiße Gestalt schimmerte unter dunklen Wäldern; sie führte mich auf eine unendlich weite Ebene, wo ich große Menschenmengen über zukünftige Ereignisse sprechen hörte. Was sich weiter begab, darf niemals mitgeteilt werden. Ich erwachte in Tränen und konnte kaum so viel an Lebensgeistern in mir finden, um mich auch nur umzusehen, bis wir mitten durch Augsburg fuhren.
21. Juli Wir dinierten und spazierten in der Abendkühle durch die berühmte Stadt. Die kolossalen Wandgemälde an den Mauern fast eines jeden bedeutenderen Gebäudes machten einen seltsamen Eindruck, angenehm wegen der Neuartigkeit. Nachdem wir eine Anzahl Straßen durchschritten hatten, die auf diese exotische Weise dekoriert waren, fanden wir uns plötzlich vor dem Rathaus an einer noblen Statue des Augustus, unter dessen Auspizien die Stadt gegründet worden war. Wohin wir uns auch wandten, unser Blick traf auf ein bemerkenswertes Gebäude oder auf einen Marmorbrunnen, in dessen Becken Skulpturen von Flußgöttern reichlich ihr Wasser ergießen. Diese stattlichen Brunnen und Bronzestatuen, die außerordentliche Größe und Höhe der Gebäude, die perspektivisch aufragenden Türme und das dorische Portal des Rathauses entsprachen in einigem Maße dem Begriff, den Montfaucon uns von der Bühnenszene einer antiken Tragödie gibt. Wann immer ein pompöser flämischer Maler versucht, Troja darzustellen, und im Hintergrund solche Palaststraßen zeigen möchte, wie sie in der Ilias beschrieben werden, läßt sich Augsburg oder eine ähnliche Stadt erkennen. Manchmal entdeckt man eine Ecke von Antwerpen, und es erhebt sich allgemein über einem korinthischen Portikus ein gotischer Kirchturm. Genau solch eine Verworrenheit kann man von dem Augustusdenkmal aus betrachten, unter dem ich stehenblieb, bis der Hauswart kam, der die Türen des Rathauses öffnen und mir dessen Pracht zeigen sollte. Ich sehnte mich sehr nach Ihnen, als ich eine Treppe von hundert Stufen emporstieg und durch ein Portal eintrat, das von hohen Säulen getragen und mit einem majestätischen Giebel bekrönt war. Im Weitergehen entdeckte ich fünf weitere Eingänge, alle ebenso großartig, über deren Krongesims sich goldene Figuren oder Schutzgenien lehnten, und ich sah durch eine Reihe von Fenstern, von denen jedes über dreißig Fuß hoch war und fast auf dem Marmorboden aufsaß, die ganze Stadt mit allen Dächern und Türmen zu meinen Füßen. Die Säulen, Gesimse und Paneele dieses beeindrukkenden Raumes sind einheitlich braun und golden, und die Decke, mit emblematischen Gemälden und unzähligen holzgeschnitzten Baldachinen geziert, wirft einen grandiosen Schatten. Alles in allem wäre ich nicht überrascht, wenn ein Bürgermeister in einem solchen Saal eine überwältigende Würde an den Tag legte. Ich muß gestehen, die Sache hatte auf mich eine ähnliche Wirkung, und ich ging die Treppe so pompös hinab, als wartete unten ein Triumphwagen auf mich oder als gäbe ich gleich der Königin von Saba eine Audienz. Es war, wie es sich traf, ein Feiertag, und halb Augsburg war auf dem freien Platz vor dem Rathaus zusammengelaufen; die größte Zahl der Leute, besonders die Frauen, trugen immer noch genau jene Tracht, die Wenzel Hollar in Kupfer gestochen hat. Mein Stolzieren beeindruckte diese schlichte Versammlung, die zurückwich, um mir den Weg freizulassen, und dies mit so viel stummer Hochachtung, als wäre ich wirklich der weise König Israels gewesen. Als ich nach Hause kam, wurde meiner Majestät ein fürchterliches Essen serviert. Ich schimpfte in unköniglicher Manier und überzeugte mich rasch davon, daß ich nicht länger Salomo war.
22. Juli Heil den Kurfürsten Bayerns! Denn sie haben so umfangreiche Tannenwälder in ihren Landen gepflanzt, daß der größte Teil der Straße von Augsburg nach München im Schatten liegt. Nächst der letztgenannten Stadt verändert sich die Landschaft, ich muß es sagen, nicht zu ihrem Vorteil. Statt üppiger Wälder und Wiesen erblickten wir eine ausgedörrte, langweilige Ebene, wo die einzige Abwechslung durch Felder schlaffer Gerste geschah, die von dürftigen schnurgeraden Wegen durchzogen wurden. Hie und da noch ein unbewegter Teich und manchmal ein Misthaufen als besonderer Reiz. Immerhin schließen die wilden Felsenberge Tirols die Aussicht ab, und zu ihnen mag sich die Phantasie flüchten und dort unter selbsterschaffenen Quellen und Lilien wandeln. Ich spreche mit Autorität, da ich schon das Vergnügen hatte, einen Abend in solch romantischem Stil vorwegzunehmen. Am nächsten Dienstag ist hier der große Jahrmarkt, mit Pferderennen und allen möglichen Festivitäten – eine Neuigkeit, mit der man mich nur allzubald bekannt machte, denn sobald wir in die Stadt einfuhren, rieten uns alle möglichen gutmütigen Leute, sie sofort wieder zu verlassen, da Kaufleute und Harlekine jeden Winkel mit Beschlag belegt hatten und eine Wohnung unmöglich aufzutun war. Die Gasthäuser waren in der Tat wie Bienenkörbe voll fleißiger Kreaturen, die ihre Waren durchsahen und zum Verkauf vorbereiteten. Doch erlangten wir trotz dieser Schwierigkeiten eine ruhige Wohnung.
23. Juli An diesem Abend wurden wir nach Nymphenburg gefahren, dem Landschloß des Kurfürsten, dessen Boskette, Wasserspiele und Blumenbeete der Stolz der Bayern sind. Die zentrale Terrasse glitzert über und über von goldenen Amoretten und glänzenden Schlangen, die aus allen Poren Wasser speien. Beete mit Mohn, Stockrosen, scharlachroten Lichtnelken und Blumen in den flammendsten Farben säumen die Wege, welche sich bis zum Horizont erstrecken; auf ihnen wimmelt ein Schwarm von Damen und Herren in festlich-bunten Kleidern. Die Gärten der Königin von Golkonda in einer französischen Oper sind kaum vielfarbiger und künstlicher. Unglücklicherweise war es ein schöner Abend, und die Sonne hatte solche Kraft, daß wir halb gebraten wurden, ehe wir die breiten Wege hinter uns lassen und die Gebüsche betreten konnten, welche eine sehr prächtige Eremitage kaum verbergen. Dort trafen wir Mr. und Mrs. T. und eine modische Gesellschaft von Bayern. Unter den Damen war Madame la Comtesse ich-weiß-nicht-wer, ein Geschöpf des ehrwürdigen Haslang, zusammen mit ihrer Tochter, Madame de –, welche die Ehre hat, den Kurfürsten in Ketten geschlagen zu haben. Nachdem diese Göttinnen in einen Wagen gestiegen waren, den man gemeinhin eine Carriole nennt, folgten die Sterblichen und erkundeten Weg um Weg und Pavillon nach Pavillon. Nachdem wir dann die Pagodenburg gesehen hatten, welche, wie man mir sagte, ganz und gar chinesisch ist, und Marienburg, das gewißlich ganz und gar Flitter ist, paradierten wir entlang einer Reihe von Fontänen in voller spritzender Tätigkeit, doch obwohl sie ihr Bestes taten (viele wurden eigens in Gang gesetzt), kann ich nicht sagen, daß ich sie besonders bewundert hätte. Die Damen waren sehr fröhlich gewandet, und die Herren – so proper, wie Degen, Haarbeutel und hübsche Mäntel sie nur machen konnten – sahen genau so aus wie die feinen Leute, die auf einem kolorierten Bilder bogen dargestellt sind. So gingen wir vornehm in der Orangerie umher, bis die Kutschen herbeifuhren und uns zu Mrs. T. brachten. Sogleich nach dem Essen fuhren wir wiederum aus der Stadt hinaus, zu einem Garten und Teehaus, wo alle Stände und Lebensalter vergnügt bis zum Morgen miteinander tanzen. Während die eine Gesellschaft agil im Walzer davonfegt, amüsiert sich eine andere in einer Ecke mit kaltem Braten und Rheinwein. Ist das erledigt, stürzt man sich ebenfalls unter die Tänzer, so stürmisch und lebhaft, wie ich es in Bayern kaum erwartet hätte. Nachdem die Tanzenden sich rundherum und rundherum gedreht haben (mit einer Geschwindigkeit, die für einen englischen Tänzer gänzlich unvorstellbar ist), wechselt die Musik in ein langsameres Tempo, und es folgen verschiedene Zickzack-Menuette, an denen alt und jung, grad und krumm, Adel und Plebs gleichzeitig teilnehmen, von einem Ende des Raums zum anderen. Unschlittkerzen zischen und stinken, Teller werden auf- und abgetragen, Köpfe werden gekratzt und alle erdenklichen Arten von Auftritten gehen im selben Augenblick vor sich; die Flöten, Oboen und Fagotte schnarchen und grunzen mit besonderer Betonung, einmal schnell, einmal langsam, wie es die Abwechslung gebietet, welche das Zeremoniell dieser buntscheckigen Versammlung zu regieren scheint, wo jeglicher Unterschied an Rang und Privileg vollkommen vergessen ist. Einmal in der Woche, und zwar eben sonntags, haben diese Räume geöffnet, und in der Regel ist der Montag schon ein gutes Stück fortgeschritten, ehe sie wieder leer stehen. Wenn gute Laune und grobe Fröhlichkeit alles sind, was die Menschen möchten, dann findet man sie hier in Vollendung, wenn auch auf Kosten der Zehen und Nasen. Beide diese Extremitäten meiner Person litten greulich, und es tat mir nicht leid, mich gegen ein Uhr morgens in eine reinere Atmosphäre zurückzuziehen.
24. Juli Der Brauch verdammte uns dazu, die Residenz zu besuchen; diese leuchtet grell mit Spiegelglas, Vergoldung und Samt. Die Kapelle ist klein, doch reicher als alles, was Krösus je besessen hat, da mag man mir sagen, was man will. Kein Winkel, der nicht von Gold, Diamanten und juwelenbesetzten Märtyrerfetzchen glänzt. Ich hatte die Freude, Amethyste und die reichsten Edelsteine mit Füßen zu treten – was, wie Sie sich erinnern werden, Apuleius für ein so hohes Glück hält. Ach! Ich war der Ehre ganz unwürdig und wäre lieber auf dem Gras der Berge gegangen. Der Mammon hätte den Blick nicht vom Fußboden gewandt; meiner schweifte bald ab und richtete sich dann auf St. Peters Daumen, der nicht ohne Eleganz gefaßt ist und von einem unbeholfenen Enthusiasten mit einigen der herrlichsten antiken Kameen verziert wurde, die ich je gesehen habe. Deren Gegenstände – Leden und schlafende Aphroditen – waren allerdings, dächte ich, für einen Apostelfinger ein wenig pagan. Aus diesem Schatzhäuschen wurden wir durch den öffentlichen Park in einen großen Saal geführt, wo ein Teil der Schleißheimer Bestände aufgestapelt ist, bis dort eine Galerie eingerichtet werden kann, um sie aufzunehmen. Es war eine große Gunst, daß man die Bilder, welche die Sammlung ausmachen, in diesem Zustand betrachten konnte – es war auch ein sehr unvollkommener, da an einigen der besten noch operiert wurde. Doch hätte ich um nichts auf der Welt den Anblick von Rubens’ Bethlehemitischem Kindermord versäumen mögen. Eine solche Ausdrucksgewalt des Schrekkens ist noch nie auf eine Leinwand gebracht worden, und Moloch persönlich hätte das Bild mit Befriedigung betrachtet. Nach dem Essen wurden wir durch die Kirchen geführt, und wenn Sie meiner umfangreichen Beschreibungen so müde sind wie ich der endlosen Wiederholung von Altären und Reliquiaren, dann möge der Herr sich Ihrer erbarmen! Doch Ihre Erlösung naht. Die Post geht bald ab, und morgen werden wir beginnen, die Felsen Tirols zu ersteigen. Haben Sie jedoch keine Angst vor irgendwelchen langatmigen Episteln von den Bergesgipfeln herab, es wird mich zu sehr ermüden, diese zu ersteigen. Eben nun, da ich eine Weile dagelegen habe, werde ich kokett und kritzle in bloßem Übermut fort. Welcher Exzesse ein solcher Korrespondent fähig ist, werden Sie bald beurteilen können.
Aus dem Englischen von Joachim Kalka
SINN UND FORM 4/2018, S. 491-507
- 4/2020 | Reise nach Rom und Neapel im Jahre 1780
- 4/2021 | Reise durch England, Flandern und die Vereinigten Provinzen im Jahre 1780
- 4/2022 | Reise durch die Vereinigten Provinzen und das Rheinland im Jahre 1780
Behrsing, Siegfried
- 1/1964 | Du Fu
Bei, Zhao
- 6/1990 | Zehn Lachgrimassen
Beicken, Peter
Beil, Ulrich J.
- 2/1998 | Gedichte
Beißner, Friedrich
- 5/1955 | Der Streit um Hölderlins Friedensfeier
Belafonte, Harry
- 1/1984 | Dass die Wahrheit nicht stirbt
Belinga, M. S. Eno
- 2/1967 | Die negro-afrikanische Kultur
Belkius, Gerd
- 6/1988 | Gespräch mit Johann Cilensek
Below, Wassili
- 4/1979 | Morgenbegegnungen
Ben-David, Yaara
- 4/2019 | Bevor der Vorhang fällt. Gedichte
Bender, Hans
- 2/1994 | Laudatio auf Walter Höllerer. Zur Verleihung des Horst-Bienek-Preises für Lyrik 1993
- 2/2000 | Zum Briefwechsel mit Elias Canetti
- 2/2000 | Briefe an Elias Canetti
- 5/2001 | Aus dem Tagebuch 2000/ 2001
- 6/2009 | Zwölf Vierzeiler
- 6/2017 | Vom Leben, Schreiben und Herausgeben
Bender, Peter
- 3/1992 | Wird die Vereinigung Deutschlands die Deutschen vereinen?
- 3/2002 | Ein freier Geist. Für Friedrich Dieckmann
- 2/2006 | Abschied von Carola Stern
- 5/2008 | Erinnern und Vergessen. Deutsche Geschichte 1945 und 1989, S. 762 Leseprobe
Bender, Peter
Erinnern und Vergessen. Deutsche Geschichte 1945 und 1989
Vor zwölf Jahren legte der Althistoriker Christian Meier ein Forschungsergebnis vor, das einen Glaubenssatz der Bundesrepublik in Frage stellte. Allgemeine und unangefochtene Überzeugung ist: Um eine schlimme Vergangenheit zu »bewältigen«, muß man die Erinnerung an sie ständig wachhalten. Meier berichtete, nicht Erinnern, sondern Vergessen sei das Heilmittel, mit dem alle früheren Zeiten versuchten, mit einer bösen Erbschaft fertig zu werden. Der Historiker war die Weltgeschichte durchgegangen, um herauszufinden, was die Menschen früher taten, wenn sie nach Kriegen oder Bürgerkriegen Versöhnung brauchten, um wieder zusammenleben zu können. Sein Befund war erstaunlich eindeutig. Allein die Juden schworen auf Erinnerung, und das nicht erst seit Hitlers Holocaust, sondern schon seit den Zeiten des Alten Testaments. Die übrige Welt setzte seit den alten Griechen auf Vergessen: »Immer wieder wird beschlossen, vereinbart, eingeschärft, daß Vergessen sein soll, Vergessen von vielerlei Unrecht, Grausamkeit, Bösem aller Art.«
Manche Beschlüsse, die Meier anführt, beeindrucken schon durch die Kraft ihrer Worte, dahinter wird der Wille spürbar, eine Zeit des Schreckens zu beenden. So nach dem Dreißigjährigen Krieg: »Beiderseits soll das ewig vergessen und vergeben, alle Beleidigungen, Gewalttätigkeiten, Schäden und Unkosten derart gänzlich abgetan sein, daß alles in ewiger Vergessenheit begraben sei.« Normalerweise, schrieb Meier, gingen Friedensverträge einher mit »abolitio (Aufhebung), oblivio (Vergessen) oder remissio (Vergeben) des Geschehenen«.
Ganz ähnlich klingt es im Edikt von Nantes, mit dem Heinrich IV. 1598 die französischen Religionskämpfe beendete: Die Erinnerung an das Geschehene solle »ausgelöscht und eingeschläfert sein, wie wenn nichts geschehen wäre« - und das nach der Bartholomäusnacht mit Tausenden von Morden. Der König verbietet Erwähnung und Verfolgung der Untaten, untersagt Erneuerung der Erinnerung. Man solle sich zufriedengeben und friedlich zusammenleben »wie Brüder, Freunde und Mitbürger«. Wer zuwiderhandelt, sei als Friedensbrecher und Feind der öffentlichen Ordnung zu bestrafen.
Natürlich läßt sich Vergessen nicht befehlen und Erinnerung nicht verbieten. In der politischen Praxis ging es daher immer nur darum, tätige Erinnerung zu verhindern: Die Wunden nicht wieder aufreißen und die Täter, von den allerschlimmsten abgesehen, nicht verfolgen, also den Schmerz nicht verlängern und nicht Anlaß schaffen für neue Kämpfe. Auch das ließ sich meist schwer durchsetzen und war nur manchmal von Dauer - immerhin war erst einmal Ruhe geschaffen und die schlimmste Leidenschaft gebändigt. Später hatten sich die Gemüter meistens, wenn auch nicht immer, abgekühlt, und die Zeit tat das Ihre.
Was Meier als historische Erfahrung mitteilt, entspricht allgemeiner Lebenserfahrung. Schon im Alltag gilt: Wenn zwei sich nach großem Streit wieder vertragen sollen, dürfen sie nicht dauernd davon reden, was sie einander angetan haben. Auch wenn sie weder vergessen noch vergeben können, müssen sie schweigen davon, sonst gibt es keinen Neuanfang, keine Versöhnung, kein Zusammenleben. »Seid nicht nachtragend«, sagten schon unsere Mütter.
Meiers Untersuchung blieb ohne nennenswerte Resonanz. Er ist einer der bedeutendsten Historiker des Landes, wurde aber weder diskutiert noch kritisiert; niemand, soweit ich sehen kann, fragte, was seine Ergebnisse für uns Deutsche bedeuten. Zweimal im vergangenen halben Jahrhundert befanden wir uns in einer Lage, wie er sie mit vielen Beispielen beschrieb. Wir brauchten äußeren und inneren Frieden, mußten in ein normales, wo möglich gutes Verhältnis zu unseren Kriegsgegnern kommen und mit der Hinterlassenschaft zweier Fehlentwicklungen fertig werden, der nationalsozialistischen und der kommunistischen. Am schwersten wog die Last beispielloser Verbrechen. Bei der Bewältigung dieser Aufgaben taten wir das Gegenteil dessen, was frühere Zeiten empfahlen. Wir verdammten jegliches Vergessen und schwuren auf Erinnerung.
Das nationale Interesse gebot es. Mit einer nazistischen Nation, einem Volk ganz ohne Einsicht in seine Untaten und ohne Willen zur Wandlung konnte kein Land, das unter den Deutschen gelitten hatte, ein normales Verhältnis schaffen. Umgekehrt stand auch die deutsche Außenpolitik unter dem Diktat der Erinnerung, sie mußte sich bewußt bleiben, daß es nach dieser Vergangenheit nicht das gleiche war, wenn Deutsche das gleiche taten wie andere.
Aber das Erinnern der Nachkriegszeit war nicht allein politisch begründet, sondern auch moralisch. Darin lag seine historische Besonderheit. Normalerweise ziehen Staaten und Völker nur politische Konsequenzen aus einer Niederlage, sie planen einen neuen Krieg oder suchen sich eine friedliche Zukunft, aber sie tun nicht Buße. Normalerweise leugnen und verdrängen Nationen ihre Untaten, die Deutschen aber bekannten sich zu den Verbrechen, die Deutsche zwischen 1933 und 1945 begangen hatten. Zugleich suchten Historiker nach Schuldigen in der deutschen Geschichte, die das Land auf einen Sonderweg geführt und Hitlerherrschaft und -gefolgschaft ermöglicht hätten. Die Politiker schufen eine Bundesrepublik, die frei ist von Machtwahn und Nationalismus und am liebsten nur noch dem Frieden dienen und die Menschenrechte fördern möchte. All das nicht allein aus politischer Erfahrung und Vernunft, sondern aus moralischer Verpflichtung. Vor allem konnte Auschwitz nicht vergessen werden. Für die Opfer war es unmöglich und das Volk der Täter konnte sich, je weiter die Untaten und deren Dimension bekannt wurden, der Verantwortung nicht entziehen. Erinnerung wurde Pflicht.
Die kritische Erinnerung an sich selbst und die praktischen Folgerungen daraus gehören zu den unbestrittenen Leistungen der Nachkriegszeit. Sie hatten kein Vorbild und werden in dieser Konsequenz kaum Nachahmer finden. Doch sie geben keinen Anlaß für »Sündenstolz«, denn sie waren das Ergebnis einmaliger Umstände. Nur die Beispiellosigkeit der Untaten und die Totalität der Niederlage machten Selbstbesinnung und Umkehr möglich und nötig. Wir waren 1945 nicht nur militärisch und politisch, sondern vor allem moralisch geschlagen und leben seitdem mit gebrochenem Kreuz: Vor der Einsicht war der Fall und vor der Moral die Schwäche.
Das deutsche Erinnern in der Nachkriegszeit ist ein historischer Sonderfall und ändert nichts an Christian Meiers grundlegender Erkenntnis, daß es nach schwerer Zeit kein Weiterleben gibt ohne Vergessen. Auch die Deutschen brauchten nach Hitler Vergessen, ohne Beschweigen ihrer Verbrechen wären sie außenpolitisch und ohne Verdrängen innenpolitisch nicht vorangekommen. Der Krieg war kaum zu Ende, als sie für den nächsten benötigt wurden, für den kalten Krieg der Systeme. Ost wie West wollten sie benutzen, mußten sich an sie gewöhnen, sich mit ihnen verbünden und allmählich versöhnen. Sie konnten nicht vergessen, was Deutsche getan hatten, aber durften es ihnen nicht dauernd vorhalten. So redeten die Westmächte immer seltener davon und schließlich kaum noch. So unterschied Stalin rigoros zwischen Deutschen und Faschisten und befahl den Völkern seines Imperiums, in der DDR nur noch Deutsche zu kennen. Im Geist der Versöhnung schrieben die polnischen Bischöfe 1965 ihren Amtsbrüdern in der Bundesrepublik: »Versuchen wir zu vergessen ... Wir vergeben und bitten um Vergebung.« Ohne Beschweigen der Untaten war ein Neubeginn nicht möglich. Historisch neu war jedoch, daß eine Seite, die Deutschen, sich erinnern mußte, damit die andere vergessen konnte. Ein Franzose brachte es auf die Formel: »Wir können vergessen, wenn ihr nicht vergeßt.«
Auch die innere Befriedung kam nicht ohne Vergessen aus, genauer: nicht ohne Vergessen-Machen. Als sich 1948 alle vier Besatzungsmächte aus der Entnazifizierung zurückzogen, standen die deutschen Politiker in West wie Ost einem Volk gegenüber, dessen große Mehrheit sich weigerte, Schuld oder auch nur Verantwortung für Krieg und Verbrechen anzuerkennen. Ohne Volk war kein Staat zu machen, Vorsicht war geboten, Kompromisse wurden nötig. Die Entnazifizierungsmaschinerie in den Westzonen begann leerzulaufen und produzierte schließlich fast nur noch Freisprüche. Die Kompromittierten durften, soweit es irgend ging, in ihre alten oder in gleichwertige Stellungen zurückkehren. Vergessen wurde nicht angeordnet, aber ermöglicht, geduldet und stillschweigend begünstigt. Von der Nazizeit und ihren Verstrickungen redete man möglichst wenig, weil es die Ruhe und den Aufbau störte. Nur engagierte Minderheiten störten noch, die Politiker mieden das Thema, auch Rundfunk und Zeitungen konzentrierten sich auf Tagesfragen, und die Geschichtsprofessoren und -lehrer hörten am liebsten mit Bismarck auf.
Mit der Masse der kleinen Nazis verfuhren die Kommunisten der Ostzone wie die Demokraten der Westzonen. »Wir wissen«, sagte Walter Ulbricht 1946, »daß ihr Nazis wart, wir werden aber nicht weiter darüber sprechen, es kommt auf euch an, ehrlich mit uns zusammenzuarbeiten.« Später suchte die SED Entlastung noch auf andere Weise. Da sie die einst herrschenden Klassen, »Träger des Faschismus«, enteignet hatte, erklärte sie, die DDR sei von den Übeln der deutschen Geschichte gereinigt und gehöre nun zu den »Siegern der Geschichte«. Alte und neue Nazis gebe es nur noch in der Bundesrepublik. Die Ostdeutschen bekamen Ruhe vor den Irritationen der NS-Vergangenheit. Was die Faschisten verbrochen hatten, erfuhr jedes Kind schon in der Schule, aber die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hatten damit nichts zu tun. Sie durften vergessen.
Die große Selbstbesinnung der Deutschen begann erst Mitte der sechziger Jahre, als Abstand gewonnen und die Nachkriegsnot überwunden war. Erinnern wurde möglich, als Vergessen nicht mehr nötig war. Erinnern konnte man fordern, als eine Generation erwachsen wurde, die nicht mehr sich selbst prüfen mußte, sondern nur noch ihre Väter zu befragen brauchte. Das geschah konsequent, gründlich, zuweilen allzu selbstgerecht, bis beinahe nichts und niemand unbefragt blieb. Keine Gesellschaftsschicht, keine Berufsgruppe, keine Institution, Organisation oder Konfession und nicht einmal die Wehrmacht, an der die ganze Nation teilgehabt hatte, konnte sich der Prüfung auf Verstrickung oder Duldung von Verbrechen entziehen. Vertuschen, Verdrängen, Vergessen wurde schwerer, großenteils unmöglich.
In der DDR vollzog sich seit Mitte der siebziger Jahre eine ähnliche Entwicklung, jedoch sehr viel schwächer. Wachsende Zweifel am System auch bei denen, die es trugen oder billigend hinnahmen, beschädigten das schöne Bild, das die SED von der Vergangenheit malte. So klar und einfach - böse Faschisten, heroische Kommunisten - konnte es nicht gewesen sein, und warum die Ostdeutschen weniger Nazis gewesen sein sollten als die Westdeutschen, war nicht einzusehen. So fragten Junge auch in der DDR die Alten, wie es damals wirklich gewesen sei und wie sie sich verhalten hätten.
Was bleibt als Bilanz? Erinnerung an die Nazi-Verbrechen war nötig, nützlich und verdienstvoll, aber die Lehre der Geschichte, daß Vergessen sein muß, wenn das Leben weitergehen soll, blieb davon unberührt. Gilt das auch für unser zweites Problem, die Hinterlassenschaft der DDR? Anscheinend nicht, denn als es um die Sünden der SED-Herrschaft ging, gab es keine Ruhepause des Vergessens. In der DDR drängten Feinde und Opfer des Regimes sogleich auf Entlarvung und Bestrafung aller Verantwortlichen. Viele Westdeutsche wollten es beim zweiten Mal besser machen als beim ersten, also schlimme Zeiten nicht beschweigen und Schuldige nicht schonen. Vergessen erschien ganz widersinnig, konnte nur der Versuch von Übeltätern sein, unerkannt zu bleiben. Tätige Erinnerung wurde Programm.
[...]SINN UND FORM 5/2008, S. 581-585
- 6/2008 | Sebastian Haffner: Journalist und Historiker
Benedetti, Mario
- 6/1979 | Mozart hören
Benjamin, Walter
- 4/1949 | Über einige Motive bei Baudelaire
- 1-2-3/1957 | Ein Familiendrama auf dem epischen Theater. Zur Uraufführung »Die Mutter« von Brecht
- 4/1984 | Radiofeuilletons für Kinder und Jugendliche
Benn, Gottfried
- 3/2003 | Briefe (an Karl Hofer)
- 1/2016 | Gottfried Benn, Friedrich Wilhelm Oelze. »Alles, was ich zu wünschen vermag, gilt Ihnen«. Aus dem Briefwechsel 1945. Mit einer Vorbemerkung von Matthias Weichelt, S. 401 Leseprobe
Benn, Gottfried
Gottfried Benn, Friedrich Wilhelm Oelze. »Alles, was ich zu wünschen vermag, gilt Ihnen«. Aus dem Briefwechsel 1945. Mit einer Vorbemerkung von Matthias Weichelt
Widerhall ohne Widerspruch. Eine Vorbemerkung
Nach der Feier seines fünfundsechzigsten Geburtstags, zu der sein Verlag im Mai 1951 nach Wiesbaden eingeladen hatte, schrieb Gottfried Benn seinem Brieffreund Friedrich Wilhelm Oelze: »Der Eindruck, den Sie gemacht haben, war allgemein groß. Wollen Sie wissen, was meine Tochter, deren Gedanken sich viel mit Ihnen beschäftigen, unter Anderem sagte? ›Eine unheimliche Erscheinung! Man muß damit rechnen (!), daß er nachts ein schwarzes Trikot anzieht u. auf Einbruch geht‹. Nun? Wenn das kein Effekt ist!«
Wenn der Bremer Großkaufmann und Jurist (1891–1978) eines vermeiden wollte, dann Effekte und Auffälligkeiten. Entsprechend verstört fiel die Antwort aus. In einer seinem Brief angefügten Notiz mit dem Titel »Das schwarze Trikot« sieht Oelze sich als »Hochstapler- oder Verbrechertyp« bloßgestellt: »das also steht in meinem habitus geschrieben für den, der zu sehen und zu lesen versteht? Das scheint mir unheimlich, und zwingt mich zu sehr schwierigen und peinlichen Selbstkorrekturen.« Daß Benn, der die labile Konstitution, die existentielle Unsicherheit des Freundes kannte und ihn zuweilen damit quälte, daraufhin die von seiner Tochter vermuteten Motive der obskuren Aktivitäten nachreichte (»aus Sensationsbedürfnis, aus Abwegigkeit, aus Perversion«), dürfte wenig zu Oelzes Beruhigung beigetragen haben. Er ging darauf nicht mehr ein. Dabei hatte das Bild des nächtlichen Phantoms die Sache nicht schlecht getroffen. Der 1891 geborene Oelze stammte aus einer alten Kaufmannsfamilie, hatte u. a. in London Jura studiert und war nach der Promotion Teilhaber einer Handelsfirma geworden, die vor allem Kolonialwaren importierte. Schon sein Großvater hatte auf Jamaika Zuckerrohrplantagen erworben, seine Mutter war dort zur Welt gekommen, und auch Oelze selbst reiste immer wieder in die Karibik – von wo aus Ansichtskarten mit exotischen Motiven auf Benns schlichtem Schreibtisch in der Bozener Straße 20 in Berlin-Schöneberg landeten. Auch dank der Heirat mit einer vermögenden Bürgertochter verfügte Oelze, dessen einziger Sohn im Zweiten Weltkrieg fiel, über die Mittel, repräsentative Wohnsitze zu unterhalten und bedeutende Möbel-, Kunst- und Büchersammlungen zusammenzutragen (darunter fast alle Veröffentlichungen Goethes in Erstausgaben). Denn die Bilanzen seiner internationalen Handelsaktivitäten waren ihm Pflicht und Aufgabe, boten aber keinerlei Befriedigung. Oelzes eigentliche Leidenschaft galt dem Geist, der Kunst, dem Schöpferischen. Ohne selbst künstlerisch begabt zu sein (die »Gedichte sind nicht gut«, schrieb ihm Benn auf übersandte Verse), wollte er teilhaben an der Sphäre der Dichter und Denker, am besten durch direkten Austausch mit Schriftstellern, Gelehrten, Philosophen wie Maximilian Harden, Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt, Martin Heidegger, später auch Hans Mayer. Die Bedingungslosigkeit, mit der er sich Benns absolutem Kunstanspruch und nihilistischer Weltsicht unterwarf, bedrohte immer wieder die Fassade seines bürgerlichen Lebens und verlangte nach Camouflage und Verstellung. Wie auch seine homoerotischen Neigungen, denen er allenfalls auf Geschäftsreisen und im Schutz der Anonymität nachgehen konnte. Hinzu kam ein fast zwanghaftes Bedürfnis nach Selbstverkleinerung, ein Gefühl der Unwichtigkeit und Bedeutungslosigkeit, das durch den Austausch mit den als Genies empfundenen Gesprächs- und Briefpartnern nicht gemindert wurde (und auf eigentümliche Weise mit seinem großbürgerlichen, fast dandyhaften Auftreten, den von Benn als aristokratisch empfundenen Umgangsformen und Manieren kontrastierte): »Seit dem Abitur feierte er keinen seiner Geburtstage, verbrannte 1947 sämtliche Fotos von sich und vernichtete fast alle in seinem Besitz befindlichen privaten Dokumente bis hin zum ›Westindischen Tagebuch‹ von 1939 mit dem Ziel, ›sich selbst zu löschen‹, um keine ›Restbestände‹ zu hinterlassen, wie Benn in ›Chopin‹ formuliert hatte.« (Hans Dieter Schäfer, Herr Oelze aus Bremen. Göttingen 2001)
Auch als Oelze 1977 die an ihn gerichteten Briefe Benns zur Veröffentlichung freigab, ließ er die eigenen weg. Viele seiner Schreiben seien verlorengegangen oder in der Nazizeit auf seinen Wunsch hin vernichtet worden, notierte er im Vorwort der Ausgabe: »Aber meinen Briefen kommt nicht mehr zu als die Bedeutung von Anregungen, Stichworten, Fragestellungen; alles Wesentliche enthalten die Antworten des Dichters.« Ob dem tatsächlich so ist, kann man anhand der nun im Wallstein Verlag erscheinenden Edition erstmals überprüfen. In jedem Fall wird man die vierundzwanzig Jahre währende Korrespondenz endlich wieder als das lesen, was sie ursprünglich war: als intensives, forderndes, mit kaum nachlassender Energie geführtes Gespräch zweier in Temperament und Herkunft grundverschiedener, einander aber bald unentbehrlich werdender Geister. Für Oelze sind Benns Nachrichten »eine immer neu sich erschliessende, immer sich mehrende Offenbarung«, deren Auslöser zu sein er immerhin für sich in Anspruch nimmt: »Ich dachte an die Briefe grosser Männer, die ich kannte; mir fiel auf, daß selbst da wo die Empfänger unbedeutende Personen waren, oft Tieferes in den Briefen stand als in den Werken, das Abgründigste, Persönlichste, nur auszudrücken wenn einer zuhörte, aber dieser musste noch den Hauch einer Schwingung empfangen können.« So am 3. Oktober 1937 an Benn. Dieser wiederum hatte das Glück, in Oelze seinen idealen Leser gefunden zu haben, mit einem feinen Gespür für jede Schwingung seiner Texte, mit der Fähigkeit, auf Fragen und Anspielungen einzugehen, und einer Aufnahmebereitschaft, die bis zur Selbstaufgabe ging. Benn erfuhr hier, anders als bei Schriftstellerkollegen und Kritikern, Widerhall ohne Widerspruch. Durch Oelzes nie nachlassendes Interesse an allem, was Benn schrieb und dachte, durch seine unverminderte Aufmerksamkeit und Anteilnahme hielt er dessen Spannung und Produktivität aufrecht und ersetzte ihm das Publikum, das es nach dem Veröffentlichungsverbot 1938 nicht mehr gab. Vor allem nach dem Krieg wird Oelze dann zum publizistischen Berater, ist einbezogen in die Zusammenstellung von Gedicht- und Auswahlbänden, läßt Journalisten und Wissenschaftler Einsicht nehmen in seine Sammlung. Denn sein größter Schatz sind jene Briefe und Aufzeichnungen Benns, deren Sicherung ihm in der Kriegs- und Nachkriegszeit zur Hauptaufgabe wird: »Das Wichtigste zunächst: Die Manuskripte sind bei mir, unbeschädigt, von keiner fremden Hand berührt.«
Begonnen hatte das alle Umbrüche und Einschnitte überdauernde Verhältnis mit einem nicht erhaltenen Brief Oelzes, den Benn am 21. Dezember 1932 mit routinierter Distanziertheit quittierte: »Mir eine große Freude, wenn Ihnen meine Aufsätze gefallen haben. Eine mündliche Unterhaltung würde Sie enttäuschen. Ich sage nicht mehr, als was in meinen Büchern steht.« Oelze hatte Benns kurz zuvor in der Neuen Rundschau erschienenen Aufsatz »Goethe und die Naturwissenschaften« gelesen und als entscheidendes Bildungserlebnis empfunden: »Bei der Lektüre dieser knappen, kaum sechzig Seiten umfassenden Darstellung erfuhr ich das spontane Betroffensein, wie es nur die Kunst zu bewirken vermag, wenn die Stunde der Bereitschaft da ist.« Und wem solches widerfährt, der läßt sich nicht so leicht abschrecken. In einem weiteren verlorenen Brief muß Oelze dann den rechten Ton getroffen haben, um Benns Interesse zu wecken und ihn zu einer ausführlichen Antwort zu bewegen. Er habe mit seiner »Frage ins Schwarze« getroffen, schreibt Benn ihm am 27. Januar 1933: »wie kann man einerseits die Wissenschaft u. ihre Resultate skeptisch ansehn, ja verächtlich betrachten u. doch sie dann für wahr setzen u. zu eigenen Ideen verwerten. Scheinbar widerspruchsvoll. Aber nur scheinbar. Anstelle des Begriffs der Wahrheit u. der Realität, einst theologisches, dann wissenschaftliches Requisit, tritt ja jetzt der Begriff der Perspective.« In diesem ersten längeren Brief, in dem Benn seine Unterscheidung von Wissenschaft und Kunst erläutert (»Sie ist Erkenntniss; während Wissenschaft ja nur Sammelsurium, charakterloses Weitermachen, entscheidungs- u. verantwortungsloses Entpersönlichen der Welt ist. … Das wahre Denken aber ist immer gefährdet u gefährlich.«), klingt schon vieles von dem an, was den Briefwechsel für beide Korrespondenten in den kommenden Jahren zum unersetzlichen Dialog – und noch heute zum großen Leseerlebnis macht: rückhaltlose Offenheit, scharfe Argumentation, das Spiel mit Ideen und Gedanken, das Aufnehmen von Anregungen und Fragen, die Lust an Zuspitzung und Provokation, auch eine gewisse Freude an Klatsch und Häme. Die Ungeduld und Neugier, mit der die Gegenbriefe zumeist erwartet wurden, ist auch nach Jahrzehnten noch spürbar.
Im Verlauf der Brieffreundschaft, nach ersten persönlichen Begegnungen (die Benn allerdings genau zu dosieren versteht, man blieb zeitlebens beim »Sie«) und regelmäßigen Kaffee-, Rum- und Blumensendungen Oelzes, nimmt auch das Private und Privateste immer mehr Platz ein, häufen sich Fragen nach Lebensumständen und Krankheitsverläufen, nach Reisen, Begegnungen, Familienverbindungen. Gerade Benn interessiert sich lebhaft für Oelzes großbürgerliches Milieu, für Kleidervorlieben und Eßgewohnheiten, die sich so deutlich von seinem eigenen Dasein unterscheiden – die in Hannover gemietete Wohnung sei »mehr eine Höhle für Molche u. Menschenfeinde als ein Renaissancebau «, läßt er den Bremer Villenbesitzer am 9. Dezember 1935 wissen. Als dieser ihn in seiner Garnison besucht, erhält die Geliebte Tilly Wedekind am 11. Juni 1936 ein genaues Porträt: »Oe. sah extravagant elegant aus. Wirklich ein merkwürdiger ungewöhnlicher Typ, gänzlich undeutsch. Sieht älter aus, als er ist (45 J.), Haar fast weiß, sehr schlank, schmales spitzes Gesicht, Gesichtsfarbe rötlich wie bei Lungenkranken, unwahrscheinlich gut angezogen. Er sieht eigentlich aus wie aus einer Revue, Hoffmanns Erzählungen, am Rand von Wirklichkeit und Halluzination.« Die daran anschließende Überlegung, ob Oelze »im Unterbewußtsein doch homo« sei, hindert Benn jedenfalls nicht, in seine Briefe an den Freund gelegentliche Berichte über Liebschaften und Amouren einzustreuen und diesen zu ermuntern, es ihm gleichzutun: »Noch sind Sie nicht 50. Der Abend des Lebens hat noch nicht sein Zwischenreich begonnen. Noch ist es etwa zwischen 4 u. 5, Theestunde, u. die charmanten Achtzehnjährigen bezaubern noch u. gefährden und beglücken. Erhalten Sie sich das! Erhalten Sie es mir!« (1. Januar 1939) Oelze geht über dergleichen meist diskret hinweg. Und lenkt das Gespräch wieder auf das, was ihm das Wichtigste geworden ist: Benns Werk.
Für solch emphatischen Zuspruch dürfte Benn gerade zu Beginn ihrer Bekanntschaft besonders empfänglich gewesen sein. Seit Anfang der dreißiger Jahre hatten die politischen Auseinandersetzungen unter Schriftstellern und Künstlern noch einmal an Schärfe gewonnen, prallten die weltanschaulichen Gegensätze mit zunehmender Wucht aufeinander. Thea Sternheim, Exfrau Carl Sternheims und Freundin Benns, notiert am 28. November 1931 in ihrem Tagebuch nach einem Besuch Franz Pfemferts und Heinrich Schaefers, wie schwer es sei, den »Jargon der Klassenwahnsinnigen aller Kategorien zu ertragen. Ob sie nun über Benn herziehen oder mit nicht misszudeutender Befriedigung für die kommenden Monate die Diktatur des Proletariats ankündigen – was kann man in dieser mit Bluträuschen aller Art durchzogenen Welt anders tun als sich auf sein Martyrium vorbereiten.« (Gottfried Benn / Thea Sternheim, Briefwechsel und Aufzeichnungen. Göttingen 2004) Wie groß die Enttäuschung unter vielen von Benns Freunden über seine Versuche war, die politischen Umwälzungen nach 1933 als geschichtliche Notwendigkeit zu deuten und mit Reden wie »Der neue Staat und die Intellektuellen«, »Zucht und Zukunft « oder der berüchtigten »Antwort an die literarischen Emigranten« zu verteidigen, läßt sich in Thea Sternheims Tagebüchern in erbitterten Eintragungen nachlesen (»Welch ein Jammer ein ganzes Volk sich dem Veitstanz der absoluten Entmenschung einreihen zu sehen. Und zu diesem Reigen erniedrigt sich ausgerechnet Gottfried Benn aufzuspielen! «). Mit dieser Begleitmusik hatte es allerdings bald wieder ein Ende. Die Akademie der Künste (»eine glanzvolle Angelegenheit«), in die er 1932 gewählt worden war und für die er, im Glauben, so deren Souveränität sichern zu können, noch im März 1933 eine Loyalitätserklärung zum neuen Regime mitverfaßt hatte (woraufhin Thomas Mann, Alfred Döblin, Jakob Wassermann, Ricarda Huch und etliche weitere Mitglieder austraten oder ausgeschlossen wurden, nachdem zuvor schon Käthe Kollwitz und Heinrich Mann hinausgedrängt worden waren), betrat er von 1934 bis zum Ende des Krieges nicht mehr. Was von dort komme, schreibt er Oelze am 5. September 1935, zeige einen »Tiefstand an Moral, innerer Makellosigkeit, aber auch rein gesellschaftlichem Schliff, dafür Überfluss an formellem Knotentum, läppischer Gesinnung, auch Unverschämtheit, dass ich ganz bestürzt bin. ›Auslese nach unten‹, Darwinismus rückwärts – das wäre die Formel, die über allem schwebt.« Viele der alten Bekannten und Kollegen waren emigriert, ein offener Austausch nicht mehr möglich. Am 1. September 1935 antwortete Benn auf eine von Oelzes Ergebenheitsadressen: »Bitte schreiben Sie doch nicht davon, dass ich Sie geistig entwickelt habe u. s. w. Ich bedarf Ihrer ja viel mehr. Sie machen sich nicht klar, wie völlig isoliert ich bin, ohne jede Beziehung geistiger Art zu meiner Umwelt. Meine Umwelt ist z. Z. nicht in diesem Land.« Schon nach Hitlers Juni-Morden hatte er am 27. August 1934 an Ina Seidel geschrieben: »Ich lebe mit vollkommen zusammengekniffenen Lippen, innerlich u. äußerlich. Ich kann nicht mehr mit. Gewisse Dinge haben mir den letzten Stoß gegeben. Schauerliche Tragödie! Wie groß fing das an, wie dreckig sieht es heute aus. Aber es ist noch lange nicht zu Ende.« Benn gibt 1935 seine Praxis auf und wird, als »aristokratische Form der Emigrierung« (an Oelze am 18. November 1934), Oberstabsarzt der Wehrmacht in Hannover. 1936 erscheint ein Angriff gegen ihn in der SS-Wochenzeitung »Das schwarze Korps«, 1938 wird Benn aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und erhält damit Veröffentlichungsverbot. Schon 1937 hatte er sich als Gutachter in Fürsorge- und Rentenfragen nach Berlin ins Oberkommando der Wehrmacht versetzen lassen; 1943 wird die Dienststelle nach Landsberg an der Warthe verlegt, von wo aus Benn 1945 nach Berlin flieht. Seine zweite Frau Herta schickt er am 5. April vor der heranrückenden Front nach Neuhaus an der Elbe, wo sie sich am 2. Juli das Leben nimmt.
Mit der von Oberst Fritz Ohmke nach Kriegsende auf Benns Bitte versandten Nachricht setzt der hier abgedruckte Ausschnitt des Briefwechsels ein. Nach der im Chaos der Nachkriegstage unterbrochenen Verbindung stehen zunächst die Schilderung des Überlebens, das Resümee der Verluste im Vordergrund. Doch schon bald geht es darum, geistig Bilanz zu ziehen, erste Ausblicke auf das Kommende zu wagen. Die drängenden Fragen der Zeit spielen in diesen auf ein vertrautes Gespräch gestimmten, um ein Werk und seinen Schöpfer kreisenden Briefwechsel, der zu den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts gehört, immer wieder hinein, wie die durch Walter von Molos offenen Brief an Thomas Mann ausgelöste Kontroverse zwischen Exil-Schriftstellern und Autoren der sogenannten Inneren Emigration, wer über die Nazijahre und Deutschlands Niederlage überhaupt zu reden berechtigt sei. Doch Politik und Moral, schreibt Oelze am 12. Dezember, böten längst keine Hilfe mehr: »Die alten Schemen wollen nicht mehr passen, die politischen nicht mehr, und die moralischen nicht mehr; die Ideologien aller Parteien sind von der Wirklichkeit längst überholt, aus ihnen ist kein revolutionärer Auftrieb mehr möglich.« Die Zukunft, davon ist er überzeugt, liegt allein im Geistigen, in der Kunst. Und Kunst, hatte er von Benn gelernt, ist »Herstellung von Wirklichkeit« (22. Dezember 1943). Die dafür notwendigen Gründungsurkunden und Geheimpapiere befinden sich ohnehin in seinem Besitz, nun geht es darum, sie an die Öffentlichkeit zu bringen und ihre Wirkung tun zu lassen. Er glaube, schreibt Oelze am 16. November 1945 an Benn, »daß die grosse Periode Ihrer öffentlichen Anerkennung und Ihrer Wirkung ins Weite etwa um 1950 herum beginnen wird«. Eine allen persönlichen Wunschgedanken zum Trotz sehr hellsichtige Prophezeiung. 1949 erscheinen vier Bücher Benns, 1951 erhält er den Büchner-Preis, 1953 das Bundesverdienstkreuz. Am wiedererwachten öffentlichen Interesse hatte auch »Bennpartner« Oelze großen Anteil, als Berater, Freund, Mäzen. Doch der Mann im schwarzen Trikot scheute zu Lebzeiten das Licht der Öffentlichkeit. Mit dem Abdruck seiner Briefe hat er die Tarnkleidung endlich abgelegt.
Matthias Weichelt
SINN UND FORM 1/2016, S. 33-37
Benot, Yves
- 3/1959 | Über Diderot. Mystifikation, romantische Ironie und Wahrheitssuche
Benrath, Ruth Johanna
- 2/2016 | Und die seligen Augen (Letzte Fassung). Gedichtzyklus
- 2/2019 | Scardanelli, revisited. Gedicht
- 2/2020 | Transit. Gedicht
- 1/2022 | Psalm. Aus der Tieffen. Gedichte
Benseler, Frank
- 4/2002 | Freundschaft in der Pestzeit. Ernst Bloch und Georg Lukács
Bentley, Eric
- 1-2-3/1957 | Die Theaterkunst Brechts (1949)
Berdichevsky, Norman
- 3/1999 | Die Sprache Israels
Berdjajew, Nikolaj
- 4/1990 | Vom ewigen und vom neuen Menschen
Berenberg, Heinrich von
- 5/2022 | Langer Atem, großes Herz. Die Verlegerin Antje Kunstmann
Berends, Wolfgang
- 6/2021 | Erinnerung an Ursula Haeusgen
Berendse, Gerrit-Jan
Berg, Heinz
- 5/1983 | Zuschriften an Wilhelm Girnus
Berg, Jochen
- 4/1981 | Niobe
Berg, Maimu
Berg, Yonatan
Berger, Christel
- 4/1984 | Generationserfahrung. Winfried Völlger: »Das Windhahnsyndrom«. VEB Hinstorff Verlag Rostock, 1983
- 4/1988 | Gespräch mit Günter Görlich
- 4/1991 | Brauchen wir es noch, dass unsere Stimmen uns erreichen?
Berger, Friedemann
Berger, John
- 5/2008 | Eine Erinnerung
Berger, Pierre
- 1/1970 | Robert Desnos
Berger, Uwe
- 4/1955 | Gedichte
- 5/1963 | Gedichte
- 5/1965 | Vergangen und gegenwärtig. Aus dem Tagebuch
- 4/1967 | Zeit, in der ich wiederkehr. Aus dem Tagebuch
- 5/1969 | Weinen und Lachen
- 1/1970 | Vier Gedichte
- 6/1971 | Wie ich zur Literatur kam
- 2/1972 | Zum Bild Gertrud Kolmars
- 4/1973 | Blaue Wege
- 3/1975 | Drei Geschichten
- 5/1977 | Gedichte
- 6/1977 | Zur Literaturgeschichte der DDR
- 5/1979 | Gedichte
- 6/1980 | Gegenwart der Klassik
- 1/1981 | Historische Miniaturen
- 6/1982 | Fleming und Roxolane
- 6/1984 | Sonette
- 2/1987 | Gedichte
- 6/1989 | Gedichte
- 5/1991 | Sonette
Bergholz, Olga
- 3/1962 | Jene kleine Waldwiese
Bergin, Joseph
- 3/2008 | Kirche und Geld im vormodernen Europa
Bergmann, Werner
- 5/1982 | Konrad Wolf zum Gedenken
Berkéwicz, Ulla
- 1/2017 | »Wer glaubt einem schon die Phantasie«. Erinnerungen an Wolfgang Koeppen
- 5/2023 | HME zu Ehren
Berlau, Ruth
- 1-2-3/1957 | Poesie der Regie
Bernhof, Reinhard
Bertaux, Félix
- 6/1996 | Briefe (an Heinrich Mann)
Bertaux, Pierre
- 4/1970 | Hölderlin und die Beziehungen der deutschen Intelligenz zum Jakobinertum
- 6/1978 | Hölderlin Geisteskrank?
- 2/1983 | Ein französischer Student in Berlin
Bertsch, Madelaine
- 4/1973 | Zu Ulrich Plenzdorfs »Neuen Leiden des jungen W.«
Bethke, Ricarda
- 1/1991 | Versuch einer Annäherung an Gabi Kachold
- 2/1992 | Von Elke geerbt. Nachdenken über »Winkelzüge oder nicht vermutete, aufschlußreiche Verhältnisse«
Bettinger, Martin
- 3/2015 | Wenn der Vater nicht stirbt
Betz, Albrecht
- 4/2023 | Ein humanistischer Rebell. Über Jacques Decour
Bey, Hannelore
- 1/1987 | Gret Palucca zum fünfundachtzigsten »Drei Verbeugungen vor Palucca«
- 2/1989 | Die Arbeit an der Rolle
Beyer, Frank Michael
- 6/2000 | Über Musik und Sprache
Beyer, Marcel
- 1/2005 | Gespräch mit Renatus Deckert
- 1/2005 | Auf Totengrund
- 1/2014 | Blatt, Baracke, Borke, Bordell. Claude Simon in Mühlberg an der Elbe
- 2/2015 | Der Schnitt am Hals der Heiligen Cäcilie
- 1/2022 | »Und wie geht der Gesang«. Laudatio auf Anja Kampmann
Bhaduri, Satinath
- 4/1969 | Cakha-Cakhi. An eine Liebe
Bharati, C. Subramanya
- 4/1969 | Gedichte
Bhely-Quenum, Olympe
- 2/1967 | Das Lied des Sees
Bianciotti, Hector
- 3/2010 | Gespräch mit Roger Caillois (1978)
Bibiella, Katrin
Bichsel, Peter
- 5/1970 | Ein Tisch ist ein Tisch
- 2/1999 | Der Westenwechsel. eine transsibirische Geschichte für Peter Härtling
Biebl, Konstantin
- 2/1962 | Gedichte
Biedenkopf, Kurt H.
- 6/1990 | Kurt H. Biedenkopf zu Gast bei Christa Wolf: Soziale Marktwirtschaft, Kultur und Utopie
Biele, Peter
- 6/1965 | Gedichte
- 2/1971 | Horst Schönemann im nächtlichen Gespräch mit seiner Strassenbahn
- 3/1971 | Bergerlebnis
- 6/1973 | Nochmals - die neuen Leiden
- 2/1979 | Der alte Mann und das Kind
- 1/1980 | Rostower Miniaturen
- 1/1983 | Nach Belgrad zum Oktobermeeting
- 2/1984 | Die drei Reisen des Bulat Okudshawa oder Metamorphose eiens Komödianten
- 3/1987 | Misstraut der Nachtigall...
Bielefeld, Claus-Ulrich
- 2/2010 | Gespräch mit Adolf Endler (2005)
- 4/2010 | Gespräch mit Wilhelm Genazino, S. 518 Leseprobe
Bielefeld, Claus-Ulrich
Gespräch mit Wilhelm Genazino
CLAUS-ULRICH BIELEFELD: In Ihrem Roman »Das Glück in glücksfernen Zeiten« erzählen Sie aus dem Leben des 41jährigen Gerhard Warlich. Der hat über Heidegger promoviert, arbeitet aber als Geschäftsführer einer Großwäscherei. Und er verspürt den Drang, seine Mitmenschen manchmal »über die allgemeine Ödnis des Wirklichen« aufzuklären. Die Ödnis des Wirklichen, ist das der Stachel, der im Fleische Gerhard Warlichs steckt und auch in dem Ihrer anderen Helden?
WILHELM GENAZINO: Das kann man so sagen. Die Ödnis des Wirklichen ist nicht nur der innerste Kern dessen, was meine Protagonisten sehen, sondern auch dessen, was ich sehe, worüber ich mich nicht beruhigen kann.
BIELEFELD: Ihre Helden leiden ja einerseits an dem öden Alltag, in dem sie gefangen sind, andererseits suchen sie ständig nach kleinen Sensationen, die sie in winzigsten Dingen finden. Gerhard Warlich sitzt zum Beispiel am Anfang des Romans in einem Straßencafé, und durch intensives Schauen öffnet sich ihm dort die Welt.
GENAZINO: Das ist sozusagen der Notausgang für ihn, das Schauen, seine Fähigkeit, kleine oder mittlere Ereignisse zu sehen, die ihn unterhalten, ihn auf eine andere Ebene heben, in eine andere Wirklichkeit bringen. Das ist der metaphysische Trick, daß man, wenn man sich anstrengt und einige Kniffe kennt, dem »Zwangsabonnement der Wirklichkeit« entkommt.
BIELEFELD: Dieses Entdecken der Wirklichkeit durch Blicke, durch das plötzliche Aufblitzen von Situationen, gewissermaßen kleiner Epiphanien, das ist auch eine Art unbewußte Widerstandshaltung gegen die schnöde Wirklichkeit.
GENAZINO: Gerhard Warlich hat durchaus bemerkt, daß diese anfangs unbewußte Möglichkeit inzwischen in eine bewußte übergegangen ist. Wenn er innerlich in Not ist, setzt er sich hin und sagt: Ich weiß, was mir helfen könnte, und dann sucht er und findet bald auch etwas.
BIELEFELD: Aber irgendwann geht es nicht mehr. Er endet in einer psychiatrischen Klinik, weil die Zumutungen zu groß geworden sind. Selbst seine Lebensgefährtin Traudel sagt plötzlich, ach, wir sollten heiraten und ein Kind haben, mit meinen 38 Jahren wäre das vielleicht genau das Richtige. Das macht ihn völlig fertig, um es mal salopp zu sagen.
GENAZINO: Er glaubt, das würde sein Existenzkalkül durcheinanderbringen. Und er fürchtet, daß das ganze Arrangement damit kippt und er der Verlierer dieser Veränderung sein wird. Ihm fehlt einfach der Mut, sein Leben zu transformieren.
BIELEFELD: Er selbst nennt sich einmal einen Hysteriker des Ichs. Warum kommt er nicht aus dieser Situation heraus?
GENAZINO: Wenn ich das wüßte, würde ich wahrscheinlich keine Romane mehr schreiben. Man kommt ja selten hinter die Maskerade der Worte. Mal kommt der eine Begriff der Sache näher und mal der andere, aber was im Erfahrungskern dieses Problems eigentlich steckt, entzieht sich uns beziehungsweise ist nicht faßbar.
BIELEFELD: Sie haben am Anfang eine leise Andeutung gemacht, daß die Figuren und Sie selbst gewisse Ähnlichkeiten haben. Welche sind das?
GENAZINO: Da gibt es einige. Zum Beispiel mache auch ich vom Umhergehen und Schauen und Transformieren reichlich Gebrauch. Das ist immer unterhaltsam. Im Gegensatz zu den öffentlichen Unterhaltern, dem Fernsehen.Wenn man das satt hat, braucht man eine Alternative. Dann muß man sozusagen vom Fernsehen umschalten aufs Nahsehen. Oder aufs ichhafte Sehen. Das ist ein wunderbares Unterhaltungsprogramm, weil es mit dem Sehenden selbst zu tun hat.
BIELEFELD: Sie gelten als der große Flaneur der deutschen Literatur. Wie geht dieses Flanieren vor sich? Sie brauchen dafür ja eine Stadt, am besten wahrscheinlich Frankfurt am Main?
GENAZINO: Ich mache das auch anderswo. Und man benötigt dafür auch keine besondere Gebrauchsanweisung, sondern man geht einfach los, möglichst absichtslos, in möglichst öden Umgebungen – also keineswegs dort, wo es nach allgemeiner Auffassung besonders interessant ist oder wo es von Sehenswürdigkeiten wimmelt. Sondern dorthin, wo es eigentlich nichts gibt. Das ist gerade das Interessante, denn die Langeweile, die sich dort ausbreitet, ist gar keine. Nach Walter Benjamin ist die Langeweile nur ein samtenes Etui, das wunderbare Schätze birgt. Sie enthüllen sich einem, wenn man länger hinschaut als üblich.
BIELEFELD: Und das machen Sie?
GENAZINO: Das mache ich. Und auch wenn es sehr lange dauert, stört mich das nicht. Selbst wenn das Ergebnis nach allgemeiner Übereinkunft öde ist, darauf kommt es nicht an. Es kommt darauf an, was man in der Nachbereitung daraus macht. Das, was einem Menschen auffällt, hat immer einen Bezug zu seiner Innenwelt, seiner Biographie. Sonst würde es ihm nicht auffallen. Und diesen Bezug zu entdecken, darum geht es. Warum fällt mir zum Beispiel ein lahmer Hund auf? Warum bemerke ich einen Hund, dessen eines Hinterbein verbunden ist und der herumhumpelt? Diese Verletzung macht ihn mensch- licher, als er ohnehin schon ist. Warum ist das so? Warum springe ich darauf an? Wenn ich eine Weile nachdenke, mich eine Weile in mich selber einfühle, fällt mir natürlich der Bezug ein, der Bezug zu mir selbst. Das ist eine Technik, die ich jedem Menschen empfehle. Das hat mit Literatur zunächst gar nichts zu tun. Es ist einfach eine wunderbare Lebensartgestaltung. Man muß natürlich etwas Geduld haben, man muß auch den Mut haben, sich von allen öffentlichen und allen anderen uns beherrschenden Unterhaltungssitten zu trennen.
BIELEFELD: Sie beschreiben hier ein großes Augenglück, ein Glück, das bei der heutigen Überflutung mit Bildern schwer zu ergattern ist.
GENAZINO: Ja, das ist schwer und es wird immer schwerer, weil die Einkesselung, in der wir stecken, immer massiver wird. Man kann ja noch nicht einmal mehr auf den Boden gucken, denn in den Städten ist inzwischen auch der Boden mit Reklame bepflastert. Das ist ungeheuerlich. Mich wundert, daß das nicht thematisiert wird, daß sich niemand darüber aufregt. Früher hatte man eine erste Fluchtmöglichkeit, indem man mit gesenktem Blick umherging. Das kann man heute nicht mehr. Und auch in den Himmel kann man nur noch schauen, wenn man in einem Park oder einem Schwimmbad ist.
[...]
SINN UND FORM 4/2010, S. 518-523
Bieler, Manfred
- 6/1964 | Das verschluckte Herzogtum
Bieliauskas, Alfonsas
- 6/1968 | Gespräch mit Wilhelm Girnus
Bienek, Horst
- 4/1951 | Mit einem Wort
Bierbaum, Otto Julius
- 5/1949 | Briefe an Paul Wiegler
Biermann, Wolf
- 5/1990 | Hans Bunge zum Gedenken / Mag sein, das ich irre
Bierwisch, Manfred
- 3/1995 | Uwe Johnson, Güstrow und die Differenz
- 5/1995 | An Béla denken. Ein Versuch über Eberhard Klemm
- 6/1997 | Gespräch mit Marie-Luise Bott
- 6/2000 | Über Musik und Sprache
- 6/2010 | Erinnerungen an Hans Bunge
- 4/2014 | Wovon der Autor leben soll. Erinnerung an Uwe Johnson
Bihalji-Merin, Oto
- 5/1964 | William Faulkner - Mythos der Zeit
- Sonderheft Thomas Mann/1965 | Thomas Mann - Weltsicht und Selbstvollendung
- 2/1979 | Architekturen der Gewalt und des Geistes
Binder, Elisabeth
- 5/2020 | Auf Goldgrund. Brigitte Kronauers Figurenkunst
- 3/2021 | Splitter im unendlich Offenen. Philippe Jaccottets Poesie der Anwesenheit
Bioltschew, Bojan
- 3/1994 | Schwanensee
Bissinger, Manfred
- 4/1992 | Wie geht es weiter? Vom Jahreskongreß des P.E.N. -Zentrums Bundesrepublik
Bitow, Andrej
- 6/1990 | Man fragt mich
Blake, David
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Mein Lehrer Hanns Eisler
Blake, William
- 1/1950 | Angus und Seth
Blamberger, Günter
- 4/2012 | Das letzte Wort hat nicht der Realismus. Rede zur Verleihung des Kleist-Preises an Sibylle Lewitscharoff
Blandiana, Ana
Blech, Leo
- 5/2002 | Kommen Sie in Ihre Heimat zurück! - Briefe von, an und über Generalmusikdirektor Leo Blech
Blecher, M.
- 5/2014 | Berck, Stadt der Verdammten
Bleisch, Ernst Günther
- 2/1956 | Neue Lyrik
Bleutge, Nico
- 1/2004 | Kühlere Schläfen
- 5/2005 | Gedichte
- 1/2013 | Das Dunkel darüber. Drei Gedichte
- 5/2015 | Auf der Lichtung. Dankrede zum Christian- Wagner-Preis
- 3/2023 | Ein Wasserfall aus Farben. Laudatio auf Birgit Kreipe
Bloch, Ernst
- 3/1949 | Die Selbsterkenntnis. Aus Erläuterungen zu Hegel
- 5/1949 | Dargestellte Wunschlandschaft in Malerei, Oper, Dichtung
- 3/1950 | Eldorado und Eden, die geographischen Utopien
- 3/1951 | Über den Begriff Weisheit
- 4/1951 | Der Student Marx
- 6/1951 | Unterschied des Tagtraums vom Nachttraum
- 3/1952 | Avicenna und die Aristotelische Linke
- 5/1953 | Tagtraum in entzückender Gestalt. Pamina oder Das Bild als erotisches Versprechen
- 2/1954 | Über Beziehungen des Mutterrechts (Antigone) zum Naturrecht
- 5-6/1954 | Der junge Goethe, Nicht-Entsagung, Ariel
- 2/1955 | Schiller und Weimar als seine Abbiegung und seine Höhe
- 6/1955 | Das hohe Paar, ein altes Ehesymbol
- 2/1956 | Figuren der Grenzüberschreitung; Faust und Wette um den erfüllten Augenblick
- 4/1956 | Revueform in der Philosophie. Zu Walter Benjamins »Einbahnstraße«
- 5-6/1956 | Überschreitung und intensitätsreichste Menschenwelt in der Musik
- 4/1985 | Aus der Schelling Vorlesung
- 4/2001 | Briefe an Jürgen Teller
- 4/2010 | Briefe zum Photographie-Aufsatz
- 2/2011 | Briefwechsel mit Carlfriedrich Claus. Mit einer Vorbemerkung von Gerhard Wolf
Bloch, Jan Robert
- 3/1991 | Wie können wir verstehen, das zum aufrechten Gang Verbeugungen gehörten?
Bloch, Jean-Richard
- 2/1971 | Paris beugt sich nicht!
Bloch, Karola
- 2/2011 | Briefwechsel mit Carlfriedrich Claus. Mit einer Vorbemerkung von Gerhard Wolf
Blok, Alexander
Blokh, Alexandre
- 1/1984 | Die Befreiung von Lyon
Bloy, Léon
- 5/2016 | Brief aus dem Kloster. Mit einer Vorbemerkung von Alexander Pschera
Blubacher, Thomas
- 5/2019 | »Der Schock war gewaltig«. Carson McCullers schreibt Ruth Landshoff-Yorck über Annemarie Schwarzenbach, S. 585 Leseprobe
Blubacher, Thomas
»Der Schock war gewaltig» Carson McCullers schreibt Ruth Landshoff-Yorck über Annemarie Schwarzenbach
Verstaubte Kartons voller Notizbücher und Agenden, Zeitungsausschnitte und Belegexemplare, die Ruth Landshoff-Yorck – in den sechziger Jahren von ihren jungen amerikanischen, meist schwulen Kollegen als die »Poet Lady von Greenwich Village« verehrt – aus Platzmangel im Haus ihres Protegés und Mäzens Kenward Elmslie im New Yorker Künstlerviertel deponiert und die über ein halbes Jahrhundert keiner mehr durchgesehen hatte. Ein Glücksfund bei der Recherche zur Biographie der 1966 verstorbenen, vorübergehend in Vergessenheit geratenen Schriftstellerin: bündelweise Familienkorrespondenz, dazu spektakuläre Aktfotos von ihr, Josephine Baker und anderen jungen Frauen, Briefe von Klaus Mann, Francesco von Mendelssohn, Annette Kolb, Thornton Wilder und weiteren großen Namen. Etliche Schreiben auch von Annemarie Schwarzenbach sowie ein einziges, längeres von Carson McCullers vom Mai 1946, dessen Beginn aufmerken ließ: »The shock was immense.« Reaktion auf Landshoffs berührendes Porträt der dreieinhalb Jahre zuvor ums Leben gekommenen Annemarie Schwarzenbach.
Drei Schriftstellerinnen verschüttet unter ihrem Ruhm, unter selbstgeschaffenen Legenden. Existenzen als Abenteuer. Und als Kunstwerk. Selbst wer nie ihre Texte gelesen hat, kennt mit den Namen der Schönen, Reichen und Einflußreichen gespickte Episoden aus Landshoff-Yorcks schillerndem Leben, hat die unterkühlt-elegante, androgyne Schönheit des »untröstlichen Engels« Schwarzenbach vor Augen, kann den Titel von McCullers’ 1940 erschienenem Erstling zitieren, der die Dreiundzwanzigjährige über Nacht berühmt gemacht hatte: »Das Herz ist ein einsamer Jäger«. Alle drei waren zeitweise verheiratet, Ruth von 1930 bis 1939 mit Friedrich-Heinrich Graf Yorck von Wartenburg, Ururenkel des berühmten Generals Ludwig von Yorck, einem Bankangestellten mit dem Aussehen eines Filmstars, dessen Liebe zu Ruth trotz einer zweiten, mit drei Kindern gesegneten Ehe nicht nachließ, Annemarie ab 1935 mit dem homosexuellen französischen Diplomaten Claude-Achille Clarac und Carson ab 1937 mit dem literarisch ambitionierten ehemaligen Soldaten und Bankangestellten Reeves McCullers, von dem sie sich zwar 1941 scheiden ließ, aber bis zu dessen Selbstmord 1953 nicht loskam. Alle drei gingen Beziehungen mit Frauen ein, und alle drei verzehrten sich vor unerwiderter Liebe: Ruth (unter anderem) zu Eleonora von Mendelssohn, Annemarie zu Erika Mann, Carson zu Annemarie.
Ruth Landshoff-Yorck, 1904 geboren als Ruth Levy in eine bürgerlich jüdische Familie in Berlin, genauer gesagt: im damals noch nicht eingemeindeten Schöneberg, begegnete schon als Kind den Berühmtheiten ihrer Zeit im Hause des Verlegers Samuel Fischer, eines angeheirateten Onkels. Schon Jahre, bevor sie sich mit kessen Feuilletons als Rut Landshoff einen Namen machte, glänzte sie als frühes It-Girl, berühmt fürs Berühmtsein, umworben, geliebt und verhätschelt. Eine androgyne Stilikone mit Bubikopf und Zigarette, die gemeinsam mit dem flamboyanten Francesco von Mendelssohn als Crossdresser durch Berlin zog, die zum Entzücken des Grafen Kessler »im Smoking sehr hübsch wie ein Junge aussehend, was sie noch durch eine Hornbrille unterstrich und aufgeschminkte Andeutung schwarzen Bartflaums«, mit der nackten Josephine Baker tanzte, Marlene Dietrich zu ihrer Rolle im »Blauen Engel« verhalf und Charlie Chaplin durch Berlin lotste. Viele dieser Bekanntschaften verdankte sie dem knapp sechsundzwanzig Jahre älteren Schriftsteller Karl Gustav Vollmoeller, dessen Geliebte sie mit gerade mal siebzehn geworden war. Daß sie sich nicht ausschließlich zu Männern hingezogen fühlte, störte ihn keineswegs, bisexuelle junge Mädchen entsprachen seinem Beuteschema. Und schon bald wurde es zu ihrer Aufgabe, seinen »Harem« mit Nachschub zu versorgen.
Die literarisch ambitionierte Schweizer Geschichtsstudentin Annemarie Schwarzenbach und Vollmoeller begegneten sich indes ohne Landshoffs Vermittlung, im Januar 1929: »Ich traf in St. Moritz (ausgerechnet in jener Bergstadt der oberflächlichen Lebensfreude!) einen Freund [Stefan] Georges, Karl Vollmoeller, der mich davon überzeugte, dass George der Einzelne, Starke, naturhaft Geniale ist.« Erst später schließt, durch Vollmoellers Initiative, auch Ruth mit Annemarie Bekanntschaft: »Sie weinte lautlos und ziemlich oft, schon am ersten Tag, an dem wir uns kennenlernten«, heißt es in ihrem literarischen Porträt der Freundin. »Sie sagte nie warum, und ich war zu diskret, um sie auszufragen. Und da Annemarie ganz offensichtlich nicht gern alleine war, wenn sie diese Tränen vergoß, so blieb ich da und sah zu, wie sie flossen. (…) Wir trafen uns in St. Moritz. Sie war dahin gekommen, als sie hörte, ich sei da. Sie kam auf mein Zimmer im Palace. ›Ich bin Annemarie‹, sagte sie. Ich küßte sie. ›Guten Tag.‹ Sie war reizend. Sie gefiel mir.«
[…]SINN UND FORM 5/2019, S. 585-590, hier S. 585-586
Blücher, Heinrich
- 6/2022 | Alcopleys Zeichnungen
Blume, Franz
- 5/1986 | Alfred Woznik, genannt Max Brings
Blumenberg, Hans
Bobrowski, Johannes
- 4/1955 | Gedichte
- 4/1957 | Drei Gedichte
- 3/1958 | Gedichte
- 4/1961 | Gedichte
- 2/1962 | Zwei Erzählungen
- 3-4/1965 | Der Tänzer Malige
- 6/1965 | Der Mahner
- 1/1966 | Litauische Claviere
- 4/1966 | Gedichte
- 6/1967 | Xenien
- 3/1970 | Gedichte
- 3/1982 | Im Gefangenenlager
Bock, Sigrid
- 6/1971 | Nachzudenken über die Kraft der Liebe
Boda, Edit
- 3/2014 | Die Libellen des Flusses Pu
- 4/2016 | Die Reise des Mönches Bo auf dem Rad. (Zusammen mit Emese Möhrig-Marothi)
- 4/2019 | Metalle. Gedichte
Boehm, Annette C.
- 1/2023 | Antworten an unsere Korrespondentinnen. Gedichte
Bogza, Geo
Böhm, Jonathan
- 1/2016 | Lenka Reinerová oder Was bleibt?
Böhm, Vera
- 2/1955 | Mit Marceau unterwegs
Böhme, Helmut
- 6/1985 | Antwort an Erhard Geißler
- 5/1989 | Stimmen zu Daniil Granins neuem Roman / Geschmäht und verehrt - Beschreibung eines wechselvollen Lebens
Böhme, Thomas
- 1/1985 | Gedichte
- 2/1987 | Gedichte
- 1/1988 | Meinungen zu einem Streit - Das Erbe verfübar besitzen
- 3/1989 | Monatsstimmen
- 2/1991 | Gedichte
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- 1/1995 | Gedichte. Ich war in ein gewässerreiches Land verschlagen worden
- 3/1995 | Im Ort
- 5/1996 | In Zieglers Haus
- 1/1998 | Der Bauer mit dem Notenständer
- 6/1998 | Die Stadt mit den braunen Straßenbahnen
- 4/2000 | Wohin wohl
- 3/2002 | Die Stadt der sorgsamen Trennung
- 3/2007 | Gedichte
- 2/2009 | Gedichte
- 5/2010 | Gedichte
- 2/2012 | Capriccios
- 3/2013 | In den Freihäfen des Schlafs. Gedichte
- 1/2015 | Der Erinnerung geht der Sauerstoff aus. Gedichte
- 5/2017 | Das gespaltene Meer. Gedichte
- 6/2019 | Fontane Gelände. Gedichte
- 2/2023 | Im Geigenkasten nisten die Schwäne. Gedichte
Böhmel, Bernd
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Böhmel, Susanne-Katrin
- 4/1991 | Zwei Texte
Bohomolez, Oleg
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Bohrer, Karl Heinz
Bois, Curt
- 6/1979 | Paul Dessau zum Gedenken
Bolano, Roberto
- 5/2014 | Die romantischen Hunde. Gedichte. Mit einer Nachbemerkung von Pere Gimferrer
Boldizsár, Iván
- 3/1978 | Iwan
Böll, Heinrich
- 3/1985 | Die Juden von Drove
Bolz, Norbert
- 5/2006 | Gespräch mit Jochen Rack
Bondarew, Juri
- 6/1982 | Augenblicke
Bondy, Walter
- 4/2010 | Tausend einfältige Gedanken eines Unberühmten. Mit einer Vorbemerkung von Manfred Flügge
Bonnefoy, Yves
- 1/2017 | Weiter vereint
Bönt, Ralf
- 5/2022 | Über Unwissende. Versuch zum Verlust der Gegenwart, S. 593 Leseprobe
Bönt, Ralf
Über Unwissende. Versuch zum Verlust von Gegenwart
Das Ende der Vormoderne:
Die Erosion der Kirche und die Notwendigkeit von Religion
Schon bevor der russische Präsident seinen heillosen Krieg gegen die Zukunft anfing, war auch im Westen die Vorstellung von ihr verlorengegangen. Mehr noch, mit den Kirchen und der Wissenschaft waren in Deutschland die vermeintlichen Vertreter von Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig unter Legitimationsdruck geraten, weil es am Verständnis dafür mangelt, worin der Unterschied zwischen beiden besteht. Inmitten einer Pandemie mit ihren bedrohlichen Unwägbarkeiten wendeten sich mehr Menschen als je zuvor von den Kirchen ab, statt dort etwa Halt zu suchen. Gleichzeitig wurden in diesen Tagen Geistliche in großer Zahl für schwerste Vergehen an jungen Menschen verantwortlich gemacht, die man in ihre Obhut gegeben hatte. Und nicht nur dafür, sondern auch für die jahrzehntelange Vertuschung der Sexualstraftaten. Schockiert nimmt die Öffentlichkeit zur Kenntnis, daß Vaterfiguren über Minderjährige verfügt haben, als habe es nie eine sexuelle Revolution, eine emanzipative Moderne und eine liberale Selbstbestimmung und Gleichwertigkeit unter Menschen gegeben.
Während Kirchenvertreter Verantwortung nicht übernehmen, wo sie es unbedingt müßten, wird den Wissenschaftlern eine Verantwortung zugewiesen, die sie nicht zu tragen haben und auch nicht tragen können. Wissenschaftler werden persönlich verantwortlich gemacht für eine Naturkatastrophe, von der sie die Öffentlichkeit unterrichten, und ebenso werden sie verantwortlich gemacht für unvollständiges oder fehlendes Wissen darüber. Man möchte sie haftbar machen für das verursachte Leid, obwohl klar ersichtlich ist, daß die Menschheit mittels Statistik, Informationstechnologie, Gentechnik und einiger anderer Disziplinen erstmals einer Seuche ernsthaft trotzt. Die Verwechslung des Boten mit der Botschaft, die Unterstellung, die Wissenschaftler seien altväterlich verantwortlich für alles, was geschieht, und verfolgten damit eigene Ziele, führt zu einer grotesken Situation: Einfache, epidemiologisch skalierte Hygiene wird häufig ebenso rigoros abgelehnt wie hocheffiziente Impfstoffe, welche diese Hygiene weitgehend überflüssig machen würden. Statt dessen zieht man eine vormoderne Hingabe an das Schicksal vor, dem man sich lieber anvertraut als den Fachleuten. Für diese wirren Fehleinschätzungen ist das noch immer ungeklärte Verhältnis des modernen Menschen zu Religion und Wissen ebenso verantwortlich wie das ungeklärte Verhältnis von Religion und Wissen zueinander. Oft wird einfach angenommen, das Wissen folge dem Glauben und ersetze ihn, weil man jetzt manches genauer wisse. Vielleicht etwa so wie einst die Fotografie die Porträtmalerei ersetzt habe, weil sie angeblich die Wirklichkeit tatsächlich wiedergebe. Doch diese Vereinfachung wird weder den Möglichkeiten des Glaubens noch denen des Wissens gerecht. Sie führt zur Überforderung beider. Malerei gibt es noch immer, sie wird nicht weniger geschätzt als früher. Anders als die Kirchen hat sie sich allerdings entwickelt, heute ist sie moderne Malerei. Eine moderne Kirche aber gibt es nicht. Das Problem: Aus Unkenntnis der grundsätzlichen Unterschiede zwischen Wissen und Glauben werden lang eingeübte Haltungen, mit denen man Geistlichen zu begegnen gewohnt war, heute unkritisch und unbewußt auf die Wissenschaft und deren Vertreter übertragen. Das kann nicht funktionieren. Deshalb muß das Verhältnis von Wissen und Glauben eingehender betrachtet werden, als das bislang geschehen ist.
Daß Wissenschaft keine letzten Fragen behandelt, wie die Religion es tut, sondern immer nur die nächste, ist dabei schon eine hilfreiche, entlastende Formel. Sie impliziert, daß Religion nicht überflüssig werden kann und Wissenschaft sie nicht ersetzen muß. Erlösung ist von der Wissenschaft nicht zu erwarten, jedenfalls keine endgültige. Aus gutem Grund sind Religion und Wissenschaft in verschiedenen Sprachen verfaßt: Daß im Anfang die Zahl war, hätte leicht der erste Satz eines Manifests der Moderne sein können, das nie geschrieben wurde. Spätestens hier nämlich beginnen die Schwierigkeiten. Daß es trotz einiger Versuche keine Bibel der Neuzeit gibt, hat vielleicht damit zu tun, daß dieser Satz viele Menschen abschreckt. Niemand wird indes bestreiten wollen, daß eine verdreifachte Lebenserwartung eine große Emanzipation des Menschen darstellt. Man wird auch nicht denken, daß der Mensch im Prinzip so lebt wie zuvor, von einigen Fortschritten und Bequemlichkeiten abgesehen. Aber wie lebt er dann, was genau hat sich verändert?
Heute geht er bei Krankheiten, Katastrophen und Krisen nicht mehr beten und tut auch nicht mehr Buße, um den Herrn milde zu stimmen, sondern er sucht nach Lösungen. Immer häufiger findet er auch eine, die er anschließend verfeinert und verbessert. Ohne Zahlen ginge dabei nichts. Die Diskrepanz zwischen der Aversion gegen die Zahlen und ihrer Notwendigkeit birgt ein Problem, das immer weniger zu übersehen ist: Es ist die Diskrepanz zwischen der modernen Welt und dem mangelnden Verständnis ihrer Kultur. Zahlen stehen einem tieferen Verständnis davon, wie der Mensch jetzt in der Welt ist, oft im Wege. So ähnlich wie eine Fremdsprache dem Verständnis gängiger Witze eines Landes im Wege steht und dem Verständnis ihrer Verkehrsregeln, ihrer sonstigen Gesetze und Gepflogenheiten. Ohne diese Sprache zu lernen wird man in dem Land nicht zurechtkommen. In der Pandemie war auch nicht etwa die fehlende Kenntnis der Infektionswege, der kommenden Infektionswellen oder ein Mangel an Medikamenten und Impfstoffen das größte Problem. Das stand alles in kürzester Zeit zur Verfügung. Diese Leistungen gäben eigentlich Anlaß für ein Freudenfest oder ein stilles Gedenken an Seuchenopfer früherer Tage.
Daß all dies von so vielen abgelehnt wurde und die Pandemie deshalb weiterlief, ist eine historisch neue, hochgradig paradoxe Situation und das wichtigste Problem der Zeit. Die Pandemie ist ja kein Sonderfall, bei der Bekämpfung der Erderwärmung ist ein ähnlicher Verlauf schon Realität. Auch bei Transplantationsmedizin, Fortpflanzung, Genscheren und humanem Sterben stellen sich ähnliche Fragen mit hoher Dringlichkeit. Dazu kommt die Digitalisierung als Grundversorgung des Menschen mit Informationen. Das sind exakt jene Fragen, auf die Alexander Dugin als Stichwortgeber des russischen Präsidenten seine radikalen Antworten gibt, die vor allem radikal falsch sind. Schließlich lehnt er alle Errungenschaften ab, weil er eine Aushöhlung des Menschen in ihnen sieht, den er vor seinen eigenen Errungenschaften bewahren will. Eine Emanzipation des Menschen, welche die Moderne ausmacht, kann er offenbar nicht erkennen. Daß aus der einst göttlichen Autorität, die als personal, also launisch und beeinflußbar galt, eine apersonale, unbestechliche und lesbare Autorität geworden ist, scheint nicht hinreichend klar: Anders als ein Gott hat das Naturgesetz keinerlei menschliche Züge. Es ist eine unbestechliche Autorität, die in niemandes Dienst steht. Gerade das aber macht ihren revolutionären Charakter aus. Der entscheidende Unterschied ist die Zuverlässigkeit. Das Naturgesetz sagt immer dasselbe. Wenn es richtig verstanden wird, kann man es für sich nutzen. Statt das anzuerkennen, wird die moderne Autorität aber durch den einzelnen heute oft grundsätzlich abgelehnt. Das ist nicht emanzipiert, also erwachsen, sondern das glatte Gegenteil: kindisch.
Die Frühmoderne: Vom Sterndeuter zur Antimaterie
Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, muß man sich die Geschichte der Moderne, den Lauf der Entdeckungen ansehen und versuchen, sie in ihre Zeit einzuordnen. Es mag heute schwer vorstellbar sein, aber die Idee eines Naturgesetzes war nicht immer schon in der Welt. Man dachte lange, jemand wache über die Welt und den Menschen. Ob dieser gütig sei, fragte Luther und verzweifelte an der Frage. Daß aber niemand wirklich über allem wacht, daß sich die Welt vielmehr nach Gesetzmäßigkeiten richtet, die nicht weiter erklärbar sind, ist eine Idee, die schon bei Epikur und Lukrez virulent war und die Johannes Kepler dann als erster ernsthaft verfolgte. Kepler studierte Theologie in Weil der Stadt, wurde aber schon als junger Mann überredet, eine Stelle als Mathematiklehrer in Graz anzunehmen. Zu seinen Pflichten gehörten Horoskope, und je länger er die Sterne beobachtete, desto mehr ahnte er, daß schwere Körper einander anziehen und aufeinanderzueilen wollen. Kurioserweise wirkt ihr Gewicht dabei als Bremse. Das war überhaupt keine einfache Einsicht, darauf mußte man erst einmal kommen. Isaac Newton schien die Idee schon ausgearbeitet zu haben, sie beschäftigte dann aber noch Albert Einstein. Schließlich war der Mensch in der Lage, das zu tun, wovon Kepler geträumt hatte: zum Mond zu fliegen. Kepler hatte darüber eine Geschichte geschrieben, quasi den ersten Science-fiction-Roman der Welt. Auch Kepler lebte von Ideen, die schon vor ihm da waren. Als Lutheraner setzte er sich für die Lehren von Nikolaus Kopernikus ein. Kepler war es, der erstmals vom Lernprozeß über verschiedene Generationen sprach und damit auch ein neues Verhältnis der Generationen einführte.
Die Moderne fing nicht mit den Planeten und dem Himmel an, der Mensch selbst stand im Zentrum. Als Beginn der neuen Zeit gilt manchen die erste Schnittentbindung, die beide überlebten: Mutter und Kind. Der sogenannte Kaiserschnitt wurde vor einem halben Jahrtausend vom Schweizer Tierarzt Jakob Nufer durchgeführt, nachdem die Frau, Elisabeth Alespach, tagelang in den Wehen gelegen hatte. Sie drohte zu sterben, wie es damals dauernd vorkam. Nufer eilte zum Prälaten und bat um Erlaubnis für den gefährlichen Eingriff. Dann setzte und versorgte er den Schnitt, wie er es an Schweinen gelernt hatte. Die erfolgreiche Operation sprach sich schnell herum, viele Menschen gingen von da an, wenn sie Hilfe brauchten, zum Arzt. Das Beten rückte in den Hintergrund. Es war nicht mehr das erste, was man tat, sondern das letzte. Das Vertrauen in die Kirche und ihre Vertreter war zu diesem Zeitpunkt schon stark erodiert, denn ähnlich wie sie heute in der Pandemie keinen Rat weiß, war schon während der Pest klargeworden, daß die Erzählungen der Priester nicht stimmten: Weder war Krankheit Strafe, noch schützte Gottesfurcht. Der Konflikt eskalierte mit Nikolaus Kopernikus, der 1473 zur Welt kam. Seine Untersuchungen über die Revolution, also die Wiederkehr der Planeten, gab er erst 1543 auf dem Sterbebett zum Druck frei. Kopernikus bekleidete als preußischer Domherr ein geistliches Amt und fürchtete kirchliche Sanktionen, denn er betrachtete die Erde als einen von mehreren Himmelskörpern, der zudem um die Sonne kreiste. Man hatte das immer umgekehrt angenommen, denn für irdische Beobachter sieht es halt so aus.
Die Pointe, daß Geo- und Heliozentrismus keinen Widerspruch bilden, sondern gleichberechtigte Beschreibungen sind und leicht ineinander überführt werden können, war noch lange nicht erschlossen: Dazu mußte der Kopernikaner und Lutheraner Johannes Kepler erst die Gesetze der Gravitation auf den Weg bringen, den Isaac Newton dann zu Ende ging. Bis heute gilt allerdings als Allgemeinwissen, daß die Erde um die Sonne kreist und der Mond um die Erde, was mehr als ungenau ist. Es ist sogar eher doppelt falsch als halbwegs richtig. Es ist strukturell falsch, denn die Welt ist weder geo- noch heliozentrisch. Als Symptom der gegenwärtigen Orientierungsprobleme darf gelten, daß kaum jemand die Wahrheit kennt, daß nämlich die Welt gar nicht zentrisch oder gar zentristisch ist und zwei Körper immer um den gemeinsamen Schwerpunkt kreisen. Das ist jener Punkt, auf dem eine Wippe aufgelegt werden müßte, um in einem Schwerefeld beide Körper in die Waage zu bringen. Jeder kennt das, der schon mal mit einem Kind auf einem Spielplatz war und auf der Wippe nahe an die Mitte rücken mußte. Dieser Umstand hat die größten Konsequenzen. Nur weil Erde und Mond um diesen gemeinsam gebildeten Punkt kreisen müssen, wenn sie sich nicht verlieren oder zusammenstoßen wollen, gibt es zweimal am Tag Ebbe und Flut. Während die eine Flut wegen der Anziehung des Mondes immer genau unter ihm ist, türmt sich auf der gegenüberliegenden Seite die zweite Flut durch eine Fliehkraft auf, die von der Rotation der Erde um den mit dem Mond gebildeten Schwerpunkt herrührt. Dieser Punkt liegt sehr nahe am Erdmittelpunkt. Deshalb ist diese Rotation, salopp gesagt, nur ein leichtes Eiern der Erde: Sie bewegt sich wie ein Globus, dessen Achse nicht genau in der Mitte des Planeten, sondern seitlich versetzt ist. Doch noch heute wird kein Pastor erklären können, warum es zwei Gezeiten am Tag gibt.
Ob Kopernikus sein Buch selbst noch zu sehen bekam, ist unbekannt. Als Beginn der Moderne gilt es vor allem jenen, die darunter das endgültige Ende der kirchlichen Autorität verstehen, denn die Kirche machte einen verhängnisvollen Fehler: Sie bekämpfte von Rom aus die neuen Erkenntnisse mit aller Gewalt. Prozesse gegen Giordano Bruno und Galilei Galileo sorgten für eine historische Schuld, die bis heute nicht ausreichend aufgearbeitet wurde. Noch schädlicher war und ist die Blamage, alles Richtige abgelehnt zu haben. Denn die Menschheit lernte ja gleichzeitig die Welt zu lesen. Sie lernte auch darüber zu sprechen. Und die Probleme mit der Wahl des Bezugssystems kennt heute jeder, der sich unsicher ist, ob der Zug auf dem Nachbargleis anfährt oder der eigene. Sich mit diesen Dingen auszukennen hilft ungemein, etwas von einem anderen Standpunkt aus anzusehen.
Die Erkenntnis dabei ist, daß nicht ein Körper dem anderen vorgezogen wird. Sonne und Erde tragen in vollkommen gleichem Maße zur schönen Bewegung bei, auch wenn ein Körper, von einem fixierten dritten Punkt aus betrachtet, majestätisch und langsam, der andere flink und leicht ist. Aber nur wenn dieser Punkt weit genug entfernt ist, sieht es so aus, als bewege sich lediglich der leichtere Körper. Viele Dinge sehen wie etwas aus, was sie doch nicht sind, wenn man näher herangeht. Und näher heranzugehen ist modern. Nicht zufällig haben diese Erkenntnisse mit der Erfindung des Fernrohrs zu tun.
Der Kampf der katholischen Kirche war jedenfalls einer gegen Windmühlen. Man lernte später so viel über Symmetrien, daß die Antimaterie entdeckt wurde: Das ist eine faszinierende Geschichte, die obendrein leicht verständlich ist und sich gut erzählen läßt. Erst entdeckte Paul Dirac, daß die Gleichung für das Elektron auch noch einem Teilchen die Existenz zugestand, das die entgegengesetzte elektrische Ladung hat und sonst identisch ist. Also mußte entweder das Teilchen existieren oder die Gleichung falsch sein. Dann sah Carl David Anderson in einer Nebelkammer eine Spur, die sich im Magnetfeld mit demselben Radius andersherum krümmte, als er es von Elektronen gewohnt war. Beide dachten an einen Fehler oder ein Artefakt, bis sie voneinander erfuhren. Unsere ganze Welt gibt es noch einmal, nur elektrisch gespiegelt.
Geschichte und Psychologie der Antimoderne: Es irrt kein Mensch, der strebt
Die Bezeichnung »Moderne« entstammt übrigens der Notwendigkeit, das Heutige als solches zu benennen: Modernus ist das Gegenwärtige in Abgrenzung zum Damaligen. Es geht um die Haltung zur eigenen Zeit. Dabei ist das Gegenwärtige durchaus noch unverstanden und erst gerade im Prozeß, verstanden und angenommen zu werden. Daraus bezieht die Moderne ihre Spannung: Wenn jemand oder etwas modern ist, wird damit eine Bewegung gemeint, die Hinwendung nicht nur zum Neuen, sondern auch die Neigung, das Neue immer wieder anzuschauen und zu prüfen. Fertig wird man damit nicht. Ein moderner Mensch wird das Neue wohlwollend prüfen, ein konservativer wird es aus einer skeptischen Grundhaltung heraus tun. Modern sein ist eine positive Hinwendung zum Hier und Heute und Morgen. Man konnte um 1500 genauso modern sein wie 2022 oder 2800.
Daß der Widerstand gegen Neuerung und Fortschritt so erfolgreich war und ist, hat aber nicht nur mit dem drohenden Machtverlust der klerikalen Eliten zu tun. Sie hatten schließlich eine andere Möglichkeit: Sie hätten sich der Wissenschaft auch als erste annehmen können, hätten sie selbst betreiben und ihre Möglichkeiten als Beweis für Gottes Güte verstehen können. Kepler hat das so gesehen und auch Einstein klingt so ähnlich, wenn er die ernsthaften Forscher die einzigen tiefreligiösen Menschen einer materiellen Welt nennt. Die Ablehnung der Kirche muß daher einen anderen Grund haben. Es ist derselbe, an dem sich noch heute die Ablehnung von wissenschaftlicher Erkenntnis und Methode entzündet. Denn schon Kopernikus’ heliozentrisches Weltbild war leichter zu bekämpfen als zu verteidigen: Die Zahlen erschlossen sich nicht ohne weiteres. Nur ein paar wenige Menschen konnten überhaupt den Versuch unternehmen, das Werk zu verstehen.
Gleichzeitig erschienen die Behauptungen angesichts der Alltagserfahrung unsinnig. Es war doch für jeden sichtbar, daß die Sonne täglich auf einem Bogen über den Himmel strich, hinter dem Rand der Erde verschwand und Stunden später auf der anderen Seite wieder auftauchte. Außerdem fragten viele: Wenn sich die Erde so schnell bewegt, warum ist mir dann nicht schwindlig? Kopernikus’ Behauptungen waren auf Marktplätzen, Feldern und Kirchtürmen ohne Vorteil, aber von manchem Nachteil. Man verstand die Ökonomie in der Betrachtung der Planetenbahnen nicht, wenn man die Sonne in der Mitte plazierte. Heute würde man sagen: Die Sonne als Bezugssystem nimmt. Was wiederum nur bedeutet, den Nullpunkt des Koordinatensystems dorthin zu legen. (…)SINN UND FORM 5/2022, S. 594 – 608, hier S. 594-599
Boon, Louis Paul
- 4/1991 | Das Märchen von den zwei Fischen
Borbély, Szilárd
- 4/2021 | Der bulgarische Schaffner
Borchardt, Rudolf
- 5/2016 | Paulkes letzter Tag
- 3/2023 | Fortsetzung der Lebenserinnerungen. Mit einer Vorbemerkung von Gerhard Schuster, S. 581 Leseprobe
Borchardt, Rudolf
Fortsetzung der Lebenserinnerungen
Vorbemerkung
Die Autobiographie »Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt«, in fünf Folgen von den »Münchner Neuesten Nachrichten« 1927 und 1928 veröffentlicht, aber ungekürzt im Gesamtumfang von 120 Buchseiten unter dem vom Verfasser bei Georg Gottfried Gervinus geborgten Titel erst postum erschienen (Prosa VI 1990, zuletzt 2002 mit Nachwort von Gustav Seibt), galt bisher als »vollendet«, wenngleich im chronologischen Gerüst naturgemäß nicht abgeschlossen. Literarisch gleichrangig steht dieser Bericht über den Zeitraum zwischen 1877 und 1885 neben Walter Benjamins »Berliner Kindheit um neunzehnhundert« – einsetzend mit Reflexionen über den »Sinn der Autobiographie«, gefolgt von Details zur jüdischen Familien- und Gelehrtengeschichte als Beispiele für die von Borchardt behauptete Königsberger »Kreuznahme« im Zeichen der Freiheitskriege von 1813 als Beginn einer (angeblich) geglückten Assimilation. Dazwischen ein Exkurs zur Krise des deutschen Verlagswesens in der Jahrhundertmitte. Das Ganze vor einem Fresko der gründerzeitlich expandierenden Reichshauptstadt.
Hauptthema sind die »Vorschul-Monate« des Kindes. Während Borchardts Eltern sich in Moskau und St.Petersbhurg befinden, sitzt der zurückgelassene Sohn zwischen verhüllten Möbeln in einer Riesenetage am Kronprinzenufer, koloriert die Neuruppiner Bilderbogen von Gustav Kühn (etwa Motive aus Donizettis Oper »Lucia di Lammermoor«) und vertieft sich tagelang lesend und dabei immer sich selbst herauslesend in nationale Tragödien wie die der Hohenstaufen in Richard Roths Kinderbuch »Kaiser, König und Papst« von 1875 (darin: »Manfred und Karl von Anjou, Cerra und Caserta«) oder stellt Heroenkämpfe aus Gustav Schwabs »Schönsten Sagen des klassischen Altertums« nach (darin: »Achill und Deiphobus«). Zwischendurch konversiert er im Selbstgespräch mit den neobarocken Meißener Figuren einer Schauvitrine (»Porzellanvögel«) und reckt sich auf Zehenspitzen vor dem Salonporträt der »Pompejanerin«. Ein Findelkind, das sich selbst als nur »angenommen« träumt (»meine wahrscheinliche Herkunft und Bedeutung …«), gerät dem Erzähler zum prinzlichen Demiurgen, den seine Phantasiewelt beschützt und zugleich verbirgt. Ihm aber auch verbietet, gegenüber anderen auch nur »einen Zipfel« von seinen Geheimnissen zu lüften.
Unversehens schlägt das Märchen um in »hoffnungsloses Unglück«. Denn der zurückgekehrte Vater unterwirft ihn der Aufsicht eines kleinbürgerlichen »Elementar-Lehrers« (für Erdkunde, Mathematik, Schönschreiben) namens Gustav Adolf Hallbauer in Moabit (Turmstraße 14 /III), der gegen Bezahlung Schüler als »Pensionisten« in seine dürftige Wohnung aufnimmt und deshalb in den Memoiren den sprechenden Namen »Halbherr« tragen muß. Gemeinsam mit zwei »Schicksalsgefährten« – »Höllmann« und »Selwitz« –, Sprößlinge des »neudeutschen Unternehmertums« aus einer Wannsee-Villa wie er selbst, leidet der Achtjährige nun, in ein schmieriges Mehrbettzimmer verbracht, wochenlang unter der »rohen Luft« dieser »Wärter« und einer miserablen Verköstigung. Aber »Ordnung«, so belehrt ihn die »gamsige Nase« der Hausfrau beim Strümpfestopfen, »herrsche überhaupt nur bei den Ständen, die von ihrer Hände Arbeit lebten. Wenn die armen Leute den reichen nicht Ordnung hielten, so würde bei denen alles täglich neu gekauft werden müssen mit dem ruchlosen Gelde, das die scheffelten.«
Mit dem Schockerlebnis dieses vom Autor gezielt als prä-faschistisch akzentuierten Sozialneids endet der bisher bekannte Text. Effektvoll mündet er zugleich in das Fanal eines Stolzes, den Borchardt sich lebenslang bewahrt und der ihn und seine Familie noch 1944 während der zwangsweisen Verbringung durch die deutsche Wehrmacht aus der Lucchesia bis nach Innsbruck retten wird: »Das Leben und die Sitten, die Worte und das Wesen des Pöbels, seine Kost und seine Wohnung, sein Geruch und die vollständige Verlogenheit aller seiner Äusserungen, waren mir so unbekannt wie die von Patagoniern und wirkten, ohne dass sie eine Feindseligkeit gerade gegen mich hätten zu kehren brauchen, an sich unverlierbar auf mein Inneres mit dem Zuge, mit dem sich rotes Eisen einbrennt und seinen Weg bezeichnet. Ein anderer wäre davongelaufen, ein zweiter hätte sich dagegen abgestumpft, ein dritter sich angepasst, ein vierter es an sich ablaufen lassen, ohne es sonderlich zu merken.« Der letzte Satz nimmt ein Lebensfazit vorweg: »Aber ich würde schwerlich, auch wenn ich es gekonnt hätte, mir Mitwisser und Teilnehmende meines Leids gesucht haben, weil ich, verstossen wie ich mich deuchte, auch verstossen sein wollte und eine Verschlossenheit sich in mir aufrichten fühlte, die den Charakter der Zuflucht hatte und eben darum niemanden in sich einließ.«
An diese trotzige Aufgipfelung schließen nun drei bisher im Nachlaß nicht identifizierte Folgeseiten an, nach Papierqualität und Tinte unzweifelhaft; auf der Mitte des letzten Blattes erfolgt der endgültige Textabbruch (Deutsches Literaturarchiv Marbach). Imaginiert werden darin noch die ersten Schultage des Sextaners im Französischen Gymnasium am Reichstagufer (Klassenstärke: »sechzig wie die Teufel tobende Knaben«), der als ein »Kostgänger« des Hallbauer-Halbherrs sogar bevorzugte Behandlung durch Lehrerkollegen genießt und den seine Mitschüler eben darum neidvoll beobachten oder opportunistisch umwerben – zugleich mit der Verdächtigung, daß er wie andere solche Bevorzugten von den »Klassenaufgaben und Versetzungslisten« durch »heimliche« Schubladeneinblicke wisse und dies an Kameraden weitergebe oder eben nicht. In wenigen Strichen, syntaktisch kompakt, entsteht das Szenarium eines Machtspiels, dessen Bedrohlichkeit der Halbwüchsige, gutgläubig und fern aller »berlinischen« Gerissenheit seiner Altersgenossen, erst kaum begreift. Eine intrikate Studie, die schon als Vignette die Psychologie zeitgenössischer Schülerromane überbietet.
Der ursprünglichen Disposition folgend hätte Borchardts Lebensbericht die Gymnasialjahre (Marienburg, Wesel) und seine Studiensemester seit 1895 (Berlin, Bonn, Göttingen) bis zum »Annus Mirabilis« 1902 einschließen sollen, kulminierend in der Krise um die (zum Vorteil der Poesie) unerreichbar gebliebene »Vivian« Margarete Ruer in Nassau und den lebensverändernden Besuch bei Hofmannsthal in Rodaun. Endgültig aufgegeben wird dann die Niederschrift dieses Rückblicks auf den »finsteren hagen« frühkindlicher Sozialisation in denselben Wochen des Jahres 1928, in denen der fünfzigjährige Übersetzer der »Göttlichen Komödie«, »inmitten unseres lebens an der fahrt«, mit seiner Schlußarbeit an den Terzinen des »Paradieses« beginnt. Vollständig erscheint dieses Experimentalwerk 1930 im Verlag der Bremer Presse und bei Ernst Rowohlt – mit einem ausgreifenden Nachwort, adressiert an Konrad Burdach, das die Faktoren der eigenen Bildungsgeschichte noch einmal benennt, aus wiederum anderer Perspektive als 1924 im »Eranos-Brief« an Hofmannsthal und erst recht abweichend von der priapischen Selbstbespiegelung im Schelmenroman »Weltpuff Berlin« von 1938.
Gerhard Schuster
[…]
SINN UND FORM 3/2023, S. 424-428, hier S. 424-426
Borchers, Elisabeth
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Bormuth, Matthias
- 3/2016 | Die Ergänzung der eigenen Erfahrungen. Ein Gespräch über Schriftsteller und Editionen mit Inge Jens und Matthias Weichelt, S. 341 Leseprobe
Bormuth, Matthias
Die Ergänzung der eigenen Erfahrungen. Ein Gespräch über Schriftsteller und Editionen mit Inge Jens und Matthias Weichelt
MATTHIAS WEICHELT: Frau Jens, Sie haben sich vor allem als Herausgeberin einen Namen gemacht, seit Sie in den frühen sechziger Jahren die Briefe Thomas Manns an den Philologen Ernst Bertram veröffentlichten. In den nächsten Jahrzehnten folgten dann weitere Editionen, die Werke des Literaturhistorikers und Schriftstellers Max Kommerell, die Briefe und Aufzeichnungen der Geschwister Scholl und ihres Freundes Willi Graf, die Tagebücher des Komponisten Ralph Benatzky und immer wieder die Familie Mann. Wie kamen Sie – ohne von einer Institution getragen zu sein – zu diesen ganz unterschiedlichen Autoren?
INGE JENS: Ich habe immer auf eigene Faust gearbeitet, aber meine Stoffe habe ich mir nie selbst ausgesucht. So kam im Fall von Max Kommerell seine Witwe auf mich zu. Bei den Geschwistern Scholl fragten mich Inge Aicher-Scholl und Otl Aicher. Großes Glück hatte ich mit den Tagebüchern von Thomas Mann, die mein Leben doch ziemlich verändert haben. Mein Mann Walter Jens war nicht ganz unschuldig daran, daß ich den Auftrag erhielt. Als jemand vom S. Fischer Verlag bei uns anrief und fragte, ob ich für einen Band der Werkausgabe ein Nachwort schreiben könne, lehnte er ab. Ohne Rücksprache mit mir behauptete er, ich sei nur an den Tagebüchern interessiert. Und so wurde mir nach dem Tod des Herausgebers Peter de Mendelssohn diese große Aufgabe übertragen.
MATTHIAS BORMUTH: Vielleicht können wir mit Hans und Sophie Scholl beginnen, die mit ihren Freunden aus der »Weißen Rose«, darunter Willi Graf, als Märtyrer des Widerstands gegen den Nationalsozialismus bekannt sind. Ich habe Sie, Frau Jens, kennengelernt, als ich mit Medizinstudenten Ihre Editionen gelesen habe, um der Gedankenwelt dieser mutigen jungen Menschen näherzukommen.
JENS: Es ist trotz der beeindruckenden Zeugnisse leider eine miserable Edition, bei der mir von seiten der Familie ständig hineingeredet wurde, was ich bringen dürfe und was nicht. Die Hinterbliebenen, vor allem Inge und ihr Mann Otl, wußten genau, wie es gewesen war, und ließen keine historische Forschung gelten, die ihre Sicht auf Widerstand und Tod der Geschwister in Frage stellte. So sollte nicht herauskommen, daß zwischen Sophie Scholl und ihrem Freund Fritz Hartnagel, der später die Schwester Elisabeth heiratete, mehr als ein platonisches Verhältnis bestand. Inge, die konvertiert und gut katholisch war, paßte es nicht, daß Sophie vor der Ehe mit einem Mann geschlafen hatte. Dabei kann man doch nur hoffen, daß die beiden vor Sophies Tod wirklich etwas Schönes erlebt haben, wenn sie sich im Park trafen oder eine Nacht miteinander verbrachten. Inge Aicher-Scholl beanspruchte aber, nachdem sie ihr Buch über die »Weiße Rose« veröffentlicht hatte, die Deutungshoheit über das Bild ihrer Geschwister in der Öffentlichkeit.
BORMUTH: Sie bekamen es als Herausgeberin von Briefen und Tagebuchaufzeichnungen hier mit einer Form von Legendenbildung zu tun, die einer kritischen Sichtung der Materialien zuwiderlief.
JENS: Die Dokumente sagten etwas anderes, als man wahrhaben wollte. So sprach sich die Familie auch gegen meine Einleitung aus, in der ich erwähnte, daß Hans und Sophie nicht nur in der Jugendbewegung, sondern bis 1935 auch in der Hitler-Jugend aktiv gewesen waren. Das durfte es nicht geben: Helden, die zunächst mitmachten bei dem, was sie später bekämpften. Mir waren und sind historisch »gewordene« Helden jedoch lieber als solche, die gewissermaßen vom Himmel fallen. Dennoch durfte ich meine Sicht der Dinge nicht innerhalb der Edition publizieren; der S. Fischer Verlag veröffentlichte sie separat in der »Neuen Rundschau«. Ich habe mich damals auf diese Form von Zensur eingelassen, da ich nicht wollte, daß die erste Edition von Zeugnissen des studentischen Widerstands durch öffentliche Streitigkeiten entwertet würde. Auch war die Situation insofern nicht einfach, als mein Mann und ich uns gemeinsam mit Inge und Otl Aicher gegen die Stationierung von US-Atomraketen in Mutlangen engagierten.
BORMUTH: War Ihnen so etwas schon bei früheren Editionen passiert? Bei Autoren wie Ernst Bertram und Max Kommerell, die zeitweilig zum George-Kreis gehörten und als durchaus konservativ galten, könnte man sich doch viel eher vorstellen, daß die Beschäftigung mit dem Nachlaß heikel war, daß es Versuche der Einflußnahme gab.
JENS: Nein. Thomas Manns Briefe an Ernst Bertram lagen in Marbach, und auch Frau Kommerell machte mir keine Vorschriften. Sie war außerordentlich großzügig und gab mir ihren Segen: Wenn Sie nach Marbach ins Literaturarchiv fahren, können Sie alles einsehen und alles benutzen, was Sie möchten. Gerade durch die Beschäftigung mit Max Kommerell erweiterte sich meine zunächst recht undifferenzierte Sicht auf den George-Kreis und seine Adepten. Ich verstand plötzlich die mich so befremdende Hörigkeit der Jünger und begriff, was Kommerell durch seinen Bruch mit »dem Meister« wagte. Ich sah aber auch die ungeheure Anstrengung, die ihn, den einstigen Lieblingsjünger, dieser Schritt kostete. Kaum jemand sonst hat es geschafft, eine solche anhaltende Distanz zu gewinnen. Frau Kommerell erzählte mir allerdings, George habe ihren Mann bis zum Ende seines Lebens – er starb 1944 – in Alpträumen verfolgt. Zugleich wurden mir die Kompromisse deutlicher, die er in seinem Leben einging, die Schlupflöcher, die er, der das neue Regime zunächst begrüßt hatte und Mitglied der Reiter-SA war, sich später suchte.
WEICHELT: Was mich an Ihren Arbeiten immer sehr beeindruckt hat, war die Fairneß und Unvoreingenommenheit, mit der Sie auch über Menschen schrieben, mit denen Sie ganz offensichtlich nicht übereinstimmten. Fiel es Ihnen manchmal schwer, solche fremden Weltbilder zu akzeptieren, zumal Sie im Politischen immer klare Positionen vertreten haben?
JENS: Ich habe andere Sichtweisen immer als Ergänzung meiner eigenen Erfahrungen wahrgenommen. Wie schon gesagt: Mir sind Menschen, die gegen Mißstände und Bedingtheiten ihrer Zeit handeln, aber natürlich auch in sie verstrickt sind, lieber als solche, an denen es nichts auszusetzen gibt.
WEICHELT: Wie bringen Sie die Quellen zum Sprechen, wenn Sie das Material für eine Edition zusammenstellen? Liegt diesem ersten Schritt, der Auswahl und Anordnung, nicht auch schon eine Art Interpretation zugrunde?
JENS: Meines Erachtens muß man die Fakten so präsentieren, daß jeder, unabhängig von seiner Einstellung, einen Zugang zu ihnen finden kann. Wenn Sie es schaffen, die geistigen Einflüsse und historischen Hintergründe in den Kommentaren ausgewogen und anschaulich darzustellen, ist schon viel gewonnen. Sie dürfen nichts verfälschen und müssen sich vor Spekulationen hüten. Denn wenn Sie, wie ich in meiner Scholl-Ausgabe, Unliebsames ausblenden und auf bestimmte historische Belege verzichten müssen, hat der Leser keine Chance, sich so objektiv wie möglich zu informieren und möglichst viele Seiten einer Person oder eines Vorgangs zu verstehen.
WEICHELT: Wenn man Ihre Veröffentlichungen liest, merkt man schnell, wie wichtig es Ihnen ist, durch das Arrangement der Texte und die Art ihrer Kommentierung eine erzählerische Gesamtkomposition entstehen zu lassen. Sie haben im Gespräch einmal erwähnt, daß man Ihnen riet, auf der Grundlage Ihrer Anmerkungen zu den Tagebuch-Eintragungen Thomas Manns eine Katia-Mann-Biographie zu schreiben. Wäre das eine Methode, durch chronologisch stimmige Anordnung der Dokumente zu einer biographischen Erzählung zu kommen? Als Herausgeberin hatten Sie ja ein geschärftes Bewußtsein für den redlichen Umgang mit dem historischen Material und seinen Widersprüchen.
JENS: Das Editorische kann eine Vorstufe des Erzählerischen sein, muß es aber nicht. Während es hier nötig ist, die Fakten möglichst umfassend und möglichst vorurteilsfrei zu betrachten und darzustellen, darf eine biographische Arbeit, wie die über Katia Mann, auch schon mal einer subjektiver gewichteten Linie folgen. Die Haltung des Herausgebers hat vor allem kritisch zu sein.
WEICHELT: Worin besteht die Kunst des Edierens?
JENS: Sie müssen versuchen, alle oder jedenfalls möglichst viele Implikationen etwa eines Tagebucheintrags zu berücksichtigen. Wenn Sie sich lange mit einem Autor und seiner Handschrift beschäftigen, lernen Sie ihn ganz anders kennen. Sie erhalten interessante Einblicke in seine Arbeits- und Denkweise. So ging es mir mit den fünf Bänden der Tagebücher Thomas Manns, die ich herausgegeben habe, obwohl ich im Unterschied zu meinem Ehemann kein wirklicher Kenner und Verehrer seines Werkes war.
BORMUTH: Kann es sein, daß Thomas Mann, der sich zu Lebzeiten als Repräsentant des deutschen Kulturbürgers gesehen und stilisiert hat, späteren Generationen mit den Tagebüchern auch einen kritischen Zugang zu seiner Person und seinem Werk eröffnen wollte?
JENS: Ganz sicher. Thomas Mann fühlte sich als Repräsentant eines Kulturbürgertums, dessen Normen er in starkem Maße verinnerlicht hatte. Wie erleichtert war er, als er den 1933 in München zurückgelassenen Koffer mit den alten Tagebüchern wieder in seinen Händen hielt! Er hat aus Angst, seine homoerotischen Neigungen könnten öffentlich werden, sogar später im kalifornischen Exil noch einige Bände verbrannt. Aber die meisten bewahrte er auf. In ihnen drückt er aus, wie ihm zumute war und was es ihn kostete, die ihm so wichtige glanzvolle Fassade der Bürgerlichkeit aufrechtzuerhalten, die ihm Sicherheit garantierte und natürlich auch viel Freude bereitete.
BORMUTH: Als Sie in den achtziger Jahren mit der Edition begannen, kam es auch zu näherem Kontakt mit Golo Mann, der selbst Historiker und Erzähler war.
JENS: Golo Mann befürchtete zunächst, ich würde an Peter de Mendelssohns eher literarische Form des Kommentierens anknüpfen, während es ihm, als Historiker, doch in erster Linie um die zeitgeschichtliche Erhellung der Epoche ging, in welche die Tagebücher eingebettet waren. Mir auch, deshalb haben wir uns so gut verstanden. Ich hätte nie so kommentieren können wie de Mendelssohn, weil mir dafür alle Insider-Kenntnisse fehlten. Für mich waren die Tagebücher vor allem eine große Chronik ihrer Zeit.
WEICHELT: Wie verliefen Ihre Treffen mit Golo Mann?
JENS: Am Anfang war es schwierig. Ich habe ihn immer besucht, wenn ich in Zürich im Thomas-Mann-Archiv zu tun hatte. Er wohnte damals im elterlichen Haus in Kilchberg. Nach und nach bürgerte es sich ein, daß wir meinen Fragenkatalog der Reihe nach abarbeiteten, er also antwortete, soweit er konnte. Später bat er mich, ihn öfter zu besuchen. Weil ihn meine Recherchen zunehmend interessierten, ist er sogar auf den Dachboden gestiegen, um nach alten Briefen zu schauen. Die gab er mir dann mit den Worten: Lesen Sie das zu Hause. Sie können es mir nächstens wiedergeben.
BORMUTH: Entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen Ihnen?
JENS: Ja, eines Tages erhielt ich einen Brief mit dem Anfang: »Liebe Inge, wie wäre es, wenn wir die Curialien fortlassen würden?« Das fand ich sehr schön. Und bei »liebe Inge«, »lieber Golo« sind wir dann geblieben.
WEICHELT: Golo Mann gehörte wie seine Eltern zu den deutschen Emigranten. Welche Erfahrungen haben Sie selbst mit jenen gemacht, die Deutschland nach 1933 verlassen haben?
JENS: Ich lernte während meiner Arbeit im Deutschen Literaturarchiv in Marbach viele Emigranten kennen. Bernhard Zeller, der damalige Direktor, stellte mich ihnen vor, vielleicht auch um zu zeigen, daß man sich in Deutschland mit der Vergangenheit auseinandersetzte und versuchte, Ursachenforschung zu betreiben. Aber es waren nur wenige, die sich in den sechziger und siebziger Jahren überhaupt mit Emigration und Remigration beschäftigten.
BORMUTH: Sie haben Katia Mann besucht und geschildert, wie sie auf die Erwähnung der Emigration reagiert hat.
JENS: Ich habe Katia Mann zwei- oder dreimal besucht, und sie hat mir großen Eindruck gemacht, vor allem mit der Szene, auf die Sie anspielen, diesem Ausbruch: »Hinausgeworfen hat man uns! Und das nach einem ehrenwerten Leben!« Das werde ich bis an mein Lebensende nicht vergessen. Daß man eine Emigration aus Deutschland als bürgerliche Schande empfinden konnte, war eine neue Erkenntnis für mich und hat mich sehr bewegt.
WEICHELT: Sie haben in Tübingen enge Beziehungen zu Hans Mayer und Ernst Bloch gepflegt, zwei anderen ehemaligen Emigranten, die nach ihrer Rückkehr nach Deutschland erst im Osten lebten und dann in den Westen gingen.
JENS: Hans Mayer ist wahrscheinlich der Mensch, der meine geistige Biographie am meisten beeinflußt hat. Er hat mich gefördert und gefordert. Für ihn war es selbstverständlich, daß ich das, was er von mir verlangte, konnte und also auch machte. Das setzte er einfach voraus. So etwas kann ungeheuer hilfreich und anregend sein, denn die Kenntnisse, die ich noch nicht hatte, habe ich mir schleunigst angeeignet. Ich wollte mir vor ihm ja keine Blöße geben.
(…)
SINN UND FORM 3/2016, S. 341-352, hier S. 341-345
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Bosworth, David
Gewissenhaftes Denken und die Transformation der modernen Wissenschaften
Eine gleichsam post-moderne Denkweise hat unsere Wissenschaften reformiert, mit Folgen, die wir uns noch vor Augen führen müssen. Trotz der Verschiedenheit der betroffenen Bereiche sind viele dieser Veränderungen, die dramatische Vorschläge in der Kosmologie und eine verblüffende Wiederbelebung lamarckistischer Prinzipien in der Evolutionsbiologie einschließen, ihrer Natur nach gleichgestimmt. Und obwohl sie das darstellen, was Thomas Kuhn 1962 als »Paradigmenwechsel « in der Auffassung der wissenschaftlichen Gemeinschaft bezeichnet hat, spiegeln sie überdies eine viel ausgeprägtere Neuordnung des kulturellen Common Sense. Mehr als bloß Merkmale einer signifikanten Revision in der präferenziellen Logik der Naturphilosophie (wie man die Wissenschaft einst nannte), markieren sie die weitere Artikulierung einer sich ausformenden Weltsicht, einer, die auch die sozialen Annahmen der Modernität in Frage stellt.
Solch radikale Revisionen im Common-Sense-Denken sind von Natur aus kontrovers, und angesichts der vieldeutigen und oft vagen Begriffe bedarf es zunächst einer Präzisierung. Mit den Wörtern modern oder Modernität beziehe ich mich auf die umfassende Revolution im westlichen Denken, die sowohl zur wissenschaftlichen als auch zur industriellen Revolution geführt hat – bestenfalls, politisch, zu einer Wiederbelebung der Demokratie; schlimmstenfalls zu den utopischen Wahnideen, die zum Massenmord anstifteten. Ich erwähne hier nicht die Kunstbewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, gemeinhin Moderne genannt (deren Methoden ironischerweise mitunter post-moderne Techniken andeuten); und ich verwende diese Wörter auch nicht als ungefähre Begriffe für Zeitgenössisches. Weil die Logik der Modernität die zentralen Institutionen Amerikas kalibriert hat, bleibt sie in unserem Leben machtvoll präsent. Doch jetzt befindet sich diese Logik nicht nur im Niedergang, was wohl die »Experten"-Strategien belegen, die unsere letzte Wirtschaftskrise verursachten, sie wird auch von einer Reihe anbrandender post-moderner Methoden, Maßnahmen und Wertvorstellungen unablässig in Frage gestellt.
Postmodern ist an sich ein hochproblematischer Begriff, der eng mit unseren Kulturkriegen assoziiert und dadurch befleckt ist. Um solche parteiischen Assoziationen zu vermeiden, schreibe ich hier post-modern mit einem Bindestrich, der die eigentliche Wortbedeutung hervorhebt. Weltsichten vergehen schließlich. Ob nun zum Guten oder zum Schlechten, wir haben uns von vielen Annahmen unserer Vergangenheit als Gründer der ersten wahrhaft modernen Gesellschaft auf der Welt entfernt und stecken statt dessen schon seit hundert Jahren in einem zwiespältigen Übergang fest. Wir sind unstrittig post-modern, insofern wir nach dem Höhepunkt der Neuzeit leben, ohne aber schon einen kohärenten Konsens zu besitzen, was an ihre Stelle treten sollte. Und nirgends ist dieser Wandel so wirksam wie in eben den Wissenschaften, deren Leistungen ein Siegel des modernen Geistes waren.
Die Wesenszüge des neuzeitlichen Bewußtseins und der neuzeitlichen Kultur begannen sich im 17. Jahrhundert als eine radikale Alternative zu dem seit langem verfallenden mittelalterlichen Weltbild zu entwickeln. Sie folgten auf die technischen Fortschritte im professionellen Messen wie auch im Alltagswissen, einschließlich Teleskop, Mikroskop und vor allem der durch den Buchdruck und die zunehmende Lesefähigkeit gezündeten Informationsexplosion. Die durch die psychische Wirkung des stillen Lesens enorm gesteigerte Logik des phonetischen Alphabets förderte geistige Gewohnheiten wie Isolation, Abstraktion und Spezialisierung; und die alphabetische Strategie, Sprache in ihre einfachsten Teile zu »atomisieren«, führte bald zu ähnlichen Theorien über die der physischen wie auch der sozialen Welt zugrundeliegende Ordnung.
Der nachfolgende Aufstieg des Skeptizismus (ein von Gefühlsbindungen und herkömmlichen Auffassungen methodisch getrenntes Denken, wie es Descartes in der »Abhandlung über die Methode« kodifiziert) und des Individualismus (eine neuartige Hervorhebung des sozialen Atoms gegenüber der Gemeinschaft, ja sogar der Familie als der Primäreinheit menschlicher Erfahrung) war psychisch und politisch zutiefst beunruhigend. Bereits Mitte des 17. Jahrhunderts wurde die Default-Logik (Default = Standardannahme, von der man in Ermangelung anderer Informationen ausgeht; A. d. R.) der westlichen Kultur durch die aggressiven Zergliederungen des Modernisierungsgeistes von allen Seiten attakkiert. Neuartige »wissenschaftliche« Theorien und unternehmerische Strategien wurden vorgetragen, nur um von klerikalen Zensoren und königlichen Anordnungen zermalmt zu werden, und dieser krampfartige Rhythmus von Dissens und Repression entlud sich alsbald in Bürgerkriegen, da Religionsspaltungen in sektiererische Gewalt übergingen und politische Revolutionen auf dem Kontinent wie auch in England ausbrachen.
Erst nach jahrelangen Wirren bildete sich doch eine neue Kulturordnung heraus: eine liberale Modernität, die zwar für individuelle Rechte, geistige Spezialisierung, wissenschaftliche Weltanschauung, ästhetische Betrachtungsweise und für eine Ökonomie von einzelunternehmerischen Freien Agenten war, aber Mittel fand, sie alle mit den checks and balances von neuen Pflichten, Normen, Ausdrucksformen, politischen Verfassungen und Vertragsrechten zu disziplinieren. Mit ihrer ruckartigen, aber gründlichen Kalibrierung des Common-Sense-Denkens und der herkömmlichen Praktiken veranschaulicht diese geschichtliche Periode am besten die Herausforderungen, vor denen wir heute, da wir selbst mit dem Übergang zu völlig neuen Anschauungen kämpfen, stehen. Erst jetzt wird auch die moderne Logik selbst von allen Seiten durch einen signifikanten Wandel in den dominierenden Modellen der Alltagserfahrung attackiert, da diese Modelle von der post-modernen Maschinerie unserer digitalen Ära inskribiert werden.
Wir »machen Sinn« durch das Zeugnis unserer Sinne, und unsere hochgerüsteten technischen Geräte verändern die Art, wie dieses Zeugnis angeordnet und übermittelt wird. Indem wir einen vor langer Zeit mit dem ersten elektronischen Medium begonnenen Prozeß beschleunigen, revidieren wir durch den täglichen Gebrauch von Desktops, Laptops, Mobiltelefonen und Tablets mit ihren Suchmaschinen, ihrer Shareware und durch wiki-betriebene soziale Netzwerke unsere Standard-Erwartungen (default expectations) bezüglich dessen, was natürlich, richtig und erfreulich anmutet, in einer Weise, die althergebrachte Ansichten über das Wahre, Gute und Schöne in Frage stellt (ohne sie zwangsläufig zu ersetzen). Diesen Wandel spürt man in den sozialen Beziehungen, da der Wert der stoischen Zurückhaltung der Wichtigkeit des »Teilens« Platz gemacht hat, und auch in der bildenden Kunst, da das einzelne, fixe und »unsterbliche« Objekt (eine Skulptur von Rodin) durch Environment-Installationen und Here-thengone-staged-Events (die Bildnisse des Burning Man) ergänzt wurde.
In einem bewußten Spiel mit science nenne ich diese post-modernen Weltbewertungen conscientious thinking (gewissenhaftes Denken). Die Etymologie des ersten Wortes – das die Vorsilbe con "mit« oder »zusammen« und den Stamm scientia, "Wissen, Wissenschaft«, verknüpft – erläutert die Denkweise, die es beschreibt, und wie diese sich von den bevorzugten Operationen des modernen Geistes unterscheidet. Während die erhöhte Aufmerksamkeit der modernen Wissenschaft die Welt durch Isolation und Spezialisierung zu erkennen trachtete, erstrebt das post-moderne Denken ein Erkennen mit. Es betont con-szientifische (conscientious) Maßnahmen, die das »Miteinander« von Erfahrung begründen können, und wählt natürlich lieber Beziehung statt Isolation, Hybridität statt Reinheit und Konsens-Autorität statt individuelles Genie. Kollaborativ, interdisziplinär, multisensorisch, multikulturell: Auf unterschiedliche Weise strebt der con-szientifische Geist danach, Denken mit Fühlen, Wissenschaften mit Künsten, Visuelles mit Akustischem, Bekanntes mit Fremdem, dieses Medium oder Genre mit jenem zu vereinen. Während die Hauptmetapher des modernen Geistes das Atom war, hat der post-moderne Geist unsere Aufmerksamkeit auf alle Wechselwirkungsbereiche ausgeweitet.
Dieser Wandel in der Organisationsgrammatik des autoritativen Denkens ist in allen Disziplinen der Kunst und Anthropologie bis hin zur Physik und Genetik anzutreffen, und die Konflikte, die er angespornt hat, beschränken sich nicht auf die Sphären und Fehden geistiger Tätigkeiten. Der Streit zwischen der wissenschaftlichen und der conszientifischen (modernen und postmodernen) Denkweise ist in fast jedem Bezirk des amerikanischen Lebens entbrannt; er attakkiert und verändert oft die Art und Weise, wie Schulbildung vermittelt wird, wie Freunde miteinander umgehen, wie Geld gemacht wird, Verbrechen begangen, Lebenspartner gewählt und Trauerfeiern gestaltet werden. Unsere Standard-Vorstellungen (default conceptions) von Raum und Zeit und von der angemessenen Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft verändern sich immer rascher. (Um ein Beispiel für letztere zu nennen: Das handschriftliche Tagebuch wird heute von Blog, Podcast und Facebook-Seite abgelöst, wobei das introspektive Selbst der gebildeten Modernität dem öffentlich gemachten Selbst der digitalen Konnektivität weicht.) Auch wenn eine Anhänglichkeit an ältere Formen fortbesteht und noch viele Fragen im Hinblick auf die ausgereifte Gestalt der neuen Formen offen bleiben, erscheint diese Schwerpunktverlagerung von Atom, Text und Figur zu Feld, Kontext und Grund – von, grob gesagt, der Logik der Anatomie zur Logik der Ökologie bei der Darstellung der Welt – inzwischen unumkehrbar: eine Schlußfolgerung, die ich hier eher als anthropologische Feststellung denn als ideologische Billigung äußere.
Der neue Akzent auf Wissen von und durch »Miteinander« ging mit einem noch umstritteneren Trend einher: einem neuerlichen Beharren auf der inhärenten Fehlbarkeit der menschlichen Denkweise, selbst wenn sie optimal praktiziert wird. Dieses Beharren hat zwei in Beziehung stehende Dimensionen: erstens, einen tiefgehenden Argwohn, daß wir, im Gegensatz zu den utopischen Annahmen der kartesianischen Philosophie, nie »alles wissen«, nie das Rätsel unseres Ortes endgültig lösen und somit auch nie unser Geschick hier völlig beherrschen werden; und zweitens die Erkenntnis, daß gerade diese Objektivität, die der moderne Geist als Mittel zur Erlangung solch endgültigen Wissens idealisiert hat, viel fragiler ist als zunächst gedacht. Obwohl unter der Herrschaft des modernen Denkens ein beträchtlicher materieller Fortschritt gelang, wurde die menschliche Unvollkommenheit nicht beseitigt. Wie wir noch sehen werden, passiert es sogar in der strengen Laborforschung, daß Motive und Methoden den Versuchsergebnissen einen Drall geben und in Frage stellen, wie und sogar ob Objektivität überhaupt erreichbar ist. Um Shakespeare und Marshall McLuhan zu verknüpfen: Es geschieht noch immer häufig, daß »die Vernunft den Willen kuppelt«, und das »Medium« unseres Denkens kann die voraussichtliche Form seiner endgültigen »Botschaft« tatsächlich unbewußt aufzeigen.
Obgleich diese umfassenderen Themen des conszientifischen Denkens, sein Hang zum Miteinander und zum Eingestehen seiner Fehlbarkeit nun schon seit einem Jahrhundert im Spiel sind, ist der dominante Common Sense der Modernität nicht gelassen in die gute Nacht der kulturellen Veralterung gegangen. So wie eine vormoderne Treue zum Wert von Gemeinschaftlichkeit und Demut die gesamte Neuzeit in Einschlüssen überlebte, nur um in diesen neuen und andersartigen Formen wiederbelebt zu werden, so werden die atomistischen Werte und die kulturelle Konstruktion der Modernität sicherlich noch viele Jahre bestehen.
Was die folgende Untersuchung indes nahelegt, ist der Grad, in dem die Mainstream-Wissenschaft sich das conszientifische Denken, oft ohne Anerkenntnis, bereits zu eigen gemacht hat.
[…]
Aus dem Englischen von Heide Lipecky
SINN UND FORM 2/2017, S. 251-269, hier S. 251-255
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Bott, Marie-Luise
Ruhelos. Zwetajewa, von Wolfgang Hilbig in die europäische Moderne übersetzt
Aus dem Zyklus »Schlaflosigkeit« lagen 1988 wie heute nur Nr. 6 und Nr. 10 auf deutsch vor, übersetzt von Elke Erb ("Heut Nacht bin ich in dieser Nacht allein …«) und von Maria Razumovsky ("Aus dem Fenster dort / dringt noch Lampenschein …«). Dabei hat das Thema, beginnend 1830 mit Alexander Puschkins »Versen, in schlafloser Nach verfaßt«, in der russischen Lyrik eine große Tradition. Anna Achmatowa verbindet es 1912 in ihrem Gedicht »Schlaflosigkeit « mit der Liebesthematik und geht nach kurzer Vorrede des weiblichen »ich« unmittelbar in die Anrede der personifizierten Schlaflosigkeit über. Ossip Mandelstam nimmt das Thema von Liebe und Schlaflosigkeit in seinem Gedicht »Schlaflosigkeit. Homer. Die Segel, die sich strecken …« auf: »Homer, die Meere, beides: die Liebe, sie bewegt es« (in der Übersetzung von Celan). Es entstand im Sommer 1915, als Mandelstam, 25 Jahre alt, in Koktebel auf der Krim bei dem Dichter Maximilian Woloschin zu Gast war und dort zum ersten Mal Zwetajewa begegnete (Nadeschda Mandelstam sprach später geradezu von einem Befreiungserlebnis). Am 1. Januar 1916 traf er sie in Petersburg wieder. Die 23jährige Moskauerin feierte dort bei Michail Kusmin – Zwetajewa beschrieb es 1931 in »Ein Abend nicht von dieser Welt« – ihr glänzendes Debüt unter den Petersburger Dichtern. Mandelstam schenkte ihr eine Neuausgabe seines Gedichtbands »Der Stein«. Und in Erinnerung an die gemeinsamen Tage schrieb er das an Zwetajewa adressierte Gedicht »Nicht Laternen beglänzten uns, nein, Kerzen …« (Mai 1916), in dem die Angeredete beim Anblick der majestätischen Newa ihren Pelz abnimmt und um die Schultern des Begleiters legt.
Ende Januar besuchte Mandelstam Zwetajewa in Moskau. Auf gemeinsamen Spaziergängen schenkte sie ihm ihr Moskau, die alte Hauptstadt Rußlands mit dem Kreml und seinen Kirchen. Darauf antwortete im Februar sein Gedicht »Im Dissonieren eines Mädchenchores …«, dessen Bilder westeuropäische und russisch-orthodoxe Kultur miteinander verschränken. In den Bögen der Himmelfahrtskirche im Kreml sieht der Dichter die Brauen der Geliebten, die Kuppeln der Moskauer Kathedralen erinnern an das Erscheinen Auroras, »Doch mit russischem Namen und in Pelz gehüllt«, und im Gesang einer Nonne erlebt er »Florenz in Moskau« – ein Bild, in dem sich Zwetajewas Name – von cvetat’: blühen – verbirgt.
Im Februar hatte sie ihrerseits begonnen, Gedichte an Mandelstam zu schreiben, darunter »Woher solche Zärtlichkeit …?« mit den Zeilen: »Noch nie hörte ich solche Lieder / In dunkler Nacht«. Sie erkennt Mandelstams Begabung als die größere an ("Und niemand nahm etwas weg …«) und bekreuzigt den »jungen Derschawin« auf seinem adlergleichen »schrecklichen Flug«. Im Sommer nahm Mandelstam Abschied von Zwetajewa mit dem Liebesgedicht »Nicht an ein Auferstehungswunder glaubend …«, in dem noch einmal, jetzt aber »unklar« und kein Glück verheißend, die Figur der Nonne wiederkehrt.
Zur selben Zeit, von März bis August 1916, schrieb Zwetajewa neun »Gedichte über Moskau«, deren zweites an Mandelstam gerichtet ist: »Aus meinen Händen die nicht von Menschenhand geschaffene Stadt / Nimm, mein wunderlicher, schöner Bruder«, acht »Gedichte an Blok« (April / Mai 1916), deren fünftes bekennt: »Mit aller Schlaflosigkeit liebe ich dich, / Mit aller Schlaflosigkeit vernehme ich dich …«, und vier »Gedichte an Achmatowa« (Juni / Juli 1916), auch hier mit dem Gestus: »Und ich schenke dir meine Glockenstadt, / Achmatowa! – und mein Herz dazu.« In diesen Zyklen erfaßte Zwetajewa sich selbst und ihre Stadt im letzten Jahr der alten Welt, um beides den Repräsentanten der Petersburger Kultur – Mandelstam, Blok, Achmatowa – darzureichen. In diesen Kontext gehört auch der Zyklus »Schlaflosigkeit«, der Mandelstams Thema von Liebe und Schlaflosigkeit in einem Moskauer Rahmen fortschreibt und Motive seiner Gedichte an Zwetajewa aufgreift.
Auch wenn Hilbig biographisch im einzelnen nicht immer genau informiert war und von der Übersetzung des elften Gedichtes fehlgeleitet wurde, so frappiert, was er von Zwetajewas Schreibweise erfaßt hat und wie er sie interpretiert. Er beginnt mit dem nachträglich hinzugefügten letzten Gedicht des Zyklus. Zwetajewa stellte vor und nach ihrer Ankunft in Berlin 1922 die Gedichte der vergangenen acht Jahre für Publikationen in russischen Exilverlagen zusammen, um damit den Beginn ihres Emigrantenlebens zu finanzieren. Und so wie sie für ihren Band »Gedichte an Blok« (Berlin 1922) dem frühen Zyklus von 1916 noch weitere aus den Jahren 1920/21 anfügte, hielt sie es auch mit dem Zyklus »Schlaflosigkeit« in ihrem Gedichtband »Handwerk« (Berlin 1923). Das elfte Gedicht vom Mai 1921 trägt in dieser Publikation die Überschrift »Dem Andenken an T. F. Skrjabina, ein Gedicht, noch zu ihren Lebzeiten für sie geschrieben «. Tatjana Fjodorowna Schlözer war die zweite, nicht mit ihm verheiratete Frau des 1915 frühverstorbenen Komponisten Alexander Skrjabin und Mutter dreier Kinder von ihm. Zwetajewa nannte sie stets Skrjabina. Sie hatte sie im Juni 1920 als einen erschöpften, an Schlaflosigkeit leidenden Menschen kennengelernt und etliche Nächte bei ihr gewacht. Tatjana Fjodorowna starb im April 1922 mit 38 Jahren.
In seiner Form von 1916 endet der Zyklus »Schlaflosigkeit« nicht eigentlich »mit einer Anrufung zum Frieden (…) in einem fast religiösen Tonfall«, wie es Hilbig scheint, sondern spielerisch schlicht: »Bete, Freund, für das schlaflose Haus, / Für das Fenster mit Licht!« Aber dem späteren elften Gedicht ist tatsächlich der Zeitenwechsel von 1917 in Rhythmus und Thematik eingeschrieben. Und da setzt Hilbigs Interesse ein. Mit der Oktoberrevolution tat sich »ein Riß in der Welt auf«, der auch seine Biographie und die Geschichte seines Landes geprägt hat. Spaltung und Ruhelosigkeit waren die Folge.
Der russische Bürgerkrieg endete im November 1920. Seither wußte Zwetajewa nicht, ob ihr Mann Sergej Efron, Offizier der Weißen Armee, noch lebte. Er war mit Resten seiner Truppe von der Krim nach Konstantinopel evakuiert worden. Von dort gab er Ende Juni 1921 über Ilja Ehrenburg in Berlin Nachricht an seine Frau in Moskau. Im Herbst 1921 gelangte Efron nach Prag. Zwetajewa reiste im Mai 1922 mit ihrer Tochter Ariadna nach Berlin aus, wo sie als Dichterin erstmals öffentlich gefeiert wurde und wenig später ihren Mann wiedertraf. Am 31. Juli folgte sie ihm nach Prag. Hier lebte die Familie mit finanzieller Unterstützung des tschechischen Staates bis zum November 1925. Dann zogen sie nach Paris. Das elfte Gedicht ist nun weder »Liebesgedicht« noch Zwiegespräch der Autorin »mit ihrem von ihr getrennt lebenden Mann«, wie Hilbig der Übersetzung von Natascha Wodin folgend meint. Vielmehr ist es nach kurzer Rede des schlaflosen weiblichen »Ich« in der ersten Strophe eine einzige zum Tode verführende Rede der personifizierten Schlaflosigkeit an die Schlaflose. Wie Hilbig anmerkt, hat Zwetajewa diese Form – eine Umkehr der Redesituation von Achmatowas »Schlaflosigkeit« – auch schon für das Eingangsgedicht ihres Zyklus gewählt. Dort singt die Schlaflosigkeit die junge schlaflose Frau mit einem Wiegenlied aus dem Leben. Hier ist es der Redegestus einer Erlkönigin: Besser nicht sein, besser in meinem Reich sein, als so leben.
(…)
SINN UND FORM 6/2017, S. 743-748, hier S. 743-745
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Bouton, Christophe
DIE FURIE DER ZERSTÖRUNG Hegel und das Phänomen des Fanatismus
Der Fanatismus gehört zu Extremformen menschlicher Konflikte, weil er anders als der Krieg weder Waffenstillstand noch Frieden kennt, sondern für absolute, unversöhnliche Gegnerschaft steht. Der Fanatiker will seinen Gegner nicht überwinden, er will ihn auslöschen. Die jüngsten Ereignisse haben den Fanatismus erschreckend aktuell gemacht. Aber wie jeder weiß, gibt es das Phänomen nicht erst seit dem 11. September, obwohl es an diesem Tag seinen furchtbaren Höhepunkt erreichte. Es ist so alt wie die Zivilisation, deren Geschichte es immer wieder brandmarkt.
Hier ergeben sich mehrere allgemeine Fragen. Wie soll man den Fanatismus definieren, ohne ihn zu weit zu fassen, so daß man den Besonderheiten des Problems nicht gerecht wird? Kann man die Ursachen des Fanatismus feststellen? Ist er eine Art Wahnsinn, oder folgt er einer bestimmten Logik? Vor allem, gibt es Lösungen für dieses Übel? Ich schlage vor, diese Fragen anhand von Hegels Philosophie zu untersuchen: zum einen weil Hegel über den Fanatismus als religiöses und politisches Problem nachgedacht hat. (Die entsprechenden Texte sind nicht zahlreich, aber wichtig.) Und zum anderen, weil der Fanatismus für sein System eine Herausforderung darstellt. Für Hegel sind alle Konflikte – gleichviel, ob zwischen Individuen oder Staaten – dialektisch, der Konflikt ist reinste Dialektik und enthält sowohl seine Eskalation als auch seine Versöhnung. Denn der Fanatismus entwickelt sich sogar innerhalb von Staaten, er widersteht der Aufklärung, die ihn bekämpft, und er bedeutet die Rückkehr des verdrängten Irrationalen in eine Welt, die rational sein will und das Böse vergessen hat. Läßt sich dieses Phänomen in die Dialektik des Fanatismusbegriffs integrieren? Wie kann Hegel einen Konflikt denken, in dem es keine Versöhnung zu geben scheint?
Der Fanatismusbegriff der Aufklärung
Was bedeutete der Fanatismus vor Hegel? Um das herauszufinden, muß man ins 16. Jahrhundert zurückgehen, als Luther die sich vom entstehenden Protestantismus abspaltenden Sekten, vor allem die Wiedertäufer, bekämpfte. In den zwanziger Jahren wird Luther von der von ihm selbst ausgelösten antikatholischen Welle erfaßt. Er sieht sich genötigt, gegen die Schwärmer, wie er sie nennt – von essaim (Schwarm) –, zu predigen, gegen die Mordpropheten, die behaupten, direkt von Gott inspiriert zu sein, und mit Gewalt gegen die bestehende Ordnung vorgehen, um die religiöse Botschaft auch sozial und politisch umzusetzen. Luthers Schüler Melanchthon übersetzt Schwärmer mit fanatici oder fanatiques bzw. phantastiques. Er spielt dabei mit einer doppelten Etymologie: mit einer falschen, die das Wort vom griechischen phantasma ableitet, um das Wahnhafte ihrer Visionen zu unterstreichen; und mit der richtigen, die sich auf das lateinische fanum, Tempel, heiliger Ort, bezieht und bis in die römische Antike zurückreicht, wo man die inspirierten Wahrsager (fanatici) so nannte und auch jene Priester, die sich im Delirium manchmal selbst verstümmelten.
Der Begriff wandert nach Frankreich und England, um dann nach Deutschland zurückzukehren. Im 17. Jahrhundert ist er bereits ein gefährliches Etikett. David de Brueys schreibt eine »Histoire du fanatisme de notre temps« (1692), einen regelrechten Angriff gegen die Protestanten. Er definiert Fanatismus hier als geistige Umnachtung, als Wahnsinn, der jede politische Autorität ablehnt und mit dem Irdischen Reich Tabula rasa machen und es durch das Reich Gottes ersetzen will. Das englische Wort für Schwärmerei ist im 17. Jahrhundert zumeist enthusiasm, mitunter auch fanatick. In seiner »Anatomie der Schwermut« von 1621 analysiert Robert Burton Enthusiasmus als durch krankhafte Vorstellungskraft verursachte religiöse Schwermut. Hobbes verdammt im »Leviathan« (1651) den Enthusiasmus endgültig. Wer sich für inspiriert halte, dem fehle es lediglich an Vernunft, er sei Opfer einer rauschhaften Begeisterung, die in kollektive Raserei umschlagen könne; dies zeuge von ungeheuerlichem Hochmut, nämlich von dem Wahn, sich für Gott zu halten. Auch Locke sieht im Enthusiasmus eine gefährliche Krankheit, bei der sich Schwermut, Stolz und übersteigerte Vorstellungskraft vermischen. Enthusiasmus sei der Wille, die Offenbarung ohne Vernunft, kraft einer direkten Verbindung mit Gott zu bewerkstelligen. Doch damit zerstöre er den Glauben ebenso wie die Vernunft.
1708 veröffentlicht Shaftesbury seinen »Brief über den Enthusiasmus« dessen Hauptgedanken auch der junge Hegel kennt. Er markiert einen Wendepunkt in der Entwicklung des Fanatismusbegriffs, weil er einen »edlen Enthusiasmus« deutlich von dessen »Fanatismus« genannten Entartung absetzt. Shaftesbury bezieht sich auf die griechische Wurzel des Wortes und mahnt, Enthusiasmus sei nicht nur eine Schwäche, sondern auch etwas Göttliches, eine in der menschlichen Natur angelegte, kraftvolle und ansteckende Leidenschaft, die Helden, Staatsmänner, Dichter, ja selbst Philosophen ergreife und inspiriere. Religiöser Fanatismus sei lediglich entarteter Enthusiasmus, hervorgerufen von Leidenschaften wie maßloser Liebe oder Furcht. Nur dieser unreine Enthusiasmus sei mit einer Krankheit zu vergleichen.
Shaftesburys Unterscheidung kehrt wieder in der Blütezeit der Aufklärung, als der Fanatismus zur Zielscheibe der Philosophen wird. Nun wird der Begriff weniger als Adjektiv (fanatisch) denn als Substantiv (Fanatismus) verwendet – ein Zeichen dafür, daß er schon etabliert ist. Während der Artikel im »Dictionnaire de l’Académie« von 1694 noch fehlt, hat er in Voltaires »Philosophischem Wörterbuch« (1764) bereits einen wichtigen Platz: »Der Fanatismus verhält sich zum Aberglauben wie der Wahn zum Fieber oder die Raserei zum Zorn. Wer in Ekstase verfällt und Visionen hat, wer Träume für Wirklichkeit nimmt und seine Einbildungen für Prophezeiungen, ist ein angehender Fanatiker, von dem viel zu erwarten ist: Bald wird er aus Liebe zu Gott zum Mörder werden können.« Voltaire faßt damit die Thesen zusammen, die er in der »Abhandlung über die Religionsduldung« (1763) entwickelt hat. Der Fanatismus sei eine Art Wahnsinn und unterscheide sich vom Enthusiasmus durch seine maßlose Gewalt. Mehr als zwei Jahrhunderte nach dem Zwischenspiel der Schwärmer seien die Protestanten von fanatischen Henkern zu Opfern des Fanatismus geworden. Voltaire meint damit Ereignisse wie den Fall Calas und vor allem die Bartholomäusnacht, was ihn freilich nicht hindert, die Massaker der Protestanten an den Katholiken in Irland unverhohlen zu benennen – wenn es denn stimmt, daß keine Religion ein Monopol auf Fanatismus hat. Wie seine Vorgänger im 17. Jahrhundert hält Voltaire den Fanatismus für eine Verwirrung der Einbildungskraft, für eine fast unheilbare Epidemie, eine himmlische Epilepsie, eine »Seelenpest«. Einziges wirksames Gegenmittel sei die Philosophie, die Ausbreitung der Vernunft, die zwar nicht heilen, dem Übel aber vorbeugen könnte, indem sie die Sittlichkeit stärke und den Aberglauben austreibe. Dieser Fanatismusbegriff wird durch die Französische Revolution »popularisiert« und ausgiebig auf die Feinde der Republik angewandt, vornehmlich auf Priester und auf die Religion. Am 29. Brumaire des Jahres II befiehlt der Konvent, zur Erinnerung an Calas, das »Opfer des Fanatismus«, eine Marmorsäule in Toulouse aufzustellen.
Aus diesen verschlungenen Pfaden lassen sich drei typische Kennzeichen für den Fanatismus am Ende des 18. Jahrhunderts herausarbeiten. Religiös gesehen entspringt der Fanatismus der Vorstellung, direkt von Gott inspiriert zu sein und eine unmittelbare und privilegierte Beziehung zum Göttlichen zu haben. Daraus ergeben sich einige psychologische Merkmale: übersteigerte Imagination, Ablehnung von Vernunft und Argumentation, ausschließender und intoleranter Glaube, die Gewißheit absoluter Wahrheit und der Wunsch nach deren allgemeiner Anerkennung, Haß auf jene, die keinen Anteil an dieser Wahrheit haben, ein an Irrsinn grenzender Wahn, zu guter Letzt Bruch des Mordtabus und die Einbildung, töten zu dürfen. Der deutlichste Unterschied zwischen Enthusiasmus und Fanatismus ist jedoch dessen politische Variante, die sich häufig als Kollektivverhalten äußert und danach trachtet, den Glauben auf die Welt zu übertragen, um sie zu »reinigen«, und dabei auch vor Gewalt nicht haltmacht. Kurzum, der Fanatiker begeistert sich nicht nur für Ideen, er fühlt sich als Werkzeug Gottes, er handelt, und dieses Handeln ist systematisch, zerstörerisch, mörderisch, eben das, was Leibniz als »Raserei für etwas Göttliches« bezeichnet. Fanatismus ist nicht nur das Gegenteil von Vernunft, ihr Erzfeind, er ist auch die Antithese zur Zivilgesellschaft, zum Staat, dem er sich ideologisch und physisch widersetzt.
Beim deskriptiven Fanatismusbegriff bleibt die heikle Frage nach seinem Ursprung im dunkeln. Leibniz zitiert dazu Vergils »Aeneis«: »Ob Götter die Glut in die Seele mir hauchen? Ob, Euryalus, jedem zum Gott sein stürmisches Herz wird?« In der Antike glaubte man, die fanatici seien von den Göttern inspiriert. Aber das Besondere des modernen Fanatismusbegriffs besteht darin, daß er diesen göttlichen Ursprung bestreitet. Zu Luthers Zeit hält man die Schwärmer für vom Teufel Besessene, die in der Hölle schmoren werden. Im Laufe des 17. Jahrhunderts werden solche unnatürlichen Deutungen allmählich von rationalen Erklärungen abgelöst. Von Robert Burton bis zu Voltaire, über de Brueys, Turretin, Locke, Hobbes, Leibniz wird der Fanatismus mit medizinischen Begriffen als eine Geisteskrankheit analysiert, die mit dem Teufel nichts zu tun hat, aber viel über die dunkle Seite des Wahnsinns verrät. Wie man schon bei Voltaire gesehen hat, will die Aufklärung dem Fanatismus mit Vernunft, durch den Kampf gegen Unwissenheit und Aberglauben vorbeugen. Während der Französischen Revolution halten viele »erleuchtete« Geister den Fanatismus für abgetan, für ein finsteres Relikt der alten Welt, das allmählich ausgelöscht wird.
Wie ist der Fanatismusbegriff nach Deutschland gelangt? Vorm 19. Jahrhundert wird er kaum verwendet, im Wörterbuch der Brüder Grimm (ab Mitte des 19. Jahrhunderts) ist er noch nicht enthalten, weil er vermutlich im Schatten von Luthers Schwärmerei steht. In seiner vorkritischen Periode macht Kant sich die medizinische Erklärung zu eigen und zählt den Fanatismus zu den »Krankheiten des Kopfes«: »Dieser zweideutige Anschein von Phantasterei in an sich guten, moralischen Empfindungen ist der Enthusiasmus, und es ist niemals ohne denselben in der Welt etwas Großes ausgerichtet worden. Ganz anders ist es mit dem Fanatiker (Visionär, Schwärmer) bewandt. Dieser ist eigentlich ein Verrückter von einer vermeinten unmittelbaren Eingebung und einer großen Vertraulichkeit mit den Mächten des Himmels. Die menschliche Natur kennt kein gefährlicheres Blendwerk. Wenn der Ausbruch davon neu ist, wenn der betrogene Mensch Talente hat und der große Haufe vorbereitet ist dieses Gährungsmittel innigst aufzunehmen, alsdann erduldet bisweilen sogar der Staat Verzuckungen. Die Schwärmerei führt den Begeisterten auf das Äußerste, den Mahomet auf den Fürstenthron und den Johann von Leyden aufs Blutgerüst.«
Wie die Erwähnung Johann von Leydens zeigt, übernimmt Kant Luthers Wort Schwärmer, wobei er die nachreformatorischen Erkenntnisse in seine Definition integriert, vor allem Shaftesburys Unterscheidung zwischen Enthusiasmus und Fanatismus. In Kants Charakterisierung des Fanatikers findet man wieder die erwähnten drei Merkmale: das Religiöse (die unmittelbare Verbindung mit dem Göttlichen), das Psychische (krankhafte Vorstellungskraft) und das Politische (Gefahr für den Staat) sowie die Verurteilung als Geisteskrankheit. In Kants kritischer Periode verschwindet der Begriff »Fanatismus«, das Gegensatzpaar heißt nicht mehr Fanatismus und Enthusiasmus, sondern Schwärmerei und Enthusiasmus. Der Enthusiasmus sei der Affekt, der die Idee des Guten begleitet, und offenbar von so erhabener Gemütsart, »daß man gemeiniglich vorgiebt: ohne ihn könne nichts Großes ausgerichtet werden«. Kant verwendet den Begriff, um das von den grandiosen Ereignissen der Französischen Revolution ausgelöste Gefühl zu benennen. An den Fanatismus erinnert die »Kritik der praktischen Vernunft« anläßlich der moralischen Schwärmerei, dieser »Überschreitung der Grenzen, die die praktische reine Vernunft der Menschheit setzt«. Der moralische Fanatismus sei wie eine Krankheit, die viele Gemüter »infiziere«; er entstehe aus der Illusion moralischer Reinheit, die sich keiner Pflicht unterwerfe, um Gutes zu tun, und die das Selbstopfer feiere. Kant erwähnt die Religionsschwärmerei nur, um sie aus seiner Betrachtung auszuschließen, denn diese Frage geht über die Moralphilosophie hinaus.
In Hegels Philosophie wird der Begriff Schwärmerei durch den Begriff Fanatismus ersetzt, klar getrennt von Enthusiasmus und Begeisterung, aber verbunden, was diese betrifft, mit der entscheidenden Triebfeder der Begeisterung, ohne welche, so die berühmte Formel, nichts Großes in der Welt auszurichten sei. Wie Kant sieht Hegel in der Revolution von 1789 ein Ereignis, das ein erhabenes Gefühl, einen Enthusiasmus des Geistes hervorruft. Das Wort Fanatismus wählt er vielleicht deshalb, weil die Revolutionäre in Frankreich es so massiv verwendeten. Das Wort Schwärmerei hat von Luther bis zu Hegel einen außergewöhnlichen Weg zurückgelegt, es ist vom enthusiasm in England bis zum fanatisme in Frankreich gewandert, um mit neuen Bedeutungen aufgeladen als Fanatismus nach Deutschland zurückzukehren.
Dieser Begriffswandel vollzieht sich in Hegels Jugendtexten, im Zusammenhang mit der Kritik der positiven Religion. In einem Fragment aus der Berner Zeit von 1794 konstatiert er die nicht reduzierbare Vielzahl der positiven Religionen. Gemäß den Traditionen der Aufklärung wendet er sich gegen die Verfolgung, den besten Verbündeten des Fanatismus. Denn »sobald durch öffentlichen Befehl oder Verbot einer gewissen Vorstellungsart eine Wichtigkeit darein gelegt wird«, könne »nicht nur die Gewissensfreiheit der Menschen gekränkt, sondern auch leicht ein gefährlicher Fanatismus angezündet werden«. Angesichts der Verschiedenartigkeit der Religionen schlägt er vor, nur jene Dogmen zuzulassen, die »so einfach als möglich sein, nichts enthalten sollen, was nicht die allgemeine Menschenvernunft anerkennt, – nichts, wodurch etwas bestimmt, etwas dogmatisch behauptet würde, das die Grenzen der Vernunft übersteigt, wenn die Befugnis dazu auch im Himmel selbst ihren Ursprung haben sollte«. Nach der Frankfurter Periode verwendet er den Fanatismusbegriff erneut, und zwar im Hinblick auf verschiedene Aspekte der jüdischen und der christlichen Religion: »Die lebenverachtende Schwärmerei kann sehr leicht in Fanatismus übergehen; denn um sich in ihrer Beziehungslosigkeit zu erhalten, muß sie dasjenige, von dem sie zerstört wird und das, sei es auch das Reinste, für sie unrein ist, zerstören, seinen Inhalt, oft die schönsten Beziehungen verletzen.« Der Fanatismus begnüge sich nicht damit, die Grenzen der Vernunft zu überschreiten, er wolle auch die Welt reinigen, indem er alles zerstöre, was ihm aufgrund seiner eigenen abstrakten, leeren Reinheit an ihr unrein erscheine, und alles auslöschen, was diese Reinheit zu beflecken drohe. Seine Kennzeichen seien Mißtrauen gegenüber dem Leben, Haß gegen Gesetz und Staat, Leugnung der Endlichkeit.
Die Freiheit der Leere
Im Fortgang seiner Überlegungen verlagert Hegel seine Untersuchung des Fanatismus immer mehr in den Bereich von Recht und Geschichte. Erst im Lichte dieser Entwicklungen ermißt man die Originalität – sowie das Rätselhafte – seiner Fanatismusdefinition in § 5 der »Grundlinien der Philosophie des Rechts«. Fanatismus ist hier keine Form des Wahnsinns, keine Verirrung der Vernunft, sondern ein Moment in der Dialektik des freien Willens, eine Möglichkeit menschlicher Freiheit.
Die Dialektik des Willens, die er in der Einleitung der »Grundlinien der Philosophie des Rechts« entwickelt, enthält drei Elemente: Unbestimmtheit, Bestimmung und Selbstbestimmung, die zum objektivierten Willen des Rechts führe. Der Wille sei zunächst »reine Unbestimmtheit«, »die schrankenlose Unendlichkeit der absoluten Abstraktion oder Allgemeinheit, das reine Denken seiner selbst«. Ablehnung jedes festen Inhalts, jeder Beschränkung. Der Wille will nichts Besonderes, Determiniertes, er mißtraut der Vielzahl der endlichen Ziele, die ihm das Leben bietet. Seine Ziele sind eher abstrakt, er sucht absolute und von keiner Realität abhängige Werte, er ist auf reine Ideale fixiert. Der Wille will die absolute Abstraktion oder, was auf dasselbe hinausläuft, die Abstraktion des Absoluten. Aus diesem Grunde müssen die Ideale des unbestimmten Willens universell sein, für alle und überall gelten – was sie noch abstrakter macht. Dieser Wille, der keine Grenzen akzeptiert, ist die Aufhebung aller Restriktionen, nichts kann ihn aufhalten. Er ist das »reine Denken seiner selbst«, denn er schließt sich in der Idealwelt seiner Ideen ein, anstatt sich der komplexen Realität auszusetzen.
Dem unbestimmten Willen entspricht eine spezielle Figur der Freiheit, »die negative oder die Freiheit des Verstandes«, die »Freiheit der Leere«. Sie steht für das absolute Vermögen, sich allem zu entziehen, in und um sich eine Leere herzustellen. Die menschliche Freiheit verkörpert sich zuerst in der negativen Unendlichkeit des Willens, einer zweischneidigen Angelegenheit. Die negative Freiheit ist einerseits die Fähigkeit zu verneinen, sich zu widersetzen, zu revoltieren, zu kritisieren. In der Philosophie manifestiert sie sich als Skeptizismus, diesem ängstlichen Abweisen jeglicher Bestimmtheit. Andererseits kann sie, in den Rang der einzigen und höchsten Freiheit erhoben, zu mehr oder weniger destruktiven Formen degenerieren. Hegel nennt im Zusatz zu § 5 als Beispiel den Selbstmord: »Der Mensch allein kann alles fallen lassen, auch sein Leben: er kann einen Selbstmord begehen.« In ihrer abstrakten und unbestimmten Form vermag die Negativität der Freiheit sich von allem zu lösen, selbst vom Leben. Daß die Gewalt der Freiheit destruktiv ist, ist freilich noch kein Fanatismus. Der entsteht erst, wenn die Freiheit der Leere sich »zur Wirklichkeit« wendet. Denn sie will ihre abstrakten Ideen uneingeschränkt und sofort umsetzen, der Wille muß einfach jene immer komplexer werdende Wirklichkeit zerstören. Durch den Kontakt mit dem Besonderen wird das rein Universelle zerstörerisch, da es sich nur in dieser Zerstörung des Besonderen beweisen kann: Die »Besonderung und objektive Bestimmung ist es aber, aus deren Vernichtung dieser negativen Freiheit ihr Selbstbewußtsein hervorgeht«. Gefangen in dieser Logik, wird die negative Freiheit zum »Fanatismus der Zertrümmerung«, zur »Furie des Zerstörens«.
Ist der Zustand des Fanatismus zu Beginn der Dialektik des freien Willens eine logisch und historisch notwendige Etappe der Entstehung der Freiheit? Diesen Preis fordert die Dialektik des Willens gewiß nicht. Die Freiheit der Leere wird erst dann eine fanatische, wenn sie sich zur Wirklichkeit wendet, um in dieser ihre universellen Ideen uneingeschränkt umzusetzen. Solange sie in ihrer idealen Welt der reinen Gedanken verbleibt, ist sie völlig ungefährlich, zumindest für andere. Sicher, der Wille ist das Denken, das zur Wirklichkeit drängt, dieses Streben scheint ihm wie ein Schicksal eingeschrieben zu sein. Im seinem ersten Zustand ist der unbegrenzte Wille in einer Aporie gefangen. Entweder er verwirklicht sich nicht, bleibt der Reinheit seiner Ideen treu, die er nicht verraten will, hüllt sich lieber in sie ein, als sie durch seine Aktionen zu kompromittieren. Aber die Welt wird ihm dadurch fremd, unheimlich, der unbegrenzte Wille läuft Gefahr, sich zu verzehren, wodurch der schönen Seele à la Werther Verzweiflung und sogar Selbstmord drohen. Oder er versucht, seine Ideen auf die Wirklichkeit zu übertragen, aber verstrickt sich in den Widersprüchen von Gewalt und Fanatismus, wie es die finstere Epoche der Terreur gezeigt hat, die Hegel hier meint.
Unter den drei Elementen der Dialektik des Willens erscheint der Fanatismus nicht als notwendige Etappe, sondern als ein möglicher Anfang, der, sobald er zutage tritt, gleichsam ein Abgleiten der negativen Freiheit darstellt, eine Hybris der Negativität, deren Ursprung rätselhaft bleibt. In der Anmerkung zu § 5 der »Grundlinien« gibt es unverhohlene Anspielungen auf die Terreur von 1793. Aber Hegels Definition des Fanatismus will durchaus allgemein sein und dessen politische wie religiöse Formen erfassen. In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie gibt er, mit Blick auf den Islam, einen konzisen Fanatismusbegriff: »Die Abstraktion beherrschte die Mahommedaner: ihr Ziel war, den abstrakten Dienst geltend zu machen, und danach haben sie mit der größten Begeisterung gestrebt. Diese Begeisterung war Fanatismus, d. i. eine Begeisterung für ein Abstraktes, für einen abstrakten Gedanken, der negierend sich zum Bestehenden verhält. Der Fanatismus ist wesentlich nur dadurch, daß er verwüstend, zerstörend gegen das Konkrete sich verhält; aber der mohammedanische war zugleich aller Erhabenheit fähig, und diese Erhabenheit ist frei von allen kleinlichen Interessen und mit allen Tugenden der Großmut und Tapferkeit verbunden.«
Fanatismus ist die Begeisterung für eine abstrakte Idee, welche die Wirklichkeit zerstören wird. Dieser Begriff steht in der Tradition der Aufklärung, aber bricht auch mit ihr. Er enthält einige ihrer Merkmale wie die Gleichsetzung von Islam und Fanatismus, was man als ein durch Voltaire und vor allem durch sein Stück »Le Fanatisme ou Mahomet le Prophète« (1745, deutsche Übersetzung von Goethe, »Mahomet« 1802) weit verbreitetes Vorurteil der Aufklärung erwähnen muß. Hegel übernimmt auch die Unterscheidung zwischen Enthusiasmus und Fanatismus in ihren verschiedenen Ausprägungen. Wie Voltaire notiert, ist Fanatismus ein allzeit gewaltbereiter Enthusiasmus, der sich gegen »Andersdenkende« und gegen den Staat selbst richtet. Wie verhält es sich mit der Psychologie des Fanatismus? Hegel tritt in die Fußstapfen der Aufklärung und verwendet auch die Worte Enthusiasmus, Leidenschaft, Furie. In den Vorlesungen von 1822/23 über die »Philosophie der Weltgeschichte« bemerkt er, der Fanatismus beruhe sowohl auf einer »Empfindung« als auch auf einer »Vorstellung«: »Die Empfindung ist gegen dieses Objektive fanatisch, nicht aber nur die Empfindung; sondern auch die Vorstellung des Einen, Abstrakten, die sich Wirklichkeit gibt, ist fanatisch.« Der Fanatismus bringt den Geist mit Hilfe des Gefühls und des Intellekts in seine Gewalt. Die Vorstellung, daß man automatisch die Wahrheit besitzt, stützt sich auf die Vorstellung, abstrakte Ideen zu verstehen, die als absolute dekretiert werden, und umgekehrt.
Neu an Hegels Denken ist, daß er, im Gegensatz zur allgemeinen Tendenz, den medizinischen Diskurs ausschließt. In seinem Aufsatz »Über den patriotischen Enthusiasmus« unterscheidet etwa Solger zwischen echtem Enthusiasmus, der von Gott inspiriert ist und sich in den Dienst ewiger Ideen wie Vaterland, Wahrheit etc. stellt, von seiner entarteten, heuchlerischen Form, die von Willkür und Hochmut geprägt ist und sich anmaßt, die Menschheit durch Gewalt reformieren zu können. Obwohl er diesen blinden, gefährlichen Enthusiasmus nicht als Fanatismus bezeichnet, vergleicht er ihn doch mit »sentimentaler Narrheit«. Für Hegel, der diesen Text durch seine Besprechung von Solgers nachgelassenen Schriften kannte, ist Fanatismus kein Wahnsinn, sondern eine Form des maßlosen Willens, der abstrakten Freiheit. Zwar bezeichnet er ihn, den medizinischen Diskurs anscheinend aufnehmend, mehrmals als Furie der Freiheit, aber dieser aus der antiken Mythologie stammende Begriff meint eine unaufhaltsame Gewalt, keine Geisteskrankheit. Furie ist der römische Name für Erinnyen, Rachegöttinnen, die den Mörder jagen und ihn ohne Unterlaß peinigen. Obwohl sie ihn in den Wahnsinn treiben – Hegel beschreibt in seiner »Ästhetik« die »Raserei« des Orest –, sind sie selbst keine Opfer des Wahnsinns.
Der zweite Bruch in Hegels Konzeption entsteht durch das Religiöse des Fanatismus. Wir haben, von Luther bis zur Aufklärung, gesehen, daß der Fanatiker sich einbildet, in direkter Verbindung mit dem Göttlichen zu stehen. Hier nimmt Hegel eine bezeichnende Verschiebung vor. Für ihn kann der Fanatismus religiöse wie auch politische Formen annehmen. Er ist eine aktive, gewalttätige Begeisterung für abstrakte Werte und entsteht durch die Verknüpfung des unbegrenzten Willens mit Ideen, wobei es nahezu gleichgültig ist, ob diese religiös sind oder politisch: »Insofern aber dies negative Verhalten nicht bloß eine innere Gesinnung und Ansicht bleibt, sondern sich an die Wirklichkeit wendet und sich in ihr geltend macht, entsteht der religiöse Fanatismus, der, wie der politische, alle Staatseinrichtung und gesetzliche Ordnung als beengende, der inneren, der Unendlichkeit des Gemüts unangemessene Schranken und somit Privateigentum, Ehe, die Verhältnisse und Arbeiten der bürgerlichen Gesellschaft usf. als der Liebe und der Freiheit des Gefühls unwürdig verbannt.«
Die Wirkungen des religiösen und politischen Fanatismus sind gleich: sie zerstören den Staat und die Sittlichkeit. Nur ihre Herkunft ist unterschiedlich. Wenn die abstrakten Ideen des unbegrenzten Willens aus der Religion stammen (die Liebe Gottes, die Suche nach dem Heil, nach der Reinheit etc.), ist der daraus hervorgehende Fanatismus religiös. Die Religion will den Staat abschaffen und eine Theokratie errichten wie seinerzeit Johann von Leyden. Stammen die Ideen indes aus der Politik (Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit etc.), handelt es sich um politischen Fanatismus. Hier geht es um eine Umkehrung der Idee des Staates, mit dem Ziel, diesen durch die Religion zu ersetzen, das Gewissen der Bürger zu kontrollieren und einen Kult zu etablieren. In beiden Fällen vermischen sich Religion und Politik. Bei dieser Säkularisierung des Fanatismuskonzepts geht es jedenfalls darum, die Ereignisse von 1793 einzubeziehen. Wenn Hegel von religiösem Fanatismus spricht, spielt er des öfteren auf diese Zeit an. Man sieht es bei dem zum Präzedenzfall erhobenen Islam: »La religion et la terreur war hier das Prinzip, wie bei Robespierre la liberté et la terreur.« Solche Vergleiche findet man auch in Hinblick auf klerikale Exzesse. Im 16. Jahrhundert sei die Inquisition wie eine »ungeheure Pest« über Europa gekommen, sie habe eine »Wut gegen das Böse« entfacht, die allein auf Verdächtigungen und Aberglauben beruhte. Der politische Fanatismus der Terreur stehe dem religiösen der Inquisition in nichts nach: »In gleicher Fürchterlichkeit erscheint dieses Prinzip des Verdachts unter der römischen Kaiserherrschaft und unter der Schreckensherrschaft Robespierres, wo die Gesinnung als solche bestraft wurde.« Der Fanatismus ist keine Erkrankung der Vernunft, von der die Menschheit durch die Aufklärung nach und nach geheilt worden wäre, er ist eine Möglichkeit der Freiheit, die der Aufklärung an sich innewohnt und ein ganz neues philosophisches Problem darstellt.
Figuren des Fanatismus
Was sind die historischen Figuren des religiösen Fanatismus? Im § 5 der »Grundlinien« evoziert Hegel den »Fanatismus der indischen reinen Beschauung «. Das höchste Ideal eines Hindus sei es, Brahmane zu werden. Der Hindu suche seine reine Identität, den Rückzug an den leeren Ort der Innerlichkeit. Einerseits hat diese Askese etwas Fanatisches, denn sie entsagt dem Leben und jedem konkreten Ziel, sie ist ein Kult der leeren Abstraktion. Andererseits ist sie eigentlich kein Fanatismus, denn sie impliziert keinerlei Gewalt gegen andere. Deshalb bezieht Hegel den Fanatismusbegriff nicht mehr auf den Hinduismus. Gleichwohl betont er alles, was diesen dem Fanatismus annähert: die Asketen (Yogi), die ihr Leben lang in derselben Position verharren oder jahrelang marschieren, ohne zu schlafen; die Witwenverbrennung; die Selbstopfer wie das Sich-Hinunterstürzen in die Quellen des Ganges – all die Figuren einer abstrakten Freiheit, die sich erst in der Zerstörung verwirklicht. Hegel schließt aus diesen Beispielen, bei den Indern sei »das menschliche Leben etwas Verachtetes, Geringgeschätztes – es gilt nicht mehr als ein Schluck Wassers. […] Das Leben erhält Wert nur durch Negation seiner selbst.« In der »Phänomenologie des Geistes« sagt er über die Terreur, der Tod habe keine größere Bedeutung mehr als »das Durchhauen eines Kohlhaupts oder ein Schluck Wassers«. Mißtrauen gegen das Leben ist für Hegel allen Fanatismen gemeinsam.
Der Fanatismus des Hinduismus ist rein passiv, da er nur gegen diejenigen Gewalt anwendet, die ihrerseits fanatisch sind, im Unterschied zum eigentlichen, aktiven Fanatismus, der gegen alle gewalttätig wird. Gleiches gilt für das, was Hegel im Katholizismus den »Fanatismus der Duldung« oder »Fanatismus, den wir als Heiligkeit verehren sollen« nennt. Die Martyrien der Urchristen werden kultisch verehrt und in der Malerei abgebildet. Die grausamsten Leiden erleben Märtyrer wie eine Gnade, eine Vereinigung mit Gott. Diese eigentümliche Frömmigkeit, dieses beharrliche Entsagen erinnert Hegel »an das Abstruse der Peinigungen«, welche »sich die Inder gleichfalls freiwillig zu religiösen Zwecken auferlegen«. Aber während diese innere Heiterkeit und Überwindung des Bewußtseins suchen, geht es den christlichen Märtyrern um den Schmerz an sich. Dadurch wird dieser Fanatismus noch unerträglicher und absolut unvereinbar mit der Idee des Lebens.
Dem aktiven Fanatismus begegnet man nicht nur im Islam, sondern auch im Christentum, im Katholizismus mit seiner Inquisition ebenso wie im Protestantismus. In bezug auf die Wiedertäufer, die von Luther bekämpften Schwärmer, hält Hegel sich ziemlich zurück. Er erwähnt sie, als er vom Puritanismus spricht, dieser »erreicht […] die Spitze der Innerlichkeit, welche, in eine objektive Welt ausschlagend, teils fanatisch erhoben, teils lächerlich erscheint. Diese Fanatiker, wie auch die in Münster, wollten den Staat unmittelbar aus der Gottesfurcht regieren, wie ebenso fanatisiert die Soldaten ihre Sache im Felde betend ausfechten mußten«. Der Puritanismus der Schwärmer ist manchmal lächerlich – wie Shaftesbury betont –, manchmal fanatisch, wie der Fall des Johann von Leyden zeigt.
Betrachtet man Hegels Analysen insgesamt, stellt man fest, daß den meisten Religionen – Judaismus, Hinduismus, Islam, Katholizismus, Protestantismus – die Möglichkeit des Fanatismus inhärent ist, und daß dieser nie die wahre Religion darstellt, sondern die Zerstörung jeder ethischen Ordnung, auch der Religion.
Anders als die Philosophen der Aufklärung zielt Hegel eher auf den, wie er sagt, politischen Fanatismus als auf den religiösen. Auf die Begeisterung für 1789 folgt das Entsetzen über 1793. Man kennt die Untersuchung der Terreur in der »Phänomenologie des Geistes«. Obwohl Hegel in diesem Kapitel nicht von »Fanatismus« spricht, meint er, wie seine späteren Vorlesungen zeigen, genau ihn. Dort wird die Terreur als »Fanatismus der Freiheit« bezeichnet. Die Tyrannei Robespierres »mußte zugrunde gehen; denn alle Neigungen, alle Interessen, alle die Vernünftigkeit selbst war gegen diese fürchterliche konsequente Freiheit, die in ihrer Konzentration so fanatisch auftrat«.
Was kennzeichnet eigentlich diesen Fanatismus der Aufklärung? Zunächst die absolut errichtete Freiheit oder die absolute Freiheit. Sie zerstört alles, was sich ihr widersetzt, sie unterdrückt alle Besonderheiten und Unterschiede des Lebens. Nach der von Hegel für notwendig erachteten Auslöschung des Ancien Régime müssen sich die Stände, Zünfte, Assoziationen sowie die drei Gewalten samt Wohlfahrtsausschuß unter das Joch der absoluten Freiheit beugen. Je weiter die Negativität des abstrakten Willens um sich greift, desto stärker entwickelt sich die Revolution in Richtung Fanatismus. Denn wenn die Freiheit nichts mehr verwerfen kann, kann sie nur noch sich selbst verwerfen und ihre Repräsentanten physisch unterdrücken. »Kein positives Werk noch That kann also die allgemeine Freyheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Thun; sie ist nur die Furie des Verschwindens.« Die Terreur ist eine Form des politischen Fanatismus, eine Furie der Freiheit, die aber kalt bleibt und den Tod quasi bürokratisch verwaltet, ohne Rücksicht auf den Wert des Lebens. Das einzige Werk der allgemeinen Freiheit ist folglich »der Tod, und zwar ein Tod, der keinen innern Umfang und Erfüllung hat«.
Als Beispiel nennt Hegel die Revolutionstribunale und ihre finstere Devise – Freiheit (Freispruch) oder Tod (Guillotine) – sowie das Gesetz der Verdächtigung. Als Beleg mag das Dekret der Nationalversammlung vom 9. Brummaire des Jahres II gegen die Stadt Lyon dienen, die sich am 29. Mai 1793 gegen die jakobinische Stadtverwaltung erhoben hatte: »Art. 3. – Die Stadt Lyon wird zerstört (…). Art. 4. – Der Name Lyons wird von der Tafel der Städte der Republik gelöscht (…). Art. 5. – Auf den Trümmern der Stadt Lyon wird eine Säule errichtet, die der Nachwelt die Verbrechen und die Bestrafung der Royalisten dieser Stadt verkündet, mit folgender Inschrift: Lyon führte Krieg gegen die Freiheit; Lyon gibt es nicht mehr.«
Dieses Dekret der Vernichtung, das von Collot d’Herbois und Fouché nach Kräften umgesetzt wurde, veranschaulicht perfekt jene Furie der Zerstörung. Hegels Sicht der Terreur beruhte nicht auf dem Denken der Aufklärung, das diesen Ereignissen weit voraus lag, sondern auf August Wilhelm Rehbergs »Untersuchungen über die Französische Revolution«, die 1793 erschienen und bereits warnten. Nach Rehbergs konservativer These führe jeder Versuch, eine allgemeine Theorie der Vernunft auf die Realität anzuwenden, aufgrund der Komplexität der Praxis, bestenfalls zur völligen Verkehrung der Theorie, schlimmstenfalls zur absoluten Zerstörung der Realität. Die Revolutionäre hätten fälschlicherweise versucht, die Metaphysik von Rousseaus »Gesellschaftsvertrag «, der in der Theorie vielleicht richtig, in der Praxis allerdings gefährlich sei, zu verwirklichen. Rehberg geißelt die »absolute Freiheit« des »Gesellschaftsvertrags« und verdammt das Unternehmen der Revolutionäre, das nur auf die Etablierung einer »allgemeinen Zerstörung« abziele: »Aber in dem Augenblicke, da er durch die wirklich Welt aus dem Traum geweckt wird, entdeckt er mit Entsetzen einen ungeheuren Contrast unter der Verfassung der bürgerlichen Gesellschaften, und der Idee von dem, was jenen Grundsätzen zufolge seyn sollte. Diese Empfindungen erregen alsdenn bey denjenigen, welche sich dem Einflusse allgemeiner Sätze nicht so unbedingt ergeben, und durch Gefühl und practisches Urtheil mehr als durch solche allgemeine Grundsätze des Verstandes leiten lassen, eine skeptische Verzweiflung an der Wahrheit aller allgemeinen Grundsätze, und bey manchen leicht eine unsichre Nachgiebigkeit gegen die Convenienz des Augenblicks: in eigensinnigen und blinden heftigen Köpfen aber erregen sie, den nach ihrem eignen Gefühle heroischen, nach dem Urtheile des kältern Zuschauers hingegen, rasenden Entschluß, alles zu zerstören, was den angenommenen Grundsätzen widerspricht, und die Menschheit zu zwingen, sich in dieselben zu fügen: worauf es die französischen Reformatoren angelegt haben.«
Wenngleich Rehberg die zerstörerische Tendenz der abstrakten Freiheit hervorhebt, die sich am reinsten in der Terreur zeige, vergleicht er sie nie mit dem Fanatismus. Der erste, der eine polemische Verbindung zwischen Fanatismus und Revolution herstellt, ist Burke, von dem Rehberg übrigens seine Ideen entlehnte. Seine »Betrachtungen über die Französische Revolution« (1790) erschienen 1791 erstmals auf Deutsch, dann wieder 1793 in der Übersetzung von Friedrich Gentz, einem Freund Rehbergs. Schon hier liest man, daß es gefährlich sei, die reine Theorie auf die Gesellschaft zu übertragen: »Die eingebildeten Rechte dieser Theoretiker sind lauter Extreme: und je mehr sie im metaphysischen Sinne wahr sind, desto mehr sind sie im moralischen und politischen falsch.« Hegel hat etliche Bewertungen Burkes übernommen, vorzüglich die der Revolutionäre: »Etwas müssen sie durchaus zerstören, wenn sie nicht glauben sollen, daß sie umsonst existieren.« Ihre politische Metaphysik müsse im Kreis der reinen Gedanken eingeschlossen bleiben, vor allem dürften sie nicht daraus entkommen und »aus ihrer Höhle hervorbrechen wie ein Sturm aus Osten, alles vor sich wegfegen auf der Erde und die Brunnen der großen Tiefe eröffnen, um uns zu ersäufen«. Die Furie der Revolutionäre vergleicht Burke mit dem Fanatismus der Wiedertäufer:
»Als die Anabaptisten von Münster Deutschland im 16ten Jahrhundert durch ihr wildes Gleichheitssystem und ihre gefährlichen Grundsätze über das Eigentumsrecht in Verwirrung setzten, welches Land in Europa zitterte nicht bei den Fortschritten ihrer Wut? Es gibt nichts, was die Weisheit so sehr in Schrecken setzt als ansteckender Fanatismus, weil gegen diesen Feind ihre Waffen am allerohnmächtigsten sind. Wir sehen jetzt täglich, daß eine Menge von Schriften, die man mit unglaublichem Eifer und ungeheuren Kosten verbreitet, und eine Menge von Predigten, die auf öffentlichen Straßen und in öffentlichen Versammlungsörtern zu Paris gehalten werden, den Geist einer atheistischen Schwärmerei in alle Gemüter blasen.«
Der Vergleich der Schwärmer mit den Revolutionären ist gewagt, zumal er drei Jahre vor den Ereignissen von 1793 erfolgt. Letztlich ist dieser Text, soweit ich weiß, das erste Zeugnis einer expliziten Verbindung von religiösem und politischem, »atheistischem« Fanatismus. Bei Burke, und nicht bei Rehberg, konnte Hegel ein nachsichtiges Urteil über die Terreur in Begriffen des Fanatismus vorgebildet finden. Dennoch hat er Burkes Konservatismus keineswegs geteilt. Denn der Fanatismusbegriff erscheint ihm lediglich verwendbar für die Episode der Terreur, die den unermeßlichen Fortschritt der bis zur letzten Vorlesung von 1831 als »herrlichen Sonnenaufgang« gepriesenen Französischen Revolution nicht in Frage stellt. Während Burke und Rehberg in der Revolution einen Auswuchs des Vernunftglaubens sehen, hält Hegel sie für eine Versöhnung von Vernunft und Welt, die tatsächliche Umsetzung des Freiheitsgedankens. Man muß lediglich herausfinden, wie die terroristischen und schöpferischen Figuren der Freiheit sich artikulieren, wie sie miteinander verbunden sind. Anders gefragt: Ist das Fanatismusproblem zu lösen?
Und wie?
Hegel bleibt der von Locke und Bayle eingeführten Tradition der Toleranz treu, die in Deutschland von Lessings »Nathan dem Weisen« abgelöst wurde. Seit seinen Jugendtexten betont er die Unsinnigkeit der Glaubensverfolgung: »Will der Staat fest an seinem Ganzen hängen und mit Gewalt die überströmende Kirche von seinen Ufern abhalten, so wird er unmenschlich und ungeheuer und wird den Fanatismus erzeugen, der, weil er die einzelnen Menschen, die menschlichen Beziehungen in der Macht des Staates sieht, ihn in ihnen und so sie damit zertrümmert.«
Intoleranz ist der beste Gärstoff des religiösen Fanatismus. In diesem Text zeigt sich Hegel noch reserviert gegenüber Lockes These von der Trennung von Staat und Kirche, und zwar wegen seiner Vorliebe für das organische Modell der schönen antiken Stadt. Aber in den »Grundlinien der Philosophie des Rechts« bezeichnet er diese Trennung als die Grundlage des modernen Staates. Natürlich ist die Religion – für Hegel vor allem der Protestantismus – nicht vom Staat zu trennen, denn sie ist seine eigentliche Basis, eines der grundlegenden Elemente der Sittlichkeit. Aber eben nur die Basis. Die Kirche darf sich keine politische Rolle anmaßen, sie muß den Staat anerkennen und sich seinen Gesetzen beugen. Daß der Staat seine Wurzeln in der Religion hat, heißt, daß er sich immer weiter von dieser entfernt. Der Staat wiederum darf sich nicht die Funktionen der Religion anmaßen, es ist seine Stärke, daß die aus dem Recht auf Subjektivität und Besonderheit hervorgehenden Glaubensrichtungen toleriert werden. Denn »auf den Inhalt, insofern er sich auf das Innere der Vorstellung bezieht, kann sich der Staat nicht einlassen«. Je stabiler ein Staat ist, desto liberaler und toleranter kann er sein, auch, so Hegel, gegenüber Sekten wie den Quäkern und den Wiedertäufern. In die Sittlichkeit des Staates integriert, haben die alten Schwärmer nichts Fanatisches mehr. Fanatismus entsteht vor allem durch die mangelnde Übereinstimmung in den Beziehungen von Identität und Differenz, die zwischen Religion und Staat bestehen, durch eine Vertauschung der Rollen, sei es, daß die Religion den Platz des Staates einnimmt (theokratischer Despotismus), sei es, daß dieser ihre Macht an sich zu reißen versucht (Terreur). Politisch und juristisch läßt sich das Fanatismusproblem lösen, indem man auf der strikten Trennung der spirituellen und weltlichen Bereiche von Kirche und Staat und gleichzeitiger Einbeziehung der Religionen in die Sittlichkeit besteht.
Eine Doppeldeutigkeit aber bleibt in Hegels Fanatismusbegriff. Der religiöse wie auch der politische Fanatismus gehören von Beginn an zur Dialektik des freien Willens. Entweder ist dieses Phänomen eine notwendige Determination des Freiheitsbegriffs – nämlich der Negation aller Determination –, was allerdings bedeuten würde, daß jede Zivilisation, jedes Individuum die Erfahrung des Fanatismus durchmachen muß, was ja nicht der Fall ist. Aus diesem Grunde habe ich diese Hypothese von vornherein ausgeschlossen. Oder dieses Phänomen ist, wie ich vorgeschlagen habe, eine einfache Möglichkeit der unbestimmten Freiheit, woraus sich folgende Fragen ergeben: 1. wie vollzieht sich der Übergang von dieser leeren Freiheit zur zerstörerischen Tat, zum Auftauchen des Fanatismus; 2. wie überführt man diesen daraufhin von der fanatischen Freiheit zum bestimmten Willen, zur schöpferischen Freiheit? Was den ersten Punkt betrifft, betont Hegel die überragende Bedeutung der historischen Umstände. Er unterstreicht die Phase des Niedergangs, der Heuchelei, des Sittenverfalls und der positiven Religion, des Elends und der Tyrannei im revolutionären Frankreich. Aber damit läßt sich der Terror nicht gänzlich erklären. Zwangslagen führen nicht automatisch zu Fanatismus. Vom unbestimmten Willen zur fanatischen Aktion, vom Vorhaben zur Tat macht die Freiheit einen nicht völlig nachvollziehbaren Qualitätssprung. Was die zweite Frage, das Umschlagen des Fanatismus, angeht, so glaubt man, die zerstörerische Freiheit ende in der Selbstverleugnung, gehe auf in einer selbstzerstörerischen Aktion, im Bild der Mänaden, die in der griechischen Religion der apollinischen Gestalt des schönen Gymnasten Platz machen. Doch nichts garantiert uns diese Selbst-Erschöpfung, diese Selbst-Verneinung, die eine Einschränkung der Freiheit und den Sieg des Rechts nach sich zöge. Wir wissen, daß der Fanatismus manchmal nur zu Gegengewalt führen kann, mit der er sich wechselseitig erhitzt, anstatt wie ein glühendes Eisen langsam zu erkalten. Der Fanatismus ist gleichsam ein Pfahl im Fleische der Dialektik, durch die von ihm ausgehende Irrationalität gefährdet er unablässig ihre Kohärenz.
Die Aufklärung glaubte den Fanatismus besiegen zu können, indem sie ihn in die dunkle Epoche der Menschheit verlegte oder zu den noch unaufgeklärten Völkern. Selbst Hegel bleibt dieser Einstellung verhaftet, wenn er vom mohammedanischen Fanatismus spricht. Der Fanatiker ist immer der andere. Diese Distanzierung findet man wieder in der Erklärung des Phänomens als einer Geisteskrankheit, die zwar gefährlich, aber letztlich an den äußersten Rand des Seelenlebens verdrängt ist. Daher waren Vernunft und Philosophie dafür die besten Mittel. Durch das schreckliche, faszinierende Spektakel der Terreur erkennt Hegel den Fanatismus als das Andere der Vernunft, das der Vernunft innewohnt. Es handelt sich um eine Möglichkeit jedes menschlichen Individuums, jeder Zivilisation und eben auch der Aufklärung. Der Fanatismus ist keine Entfremdung, sondern eine irrationelle Form von Freiheit. In diesem Sinne ist er menschlich und unmenschlich zugleich. Menschlich, weil er in der Freiheit des Menschen wurzelt und ihren abstrakten und freien Willen repräsentiert, der zur Tat wird. Unmenschlich, weil diese Freiheit der Leere ein Synonym für Gewalt und Zerstörung ist, die Negation all dessen, was die Größe des Geistes ausmacht, die Sittlichkeit, der Staat, die Religion selbst. Indem Hegel den Fanatismus in die Dialektik des Willens integriert, will er diesen keinesfalls legitimieren, sondern seine Existenz unterstreichen, die so gefährlich ist, weil sie uns nahe ist. Sie steckt in jedem von uns und kann sogar inmitten aufgeklärter Zivilisationen zum Vorschein kommen.
Aus dem Französischen von Matthias Weichelt
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Brandes, Georg
Vom Lesen
Ziemlich regelmäßig sieht man in ausländischen Blättern die Frage gestellt, welches wohl die besten hundert Bücher seien, die sich anschaffen sollte, wer eine ausgezeichnete Büchersammlung aufbauen will. Und die Antworten gehen ein: die Bibel und Robinson, Homer und Horaz, Dante und Shakespeare, Holberg und Oehlenschläger, Goethe und Mickiewicz, Racine und Pascal, Arany und Petöfi, Cervantes und Calderón, Björnson und Ibsen, Tegnér und Runeberg, verschieden je nach dem Land, wo die Frage gestellt wird, und den Personen, die Antwort geben.
Aber den Fragenden wie auch den Antwortenden gemeinsam ist die Kindlichkeit zu glauben, es gebe hundert Bücher, die für alle und jeden die besten wären.
Und doch zeigt die schlichteste Welterfahrung, daß dem nicht so ist, daß die vielleicht ausgezeichnete Arbeit, die den einen tief beeinflußt, den anderen völlig kaltläßt, und daß das Werk, das uns in der Jugend prägte, im reifen Alter gar keinen Wert mehr für uns hat. Es gibt fast nichts, das zu jeder Zeit für alle eine gute Lektüre wäre.
Das wird nur deshalb nicht weiter bemerkt, weil es in unseren Tagen wenige gibt, die überhaupt lesen, die gerne lesen und aus ihrer Lektüre Gewinn ziehen. Seit alle lesen, ist Lesen fast eine aussterbende Fertigkeit.
Von hundert, die lesen, lesen neunzig im Grunde nichts anderes als Zeitungen, eine Lektüre, die keine Anstrengung verlangt und bei der Artikel, die Kopfzerbrechen bereiten, übersprungen werden. Die anderes und mehr lesen als Zeitungen, lesen in der Regel so, daß sie es genausogut lassen könnten. Jeder erinnert sich, die Äußerung gehört zu haben: Es hat keinen Zweck, mit mir über dieses oder jenes Buch zu sprechen, ich habe es – glaube ich – wohl gelesen, vor einigen Jahren, habe aber die unglückliche Eigenschaft, daß ich alles, was ich lese, wieder vergesse.
Die meisten lesen ohne besondere Aufmerksamkeit, wählen vielleicht auch nur eine Lektüre, die keine besondere Aufmerksamkeit verdient. Tatsache ist, daß sie das Gelesene vergessen. Manch einer ist es überhaupt nicht gewohnt, ganz zu verstehen. Wenn zum Beispiel junge Menschen Bücher in fremden Sprachen lesen, schlagen sie oft nicht die Wörter nach, die sie nicht verstehen; sie schließen auf sie durch den Sinn – wie sie sagen –, das heißt, sie verstehen die Hälfte, und das genügt ihnen. Sie sind es nicht gewohnt, mehr zu verstehen. Deshalb braucht kein Schriftsteller sich aus den Mißverständnissen oder Druckfehlern etwas zu machen, die seine Schriften verunstalten, wenn sie in fremden Sprachen herauskommen: Keiner bemerkt sie.
Bei Erzeugnissen, die ihrer Natur nach nicht mit dem Verstand begriffen werden sollen, wie zum Beispiel lyrische Gedichte, verzichtet der Leser in der Regel von vornherein darauf, genau zu verstehen, was der Autor meint. Einer meiner Bekannten machte einmal den Versuch, Goethes »Der Gott und die Bajadere« so vorzulesen, daß er jede Strophe mit der letzten Zeile begann und nach oben las. Die Reime fielen Schlag auf Schlag, die ganze Melodie der Strophe blieb erhalten – und alle fanden es hinreißend:
Sie neigt sich und biegt sich und reicht ihm den Strauß,
Sie weiß sich so lieblich im Kreise zu tragen,
Sie rührt sich, die Zimbeln zum Tanze zu schlagen,
Und dies ist der Liebe Haus.
Das ergibt eine Art Sinn, und mehr als eine Art Sinn erwartet ein Zuhörerkreis von Versen nicht, zumal nicht in einer fremden Sprache, und mehr als die Damen hier verstanden, pflegten sie auch sonst nicht zu verstehen. Doch der Gewinn aus dieser Art Verstehen kann nicht von Gewicht sein. Durch etwas Nachdenken über solche und ähnliche Vorkommnisse kommt man leicht dazu, folgende Fragen zu stellen:
Warum soll man lesen?
Was soll man lesen?
Wie soll man lesen?
Es ist nicht überflüssig oder nutzlos, so zu fragen. Ich war einige Male in ein wohlhabendes und angesehenes Haus im Ausland eingeladen, das im künstlerischen Leben der Hauptstadt eine gewisse Rolle spielte, als mir eines Tages auffiel, daß ich dort nie einen Bücherschrank oder ein Regal gesehen hatte.
Auf meine Frage erfuhr ich, daß man keinen Bücherschrank besaß und auch keine Bücher bis auf zwei oder drei, die auf dem Wohnzimmertisch auslagen. »Aber Sie lesen oder haben doch einiges gelesen?« fragte ich. »Ja, schon«, bekam ich zur Antwort, »wir reisen viel, wie Sie wissen; wir kaufen übers Jahr einiges an Büchern, aber wir lassen sie immer im Netz liegen« (gemeint war: im Gepäcknetz der Eisenbahn). Und als Erklärung: »Man liest ein Buch ja doch nicht mehr als einmal.«
Ich hätte Verwunderung erregt, wenn ich geantwortet hätte, auf diesem Gebiet – als dem einzigen vielleicht – gelte die Regel, daß einmal keinmal ist, und wer sich darauf beschränke, ein gutes Buch einmal zu lesen, an dem müsse sein Inhalt abgeprallt sein; sonst wäre er zu ihm zurückgekehrt. Die Bücher, die mir teuer sind, habe ich oft mehr als zehnmal gelesen; bisweilen wäre es mir unmöglich zu sagen, wie oft ich sie gelesen habe. Man kennt ja ein Buch nicht, ehe man es fast auswendig kann.
Daher soll man nicht so lesen, daß man das Buch im Netz liegen läßt.
Man soll gerne auch, wenn man es sich leisten kann, das Buch besitzen. Es gibt Leute, die keine Bücher besitzen, obwohl sie es sich leisten könnten. Eines Tages war ich in einem fremden Land bei einem reichen Kunstmäzen eingeladen, einem Mann, dessen Sammlungen weit über eine Million wert sind, und als ich seine Gemälde gesehen hatte, sagte ich: »Jetzt hätte ich Lust, die Bücher zu sehen. Wo sind sie?« Er antwortete leicht verärgert: »Ich sammle keine Bücher.« – Er hatte keine.
Es gibt Leute, die sich mit der Versorgung durch Leihbüchereien begnügen – eine schlechte Art, sich zu versorgen, wenn man nicht dazu gezwungen ist. Es ist ein sicheres Zeichen für mangelnde Kultur und schlechten Geschmack, daß man in einem großen Land wie Deutschland in jedem Badeort unvermeidlich Damen in teuren Kleidern sieht, jede mit ihrem speckigen Leihbücherei-Roman in der Hand. Diese Damen würden sich schämen, ein Kostüm auszuleihen, Kleider zu tragen, die eine andere anhatte, aber beim Bücherkaufen sparen sie. So lesen sie einen Roman nach dem anderen; doch der jeweils letzte löscht alle vorangegangenen aus dem Gedächtnis. Sie lesen nichts nochmals. Damen aus den höchsten Kreisen im deutschen Reich leihen in Nicolais Leihbücherei in Berlin.
Selbst reiche Leute haben selten die Liebe zum Buch, die sich darin zeigt, daß man sein Exemplar schont, es hätschelt und so einbinden läßt, daß der Einband dem Inhalt und dem persönlichen Geschmack entspricht. Man hat einfach keine Meinung vom Inhalt und keinen persönlichen Geschmack.
Der Mann, der antwortete: »Ich sammle keine Bücher«, sah nicht die Notwendigkeit des Lesens ein. Er gehörte dem wohlhabenden Bürgertum an, und die Männer dieses Standes lesen wenig anderes als Zeitungen. Sie haben selten Zeit und Konzentration zu lesen. Starkes und intensives Interesse am Lesen haben außerhalb des Gelehrtenstandes heutzutage im Grunde nur diejenigen, die keine Zeit und kein Geld dafür haben, Kleinbürger, Handwerker, Arbeiter. Bei ihnen gibt es noch den Bildungsdurst, der vor hundert Jahren das wohlhabende Bürgertum auszeichnete, der aber so schnell gelöscht wurde.
Warum soll man lesen? ist also die Frage, die zuerst nach Antwort verlangt.
Ich überschätze nicht die Kenntnisse, die durch Lesen gewonnen werden können. In vielen Fällen sind sie notwendigerweise nur Ersatz für unmittelbare Welt- und Lebenskenntnis. Es ist nützlicher, umfassende Reisen zu unternehmen, als ausführliche und umfangreiche Reisebeschreibungen zu lesen. Man lernt die Menschen besser kennen, indem man sie in der Wirklichkeit beobachtet, als indem man sie in Büchern erforscht. Ich gehe noch weiter: Skulpturen, Gemälde, Zeichnungen sind, wenn sie von den größten Künstlern stammen, lehrreicher als die allermeisten Bücher. Michelangelo, Tizian, Velázquez, Rembrandt haben mir tieferen Unterricht über die Menschheit gegeben als ganze Bibliotheken.
Bücher sind in der Regel als Theorie zu betrachten. Wie der Arzt sich seine Wissenschaft nicht anlesen kann, sondern die Kranken studieren muß, so können Bücher uns überhaupt nichts lehren, wenn wir nicht gleichzeitig vom Leben lernen. Haben wir nicht selbständige Menschenkenntnis, können wir nicht einmal einen Roman genießen. Wir sind dann außerstande zu beurteilen, ob er ein wahres oder ein falsches Bild der gegebenen Verhältnisse bietet.
Daß dem so ist, erfährt man aus den vielen dumm ablehnenden Äußerungen, die man übers Jahr über gute Bücher zu hören bekommt. »So fühlt und handelt kein Mensch« – urteilt leichthin irgendeiner, der überhaupt nur einen engen Kreis von Menschen gekannt und nie verstanden hat, was in den Menschen um ihn herum vorging. Die Leute nennen ein Buch schlecht und unrealistisch, weil es aus der Wirklichkeit herausfällt, die sie kennen. Ihre Wirklichkeit verhält sich indes zur wahren Wirklichkeit wie ein Gänsepfuhl zum Weltmeer.
Wir sollen also nicht glauben, daß wir durch das Verschlingen von Büchern zu irgendeiner Art von Weisheit gelangen können. Viele Voraussetzungen, Lebensvoraussetzungen, sind erforderlich, um bloß den Bruchteil an Weisheit zu verstehen und sich anzueignen, die in einem guten Buch liegen kann.
Auf der anderen Seite aber darf auch behauptet werden, daß Bücher im Vergleich zu Menschen ihre Vorzüge haben.
Sie setzen Gedanken in Bewegung, was Menschen selten tun. Sie schweigen, wenn man sie nicht fragt; Menschen sind selten so zurückhaltend. Wie oft bekommt man nicht Besuch von aufdringlichen, lästigen Personen! In meinem Arbeitszimmer habe ich an die sieben- bis achttausend Bücher stehen, die mir nie eine Last, oft eine Freude sind.
Schließlich sind sie selten so leer wie die Menschen, für die bisweilen Goethes Worte gelten: »Wären es Bücher, ich würde sie nicht lesen.«
[...]
SINN UND FORM 4/2012, S. 437-453
Brandys, Kazimierz
- 1/1955 | Der Mensch stirbt nicht
Brasch, Thomas
- 3/1988 | Lieber Georg - Ein Eis-Kunst-Läufer-Drama aus dem Vorkrieg
- 2/2012 | Aus den Tagebüchern 1972-74. Mit einer Vorbemerkung von Martina Hanf, S. 619 Leseprobe
Brasch, Thomas
Aus den Tagebüchern 1972-74
Aus dem Archiv der Akademie der Künste
Vorbemerkung
Thomas Brasch, 1945 als Kind jüdischer Emigranten in England geboren, in der DDR aufgewachsen, die er 1976 »zwecks einmaliger Ausreise« verließ, wollte zu keiner Zeit Memoiren schreiben. Um so bemerkenswerter ist das Vorhandensein autobiographischer Aufzeichnungen in seinem literarischen Nachlaß im Archiv der Akademie der Künste. Sie informieren aus erster Hand über das Leben, die Denk- und Arbeitsweise und die Entstehung der Werke des Dichters, Dramatikers, Übersetzers und Filmemachers. Die Materialien reichen von Einträgen in Tage- und Notizbüchern oder in Mappen mit losen Blättern bis hin zu sporadischen Aufzeichnungen auf Zetteln aller Art und Größe. Sie umspannen, allerdings mit erheblichen Lücken, den Zeitraum von 1969 bis 2001. Zu ihnen gehören drei Tagebücher aus den Jahren in der DDR, aus dem letzten wurden hier bisher unbekannte Texte ausgewählt und hier erstmals veröffentlicht. Die Unrast, die Braschs Existenz kennzeichnete, prägt auch Inhalt, Form und Überlieferung der autobiographischen Unterlagen. In vielen Fällen stellen die Konvolute mit ungeordneten, undatierten Notaten eine Herausforderung an künftige Herausgeber dar. Zudem entsprechen die Tagebücher in der Regel auch nicht dem, was man sich allgemein darunter vorstellt. Als Fundus für andere literarische Genres angelegt, dienten sie der Reflexion und der Selbstbefragung, immer in Hinblick auf das Vorantreiben der eigenen Arbeit. Stärkstes Motiv ist die Suche nach künstlerischer Identität, jedoch weniger im Sinne einer Suche nach Lebens- und Arbeitszielen denn als Abwehr drohender Erstarrung. Daneben stehen Pläne und Projekte, literarische Entwürfe, Träume und Lektüreeindrücke.
Mit dem Tagebuchschreiben begann Brasch ein Jahr nach seiner Haft. 1968 war er wegen des Verteilens von Flugblättern gegen die gewaltsame Zerschlagung des Prager Frühlings zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden. Das Urteil wurde nach zweieinhalb Monaten zur Bewährung alusgesetzt, das Gericht teilte ihm einen Arbeitsplatz im Transformatorenwerk Oberschöneweide zu. Im ersten Tagebuch hielt der 24jährige seine Erfahrungen mit der realsozialistischen Praxis industrieller Produktion zwischen 1969 und 1970 fest. Er selbst nannte es das Dokument der »Isolation eines Mannes in einem Land ohne öffentliches Leben«. Kopien der Notate überließ Brasch 1975 seinem Freund Rudi Dutschke für ein gemeinsam mit Jürgen Miermeister geplantes, aber nicht realisiertes Projekt. Schließlich verwertete er einiges davon in seinem berühmten Prosaband »Vor den Vätern sterben die Söhne«, der 1977 im Westberliner Rotbuch Verlag erschien. 2004 wurde das Material in dem Arbeitsbuch »Thomas Brasch. Das blanke Wesen« postum erstmals veröffentlicht.
Dem ersten Tagebuch folgte ein zweites mit Einträgen bis 1971. Das Original ging verloren, lediglich Abschriften einiger Passagen im Archiv belegen seine Existenz. Den Aufzeichnungen zufolge war Brasch damals immer noch Fabrikarbeiter, doch zeichnete sich schon eine Wende ab: »Die Arbeit im Betrieb macht mir mehr Spaß als der Feierabend, aber ich werde mich nun in die lauwarme Atmosphäre des Brecht-Archivs der Frau Weigel begeben und für die Tätigkeit meiner intellektuellen Organe 350,– Mark monatlich (!) beziehen.« Bis zum Arbeitswechsel vergingen allerdings noch acht Monate mit gerichtlichen Genehmigungsverfahren. Des weiteren notierte er Lektüre und Filmerlebnisse, fand Anregung bei Cyril Parkinson, Raymond Chandler sowie Alexander Solschenizyns »Krebsstation«.
Bis 1971 hatte Brasch zahlreiche Gedichte, das Hörspiel »Monologe zur Nacht« und kleinere dramatische Texte verfaßt, die mit Ausnahme einer einmaligen Aufführung seines Theaterstücks »Sie geht, sie geht nicht« sämtlich unveröffentlicht waren. Im Tagebuch zog er Bilanz und steckte neue Ziele ab. Im Rückblick schienen ihm die Gedichte »Übung gewesen zu sein, Sprachübung, literarisches Messerwetzen (…) Vergrößerung des Kleinen, in ihrer Form privat wie in ihrer Herstellung«. Beim Nachdenken darüber, welche künstlerischen Formen »echte« Kommunikation über die Arbeit erlaubten, zog er das Fazit, daß weder Gedichte noch Prosa, sondern das Theater die »praktizierbare Kunst vor allen anderen« sei.
Solche Überlegungen fanden in Debatten im Freundeskreis ihre Fortsetzung, etwa mit Heiner Müller, der Anfang der siebziger Jahre sein Freund und Mentor wurde, oder im Kreis um die Studentin der Theaterwissenschaften Barbara Honigmann. In deren Umfeld lernte er Lothar Trolle kennen, mit dem er zwei Stücke verfaßte. »Das beispielhafte Leben und der Tod des Peter Göring«, 1971 uraufgeführt, wurde nach der Premiere verboten. Unbeeindruckt davon, sorgte Jochen Ziller, seinerzeit Dramaturg am Berliner Ensemble, für den Druck des Bühnenmanuskriptes im Henschel-Verlag. Er verfolgte Braschs Arbeit auch im Westen und setzte mit den Stücken »Lovely Rita – Lieber Georg – Mercedes« (1988) dessen erste größere Veröffentlichung in der DDR nach der Ausreise durch. Im Vorfeld druckte Sinn und Form in Heft 3/1988 ein Gespräch zwischen Ziller und ihm zu Fragen des Theaters.
Im dritten Tagebuch von 1972–74, aus dem die folgenden Texte stammen, deutete sich bei Brasch ein neuer Ton an. Nach dem Tod von Helene Weigel endete sein Vertrag im Brecht-Archiv, seitdem arbeitete er freischaffend. In den Mittelpunkt rückte die Frage nach seinem Platz in der Literatur, die er durch Erörterung verschiedener literarischer Methoden zu klären suchte. Das Konvolut umfaßt neben den hier abgedruckten Auszügen in größerem Umfang Dokumente seiner Auseinandersetzung mit Zeitgenossen, Freunden und Geliebten, zu einem Drittel in Form von Briefen.
Anfang der siebziger Jahre gab es in der DDR einen gewissen Wandel. Auf die doktrinäre und technokratische Ära Ulbrichts folgte die vorübergehend moderate, um internationale Anerkennung bemühte Politik Honeckers. Für die Künste bestand Aussicht auf ein Ende von Drangsalierung und Tabuisierung – natürlich alles im Rahmen des sozialistischen Klassenbewußtseins. Brasch profitierte davon kaum. Zwar waren ab 1972 hie und da in Anthologien ein paar Gedichte erschienen, das »Eulenspiegel »-Projekt bei Litera Schallplatte hatte sich jedoch inzwischen zerschlagen, erst 1974 kamen zwei seiner Märchenbearbeitungen auf Platte heraus. Die Hoffnungen auf breitere Publizität und Anerkennung erfüllten sich damit nicht. Notate zur Diskussion um Heiner Müller von 1973 belegen, wie wenig Brasch damals den allgemeinen Optimismus der Künstler teilte. Meist ergaben sich aus seinem Nachdenken Strategien, die auf Veränderung zielten – Veränderung der Gesellschaft wie der eigenen Person.
So erörterte er die Situation Europas und stellte resigniert fest: »Wir leben auf einem alten Kontinent. Die Kriege und die großen Anstrengungen, die auf die Kriege folgten, haben sein Gesicht verwüstet. Schauspielerin, von Falten durchzogen, mit bunter Schminke bestrichen. Sie will ihre Jugend wieder, deshalb beschwört sie ihre Vergangenheit und sucht Liebschaften mit den jungen Revolutionen, die anderen Kontinente. Aber es wird keine Liebe daraus, denn die starken Stöße aus Südamerika und Asien beantwortet der Körper Europas mit einem müden Zucken.« Im Schreiben sah er die einzige Methode, eine Gesellschaft zu erschaffen, die er verändern konnte und die ihn veränderte, doch erkannte er auch, daß den veränderten Bedingungen der Kunst mit der Brechtschen Methode nicht mehr beizukommen war. Brasch wollte berühmt werden, er hatte den Ehrgeiz, über seine Vorbilder, wie Georg Büchner und Georg Heym, hinauszugehen, und wollte keine Kompromisse mit dem Zeitgeist machen.
Die konfliktreiche Suche spiegelt sich Anfang 1972 auch im Privaten, in Briefen an Florian Havemann, die Freundin Sanda Weigl und die Geliebte Nakry. Sie liegen dem Tagebuch in Form von Durchschlägen bei. An ihnen läßt sich Braschs zunehmende Ungeduld gegenüber vertrauten Menschen, aber auch gegenüber sich selbst ablesen. Die Briefe an Havemann reflektieren das Ringen um eine Haltung zu den gegensätzlichen Systemen in Ost und West. Brasch konnte sich eine künftige Gesellschaft nur durch eine Überwindung beider Systeme vorstellen. Auseinandersetzungen über Ernsthaftigkeit und Disziplin in der künstlerischen Arbeit führte er mit Sanda Weigl. Die vermutlich nicht abgeschickten Briefe an seine fernöstliche Geliebte Nakry bezeugen vor allem unerfüllte Hoffnungen. Brasch wurde sich darüber klar, daß unglückliche Liebe für ihn ein entscheidender Antrieb von Literatur war.
Das Tagebuch endet mit einem Nachtrag von 1974, in Erwartung Nakrys, die sich nach zwei Jahren Funkstille wieder gemeldet hatte, um ihren Besuch anzukündigen. Brasch notierte: »Es lebe der Nullpunkt! Der Nullpunkt. Das große Maul. Der falsche Rhythmus. Dieses Jahrhundert. Dieses Individuum. Dieses Land. Die Ruhe. Der langsame Tod, der die Errungenschaft der Neuzeit ist. Die klassische Neuzeit. Die große Liebe. Der elegante Fetzen Shakespeare. I’m poor Hamlet. Der Ehrgeiz, etwas sagen zu wollen, das man fühlen will, um es sagen zu können. Die Überüberzeugung. Das Engagement. Der Geldschein. Vielleicht kann ich Wörter schreiben, bis es an der Tür klingelt.«Martina Hanf
[...]
SINN UND FORM 2/2012, S. 149-164
Bratny, Roman
- 4/1951 | Korea – so nenne dein Haus
Braun, Ernst
- 4/2007 | Gerhard Marcks, Karl Scheffler. Briefwechsel. Mit einer Vorbemerkung von Ernst Braun
Braun, Matthias
- 6/1982 | Aus dem Helene-Weigel-Archiv. Gespräch mit Rudolf Engel
- 5/1984 | Gespräch mit Ekkehard Schall über Helene Weigel
Braun, Michael
- 4/2009 | Gespräch mit Uwe Tellkamp
- 3/2012 | »Hochzuverehrender Herr Einsiedler«. Hugo Balls Antonius-Paraphrasen
- 4/2016 | Hüterin der Verwandlung. Laudatio auf Silke Scheuermann zum Bertolt-Brecht-Preis
- 6/2020 | »Eine Tiefenimprägnierung des Katholischen«. Gespräch mit Bernd Wacker über Hugo Ball
Braun, Volker
- 1/1963 | Junge Lyrik der deutschen demokratischen Republik
- 4/1963 | Gedichte
- 3-4/1965 | Für Paul Dessau zum 19. Dezember 1964
- 5/1969 | Gedichte
- 1/1972 | Die Kipper
- 4/1975 | Zu Mickel, Mottek sagt
- 4/1975 | Zu Brecht, Die Wahrheit einigt
- 4/1975 | Zu Hermlin, Die einen und die anderen
- 5/1975 | Unvollendete Geschichte
- 3/1982 | Geschichten von Hinze und Kunze
- 5/1985 | Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität
- 1/1988 | Lenins Tod
- 4/1988 | Gedichte
- 6/1989 | Bodenloser Satz
- 3/1990 | Wie es gekommen ist
- 5/1992 | Raskolnikow Trotzki Gorbatschow
- 1/1993 | Ist das unser Himmel? Ist das unsre Hölle?
- 6/1994 | Gespräch mit Rolf Jucker. Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst einmal am Ende
- 2/1996 | Die vier Werkzeugmacher
- 4/1996 | Das Ende der »Unvollendeten Geschichte«
- 1/1997 | Es bleibt die Unvollendete Geschichte. Ein Nachtrag
- 1/1999 | Lagerfeld
- 5/1999 | Zu Tellers Gedächtnis
- 2/2000 | Wanderungen durch das Mark. Laudatio auf Stephanie Menzinger
- 1/2004 | Der berüchtigte Christian Sporn
- 1/2007 | Und wünschte kein Ende dem Umweg. Lobrede auf Alain Lance
- 1/2008 | Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer
- 6/2008 | Fährmann Jastram
- 3/2009 | Flickwerk
- 3/2009 | Gedichte
- 4/2009 | Über Christa Wolf, S. 886 Leseprobe
Braun, Volker
Über Christa Wolf
Wie wir heute abend, des Andrangs wegen, in zwei Säle sprechen, so schrieb Christa Wolf in zwei Teile Deutschlands hinein und wirkte bald in die Welt. Und sie war doch ganz bei sich, im Versuch, sich kenntlich zu machen. Sich selbst zu geben. Ich darf es sagen, ich kenne sie fünfzig Jahre, und so viele hilfreiche, herzliche, ernste Begegnungen stehn mir vor Augen, Bilder gestellt vom Lebens- und vom Weltlauf. Auf einem der ersten die junge Autorin in Hans Mayers Hörsaal, neben mir eine Studentin, der ich den Platz freihalte und die meine Frau wird. Auf dem letzten die Jubilarin bei dem Fest, das ihr die Enkel bereiten im engsten unendlichen Kreis. Was für ein freudereiches, sorgensattes Leben: anteilnehmend, sich kümmernd, wenn einer Mut braucht oder einen Mantel. Sie ist, auch wenn sie dich fragt, eine Gebende. Aber hör mal, sagt sie: und du sprichst. Ich habe mit wenig Menschen so rückhaltlos geredet und heiter geschwatzt. – Jetzt sehe ich ganz von selbst zu Gerhard, dem liebevollen, dem Lebenslektor; wurde je ein Werk so unnachsichtig mitgedacht und kritisch ermutigt? Einem Minister aber, dem bei dem »Nachdenken über …« (Verschiedenes) nicht wohl war, konnte er entgegnen: Was glaubst du denn, wer sie ist? um damit nur zu sagen: daß sie ja keine Wahl hat, daß eine Erschütterung sie zum Schreiben brachte. Es ist der Widerspruch der Zeit, der uns handeln macht.
Unsere Generation hat an der Abbruchkante der Geschichte gestanden – ich rede nicht von Krieg und Vertreibung, ich rede nicht vom Ende des Ostblocks, »ein Weltreich ist zusammengebrochen. So gehört nun also der Zusammenbruch von Weltreichen zu den Gegenständen, welche wir als selbsterfahrene beschreiben können« (Karl Mickel) – ich rede vom atomaren Wettrüsten, der Option auf die Selbstvernichtung. Das war die Zeit, in der Gefahr das Wort zu ergreifen. Christa Wolf sprach früh von der Schwierigkeit, »Strukturen zu finden, in denen sich heute noch reden läßt, ernüchtert bis auf den Grund, in Verhältnissen, da verzweifeln eher komisch wirke«. So steht es in den »Kindheitsmustern«; sie schrieb mir in das Exemplar: »Wie erkennt man, was man nicht lassen kann, mit tödlicher Sicherheit?«
[...]SINN UND FORM 4/2009, S. 566-567
- 2/2010 | Über Sinn und Form
- 2/2011 | Zukunftsrede
- 3/2011 | Die hellen Haufen
- 4/2013 | Wilderness
- 1/2022 | Luf-Passion
Braungart, Wolfgang
- 4/2011 | Subjekt Europa, Europas Subjekt. Novalis' katholische Provokation »Die Christenheit oder Europa«
Bräunig, Werner
Brauns, Dirk
- 4/1991 | Lebensabschnitt
Brecht, Bertolt
- 5/1949 | Aus allem etwas machen
- Sonderheft Bertolt Brecht/1949 | Kleines Organon für das Theater
- Sonderheft Bertolt Brecht/1949 | Der kaukasische Kreidekreis
- Sonderheft Bertolt Brecht/1949 | Gedichte
- Sonderheft Bertolt Brecht/1949 | Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar
- 5/1950 | Tschaganak Bersijew oder Die Erziehung der Hirse. Nach G. Fischs »Der Mann, der das Unmögliche wahr gemacht hat«
- 6/1950 | Kinderlieder
- 4/1951 | Aus: Das Verhör des Lukullus
- 5/1951 | An die Künstler und Schriftsteller Deutschlands
- 6/1951 | Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen
- 1/1952 | Notizen zur Barlach-Ausstellung
- 5/1952 | Die Antigone des Sophokles. Nach der Hölderlinschen Übertragung für die Bühne bearbeitet.
- Sonderheft Arnold Zweig/1952 | Mitglieder der Deutschen Akademie der Künste an ihren Präsidenten [Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Friedrich Wolf]
- 2/1953 | Stimmen der Mitglieder der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege. Zum Tode J. W. Stalins
- 3-4/1953 | Zu Hanns Eislers »Johann Faustus«. Thesen zur Faustus Diskussion
- 3-4/1953 | Erwin Strittmatters »Katzgraben«
- 6/1953 | Gedichte
- 5-6/1954 | Zum Tode Paul Rillas
- 5-6/1954 | Aufsätze zur Theaterpraxis
- 1/1955 | Erklärung
- 2/1955 | Kann die heutige Welt durch Theater wiedergegeben werden? Zum »Darmstädter Gespräch«
- 3/1955 | Der Friede ist das A und O. Rede bei der Verleihung des Internationalen Stalin-Friedenspreises in Moskau, Mai 1955
- 3/1955 | Leben des Galilei. Erste bis dritte Szene
- 5-6/1956 | Die Gesichte der Simone Machard
- 1-2-3/1957 | Aus dem Arbeitsbuch: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui
- 1-2-3/1957 | Aus den letzten Gedichten
- 1-2-3/1957 | Augsburger Theaterkritiken
- 1-2-3/1957 | Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar. Drittes Buch
- 1-2-3/1957 | Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui
- 1-2-3/1957 | Gedichte aus dem Nachlaß
- 1-2-3/1957 | Geschichten vom Herrn Keuner
- 1-2-3/1957 | Flüchtlingsgespräche
- 1-2-3/1957 | An Helene Weigel zum 1. Mai 1950
- 1-2-3/1957 | Einige Irrtümer über die Spielweise des Berliner Ensembles. Kleines Gespräch in der Dramaturgie
- 1-2-3/1957 | Vier Psalmen
- 5/1957 | Das Manifest
- 1/1958 | Briefe des jungen Brecht an Herbert Ihering
- 1/1958 | Der Brotladen
- 4/1958 | Volkstümlichkeit und Realismus. Geschrieben 1938 im Exil
- 1/1959 | Aus den Gedichten im Exil
- 5-6/1959 | Gleichermaßen gefährlich und nützlich
- 3/1960 | Gedichte aus den Jahren 1920-1932
- 5-6/1961 | Betrachtung der Kunst und Kunst der Betrachtung
- 1/1962 | Gedichte
- 5-6/1962 | Rede über die Widerstandskraft der Vernunft
- 1/1963 | Gedichte aus den Jahren 1933-1945
- 2-3/1963 | Die dialektische Dramatik
- 6/1963 | In memoriam Hans Otto. Offener Brief an den Schauspieler Heinrich George
- 2/1964 | Shakespeare-Aufsätze
- 4/1964 | Gedichte aus den Jahren 1935-1955
- 5/1964 | Briefwechsel Bertolt Brecht - Thomas Mann
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Kleiner Beitrag zum Thema Realismus
- Sonderheft Hanns Eisler/1964 | Zwei Briefe an Hanns Eisler
- 5/1967 | Der große Oktober (1937)
- 3/1973 | Die Teppichweber von Kujan-Bulak Ehren Lenin
- 4/1973 | Lob des Revolutionärs
- 4/1975 | Die Wahrheit einigt
- 2/1976 | Unveröffentlichte Briefe
- 5/1980 | Zwei »Buckower Elegien«
- 6/1986 | Tagebuchaufzeichnungen 1916
- 1/1988 | In den neunziger Jahren
- 1/1988 | Brief an Therese Ostheimer
- 1/1991 | Vorwort zu Turandot
- 5/1995 | Zwei Briefe
- 3/2006 | Aus der Sammlung Cohen
- 4/2016 | Ich, Berthold Brecht, alt: 20 Jahre. Mit einer Vorbemerkung von Erdmut Wizisla, S. 701 Leseprobe
Brecht, Bertolt
Ich, Berthold Brecht, alt: 20 Jahre Aus dem Archiv der Akademie der Künste
Vorbemerkung
Es mag überraschen, daß Bertolt Brecht, als dessen ausgemachtes Thema die dritte Sache gilt, offenbar kaum Schwierigkeiten hatte, in der ersten Person zu sprechen. Mehr als einhundert seiner Gedichte beginnen mit dem Wort »ich«. Streicht man Texte weg, in denen ein Dienstmädchen, der Glücksgott, der Sperling, ein Grammophonbesitzer oder eine gewisse Katharina im Spital zu Wort kommen, Reden von Figuren also, bleiben immer noch etliche, wo hinter dem Ich die Person Bertolt Brecht angenommen werden kann, zumal ihnen ab und an noch sein Name eingeschrieben ist. Das berühmteste Beispiel beginnt mit der Zeile »Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern«, entstand am 26. April 1922, wurde später verändert in »Bertolt Brechts Hauspostille« aufgenommen und leistet bereits in der Überschrift einen Beitrag zur Etablierung einer Marke: »Vom armen B. B.« Ein Rollengedicht auch dieses?
Der hier erstmals gedruckte Text gehört ins Vorfeld des programmatischen »Hauspostillen«-Poems und ist doch vollkommen eigenständig zu lesen. Bislang waren zwei weitere Gedichte mit der Redefigur »Ich, Bertolt Brecht« als Auftakt bekannt: ein um 1938 entstandenes und ein weiteres, das die Berliner und Frankfurter Ausgabe auf die Jahre 1952 /53 datiert. Das nun zugängliche dürfte der erste Versuch sein, einen Text so anzufangen, es steht unverkennbar in der Nachfolge François Villons.
Brecht hat die vier unbetitelten Strophen mit Blei auf ein einmal gefaltetes A4-Blatt niedergeschrieben, von dem nur eine Hälfte gefüllt ist. Es handelt sich nicht um eine Reinschrift, sondern um einen ersten Entwurf. An mehreren Stellen überschrieb Brecht Buchstaben und Wörter; nicht alle Änderungen sind so ausgeführt, daß der neue Sinn eindeutig wäre. Das Archiv der Akademie der Künste erwarb die Handschrift von Klaus Völker, der sie in den frühen sechziger Jahren von Brechts Augsburger Jugendfreund Georg Pfanzelt, dem Orge der »Hauspostille« und Adressaten der Widmung von »Baal«, erhalten hatte. Der erfreuliche Zuwachs erreicht das Archiv in einem für die Forschung wie auch für die Institution günstigen Moment, weil die Archivdatenbank, mit der auch das von Herta Ramthun erarbeitete Bestandsverzeichnis und die Daten sämtlicher Zugänge online gegangen sind, durch kombinierbare Suchoptionen Funde ermöglicht, die früher nur besonders Glücklichen oder Fleißigen gelangen.
Das Gedicht dürfte 1918 entstanden sein. Es gibt keinen Grund, die Altersangabe im Text nicht als Zeitpunkt der Niederschrift anzusehen. Im Frühjahr 1918 entdeckte Brecht Villon für sich. In einem Brief an Caspar Neher erklärte er Anfang oder Mitte März: »Ich will ein Stück schreiben über François Villon, der im XV. Jahrhundert in der Bretagne Mörder, Straßenräuber und Balladendichter war.« Unter dem frischen Eindruck der Lektüre entstand in dieser Zeit »Die Ballade vom François Villon«, die ebenfalls Eingang in die »Hauspostille« fand. Der junge Brecht identifiziert sich mit dem Outlaw, sein Gedicht »Ich, Berthold Brecht, alt: 20 Jahre« ist eine Wunschautobiographie. Zwar war er nicht »armer Leute Kind«, wie seine Ballade es dem französischen Barden nachsagt. Brecht ist – so sagt er es in »Verjagt mit guten Grund« aus den »Svendborger Gedichten « – »aufgewachsen als Sohn / Wohlhabender Leute«, was in unserem Gedicht aufscheint in der Formulierung »ich, der ich Wohlleben gewohnt war«. Hier schlüpft einer in den Mantel eines Vorgängers, probiert dessen Haltungen aus und ahmt versuchsweise den Gestus nach. Zu einer Beschwerde, wie sie der Ältere beherrschte – »sein Testament / In dem er Dreck schenkt allen, die er kennt«, heißt es im »Sonett zur Neuausgabe des François Villon« –, scheint der Nachgeborene sich erst aufraffen zu müssen. Der Protest ist ihm nicht in die Wiege gelegt. Der Sprecher unserer Fassung weiß, daß er »noch beinah nichts vom Leben litt / eh’r wie ein rohes Ei geschont war«. Das »dennoch« am Schluß der ersten Strophe markiert den Bruch mit der Herkunft. Eine Änderung zeigt, wie Brecht diesen reflektierte: Er verschob die Zeile »ich, der ich Wohlleben gewohnt bin« in die Vergangenheit und überschrieb das letzte Wort mit »war«. Die Zeit des »Bedientwerdens« sollte als eine längst abgeschlossene verstanden werden, was auch die Wortwahl demonstriert. Hieß es am Beginn der vierten Strophe zunächst »So schreib ich denn …«, so änderte Brecht dies in »So schlag ich denn …« – und zwar die Beschwerdeschrift der Luft »in die Fresse«. Der Ton und der Gestus der »Dreigroschenoper « sind hier vorgeprägt.
[…]
Erdmut Wizisla
SINN UND FORM 4/2016, S. 477-481, hier S.477-478
- 2/2024 | »Solchen menschlichen Regungen sind Klassiker, glaube ich, gar nicht zugänglich.« Briefwechsel mit Käthe Reichel. Mit einer Vorbemerkung von Helene Herold, S. 701 Leseprobe
Brecht, Bertolt
»Solchen menschlichen Regungen sind Klassiker, glaube ich, gar nicht zugänglich.« Briefwechsel mit Käthe Reichel
Vorbemerkung
Helene Weigel empfiehlt Bertolt Brecht 1950 eine junge talentierte Schauspielerin. Sie hat Waltraut Reichelt im Februar in Rostock in der Inszenierung »Herr Puntila und sein Knecht Matti« unter der Regie von Egon Monk gesehen. Brecht engagiert Käthe Reichel, wie sie sich später nennt, nach einem kurzen Vorsprechen im Oktober 1950 für das Berliner Ensemble. Er ist zu dem Zeitpunkt zweiundfünfzig Jahre alt, ist ein gefeierter Dichter, Schriftsteller und Theatermann und hat lange Exiljahre überstanden. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland versucht er in Ostberlin eine eigene Theatertruppe, das Berliner Ensemble, aufzubauen, das zunächst noch als Gast am Deutschen Theater spielt. Käthe Reichel ist gerade vierundzwanzig, als sie Brecht im Oktober begegnet. Bis dahin hat sie sich vor allem durchgeschlagen: Sie ist in einfachen Verhältnissen in Berlin Mitte aufgewachsen, kannte von frühester Kindheit an Existenzängste und Hunger, war aber mutig und dreist genug, nach Ende des Krieges ans Theater zu gehen und zu behaupten, sie sei Schauspielerin, ihre Zeugnisse seien im Bombenhagel verlorengegangen. Sie wird zunächst in Greiz engagiert, dann in Gotha und Rostock. Anschließend wechselt sie ans Berliner Ensemble. Am 12. Januar 1951 schreibt Käthe Reichel ihren ersten Brief an Brecht: »Allerherzlich danke ich für die Hilfe und große Freundlichkeit, die Sie mir bei meinen ersten Gehversuchen in Berlin, in so reicher Zahl erwiesen haben. Ich danke sehr und bin ganz ergeben Ihre Käthe Reichel«.
Brecht fördert die junge Schauspielerin, unterstützt sie beim Rollenstudium. Schnell scheinen beide sich nahegekommen zu sein. Vermutlich im Sommer 1951, der Brief ist nicht datiert, sendet Brecht ihr »10 Vorschriften«: »lieber k., hier sind 10 vorschriften, bitte studier sie nicht daraufhin, ob sie gerade für dich gemünzt sind. Sie sind für dich geschrieben, aber nicht auf dich gemünzt. (1 z.b. bedeutet nicht, dass ich bei dir laschheit gesehen habe. aber ich sah die anspannung und wenn du sie vermeiden willst, dürfte es nicht durch laschheit geschehen. von 3 erliegst du nur der verführung zur absonderung ein wenig. 4 und 7 musst du beachten. auch 8.) praktische vorschläge«. Käthe Reichel bedankt sich am 16. September 1951. Sie befindet sich zu einem Erholungsaufenthalt auf Schloß Wiepersdorf in Brandenburg, dem ehemaligen Wohnsitz von Achim und Bettina von Arnim. Schon kurz nach ihrer Bekanntschaft mit Brecht muß sie verstehen, daß sie ihn nicht für sich allein haben kann, was für sie schwer zu ertragen ist. Die aus diesen Tagen erhaltenen Briefe erzählen von einem vertrauten Umgang miteinander, immer wieder hört man auch Reichels Berliner Tonfall heraus, mit dem sie zwischen Frechheit und Verehrung für Brecht changiert.
Im Sommer 1952 ist Käthe Reichel offenbar erneut zur Kur. Auch in dieser Zeit halten die beiden engen Kontakt. Brecht zeigt sich sachlich fürsorglich, Reichels Briefe sind gefühlvoller, bringen ihre Verliebtheit und Sehnsucht zum Ausdruck. Er schreibt von seiner Arbeit, von den Stücken, die ihn beschäftigen, und von den Rollen, die sie spielen soll. Sie wiederum berichtet kleinteiliger und ausführlicher, schildert ihr Tagewerk und spricht immer wieder von ihrer Zuneigung zu ihm.
Daß es eine enge Beziehung zwischen Brecht und Reichel gibt, bleibt auch den Mitarbeitenden, den Schauspielern und Schauspielerinnen am Berliner Ensemble nicht verborgen. So schreibt etwa Regine Lutz in einem Brief an ihre Eltern vom 21. September 1952 bezüglich der Rolle der Manuela in »Die Gewehre der Frau Carrar«, diese bekäme wohl »die Reichel, die Freundin vom Brecht«.
1955 geht Käthe Reichel als Gast an die Städtischen Bühnen in Frankfurt. Sie kehrt nicht mehr fest ans Berliner Ensemble zurück. Der Kontakt zu Brecht bleibt bestehen, sie bekommt sogar ein bescheidenes Häuschen in Buckow von ihm geschenkt. Auch dieses Haus ist Gegenstand der Briefe. Reichel hat es zunächst gepachtet, will es aber besitzen. Sie will nie wieder aus einer Bleibe hinausgeworfen werden, wie sie es als Kind erleben mußte. Brecht gewährt ihr den Wunsch. Das Haus befindet sich in der Nähe von Brechts und Weigels Sommersitz am Schermützelsee. Reichel ist, außer Ruth Berlau, der er ein Haus in Dänemark schenkte, die einzige von Brechts zahlreichen Mitarbeiterinnen und Freundinnen, die ein solches Unterpfand bekommt.
Aus dem gesamten Briefwechsel sticht ein Stück besonders hervor. Ein Brief ohne Datum, ohne Anrede, ohne Unterschrift, der in der Forschungsliteratur schon Käthe Rülicke zugeordnet wurde, aber sicher von Käthe Reichel stammt. Indizien wie die Schreibmaschinentypen und Besonderheiten in Ausdruck und Interpunktion sprechen eindeutig für sie als Verfasserin. Für ihre Perspektive auf die Beziehung zu Brecht ist er besonders aufschlußreich: »Daß man Dir keinen Liebesbrief schreiben kann, all den törichten Unsinn, den man denkt, nie sagt, den man höchstens schreibt – nur Dir nicht – das ist schlimm. Sicher verstehst Du gar nicht was ich meine (ich meine das Bedürfnis, jemanden zu streicheln, auf die Augen zu küssen – Deine Augen sind lustig und listig – solchen menschlichen Regungen sind Klassiker, glaube ich, gar nicht zugänglich). Du ›betrachtest‹ alles, immer produktive Folgerungen ziehend – d. h. es gibt wenige, ganz wenige und seltene Sekunden, wo Du es nicht mehr tust! Wie ich diese Sekunden liebe!!!«
Für Brechts Sicht der Dinge ist ein Brief mit angefügter Keuner-Geschichte bezeichnend. Er schreibt ihr (ohne Datum): »liebe kattrin, nach alldem argen: wäre es nicht gut, wenn du mir alles gäbst, was du an freundlichkeit geben kannst und von mir alles nähmst, was ich an freundlichkeit dir geben kann und wir nähmen als maass der freundlichkeit handlungen? dann wäre keine frage nach dem was fehlt, dann gäbe es eine zuversicht von dem was da ist. es gibt nichts besseres als freundschaft; was darüber hinaus ist, ist nur gut, wenn es die freundschaft gibt.«
Insgesamt liegen 99 Briefe vor. 33 davon tragen ein Datum, 66 keines, was die chronologische Zuordnung erschwert. Über Hinweise und Bezüge wurde dennoch versucht, eine sinnvolle Reihenfolge und Gliederung zu erstellen. Kurz vor Redaktionsschluß kamen zu den bereits bekannten 84 Briefen, die sich im Archiv Darstellende Kunst und im Bertolt-Brecht-Archiv der Akademie der Künste befinden, 15 Schriftstücke hinzu, deren Sperrung gerade erst abgelaufen war. Ein Glücksfall, denn darunter waren Antworten auf bereits vorhandene Briefe, außerdem werden die Hintergründe von Reichels Frankfurter Engagement näher beleuchtet. Die hier vorgelegte Auswahl umfaßt 22 Briefe von Käthe Reichel und 21 von Bertolt Brecht. Außerdem existieren 12 kurze Zettelgrüße, die alle kein Datum tragen und hier nicht abgedruckt werden.
Die Briefe sind mit wenigen Ausnahmen mit der Schreibmaschine geschrieben, von Brecht in seiner bekannten Kleinschreibung. Die Zettelgrüße wurden meist per Hand verfaßt. Auffällig sind Brechts Anreden »lieber k.« sowie »liebe kattrin«. Sie schreibt immer an ihren »lieben Bert«.
Den letzten Brief an Bertolt Brecht schreibt Käthe Reichel am 22. August 1956, nicht wissend, daß er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr lebt. Sie ist auf einer Reise durch den Kaukasus und berichtet ihm von dort, von einer langen Überfahrt über das Schwarze Meer und von einer Sternschnuppe, bei deren Anblick sie seinen Namen ausspricht, weil Leute ihr erzählt hätten, das bringe Glück.
Das Berliner Ensemble verläßt sie endgültig nach Brechts Tod und wird festes Mitglied am Deutschen Theater. Als Schauspielerin macht sie noch auf vielen Bühnen und auch beim Film Karriere. Immer wieder ist sie politisch aktiv. 1989 ist sie Mitinitiatorin der großen Massenkundgebung vom 4. November auf dem Alexanderplatz und nach der Wende hungert sie mit den Kali-Kumpels von Bischofferode für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze. 1996 erhält Käthe Reichel den Alternativen Nobelpreis für die Kampagne »Mütter, versteckt eure Söhne«, eine Aktion gegen den Tschetschenien-Krieg. Ab 2001 tritt Käthe Reichel mit einer eigenen Fassung von Brechts »Die heilige Johanna der Schlachthöfe« auf und trägt das Drama als Ein-Personen-Stück vor.
Brecht bleibt zeit ihres Lebens der wichtigste Mann für sie. Seinem Eindruck konnte und wollte sie sich nie entziehen. Dem Medium, das sie verbunden hat, ist sie treu geblieben und hat mit dem Buch »Windbriefe an den Herrn b.b.« 2006 noch einmal 45 Briefe an den Abwesenden gerichtet. 2011 veröffentlicht sie ihre Autobiographie unter dem Titel »Dämmerstunde – Erzähltes aus der Kindheit«. Käthe Reichel ist 2012 in ihrem Haus in Buckow gestorben.Helene Herold
SINN UND FORM 2/2024, S. 149-181, hier S. 149-151
Brecht, Bertolt; Friedrich, Walter
- 1/1955 | Erklärung
Bredekamp, Horst
- 3/2015 | Das lange Halbjahrhundert. Rede zur Eröffnung von Klaus Staecks Berliner Ausstellung
Bredel, Willi
- 2/1953 | Stimmen der Mitglieder der Sektion Dichtkunst und Sprachpflege. Zum Tode J. W. Stalins
- 4/1957 | Hermann Hesse zum 2. Juli 1957
- 4/1957 | Zum Tode Alfred Döblins
- 4/1957 | Zum Tode Louis Fürnbergs
- 2/1961 | Harrick
- 5-6/1962 | Der Präsident der Deutschen Akademie der Künste, Dr. h.c. Willi Bredel, gibt folgende Erklärung ab
- 2-3/1963 | Walter Ulbricht zum 70. Geburtstag
- 4/1963 | Ein ganzer Patriot
- 4/1964 | Bei den Seebauern
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Das nationale Dokument »Die geschichtliche Aufgabe der Deutschen Demokratischen Republik und die Zukunft Deutschlands«
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Willi Bredel zur Außenministerkonferenz 1954
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Im Zweiten Weltkrieg. An seine Landsleute
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Erinnerung an die Augusttage 1914
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Für Willi Bredel. Beiträge von Freunden, Mitarbeitern und Schülern
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Deutsche Kriegsgefangene an Willi Bredel
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Anklage wegen Hoch- und Landesverrat, 1929
- Sonderheft Willi Bredel/1965 | Madrid 1936/37. Die Kämofe der elften internationalen Brigade
- 2/1966 | Die Intelligenz und die einheit in der deutschen Arbeiterklasse
- 2/1970 | Ein guter Soldat der Menschheit
- 3/1970 | Ein Fußballspiel
- 3/1971 | Blick in die Zuunft
- 4/1977 | Der Opfergang
- 2/1981 | Kinder des Hamburger Hafens
Bredemeyer, Reiner
- 6/1979 | Paul Dessau zum Gedenken
- 4/1984 | Gespräch mit Gerald Felber, Siegfried Matthus und Joachim Werzlau
- 2/1989 | Gespräch mit Ingo Arnold und Sebastian Kleinschmidt
Breh, Laura
- 4/2021 | Angst
Breisky, Arthur
- 5/2020 | Harlekin – kosmischer Clown. Eine Einführung in das Leben der Dichter. Mit einer Vorbemerkung von Hans-Gerd Koch, S. 689 Leseprobe
Breisky, Arthur
Harlekin - kosmischer Clown. Eine Einführung in das Leben der Dichter
Der verschollene Arthur Breisky. Eine Vorbemerkung
Amerika war für den jungen Franz Kafka ein verlockendes Ziel. Reiseberichte und Erzählungen von Verwandten, die dorthin gereist oder gar ausgewandert waren, regten seine Phantasie an. Schon in jungen Jahren versuchte er sich an einer Erzählung, die in Amerika spielen sollte: »Einmal hatte ich einen Roman vor, in dem zwei Brüder gegeneinander kämpften, von denen einer nach Amerika fuhr, während der andere in einem europäischen Gefängnis blieb. (…) In den paar Zeilen war in der Hauptsache der Korridor des Gefängnisses beschrieben, vor allem seine Stille und Kälte; über den zurückbleibenden Bruder war auch ein mitleidiges Wort gesagt, weil es der gute Bruder war.« (Tagebuch, 19. November 1911)
Über die in der Eintragung erwähnten Zeilen gelangte der Text wohl nie hinaus, zumal ein Onkel, in dessen Gegenwart Kafka daran geschrieben hatte, sie gnadenlos verriß. Amerika als literarischen Ort gab er allerdings nicht auf. In den Wintermonaten 1911/12 unternahm er einen weiteren Anlauf zu einem Amerika-Roman. Es entstanden »etwa 200 [Seiten] einer gänzlich unbrauchbaren (…) Fassung der Geschichte«, berichtet er Felice Bauer am 9. / 10. März 1913. Zu diesem Zeitpunkt arbeitet er bereits seit einem halben Jahr an einer neuen Version, von der er seiner Briefpartnerin am 11. November 1912 erzählt hatte: »Die Geschichte, die ich schreibe und die allerdings ins Endlose angelegt ist, heißt, um Ihnen einen vorläufigen Begriff zu geben ›Der Verschollene‹ und handelt ausschließlich in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Vorläufig sind 5 Kapitel fertig, das 6te fast. Die einzelnen Kapitel heißen: I Der Heizer II Der Onkel III Ein Landhaus bei New York IV Der Marsch nach Ramses V Im Hotel occidental VI Der Fall Robinson. – Ich habe diese Titel genannt als ob man sich etwas dabei vorstellen könnte, das geht natürlich nicht, aber ich will die Titel solange bei Ihnen aufheben, bis es möglich sein wird.«
Es gibt zahlreiche Studien zu den Quellen für die Romanhandlung. Fest steht, daß Kafka vieles verwendet und verwoben hat, und möglicherweise geht auch der rätselhafte, in manche Sprachen kaum zu übersetzende Titel »Der Verschollene« auf Berichte von realen Ereignissen zurück, von denen er erfahren hat.
Gegen Ende der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts war der Romanautor, Übersetzer und Literaturkritiker Arthur Breisky eine auffällige Erscheinung im kulturellen Leben Böhmens: Aus bescheidenen Verhältnissen kommend, pflegte er den Gestus des aristokratischen Dandys. Am 14. Mai 1885 in Roudnice nad Labem geboren, in Prag und Louny aufgewachsen, verdiente er seinen Lebensunterhalt als Zollbeamter in Teplice und Děčín. Seine eigentliche Berufung sah er allerdings in der Literatur. Neben seiner Muttersprache Tschechisch beherrschte er Deutsch und Englisch fließend, übersetzte aus beiden Sprachen und gehörte ab 1908 zum Mitarbeiterkreis der »Moderní revue«, der wohl wichtigsten tschechischen literarischen Zeitschrift jener Zeit. Dort erschienen nicht nur seine Literaturkritiken, sondern 1909 auch seine Essays »Quintessence dandysmu« und »Harlekýn – Kosmický clown«. Kafka und sein Freund Max Brod gehörten zu den Lesern dieser Zeitschrift, vor allem Brod pflegte Kontakte zu Mitarbeitern. Es gibt zwar keinen Hinweis darauf, daß Kafka Breisky jemals persönlich begegnet ist, aber zumindest seine Texte waren ihm wahrscheinlich bekannt – und auch von seinem Schicksal dürfte er erfahren haben: Das kostspielige Wochenendleben, das Breisky als Dandy in Prag und Dresden führte, überstieg bei weitem seine finanziellen Möglichkeiten. Hochverschuldet floh er im Mai 1910 in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in die Vereinigten Staaten, wo er einen Monat später zu Tode kam.
In einem Brief an Rudolf Breisky vom 19. November 1910 berichtet František Francl aus Amerika, was er über die Todesumstände des Bruders Arthur herausgefunden hat. Demnach hatte Breisky in seiner Geldnot in einem deutschen Krankenhaus in New York eine Stelle als Liftboy angenommen und war dort am 10. Juli 1910 tödlich verunglückt. Der Direktor des Krankenhauses habe gesagt, es sei Breiskys eigene Schuld gewesen, er habe beide Türen offengelassen, die zum Treppenhaus und die zum Lift. Es sei während der Nacht geschehen, der Kopf sei bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert worden. Auf diese Informationen stützt sich offenbar auch Eugen Nozar in einem Nachruf, der am 18. Februar 1911 erschien und in dem er schreibt: »Er starb paradox: Beamter und tschechischer Schriftsteller – zerquetscht von einem Aufzug in einer deutschen pathologischen Einrichtung am zweiten Tag nach Antritt seines Dienstes.«
Nicht zuletzt wegen seines Hangs zur Selbstmystifikation gaben die obskuren Umstände von Breiskys Tod schon bald Anlaß zu Spekulationen. Es wurde vermutet, er habe seinen Tod mit einer aus der Pathologie entwendeten Leiche inszeniert und lebe unter neuer Identität. Bis in die dreißiger Jahre erschienen Berichte, man habe ihn in Afrika oder Amerika gesehen; Ivan Růžička spekulierte 1964 in »Kulturní tvorba« gar, hinter dem mysteriösen Autor B. Traven, der in Mexiko lebte und auf Deutsch schrieb, verberge sich kein anderer als Breisky: Rückwärts gelesen stehe B. Traven für NEW ART(hur) B(reisky).
Von den 1911 in Prag kursierenden Informationen und Spekulationen, die um die Begriffe »Liftunfall« und »verschollen« kreisten, läßt sich indes eine Linie zu Kafkas in New York und Umgebung beginnendem Roman »Der Verschollene« ziehen. Dessen Protagonist Karl Roßmann wird im Kapitel »Im Hotel occidental« eine Stelle als Liftboy angeboten: »›Liftjunge möchte ich ganz gerne sein‹, sagte Karl nach einer kleinen Pause. (…) ›Sind nicht Sprachkenntnisse erforderlich?‹ fragte er noch. ›Sie sprechen Deutsch und ein schönes Englisch, das genügt vollkommen.‹«
Anders als Arthur Breisky hat Karl Roßmann sein Englisch allerdings »erst in Amerika in zweieinhalb Monaten erlernt«. Gegen die strenge »Aufzugsordnung« verstößt aber auch er, und die Mißachtung von Dienstvorschriften führt schließlich zu seiner Entlassung und weiterem sozialen Abstieg. Karl Roßmanns Spur in Amerika verliert sich in einem Eisenbahnzug des »Teaters von Oklahama«. Ob er sein Ziel je erreicht, bleibt ebenso offen wie die Frage, ob es tatsächlich Breisky war, der im Schacht eines Krankenhauslifts zu Tode stürzte. Beide bleiben verschollen in Amerika.
Hans-Gerd Koch
SINN UND FORM 5/2020, S. 689-690
Brennecke, Dietrich
- 6/1968 | Max Butting - die Musik und die Menschen. Aufsätze, Vorträge und ästhetische Überlegungen eines Komponisten
- 3/1976 | Gespräch mit Kurt Schwaen
Brenner, Steffen
- 5/2003 | Gedichte
Breshnew, Leonid
- 2/1982 | Aus den Erinnerungen
Breuer, Rolf
- 4/1999 | Jane Austen und kein Ende. Zur Poetik des Folgeromans
Breuer, Stefan
- 6/1997 | Stefan George und der ästhetische Fundamentalismus
- 4/1998 | Rousseau und der moralische Fundamentalismus
Breytenbach, Breyten
- 2/1984 | Ein Blick von draußen
Breza, Tadeusz
- 4/1962 | Audienz in Rom
Brězan, Jurij
- 2-3/1963 | Das Examen
- 6/1967 | Die schwarze Mühle
- 5/1968 | Was ist das Glück? Zum 10. Todestag Johannes R. Bechers
- 5/1974 | Der Geburtstag - Studie zu einem Charakter
- 6/1978 | Drei Geschichten
- 5/1980 | Briefwechsel mit Erhard Geißler
- 3/1981 | Sophokles und Spellerhütte
- 3/1981 | Die Frau
- 3/1982 | Spalena - Die Verbrannte
- 5/1984 | Für Anna Seghers
- 2/1986 | Im Kreidekreis
- 1/1988 | Pan Michal
- 5/1989 | Gruss an Eduardas Miezelaitis
- 4/1991 | Künstleranekdoten
Brie, Michael
- 5/1990 | Gespräch mit Jean Villain
Brinkmann, Hans
- 5/1990 | Gedichte
Brion, Marcel
- 6/1964 | Sprung ins Nichts. Zu 4 westdeutschen Büchern
Brissa, Enrico
- 2/2021 | Schein und Sein. Manieren in Tomasi di Lampedusas »Der Leopard«
Brocan, Jürgen
- 1/2003 | Wo keiner wohnt. Sieben Fragmente zur Lyrik von Christian Saalberg
Broch, Hermann
Brockmann, Jan
- 1/2016 | Die goldenen Umwege des Zeichners. Hanns Schimansky
Broda, Ina Jun
- 6/1967 | Romane aus der Schreibtischlade. Aus dem neuesten Schaffen kroatischer und serbischer Romanciers
Broda, Marzena
- 6/2016 | Jetzt kann alles geschehen
Brodsky, Joseph
Brokmeier, Peter
- 4/2006 | Dantes philosophisches Projekt
Brombert, Victor
- 6/2009 | Italo Svevo oder die Paradoxa des Antihelden
- 6/2009 | Gespräch mit Richard Schroetter. »Wir ahnten nicht, was kommen würde«, S. 757 Leseprobe
Brombert, Victor
»Wir ahnten nicht, was kommen würde«. Gespräch mit Richard Schroetter
RICHARD SCHROETTER: Man kennt Sie als einen der führenden amerikanischen Komparatisten, als Romanisten und Literaturkritiker, aber auch aus dem Film über die ›Ritchie Boys‹, jene jungen Emigranten, die im Zweiten Weltkrieg in Camp Ritchie für Spezialeinsätze ausgebildet wurden. Sie kamen1923 zur Welt und verbrachten Ihre Kindheit in Leipzig. Was hat Ihre Eltern, wohlhabende jüdische Kaufleute aus Rußland, dazu bewogen, ausgerechnet nach Deutschland zu gehen?
VICTOR BROMBERT: Bei Ausbruch der Oktoberrevolution 1917 waren sie auf der Hochzeitsreise in Dänemark und mußten sich plötzlich entscheiden, wo sie bis zur Rückkehr in die Heimat leben wollten. Damals glaubten sie noch, es handle sich um ein vorübergehendes Exil. Weil mein Vater Geschäftsbeziehungen nach London hatte, übersiedelten sie dorthin, blieben aber nur ein Jahr, denn meine Mutter fühlte sich in England nicht wohl.
SCHROETTER: Welche Erinnerungen haben Sie an Leipzig?
BROMBERT: Die Wohnung lag in der Ferdinand-Rhode-Straße, nicht weit vom Gewandhaus, hatte einen herrlichen Wintergarten und war so groß, daß ich mit dem Fahrrad durch die Flure fahren konnte. Mit der Kinderfrau sprach ich Deutsch, in der Schule natürlich auch, und ab und zu sogar mit meiner Mutter, die auf einem Mädchenpensionat in Wien gewesen war. Noch heute zähle ich manchmal auf deutsch, etwa bei der Gymnastik. Komplizierte Texte lese ich ohne Mühe, nur bei einem anspruchsvollen intellektuellen Gespräch hätte ich Schwierigkeiten. Hin und wieder ging ich mit meinem Vater odermeiner Großmutter im Rosentaler Wäldchen spazieren. Die Wintertage warengrau, jedenfalls im Vergleich zu Frankreich, das ich schon vor der Emigration kennenlernte. Das hing mit dem Tod meiner Schwester zusammen. Sie starb mit fünf in Breslau auf dem OP-Tisch. Man hatte noch erwogen, sie wegen des Gehirntumors zu einem Spezialisten in die USA zu bringen. Nach diesem Schlag reiste meine Mutter nach Nizza und nahm mich mit. Ich entdeckte den Süden, das blaue Meer, die Kaps, und auf einmal kam mir Leipzig noch grauer vor.
SCHROETTER: Das war 1931. Nahmen Sie damals auch Politisches im Alltag, auf der Straße wahr?
BROMBERT: Einmal erlebte ich, wie zwei Demonstrationszüge aufeinander zumarschierten, Kommunisten gegen Nazis, beide mit Transparenten, Knüppeln und Marschliedern. Nach ein paar Minuten war die Straße übersät mit Verwundeten, und überall war Blut. Das hat mich geprägt, seitdem verabscheue ich Kundgebungen und Menschenmassen. Andere Erinnerungen an Leipzig habe ich wohl einfach ausgeblendet. Im nachhinein wird mir klar, daß das nicht nur am Frankreich-Erlebnis lag, das alles überstrahlte. Ich habe diese Zeit als bedrohlich erlebt und auf meine Weise darauf reagiert. Mit der Sprache machte ich es ein paar Jahre später ähnlich: Ich tat so, als könne ich kein Deutsch, oder machte den französischen Akzent nach.
SCHROETTER: Agitation und politische Gewalt kannten Ihre Eltern doch schon aus Rußland.
BROMBERT: Sie gehörten dort zu den assimilierten Juden, ihre ökonomische Situation verschaffte ihnen das Privileg, in St. Petersburg oder in Moskau zu wohnen und nicht im Schtetl. Sie waren Kosmopoliten, beherrschten drei oder vier Sprachen und hatten an der Universität studiert. Mein Vater hörte in Paris Reden von Jean Jaurès und Anatole France, ehe er in Rußland seinen Jura-Abschluß machte. Meine Eltern kannten schon einiges, was den deutschen Juden noch erspart geblieben war. Sie wußten, wie leicht Antisemitismus in Gewalt umschlagen kann. Ich wuchs auf in einer Atmosphäre bürgerlichen Komforts, aber mit dem Bewußtsein, daß wir nicht so recht dazugehörten. Wir waren keine Deutschen, aber auch keine Russen mehr, wir waren Staatenlose.
SCHROETTER: Was für Pässe hatten denn Ihre Eltern?
BROMBERT: Sie hatten die russische Staatsbürgerschaft mit der Revolution verloren und lebten als geduldete Ausländer in Deutschland. Sie hatten sogenannte Nansen-Pässe, nach dem Völkerbundkommissar für Flüchtlingsfragen Fridtjof Nansen. Diese Pässe stellte das Land aus, wo sich der staatenlose Emigrant aufhielt. Immerhin konnten meine Eltern Grundbesitz erwerben, ihre Firma lief sehr gut, die Geschäftsbeziehungen reichten bis nach China. Es war ein Import-Export-Großhandel, hauptsächlich mit Pelzen. Mein Vater reiste zu Auktionen nach London, doch eigentlich war er eine poetische Seele und ein Liebhaber der Dichtung, kein Geschäftsmann. Zum Jurastudium war er bloß gekommen, weil man doch irgendwas studieren mußte.
SCHROETTER: Als Sie neun waren, verließ die Familie Deutschland. Das war sicher ein riskanter Augenblick.
BROMBERT: Wir flüchteten 1933 mit einem Nachtzug in die Schweiz, mein Onkel und seine Familie waren im selben Zug. Die Eltern hatten mir streng verboten, ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis die Tür des Schlafwagenabteils zu öffnen. Wir hörten, wie zwei, vielleicht auch drei Polizisten einstiegen und den Schaffner fragten, ob Juden im Zug seien. Er sagte nein, obwohl er es besser wußte. Das hat uns gerettet. Man hätte uns sonst wohl aus dem Zug geholt und wegen »Devisenschieberei« angeklagt, da meine Eltern einiges an Bargeld bei sich hatten. Ich habe oft an diesen Schaffner denken müssen. Vielleicht war er ein aufrechter Sozialdemokrat. Seinetwegen habe ich mich immer geweigert, alle Deutschen für schuldig zu halten.
SCHROETTER: Also stimmen Sie nicht überein mit Daniel Jonah Goldhagens These vom latenten Antisemitismus der Deutschen?
BROMBERT: Überhaupt nicht, ich bin schockiert von seiner historischen Unkenntnis. Die Situation der deutschen Juden vor dem Nationalsozialismus war vergleichsweise beneidenswert. Für die russischen Juden war Deutschland ein Hort der Aufklärung, wo die staatliche Ordnung Schutz gewährte. Wer es sich leisten konnte, machte dort Urlaub und genoß den Respekt, der ihm entgegengebracht wurde. Gegen Frankreich hatte man Vorurteile wegen der Dreyfus-Affäre – ein Mißverständnis der französischen Geschichte. Goldhagens Buch ist parteiisch und historisch teilweise unzutreffend. Mich ärgern seine These eines eingeborenen und gleichsam vererbten Antisemitismus und die Schlüsse, die er daraus zieht. Es gibt keine von Antisemitismus freie Gesellschaft, nicht einmal bei den Juden. Natürlich ist der Holocaust etwas historisch Einmaliges wegen des systematischen Vorgehens und der Blindheit, der vorsätzlichen oder partiellen Blindheit vieler Menschen. Aber wir sind alle blind gegen bestimmte Dinge in unserer Gesellschaft. Wir hören ab und zu, oder wissen oder erraten, was in Polizeistationen und Gefängnissen vor sich geht. Doch wir vergessen es lieber und freuen uns, wenn die Polizei uns hilft. Wir sind alle dazu fähig, die unerfreulichen Seiten unserer Gesellschaft auszublenden. Das ist natürlich keine Entschuldigung für das Geschehene. Zudem legen einige Gesellschaften größeren Wert auf Gehorsam als andere. In Italien hat ein Befehl nicht viel zu bedeuten, man kümmert sich nicht darum oder macht das glatte Gegenteil. In Deutschland befolgt man die Gesetze, im guten wie im schlechten.
SCHROETTER: Ihre Eltern glaubten damals offensichtlich, in Frankreich vor den Deutschen sicher zu sein. Nach einem Umweg über die Schweiz ließen sie sich im Spätherbst 1933 in Paris nieder. Der Kontrast zwischen Leipzig und der französischen Metropole muß doch sehr groß gewesen sein.
BROMBERT: Paris war eine Offenbarung. Wir wohnten zuerst bei meiner Tante, ehe wir eine schöne möblierte Wohnung bezogen. Ich entdeckte das Alltagsleben, die Straßenmärkte, die Farben und Gerüche, und als ich älter wurde und zur Schule ging oder sie schwänzte, machte ich auf eigene Faust Entdeckungen.
SCHROETTER: Warum schwänzten Sie die Schule?
BROMBERT: Mit zwölf, dreizehn war ich noch ein fleißiger Schüler und gewann mehrere Preise, doch dann änderten sich meine Interessen. Ich hatte dauernd Frühlingsgefühle und sah auf der Straße den Frauen nach. Die meisten meiner Freunde waren sitzengeblieben, teilweise sogar mehrmals, und daher älter als ich. Auch ich sah älter aus: mit dreizehn wirkte ich wie fünfzehn, mit vierzehn wie siebzehn. Ich wurde faul, las aber viel. Meine Streifzüge durch Paris machten mir Appetit auf Literatur und Kunst. Ich war dreisprachig, ohne eigentlich eine Muttersprache zu haben, Französisch wurde zum Medium meiner Weltwahrnehmung. Ich brauchte die Atmosphäre und Kultur dieser offenen, liberalen, vergnügungssüchtigen Gesellschaft. Vom Gären im Untergrund und von den heraufziehenden Bedrohungen merkte ich nicht viel. Paris war für mich eine Art Wiedergeburt. Tatsächlich bin ich ja in Berlin zur Welt gekommen, wo meine Mutter von einem berühmten Arzt behandelt wurde. Aber ich lernte die Stadt erst kennen, als ich 1945 mit der US-Armee zurückkehrte.
SCHROETTER: Dann begann Ihr Leben also da, wo Ihre Autobiographie »Trains of Thought« endet.
BROMBERT: Ich weiß nicht, ob ich meinen Geburtsort in dem Buch überhaupt erwähne. Ich wollte lange nicht darüber sprechen und habe ihn verleugnet. Heute sehe ich, daß das albern war, aber ich habe viele Jahre gebraucht, um diese innere Freiheit wiederzuerlangen.
SCHROETTER: In Paris fühlten Sie sich endlich frei, freier jedenfalls als in Leipzig. Ihre Autobiographie beginnt mit einem Schlüsselerlebnis, einer Szene wie aus einem Truffaut-Film. Sie erzählen von einer Busfahrt durch das sechzehnte Arrondissement, Passy, Auteuil, eine »Oase der Normalität«, wie Sie schreiben. Doch der vierzehnjährige Brombert und sein Freund sind unterwegs zu einem Bordell in der Innenstadt, wo es zu einer keuschen Begegnung mit einer jungen Prostituierten kommt. War das nicht ein gewagtes Unterfangen für einen Jungen Ihres Alters?
BROMBERT: Das hing von der sozialen Klasse ab. In den proletarischen Vierteln war die Promiskuität wohl größer, doch im blasierten und bourgeoisen sechzehnten Arrondissement beschränkte sich das Verhältnis zwischen Jungen und Mädchen meines Alters auf ein bißchen Flirten. Es gab getrennte Schulen, nur im Kino konnte man sich küssen oder Händchen halten, aber das war noch keine sexuelle Initiation. Die erlebten Jungen wie ich meist mit einer Hausangestellten oder einer Professionellen. Ich hatte Glück: Der Vater eines Freundes gab uns Geld und nannte eine Adresse. Mein Vater wäre nie auf so etwas gekommen. Es war das beste Etablissement in Paris und ziemlich bekannt, wie ich später merkte. Ich fand es nicht nur luxuriös und ästhetisch, ich erlebte auch Zärtlichkeit und habe den Besuch in dankbarer Erinnerung. Überhaupt übte Paris auf mich eine erotische Faszination aus.
SCHROETTER: Wie war Ihr Verhältnis zu den Mitschülern?
BROMBERT: Wir wußten natürlich, daß es auch in Frankreich Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus gab, wie überall. In jedem Land zeigen sie sich in anderer Gestalt. Es gibt provinziellen, städtischen, rechten, linken, religiösen, ja sogar sozialistischen Antisemitismus. Mein Vater konnte mir viele Dinge gut erklären, die Dreyfus-Affäre zum Beispiel. Er sah alles in einem größeren Kontext und nicht nur in bezug auf die jüdische Frage. Damals regierte die Volksfront unter Léon Blum, der übrigens auch Jude war. So oft er irgendwo auf der Leinwand erschien, gab es einen Aufruhr. Man sagte »sale juif«, Drecks-jude, ohne sich viel dabei zu denken. Von all dem wußte ich, aber im sechzehnten Arrondissement spielte man höchstens ironisch darauf an. Gewalt spielte keine Rolle, nur einmal wurde ich in eine Schlägerei mit einem anderen Jungenverwickelt.
SCHROETTER: Wie kam es dazu?
BROMBERT: Wir schubsten uns vor dem Klassenzimmer, er sagte wie üblich Drecksjude, das kam fast automatisch, und alle um uns herum wiederholten es. Ich wollte nicht kämpfen, er wohl auch nicht, aber der Gruppenzwang ließ uns keine Wahl. Er kam mir sozusagen vor die Fäuste, ich könnte nicht einmal sagen, daß ich zielte. Am Ende blutete er. Ich will nichts beschönigen: Die Sache hatte einen ernsten Hintergrund, doch wir nahmen sie nicht ernst. Die Gesellschaft war damals wie ein Club, dessen Mitglieder entweder Juden oder Antisemiten waren. Wir spielten gemeinsam Tennis und waren freundlich zueinander. Wir ahnten nicht, was kommen würde.
SCHROETTER: Konnte man das überhaupt?
BROMBERT: Man muß sich immer fragen, was man damals empfand, und von dem absehen, was später die Erfahrung lehrte. Die Versuchung ist groß, rückwirkend zu deuten. Als nach der Niederlage Marschall Pétain an die Macht kam, war mein Vater wie viele Juden froh darüber. Nicht weil er ihn mochte: Man wußte, daß er ein Ultrakonservativer und ein Feind des parlamentarischen Systems war. Daß er ein Antisemit war, wußte man noch nicht, aber man konnte es sich denken. Doch wenigstens blieb Frankreich das Schicksal Polens erspart. Es bekam keinen »Gauleiter«, sondern ein Staatsoberhaupt, das die Deutschen als Gesprächspartner respektierten, jedenfalls eine Zeitlang. Es war das einzige besiegte Land, dem Waffenstillstandsverhandlungen und sogar eine Art Friedensvertrag angeboten wurden. Man glaubte, Pétain werde das Land und die Juden schützen. Doch der Schutz galt nicht für alle. Schon bald wurden Unterschiede gemacht, erst zwischen französischen und ausländischen Juden, dann zwischen französischen und »neuen« französischen Juden, dann zwischen jenen, die im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten, und den anderen. Schließlich war selbst das vorbei. Das Beschämende am Waffenstillstand war eine Klausel, wonach jede Person ausgeliefert werden mußte, die die Deutschen haben wollten. Das betraf zwar nicht die Franzosen selbst, aber alle, die auf französischem Boden Zuflucht gefunden hatten, und das waren ja vor allem Nazigegner, viele davon Juden. Wir wußten von dieser Klausel, glaubten aber anfangs, sie beträfe uns nicht. Die französischen Juden hielten Antisemitismus für ein Problem der deutschen Emigranten. Ähnliches hatten meine Eltern schon in Deutschland erlebt, wo die Juden auch geglaubt hatten, sie wären gesellschaftlich respektiert. Sie hörten damals Leute sagen: »Ich war in der Wehrmacht, ich habe das Eiserne Kreuz. Das Problem sind die Ostjuden, die sollten wir nicht ins Land lassen.« Es gab also einen regelrechten jüdischen Antisemitismus. Selbst in den USA weigerten sich einige jüdische Mitglieder der Regierung Roosevelt, ihre Stimme zu erheben und Unterstützungs- oder Rettungsmaßnahmen zu veranlassen. Sie wollten keinen Ärger machen. Meine Eltern waren sensibilisiert für dieses Denken, sie hatten das Beispiel Rußlands und Deutschlands noch vor Augen. Wir hatten keine großen Illusionen und wußten, daß uns eine neuerliche Flucht bevorstand. Zum Glück hatten wir die Mittel dazu.
SCHROETTER: Diese Flucht begann in einem mondänen Badeort in der Normandie vor einer geradezu Proustschen Kulisse.
BROMBERT: Den Sommerurlaub verbrachten wir meist am Meer, ein- oder zweimal auch in Marienbad. Wir fuhren nach Cabourg, Deauville oder Trouville. Beim Überfall auf Polen waren wir gerade in Deauville, und meine Eltern beschlossen, sicherheitshalber nicht nach Paris zurückzukehren. Zwar hatte mein Vater dort Geschäfte zu erledigen, doch wir blieben bis Mai 1940. Dann kam der Blitzkrieg, und es wurde klar, daß Frankreich bald zusammenbrechen würde. Nun hieß es rennen, wollten wir nicht in der Falle sitzen. Wir fuhren kurz nach Paris und reisten von dort nach Bordeaux, wo ich das Abitur machte. Die Deutschen rückten immer weiter vor, und das Vichy-Regime übernahm die Macht. Wir versuchten, mit einem Schiff zu fliehen, umsonst. Auch die Flucht nach Spanien glückte uns nicht. Eine Zeitlang hielten wir uns in den Bergen versteckt, wie übrigens auch andere Familien aus Paris, darunter viele Juden. Schließlich gingen wir nach Nizza, wahrscheinlich wegen der Nähe zum großen Hafen von Marseille und zu Italien, das trotz Mussolini einen vergleichsweise humanen Eindruck machte. Die Stimmung war gespannt, doch die Menschen verhielten sich leichtsinnig, fast hedonistisch. Vater bemühte sich ununterbrochen, uns Visa zu besorgen, letztlich mit Erfolg.
SCHROETTER: Im Sommer 1941 konnten Sie über Sevilla ausreisen und gelangten mit dem Bananenfrachter »Navemar« nach New York. Selbst auf Frachtern kostete die Überfahrt damals ein Vermögen.
BROMBERT: Soweit ich mich erinnere, mußten wir tausend Dollar pro Person bezahlen, das entspräche heute mindestens dem Zehn-, wenn nicht dem Fünfzehnfachen. Wir hatten ein US-Einreisevisum, das schwer zu kriegen war, weil es für jedes Herkunftsland Quoten gab. Polen hatten nur geringe Chancen, für Italiener oder Deutsche war es sicher leichter. Zudem bauten die Amerikaner weitere Hürden auf, um den Einwandererstrom zu begrenzen. Man brauchte ein Transitvisum für Spanien sowie ein Ausreisevisum für Frankreich, das für militär- oder arbeitsdiensttaugliche Männer schwer zu kriegen war. Doch das Schwierigste war, all diese Papiere und die Fahrkarten gleichzeitig zu bekommen. Das Schiff wartete ja nicht! An Bord gab es Kabinenplätze für fünfzehn Passagiere, aber man hatte nicht weniger als 1200 Tickets verkauft. Wir waren also gleichsam die Bananenfracht. Wegen der U-Boot-Gefahr fuhren wir auf Zickzackkursen und waren volle sechs Wochen unterwegs. Es gab nicht viel zu essen und keine medizinische Versorgung, etliche Passagiere starben unterwegs. Eine Vergnügungsreise war das wahrlich nicht, aber sie rettete uns.
SCHROETTER: Die Ankunft in den USA muß doch ein großer Einschnitt gewesen sein. Wie haben Sie das erlebt?
BROMBERT: Die größte Herausforderung bestand in der Begegnung mit mir selbst. Ich war verhätschelt worden, und selbst Krieg und Flucht verstärkten bis zu einem gewissen Grad meine Passivität: Man brauchte keine Entscheidungen zu treffen, es gab keine Zukunft, die Frage der Berufswahl stellte sich nicht. Als mir bewußt wurde, daß nun alles anders würde, entschied ich mich, auf eine amerikanische Schule zu gehen, weit weg von den Eltern. Sie verstanden das sehr gut, und so wurde ich mit achtzehn in ein Vorbereitungscollege in Pennsylvania aufgenommen. Das war kurz vor Pearl Harbour. Uns war klar, daß wir in den USA bleiben würden, und doch träumte ich davon, zurückzukehren. Ich hing an meinen Erinnerungen und Freunden und fühlte mich als Franzose. Ich wunderte mich über die amerikanischen Jungen und Mädchen meines Alters. Sie waren sehr nett, aber in jeder Hinsicht naiv: intellektuell, erotisch, sexuell. Mir schienen sie fünf Jahre jünger. Ich hatte Heimweh, sah mich als Patrioten und wollte von den Eltern unabhängig sein. Ich träumte von der Armee und hoffte auf den Kriegseintritt der USA, der wenig später auch erfolgte. Zum Glück wurde ich nicht in den Pazifik geschickt, sondern nach Europa. Die zweite Panzerdivision, der ich angehörte, trug den Spitznamen »Hell on Wheels« und hatte unter General Pattons Befehl gestanden. Bei der Invasion in der Normandie im Juni 1944 ging sie gleich nach den Pionieren an Omaha Beach an Land. Damals entdeckte ich, daß ich kein Held war, obwohl ich gern einer gewesen wäre.
SCHROETTER: Wie fühlten Sie sich als Sproß aus wohlhabendem, behütetem Hause in der Armee?
BROMBERT: Das war ein Schock für mich. Nach der Grundausbildung kam ich erst zum medizinischen Corps und dann zu einem Aufräumkommando, vermutlich weil ich die amerikanische Staatsbürgerschaft noch nicht hatte und Ausländer nicht in Kampfeinheiten durften. Schließlich bemerkte man meine Mehrsprachigkeit und steckte mich in ein Ausbildungszentrum des militärischen Geheimdienstes, Camp Ritchie in der Nähe von Washington, D. C.
SCHROETTER: Was war Ihre Aufgabe, wie wurden Sie eingesetzt?
BROMBERT: Ich gehörte zu einem sechsköpfigen Aufklärungs- und Verhörteam, das an vorderster Front agierte. Wir versuchten von französischen Zivilisten Informationen über die deutschen Truppen und ihre Stellungen zubekommen. Wir machten auch Radiosendungen in der Hoffnung, deutsche Soldaten zum Aufgeben zu bewegen, allerdings ohne großen Erfolg. Später diente ich als Übersetzer und Befrager von Kriegsgefangenen und kam in den Hürtgenwald und die Ardennen.
SCHROETTER: Darüber haben Sie in Ihrer Autobiographie »Trains of Thought« geschrieben. Können Sie etwas über Ihre Erlebnisse dort berichten?
BROMBERT: Die Schlachten in den Ardennen und im Hürtgenwald waren in vielerlei Hinsicht blutiger als die Invasion in der Normandie. Bei der Landung an Omaha Beach dauerte die Todesangst ein paar Stunden oder Tage, die deutschen Armeen zogen sich zurück, wir rückten nach, zeitweise herrschte beinahe Euphorie. Wir befreiten Paris und stießen bis zur belgischen Grenze vor. Es sah so aus, als wäre der Krieg bald vorbei. Doch weit gefehlt: Als wir den Albert-Kanal erreichten, der Antwerpen und Lüttich verbindet, trafen wir auf erbitterten Widerstand. Desgleichen bei Aachen, wo die Deutschen eigenen Boden verteidigten. Die amerikanischen Generäle waren wild entschlossen, durch den Hürtgenwald vorzustoßen, obwohl nicht die geringste Notwendigkeit dazu bestand, es war dabei nichts zu gewinnen. Das Ergebnis waren die fürchterlichsten, blutigsten, demoralisierendsten Kämpfe, die ich erlebt habe, ein zähes Ringen um jeden Zentimeter Boden, mit all den Schrecken einer Kriegführung im Wald, wofür die amerikanische Armee überhaupt nicht ausgerüstet war. Die Deutschen hatten damit Erfahrung, sie kannten das aus Rußland. Ich gehörte damals zur 28. Infanteriedivision, die schrecklich dezimiert wurde. Ganze Regimenter wurden aufgerieben. Danach verlegte man uns zur Erholung in eine vermeintlich ruhigere Gegend in Luxemburg. Doch gerade dort, in der Nähe von Wiltz, griffen die Deutschen erneut an. Sie hatten hervorragende Einheiten, einige waren dafür ausgebildet, in amerikanischen Uniformen Chaos und Panik zu verbreiten. Die Ardennenschlacht war ein Debakel für die Amerikaner und Engländer. Unser einziger Vorteil war, daß den Deutschen der Treibstoff ausging, während wir Reserven hatten. Dafür hatten sie den Angriff genau geplant und auf die Wetterlage abgestimmt, sodaß wir keine Luftunterstützung bekommen konnten. Die Landschaft war tiefverschneit, und es war bitter kalt. Die wichtigste Erfahrung bestand darin, daß ich ein paar Wahrheiten über mich herausfand. Meine romantischen Jugendlektüren über Krieg und Krieger hatten mich darauf gebracht, daß auch ich ein Held sein könnte. Doch als ich zum ersten Mal unter Beschuß geriet, lernte ich Angst und Panik kennen. Wohl auch deshalb schrieb ich später das Buch »In Praise of Antiheroes« (Lob der Antihelden). Ich wollte mich mit dieser Erfahrung auseinandersetzen, und ich glaube, ich habe sie ehrlich beschrieben. Ich entdeckte damals auch, daß körperlicher Mut nicht die größte Tugend ist: Man kann ein mutiger Gangster, ein mutiger Faschist sein. Moralischer Mut ist etwas anderes. Ironischerweise können bittere geschichtliche Erfahrungen sich für Überlebende positiv auswirken. Wer weiß, ob ich ein guter Student und schließlich Gelehrter geworden wäre, wenn Hitlers Armeen Frankreich nicht angegriffen hätten. Vielleicht hätte ich mich auf die Stellung und das Vermögen meines Vaters verlassen und wäre ein verwöhnter Sohn geworden. Ich hatte nicht viel Ehrgeiz. In Frankreich, in Europa überhaupt mußte man damals früh wissen, was man wollte, sonst war der Zug abgefahren. In Amerika dagegen konnte man fünf oder sogar fünfzehn Jahre später kommen und noch etwas Neues ausprobieren. Davon habe ich profitiert.
SCHROETTER: Wie ging es weiter nach der Ardennenschlacht?
BROMBERT: Ich wurde ins Elsaß verlegt und nahm an der Befreiung von Colmar teil. Später überquerten wir bei Remagen den Rhein, und ich wurde einer großen Einrichtung des Alliierten Kontrollrats in der Nähe von Frankfurt zugeteilt. Der Krieg ging nun rasch zu Ende. Vorübergehend setzte man mich bei der Entnazifizierung des Saargebiets ein. Wir suchten nach Kreisleitern, Gauleitern, später auch nach kleineren Fischen. Doch die amerikanische Militärregierung setzte einige der Festgenommenen schon am nächsten Tag wieder in ihre Ämter ein, weil man sie für unentbehrlich und verläßlich hielt: Es ging gar nicht um Strafverfolgung, sondern bloß darum, die Dinge am Laufen zu halten. Das dämpfte meinen Enthusiasmus. Auch beim Kontrollrat war ich unzufrieden. Es war das alte Problem, die Unmöglichkeit eines Dialogs zwischen Soldaten mit Fronterfahrung und Bürokraten. Schließlich bat ich um Versetzung nach Berlin. Zu meinen Aufgaben dort gehörten die Betreuung von Vertriebenen und Kontakte mit den Sowjets. Da ich Russisch sprach, nahm ich an Verhandlungen und Sitzungen teil. Es war nicht sehr erbaulich, das Verhalten der Sowjets im besetzten Berlin aus der Nähe mitzukriegen. Auch unsere Leute waren keine Engel, doch sie betrieben eher Schwarzmarktgeschäfte. Ich hatte zwei bewegende Erlebnisse in Berlin, die ich in »Trains of Thought« beschreibe. Inmitten der Zerstörung kam es zu einer Opernaufführung, ohne Dekor, ohne Kostüme, aber herrlich gesungen und gespielt. Es war »Fidelio«, ein Stück über Gefangenschaft und Freiheit, die Opfer der Tyrannenherrschaft und Erlösung durch die Liebe. Selbst den Kerkermeister Rocco fand ichbewundernswert. Sein Gehorsam geht nur bis zu einem gewissen Punkt, dann hat er die großartige Zeile: »Das Leben nehmen ist nicht meine Pflicht.« Er weigert sich, den Gefangenen zu töten. Das ist ein Akt des Widerstands, zwar kein großer, aber ein bedeutungsvoller. Und der machte seinen Part zum Mittelpunkt der Oper. Das andere Erlebnis hatte ich in einer unzerstört gebliebenen Villa in der Nähe von Onkel Toms Hütte. Dort im Garten wurde eines Abends Shakespeares »Sommernachtstraum« in einer wundervollen deutschen Übersetzung aufgeführt. Es war ein märchenhaftes, zauberisch suggestives, irreales, poesiedurchtränktes, ein verspieltes Schauspiel in der trostlosen Umgebung dieser Stadt. Diese beiden Aufführungen verkörperten für mich die Erfahrung des Überlebens, des Weiterlebens, und daß der Krieg endlich zu Ende war. Ich freute mich darauf, etwas Neues anzufangen, denn in der Zwischenzeit hatte ich meine eigentliche Leidenschaft entdeckt: über Literatur zu forschen und zu lehren. So hatte ich nun auch ein Ziel vor Augen, ich wollte Universitätsprofessor werden.
SCHROETTER: Mit welchen Gefühlen kehrten Sie in das zerstörte Deutschland zurück?
BROMBERT: Mit ganz gemischten. Eines hatte gar nicht direkt mit Deutschland zu tun: Ich war entsetzt über den Jubel, mit dem die amerikanische Presse und das Militär den Einsatz der Atombombe begrüßten. Das fand ich obszön. Man kann darüber streiten, ob er nötig war, um weiteres Blutvergießen zu vermeiden. Doch als ich von der Zerstörungskraft der Bombe las, von den Leichen, die so sehr verbrannt waren, daß man Frauen und Männer nicht mehr unterscheiden konnte, empfand ich das als furchtbare Bedrohung für die Zukunft. Außerdem merkte ich die Heuchelei, denn die gleichen Zeitungen hatten sich über die deutschen V2-Raketenangriffe auf London und vieles andere empört. Und dann ärgerte mich noch, daß die Amerikaner sich in Deutschland durchweg wohler zu fühlen schienen als in Frankreich. Vielleicht lag es daran, daß viele Soldaten deutsche Vorfahren hatten, vielleicht spielte das gemeinsame protestantische Ethos eine Rolle, oder daß die Dörfer in Deutschland ein bißchen wie in Amerika aussahen, jedenfalls mehr als die französischen. Es gab zwar ein striktes Fraternisierungsverbot, doch es wurde kaum beachtet. Wenn ich bei Deutschen eingeladen war, legte ich großen Wert auf Abstand und machte nur Konversation – meist mit den Frauen, denn Männer waren kaum da, und die Frauen hielten mit großem Mut alles am Laufen. Ein Unterschied zu Frankreich fiel ins Auge: Dort nahm das Denunziantentum nach Kriegsende epidemische Ausmaße an: Jeder wollte ein Widerstandskämpfer gewesen sein, alle anderen waren Kollaborateure. In Deutschland dagegen konnte ich niemanden zum Sprechen bringen. Keiner wollte andere belasten. Ich fragte mich, warum das so war: Es hatte wohl mit Angst zu tun, aber auch mit Stolz und einem gewissen Sinn für Würde, den ich gegen meine Überzeugung gut fand.
SCHROETTER: Haben Sie sich im Krieg jemals etwas geschworen, falls Sie das alles überleben würden?
BROMBERT: Nur für den Fall, daß ich diesen oder jenen Moment überlebe. Beten konnte ich nicht, aber ich schwor zum Beispiel, daß ich mich nie beklagen würde, falls ich überlebe. Natürlich habe ich nicht Wort gehalten.
Aus dem Englischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 6/2009, S. 757-767
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Buch, Hans Christoph
- 2/2015 | Als werde ein Buch erwartet. Erinnerungen an den Literaturbetrieb (I), S. 242 Leseprobe
Buch, Hans Christoph
ALS WERDE EIN BUCH ERWARTET Erinnerungen an den Literaturbetrieb (I)
1
»Ein Schriftsteller ist eine Person, die sich der Illusion hingibt, es werde ein weiteres Buch von ihr erwartet.« Diese Definition der literarischen Tätigkeit stammt von Reinhard Lettau, der seine »creative writing"-Seminare in Kalifornien mit den Sätzen zu eröffnen pflegte: »Wer von ihnen interessiert sich für Kriminalromane oder für Science Fiction? Alle, die sich gemeldet haben, verlassen sofort den Saal, denn ich unterrichte nur Literatur!« Damit waren Kleist und Kafka gemeint, sowie drei oder vier Werke der Weltliteratur: Von »Werthers Leiden« über »Heinrich von Ofterdingen« bis zu »Peter Schlemihls wundersamer Geschichte«. Qualität war Reinhard Lettau wichtiger als Quantität, und seine eingangs zitierte Formel ist nicht nur witziger, sondern auch zutreffender als viele akademische Definitionen, weil sie den neuralgischen Punkt benennt, an dem sich spontanes Schreiben vom Beruf des Schriftstellers scheidet. Bekanntlich ist das zweite Buch das schwierigste, weil der angehende Autor seine Unschuld verloren hat – so wie der Jüngling in Kleists Marionettentheater, der beim Blick in den Spiegel die eigene Grazie entdeckt. Eine bestürzende Einsicht, die das Weiterschreiben erschwert oder unmöglich macht.
»Ein Schriftsteller ist eine Person, die sich der Illusion hingibt, es werde ein weiteres Buch von ihr erwartet«: In dieser Formulierung ist auch die Möglichkeit enthalten, daß mit dem Schreiben Schluß sein könnte, weil dem Autor nichts mehr einfällt, weil das Publikum sich von ihm abwendet oder weil der Tod ihm einen Strich durch die Rechnung macht. Aber ich will die Geschichte nicht vom Ende her erzählen, sondern von Anfang an. Der Einfachheit halber beginne ich bei mir selbst.
2
Im Herbst 1963 erhielt ich von einem mir unbekannten Absender einen Brief mit folgendem Wortlaut:
München, den 29. Sept. 1963
Sehr geehrter Herr Buch,
falls Sie auf der diesjährigen Tagung der Gruppe 47 sich an den Lesungen beteiligen wollen, sind Sie zu dieser Tagung herzlichst eingeladen. Die Tagung beginnt am 24. Oktober (Anreisetag) und ist bis zum 28. Oktober. Die Lesungen beginnen am Freitagfrüh um 10 Uhr.
Ort: Saulgau (Württemberg) im Hotel Kleber-Post. Sie können sich ein Zimmer direkt im Hotel bestellen. Bitte geben Sie mir aber Bescheid, ob Sie kommen oder nicht. Mit den besten Grüßen bin ich unbekannterweise
Ihr
Hans Werner Richter
Dieser Brief sollte mein Leben verändern, aber das ahnte ich damals noch nicht. Ich war neunzehn Jahre alt und hatte kurz zuvor am Bonner Beethoven-Gymnasium Abitur gemacht. Zwar wußte ich, was die Gruppe 47 und wer ihr Vorsitzender war, aber von Hans Werner Richter hatte ich keine Zeile gelesen, und die mit seinem Namen verbundene Nachkriegsliteratur ließ mich kalt – das Wort »Kahlschlag « beschrieb die Sache nur allzu genau. Von meinem ersten selbstverdienten Geld hatte ich mir die bei Schocken Books und S. Fischer erschienene Gesamtausgabe der Werke Franz Kafkas gekauft und von der ersten bis zur letzten Seite durchgelesen – nein, durchgeackert. Auch die beiläufigste Bemerkung in Kafkas Briefen und Tagebüchern war mir wichtiger als Koryphäen der Gegenwartsliteratur wie etwa Martin Walser und Günter Grass, dessen »Blechtrommel« ich abgeschmackt fand. Ich weiß nicht, was mir damals mehr mißfiel: der barock verschnörkelte Stil des Romans oder sein Programm der Vergangenheitsbewältigung, das mir wie die Negativfolie der Kriegserlebnisse erschien, mit denen unser Deutschlehrer uns in der letzten Stunde vor den Ferien langweilte. Erst Jahre später wurde mir bewußt, wie einseitig und ungerecht mein apodiktisches Urteil gewesen war – Ausdruck des Absolutheitsanspruchs einer Jugend, die sich nicht an der vorigen Generation orientiert, sondern an der vorvorigen: Bekanntlich verläuft die Traditionslinie nicht gerade, sondern im Zickzack, und die literarische Erbfolge geht nicht vom Vater auf den Sohn, sondern vom Großvater auf den Enkel oder vom Onkel auf den Neffen über.
Neben der Heiligen Dreifaltigkeit Franz Kafka, Robert Walser und Robert Musil duldete ich keine anderen Götter in meinem Bücherregal – mit einer Ausnahme: Peter Weiss, selbst Kafka-Epigone, dessen autobiographische Romane ich heimlich unter der Schulbank las. In den Osterferien 1963 trampte ich nach Stockholm, um dem Autor von »Fluchtpunkt« und »Abschied von den Eltern« meine Aufwartung zu machen. Seine experimentelle Prosa »Der Schatten des Körpers des Kutschers« erschien mir damals unüberbietbar. Das war kein bloßes Geschmacksurteil, sondern eine bewußte Vorentscheidung, weil das Wie des Schreibens mir wichtiger war als das Was: Thema, Sujet, Handlung, Fabel, Stoff oder wie immer man es nennt. Selbst im Zeichen der Politisierung, als platter
Inhaltismus an die Stelle des Formalismus der sechziger Jahre trat, hielt ich an dieser ursprünglichen Erkenntnis fest, die ich in der Folgezeit zwar partiell revidieren, aber nie zurücknehmen mußte – sie hat mich dauerhaft immunisiert gegen jede Art von Agitprop und vordergründigem Engagement.
Die Begegnung mit Peter Weiss verlief so, wie Henry James in seinen »Stories of Writers and Artists« Pilgerfahrten junger Talente zu berühmten Kollegen schildert: Den Erwartungen ihrer ungebetenen Besucher werden sie zwar nie gerecht, doch zuweilen lassen sie mit einer eher beiläufigen Bemerkung eine reiche Saat aufgehen. Peter Weiss empfahl mir Rolf Hochhuths »Stellvertreter « und »Schwierigkeiten beim Häuserbauen« von Reinhard Lettau, den ich sofort in mein literarisches Pantheon aufnahm, während ich mit Hochhuths Stück nicht viel anfangen konnte: Erst später begriff ich, daß sein »Stellvertreter « bei Peter Weiss’ »Ermittlung« Pate gestanden hatte und indirekt auch beim Marat-Sade-Buch, aus dem Weiss vorlas, als ich ihn im Herbst 1963 bei der Tagung der Gruppe 47 wiedersah. Aber ich bin dabei, den Ereignissen vorzugreifen.
Im Frühjahr 1963 hatte ich meine ersten Schreibversuche an den Suhrkamp Verlag geschickt: Epigonale Kurzgeschichten im Orbit von Kafka und Peter Weiss, die ich im Schulunterricht oder in den großen Ferien, während ich bei der Bonner Post Nachtdienst schob, ersonnen, auf holzfreies Papier getippt und ohne große Hoffnung in einen Din-A-4-Umschlag gesteckt hatte. Zu meiner Überraschung erschienen einige meiner Texte in einer Anthologie junger Autoren, und bald darauf erhielt ich den eingangs zitierten Brief von Hans Werner Richter, den der Herausgeber Martin Walser – vielleicht war es auch der Verleger Siegfried Unseld – auf mich aufmerksam gemacht hatte.
Ich war der jüngste Teilnehmer der Tagung und wußte selbst nicht, wie mir geschah. Damals, im Herbst 1963, machte ich mir noch keine Aufzeichnungen; erst Jahre später brachte ich meine Erlebnisse in Saulgau zu Papier, in einer Erzählung, die ich im Frühjahr 1966 in Princeton vorlas, wo Peter Handke das Sterbeglöckchen für die Gruppe 47 läutete. Hier ein Ausschnitt aus dem als Fortschreibung von Flauberts »Erziehung der Gefühle« konzipierten Text:
»Einzeln oder in kleinen Gruppen kamen sie durch die Tür: Verleger und Mäzene, Journalisten und Kritiker, Schriftsteller aller Altersgruppen und Couleurs; Veteranen, die Dutzende von Literaturen überdauert hatten, neben Rekruten, denen der erste Bart ums Kinn stand; der Verkannte Seite an Seite mit dem Überschätzten; das Wunderkind im Gespräch mit dem Geheimtip; die verkrachte Existenz Arm in Arm mit der nationalen Institution. Die Anzüge, von weitem, bildeten eine einzige dunkle Masse, unterbrochen hie und da durch das Weiß eines Kragens, den Farbtupfer einer Krawatte; die grauen Haare, die Brillen waren zahlreich; dazwischen leuchtete ein blanker Schädel, und die Gesichter, gerötet oder sehr blaß, trugen Spuren einer unausrottbaren Müdigkeit. Ich habe zehntausend Mark Schulden und rauche Opium, sagte eine junge Dichterin, eine Sphinx mit schwarzlackierten Fingernägeln und totenblassem Gesicht: Lesen Sie?«
Der Name der Sphinx war Gisela Elsner, und ihre Frage ergab nur im Kontext der Gruppe 47 einen Sinn, denn das Verb »lesen« ist transitiv und wird normalerweise nur mit Akkusativobjekt gebraucht. Ich trug eine Kurzgeschichte über eine archäologische Ausgrabung vor, die buchstäblich im Sande verläuft. Während ich las, sah ich aus den Augenwinkeln, wie der in der ersten Reihe sitzende Marcel Reich-Ranicki die Stirn in bedenkliche Falten legte und sein Nebenmann Walter Jens sich die Haare raufte, was nichts Gutes verhieß. Dabei war ich mir sicher gewesen, daß mein Text preiswürdig war – nicht aus Überheblichkeit, sondern aus jugendlicher Unkenntnis. Der kurz zuvor von Leipzig nach Tübingen übergesiedelte Ernst Bloch deutete das Vorgelesene als Produkt spätbürgerlicher Dekadenz, die mit eisernem Besen ausgefegt werden müsse, und beförderte mich mitsamt meinem Manuskript auf den Müllhaufen der Geschichte. Hans Mayer hielt ein extemporiertes Kolleg, in dem er meinen Text literarhistorisch einordnete, und Reich-Ranicki – vielleicht war es auch Walter Jens – dekretierte, die Geschichte tauge nichts und sei für denkende Menschen eine Zumutung, während Hans Magnus Enzensberger und Günter Grass von gewolltem Leerlauf sprachen, der sie an Slapstick-Komödien und absurdes Theater erinnere. Aber anstatt Ankläger und Verteidiger Revue passieren zu lassen, zitiere ich lieber noch einmal aus der unter dem Eindruck des Gruppentreffens entstandenen Erzählung:
»Der Kritiker A. empfand ein gewisses Unbehagen. Der Kritiker B. verstand nur zu gut das Unbehagen des Kritikers A. Welche Unwahrscheinlichkeiten, Verrenkungen und schreienden Übertreibungen! Ganz im Gegenteil, rief ein anderer: Ich finde das alles viel zu platt und prosaisch; wenn wir noch mehr solcher Texte bekommen, wird die Literatur zum bloßen Abklatsch der Wirklichkeit! Der Kritiker C. faßte die Äußerungen der Kritiker A. und B. mit denen ihres Kontrahenten zusammen und deutete sie als Symptome möglichen Verhaltens gegenüber dem Vorgelesenen. Man dürfe jedoch nicht vergessen, daß der Text mit verschiedenen Ebenen arbeite; auch seien Autor und Erzähler scharf voneinander zu trennen; die Frage sei nur, ob die Ebenen zu einer künstlerischen Einheit verschmolzen seien; andererseits enthalte der Text konstruktive Möglichkeiten, die der Autor nicht voll ausgeschöpft habe. Der Kritiker A. verwahrte sich dagegen, als Symptom betrachtet zu werden; man habe seine Ausführungen falsch referiert; und er wiederholte alles, was er schon einmal gesagt hatte …
Ein Verlagschef hatte eine ganz andere Geschichte gehört als seine Vorredner; er wollte sich erklären, da begann zwischen den Stühlen ein Hund zu bellen, und seine Worte gingen unter in allgemeinem Gelächter.«
So ähnlich, in Rede und Gegenrede, lief die Tagung ab, bis der Herbergsvater Hans Werner Richter die Diskussion mit einem Machtwort beendete: »Ich denke, damit ist alles gesagt!«
SINN UND FORM 2/2015, S.242- 252, hier S.242-246
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Bunge, Hans
Aus dem Nachlaß
Deutscher Hans
Um zu erklären, warum gerade ich die Grabrede für Ruth Berlau hielt und warum ich jetzt dieses Buch mit Gesprächen veröffentliche, die ich vor zwanzig Jahren mit Ruth Berlau geführt habe, muß ich etwas ausholen und dem Leser einige autobiographische Details zumuten. Denn die Zusammenhänge sind merkwürdig genug, und die Begegnung zwischen uns war so wenig vorausbestimmbar, als hätten wir in zwei verschiedenen Zeitaltern gelebt. Bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr wäre das sogar eine korrekte Aussage.
Der Umstand, daß ich Ruth Berlau – und über sie Bertolt Brecht, Hanns Eisler und andere bedeutende antifaschistische Künstler und Politiker – kennenlernen konnte und mit ihnen zusammen arbeiten durfte, verdanke ich der Niederlage Nazideutschlands im zweiten Weltkrieg, die ich nicht nur nicht erhofft, sondern gegen die ich mich gewehrt hatte, erst aktiv mit der Waffe und dann, indem ich sie lange nicht wahrnehmen wollte. Eine »Kollaboration« mit »Linken«, gar Kommunisten, kam mir bis nach der Kapitulation nicht einmal als Gedankenspiel in den Sinn.
Mein Vater – Korpsstudent mit dem obligaten »Schmiß« einer Mensur, der seine berufliche Laufbahn als Arzt im ersten Weltkrieg begann und sich dann als Zahnarzt in einem Nest bei Dresden niederließ, dort aktives Mitglied des Stahlhelm-Verbandes war, selbstverständlich deutschnational wählte und die Farben der Republik als »schwarz-rot-senf« bezeichnete, einen Kleinkaliberschützenverein gründete und regelmäßig seine Soldatenuniform anzog, wenn er »Stille Nacht, heilige Nacht« unterm Christbaum anstimmte –, mein Vater wäre nicht in der Lage gewesen, mich auf Brecht hinzuweisen. Er wußte nichts von ihm und hätte nichts von ihm wissen wollen. Im Bücherschrank standen statusgemäß selbstverständlich auch Goethe, Schiller, Kleist und Hölderlin, aber besonders stolz war mein Vater auf die vollständige Ausgabe von Karl May, und ich erinnere mich, daß er große Umstände in Kauf nahm, um möglichst schnell an die neueste Krimiproduktion von Edgar Wallace zu kommen.
Meine Mutter war völlig auf ihn eingeschworen. Sie brachte ihm drei Söhne zur Welt, die sie mit turnerischen Übungen abhärtete. Neben ihrer Emsigkeit als Hausfrau – trotz, natürlich, eines Mädchens für die groben Arbeiten, deren Privatleben auf eine durch Vorhänge abgeteilte Ecke unseres Kinderzimmers beschränkt wurde – war das Hervorstechende an ihr, daß sie sich in die Erziehungsfragen aller Familien des Dorfes einmischte, erfolgreich übrigens, weil ihr niemand zu widersprechen wagte, denn sie gehörte dem Kaffeekränzchen der vor Eigendünkel platzenden Hautevolee des Ortes an, wo alles durchgehechelt wurde, was dem Dorf gut oder schlecht bekam. Sie war zudem Schriftführerin des Königin-Luise-Bundes, dem weiblichen Pendant zum Stahlhelm, was sie in ihrer Selbsteinschätzung zu einer heimlichen Thronfolgerin machte. Deshalb gab sie auch nie zu, daß ihr Vater Schuhmacher gewesen war, sondern bezeichnete ihn als Schuhfabrikanten. Ihren Muttertierinstinkt – wir Söhne wurden für [sie] ja nie erwachsen und erhielten wohlgemeinteste Ratschläge bis in unsere Ehen hinein und auch dann noch mitunter eine Ohrfeige –, ihren Muttertierinstinkt bekämpfte sie mit heroischer Selbstverleugnung. Wir wurden alle ins Internat gesteckt, wo die soldatische Erziehung fortgesetzt wurde, ganz im Sinne meiner Mutter. Sie hatte sich eine private Nationalhymne zusammengebastelt, »Lieb Vaterland magst ruhig sein, bei Bunges steht die Wacht am Rhein ...«, und benutzte allen Ernstes die Gleichung: Ein Sohn ist soviel wert wie vier Töchter, weil Söhne ja Soldaten werden dürfen. Wir waren alle drei in Kriegsgefangenschaft und kamen alle drei, früher oder später, aus verschiedenen Himmelsrichtungen zurück. Aber wenn einer totgeschossen worden wäre, weil er in ein fremdes Land eingefallen ist, hätte meine Mutter ihre Tränen zurückgehalten und mit stolzer Bescheidenheit in die Zeitung gesetzt, daß wir »in unabdingbarer Gefolgschaft für Führer, Volk und Reich gekämpft« haben.
Um nicht mißverstanden zu werden: Wir liebten unsere Eltern und hingen an ihnen, trotz Dresche mit der Reitpeitsche, »streng, aber gerecht«. Es war ein normales Leben in der Tradition, antisemitisch und antisozialistisch, so daß wir einen Bogen um den Dorfkonsum machten, in kein Warenhaus gingen, weil der Besitzer doch sicher ein Jude war, und neben dem örtlichen Käseblatt noch den »Alten Dessauer« hielten, benannt nach jenem preußischen Feldmarschall, der den Gleichschritt eingeführt hat und dessen »tägliches Gebet« im Kopf der Zeitung stand: »Lieber Gott, hilf mir heute, oder willst Du nicht, hilf wenigstens den Feinden, den Hunden, nicht!«
Als wir drei Jungen zehn, neun und sechs Jahre alt waren, starb unser Vater, an einem Lungenleiden, aber wer nach der Todesursache fragte, erhielt die schlichte Antwort: an den Folgen des Krieges. Das galt als höherer, ehrenhafterer Tod, und wir konnten als Kriegshalbwaisen herumlaufen.
Der beste Freund unseres Vaters kümmerte sich um die Familie, dann heiratete er unsere Mutter. Er war uns stets wie ein leiblicher Vater, wir liebten und verehrten ihn. Meine Mutter schenkte ihm »aus Dankbarkeit« auch noch einen Jungen. »Zum Dank dafür, daß er so gut zu euch ist«, sagte sie auch später deshalb, weil sie ja nicht gut von unbefleckter Empfängnis reden konnte und fürchtete, wir könnten die Voraussetzung einer Schwangerschaft, den nachweisbar gewordenen Geschlechtsverkehr, für eine Schweinerei halten. Bei dem Übermaß an Prüderie in ihren Anschauungen – und ihrer Erziehung! – war sie sich da selbst nicht ganz sicher.
Durch meinen Stiefvater wurden wir gesellschaftlich aufgewertet, denn er trug eine Uniform, die eines Polizeioffiziers. Kurz vor dem Krieg wurde er als General Kommandeur der Schutzpolizei von Berlin. 1944 wurde er in Zusammenhang mit dem Attentat auf Hitler abgesetzt und verhaftet, aber, weil man ihm nichts Konkretes nachweisen konnte, wieder freigelassen, doch aus der Hauptstadt nach Oberschlesien verbannt. Dorthin kam er aber nicht mehr, weil Oberschlesien inzwischen Kriegsgebiet geworden war. Die Amerikaner brachten ihn auf die Festung Hohenasperg. Er wurde als minderbelastet eingestuft und fand, entlassen, ein Unterkommen als Hilfsarbeiter in einem westfälischen Aluminiumwerk, bis ihm die Nachfolgeregierung des Deutschen Reiches eine auskömmliche Pension zahlte.
Ich achtete meinen Stiefvater später sehr wegen seiner, wenn auch distanzierten, Beteiligung am Widerstand. Vordem hatte ich seine ständigen Auseinandersetzungen mit Himmler und Goebbels eher mit Mißtrauen beobachtet. Ich kann ihm nicht vorwerfen, daß er mich nicht besser informiert hat. Als er mir einmal angewidert von einer Besichtigung des Konzentrationslagers Oranienburg erzählte, ging ich aus dem Zimmer, um nicht zuhören zu müssen. Von Brecht hat er mir allerdings nicht nur deshalb nichts gesagt, weil ich ähnlich reagiert haben könnte. Das lag außerhalb seiner Sphäre.
Erst sehr viel später kamen für mich beide in einen eigenartigen Zusammenhang. Auf dem großen freien Platz zwischen dem Deutschen Theater und der heutigen Reinhardtstraße stand die Karlskaserne. Dort hat mein Stiefvater residiert, bis die Kaserne zerbombt wurde. Heute erinnert kein Stein mehr an sie. Aber an der Reinhardtstraße ist die nur teilweise zerstörte große Turn- und Exerzierhalle, ein Schinkel-Bau, stehen geblieben. Sie wurde 1947 zum Probenhaus des Berliner Ensembles ausgebaut. Hier, wo ich Brecht seit 1953 bei Theaterproben assistierte, hatte mein Stiefvater während des Krieges Polizeikompanien zum Einsatz in der Sowjetunion verabschiedet. Ich habe das nicht miterlebt, aber ich war dabei, als Brecht dort auf Tonband das Gedicht »An die Nachgeborenen« sprach. Als ich später ein Engagement beim Deutschen Theater hatte, war das Probenhaus inzwischen in den Besitz des Deutschen Theaters übergegangen. Es war wieder mein Arbeitsplatz, als gäbe es transzendente Einwirkungen. Wenn ich zum Theater ging, führte der Weg an einem gewaltigen Luftschutzbunker vorbei, der nicht gesprengt werden konnte und zu einem Lager für Kartoffeln und Gemüse umfunktioniert worden war. Das war im Krieg bei Luftangriffen der Befehlsbunker meines Stiefvaters, denn er leitete auch den zivilen Luftschutz in Berlin. Meine Mutter zeigte mir nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft gern eine Doppelseite der »Berliner Illustrierten Zeitung«, in der mein Stiefvater als »Kommandeur des Berliner Wunders« in Aktion abgebildet war. Mich rührte es sehr, daß sie die Abstrusität ihres Stolzes nicht begriff. Denn ich muß zugeben, daß ich auch einmal stolz darauf gewesen wäre und daß viel geschehen mußte, bis ich es nicht mehr war.
[...]
SINN UND FORM 6/2010, S. 793-802
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Bürger, Christa
Emmy Hennings' Weg zu Hugo Ball
»Nachdem ich dreißig Jahre lang gegangen war, bemerkte ich urplötzlich, daß ich mich in der Sackgasse des Irrtums befand.« Als Emmy Hennings kurz vor dem Ersten Weltkrieg Hugo Ball kennenlernt, ist sie fast dreißig Jahre alt. 1885 in Flensburg geboren, großgeworden ohne Schul- und Ausbildung, ist sie Dienstmädchen gewesen, Schauspielerin in einer Wandertruppe, als Siebzehnjährige verheiratet, mit zwanzig Mutter. Nach der Scheidung führt sie ein unstetes Nomadendasein, als Hausiererin, Gelegenheitsprostituierte, Animierfräulein, vagabundierende Balladensängerin, Kabarettistin schließlich in Berlin und München, drogenabhängig, halt- und heimatlos, mit rasch wechselnden Liebesbeziehungen. 1911 tritt sie zum Katholizismus über. Nach einem Gefängnisaufenthalt im Frühjahr 1914, dessen Hintergründe ungeklärt sind, emigriert sie mit Ball in die Schweiz, wo das Paar, mit dessen Namen wir heute das Cabaret Voltaire, also die Gründung des Züricher Dadaismus verbinden, in äußerster Armut lebt. 1919 und 1920 schreibt Emmy Hennings ihre beiden Bekenntnisbücher, »Gefängnis« und »Das Brandmal. Ein Tagebuch«. Nach ihrer Heirat 1920 leben Emmy und Hugo Ball meistens im Tessin, freundschaftlich unterstützt von Hermann Hesse, aber immer am Rand des Existenzminimums. 1927 stirbt Hugo Ball an Darmkrebs, wohl infolge jahrelanger Entbehrungen. Emmy hatte noch einundzwanzig Jahre zu leben.
Dreimal begegnet Wolfram von Eschenbachs Parzival auf seinen Umwegen zum Gral der trauernden Sigune, seiner Mutter Schwesterkind, als Pietà mit dem toten Geliebten im Schoß, als Baumheilige mit dem einbalsamierten Toten, als Klausnerin an seinem Grab: »Er vant ein klôsnaerinne, / diu durch die gotes minne / ir magettuom unt ir freude gap. / wîplicher sorgen urhap / ûz ir herzen blüete alniuwe, / unt doch durch alte triuwe.«
Der Anblick der trauernden Frau, die ihre irdische Liebe in Gottesliebe umgewandelt hat, um dem Toten die Treue zu halten, löst in dem mit sich und der Welt unbekannten jungen Ritter ein ihm ganz neues Gefühl aus: Mitleid. Parzivals Mitleid, das dem Gralskönig endlich die langersehnte Erlösung bringen wird, hat seinen Ursprung in der Leidensfähigkeit der Frau.
Emmy Hennings nimmt nach Balls frühem Tod mit der Veröffentlichung des von ihr zusammengestellten Bandes »Hugo Ball. Sein Leben in Briefen und Gedichten« (1929) als Autorin den Namen Ball-Hennings an. Über Hugo Ball schreibt sie drei Bücher: »Rebellen und Bekenner« (1931 / 32), »Hugo Balls Weg zu Gott« (1931), »Ruf und Echo. Mein Leben mit Hugo Ball« (1948, posthum veröffentlicht 1953). Es sind drei Versuche, die Trennung von dem geliebten anderen aufzuheben. Balls Tod hat sie ihrer genuinen Ausdrucksmöglichkeit beraubt. Sie könne »nicht mehr verspielt sprechen«, klagt sie 1927 in ihrem Tagebuch. Aber in dem Maße, wie sich von Buch zu Buch das Gewebe ihres Lebens mit Hugo Ball verdichtet, verwandelt sich ihre eigene Geschichte, so daß allmählich, rückwirkend, aus dem Irrweg ein Weg wird. »Wir leben das Leben der Toten, Seligen weiter, und es bewegt sich in uns«, schreibt sie in »Hugo Balls Weg zu Gott«. Wie die meisten Sätze Emmy Hennings’ ist auch dieser vieldeutig. Wenn wir der Beobachtung von Hans Richter trauen wollen, der sie sieben Jahre nach Balls Tod im Tessin besucht hat, drückt sich darin ein Gefühl des Selbstverlusts aus. »Sie führte mich in den Stockwerken herum, als lebte Ball noch. Alles war an seinem Platz. Balls Kleider hingen neben ihren, seine Bücher standen neben Emmys. Sie war, soweit wie möglich, hier ›in Gott mit ihm vereint‹, eine Eremitin.«
Nun konnte Richter schon in der Epoche des Züricher Dadaismus Hennings »ihre mystische Kindlichkeit so wenig glauben wie Ball seine abbéhafte Ernsthaftigkeit «. Jetzt, zwanzig Jahre später, ist er einer Trauernden begegnet, deren Trauer aber von einer anderen Ordnung war als der ihm zugänglichen. Das Leben Hugo Balls, das diese freiwillige Eremitin schreibend in sich bewegt, erfährt durch sie eine Verwandlung, deren Richtung die Schreibende selbst vielleicht noch nicht kennt, diese Trauernde, die keine Gewißheit hat außer dem Grund ihrer Liebe zu Hugo Ball und ihres Schreibens über ihn. Es war Mitleid mit einem Menschen, dessen furchtbare Armut, dessen äußeres Leben in einem unerträglichen Widerspruch zu seinem geistigen stand. »Hätte er nie eine Zeile geschrieben, auch dann wäre seine einmalige Existenz, gerade wie er sie geführt, bewundernswert.« ("Hugo Balls Weg zu Gott«) Indem sie schreibend das alte Gefühl des Mitleids in sich wachhält, wîplicher sorgen urhap, bekommt Balls Existenz einen Namen: Askese.
Man hat, nicht zu Unrecht, Emmy Ball-Hennings die »religiöse Überhöhung« ihrer Beziehung vorgeworfen, und die Asymmetrie in ihrer Darstellung ist in der Tat nicht zu übersehen. Die beiden 1938 und 1940 veröffentlichten autobiographischen Bücher, »Blume und Flamme« und »Das flüchtige Spiel. Wege und Umwege einer Frau«, lassen ihr Leben als einen Weg zu Ball erscheinen, dem Mann, dem sie sich vollkommen anvertraut, weil sie bei ihrer ersten Begegnung schon geahnt hat, daß sie »mit ihm beten konnte« ("Das flüchtige Spiel«). Die Frau, die auf ihr Leben mit Hugo Ball zurückblickt, weiß freilich selbst, daß sie dieses schönt. Die »Erinnerung ist eine rührende Dichterin, die alles Nebensächliche, Trübe möglichst unberührt läßt. Die Erinnerung hat recht, so vorzugehen, denn von mancher Qual, die das Dasein mit sich bringt, bleibt einmal nur die Frucht des Leidens, die Liebe. Alles andere ist nichts und wird einmal sein, als wäre es nie gewesen« ("Ruf und Echo«). Erinnerndes Dichten, das sich um biographische Genauigkeit nicht kümmert: Ball hätte darin Emmys Grazie erkannt. In der »Flucht aus der Zeit« hat er einen Satz aus einem Gespräch mit ihr festgehalten: »Die unverdaulichen Vorkommnisse in jedem Moment mit der Illusion konfrontieren: das ist der Triumph der Grazie.«
Wenn man aus einer anderen Perspektive als der der Wirklichkeitstreue diese Erinnerungsbücher liest, wenn man nicht wissen will, wie es eigentlich gewesen, sondern wie es erfahren worden ist, wird man ihnen einen eigenen Formwillen nicht absprechen. Es ist die Legende, eine »einfache Form«, der eine bestimmte »Geistesbeschäftigung« zugrunde liegt, die Imitatio, ein Erzählen, das Menschlichkeit und Heiligkeit miteinander verwebt.
Die Geistesbeschäftigung der Imitatio war Emmy Ball lieb und vertraut. Viele Monate lang hatte sie sich mit Hugo in die Acta Sanctorum versenkt, in der Stille ihres kleinen Hauses in Agnuzzo mit seinem verwunschenen Garten. Auf den Granitstufen ihrer Treppe, »vor uns der blühende Garten, in der Ferne der See und die Berge und nahe über uns die zartblauen Dolden der Glyzinien«, lesen sie zusammen in ihrem »paradiesischen Bilderbuch, dem die Heiligen entstiegen« ("Ruf und Echo«). »Das Bekanntwerden mit den Heiligengestalten (…) wirkte wie ein Lichtsturz auf uns ein.« Hermann Hesse, der den toten Freund als »einen schönen hageren Heiligen« beschrieben hat, beglaubigt in einem offenen Brief in einer umfassenden Geste die Erinnerung der Witwe. »Euer Leben, das Ihre und Hugos, wird bald zur Legende werden, man wird von ihm und von Ihnen wunderliche und tröstliche Sachen erzählen (…) und alles wird wahr und mehr als wahr sein.« Daß Hesse in diesem Brief Emmy Hennings mit Bettina von Arnim vergleicht, geschieht wohl nicht ohne Absicht. Beide Frauen stehen ihm für ein gleichsam überliterarisches Schrei ben. Indem sie sich selbst als Zeuginnen eines exemplarischen Lebens verstehen, nehmen sie ihre Marginalisierung in Kauf. Aber ihre Schriften, die nicht Werke sind, werden gebraucht – als Texte einer heimlichen ecclesia.
[…]
SINN UND FORM 3/2018, S. 322-332, hier S. 322-324
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Bürger, Peter
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Bürger, Peter
Die Leidenschaft des Denkens. Annäherungen an Rudolf Borchardt
I
Rudolf Borchardt ist ein Unzeitgemäßer. Er ist uns fremd, weil er sich mit einer Emphase, die uns irritiert, als Deutscher versteht, als deutscher Dichter und Wissenschaftler, dem es aufgegeben ist, die Kultur der Goethezeit der Jugend als lebendiges Erbe zu übergeben. Er stößt uns ab durch die Schärfe seiner Urteile, den unverhohlenen Anspruch auf geistige Führerschaft, vor allem aber durch seinen Antimodernismus. Er ist uns suspekt, weil er politisch für das steht, was wir überwunden haben oder zumindest überwunden zu haben meinen: ein leidenschaftliches Nationalgefühl, den deutschen Sonderweg, die Ablehnung der westlichen Demokratie und den Traum, die deutsche Kultur sei bestimmt, die Welt zu retten.
Er zwingt uns eine Sicht der Moderne auf, gegen die wir uns mit allen Kräften wehren, auch wenn wir uns von einem undialektischen Fortschrittsbegriff längst verabschiedet haben: Moderne als Verfall.
Während Oswald Spengler Aufstieg und Verfall von Gesellschaften nach dem Modell des Lebens von Einzelindividuen denkt und dem Verfall sein Pathos nimmt, indem er ihn zu einer Naturgegebenheit macht, handelt Borchardt von einem tragischen Geschehen, das sich in einem einzigen Land, in Deutschland, ereignet hat. Für ihn hat die deutsche Kultur in der Epoche zwischen Lessing und Hegel einen Höhepunkt erreicht, der in keiner anderen europäischen Kultur eine Entsprechung hat: Sie war »die einzige humane seit dem Untergange der griechischen, und setzte (…) das griechische Phänomen zum ersten Male wieder direkt fort. In ihr wie in der griechischen, zum ersten Male wieder, lag Schöpfung, Sammlung, Forschung, Deutung, Einsicht, Gestaltung und Gesang auf eine noch heimlichere und einsamere Urmacht zurückgefordert und in ihr verinnigt: die menschliche Seele in ihrem Prozesse mit der Ewigkeit.« Die deutsche Kultur der Goethezeit, wie Borchardt sie sieht, ist die der menschlichen Seele, in ihr sind Poesie und Wissenschaft noch eine Einheit, und insofern versteht er sie als das letzte Bollwerk gegen die Trennungsprozesse der Moderne und die totale Säkularisierung der Welt. Das wiederholte »zum ersten Male« wirkt in dem Text wie eine Beschwörungsformel, die die Möglichkeit einer Wiederaufnahme sichern soll. Die geschichtliche Fehlentwicklung, die sich in Deutschland ereignet hat, aber die Welt betrifft, sieht Borchardt dadurch ausgelöst, daß die Kultur der Goethezeit, die in die Tiefe des Volkes hätte hineinwirken müssen, nach 1830 von den »Epigonen« nur archivalisch bewahrt wurde, dadurch aber ihre Kraft verlor, während gleichzeitig die demokratische Kultur der westlichen Nachbarn auf Deutschland eindrang (Heine und das Junge Deutschland) und die Kräfte der klassisch-romantischen Epoche zersetzte. Wo wir die Anfänge einer modernen Literatur in Deutschland zu sehen gewohnt sind, kann Borchardt nur Verfall erkennen, der philosophisch im Positivismus und literarisch im Naturalismus kulminiert. Ihren Grund hat für ihn die kulturelle Katastrophe der deutschen Kultur darin, daß »Deutschland von der Jahrhundertmitte an im Konflikte zwischen der Vollendung seiner kaum begonnenen Bildung und der Vollziehung seiner politischen Einung seine geistige und seine politische Form gleichzeitig zertrümmert und den Gehalt von beiden preisgibt«. Die auf eine Vereinigung der deutschen Länder hindrängende gesellschaftliche und politische Entwicklung hat Borchardt zufolge »die kaum begonnene Bildung«, d. h. die Ausbreitung der Kultur der Goethezeit in die unteren Volksschichten, unterbrochen, wodurch das Land nicht nur seine »geistige Form«, d. h. eine lebendige Kultur, verloren habe, sondern auch die Chance einer aus dieser hervorgehenden »politischen Form«. Im Eranos-Brief zum fünfzigsten Geburtstag von Hugo von Hofmannsthal wird Borchardt den Gedanken auf die Kurzformel bringen, daß der »Einungskampf die Bildung bei uns brach«. Nietzsche hat das ähnlich gesehen. Für ihn besteht die Katastrophe der Einigung darin, daß der militärische Sieg über Frankreich als kultureller verstanden wird, was er nicht war. Aus dieser geschichtsphilosophischen Kritik des Einigungsprozesses leitet Borchardt auch seine Verurteilung der Gegenwart ab.
Als Träger des Widerstands gegen die kulturelle Leere der Zeit sieht Borchardt nur zwei Gestalten: George und Hofmannsthal. Der »triumphierenden Anarchie« stellt er sie in seiner »Rede über Hofmannsthal« als »ihre großen Richter« entgegen. Seine Vorliebe gilt dabei nicht George, dem »machthungrigen keltischen Gewaltmenschen, der sich die Seelen zurechtwarf wie das Tier die gelähmte Beute«, sondern Hofmannsthal, dem »zarten und zähen Halbitaliener, der den heiligen Kern einer eigentümlichen Welt zu verteidigen hatte«.
Es wäre zu einfach, Borchardts Geschichtskonstruktion und die Sonderstellung, die er der deutschen Kultur der klassisch-romantischen Epoche einräumt, als Ausfluß eines übersteigerten Nationalbewußtseins abzutun – und zwar aus mindestens zwei Gründen. Zum einen ist sein leidenschaftliches Eintreten für die deutsche Kultur immer wieder auf Europa hin geöffnet. Zum andern muß man ein Gespür dafür entwickeln, wieviel Trauer in Borchardts Geste des bedingungslosen Engagements für eine hoffnungslos verlorene Sache mitschwingt. Denn diese stellt ja eine ins Tragische gewendete Version des Traums von einer einzig durch den Geist bestimmten gesellschaftlichen Ordnung dar. Darüber hinaus wird man zumindest die Frage stellen müssen, ob der Sonderstellung, die er der Kultur der Goethezeit einräumt, nicht insofern ein Wahrheitsmoment zukommt, als damit tatsächlich eine Besonderheit dieser Kultur beleuchtet wird, die keine Entsprechung z. B. in der französischen hat. Der Gedanke, daß erst eine voll entwickelte Bildung die Voraussetzung für das Gelingen einer politischen Ordnung ist, in der die Subjekte selbstbestimmte freie Individuen wären, nicht Untertanen, liegt Schillers »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen« zugrunde. Damit erhebt aber die zwischen Jena und Weimar entstandene Kultur den Anspruch, die geistige Basis einer erst zu schaffenden gesellschaftlichen Ordnung zu sein, während die französische Kultur, gerade weil sie »eingebürgert« ist, dieses utopischen Stachels entbehrt. Das »innere Reich« der deutschen Kultur (Robert Minder) wollte das äußere gestalten. Diesen Impuls nimmt Borchardt auf und trauert dessen Nicht-Verwirklichung nach. Einem ähnlichen Gedanken folgt er in seinen Pisa-Aufsätzen, wo er aus der überdimensionalen Anlage von Kathedrale, Baptisterium und Campo santo außerhalb der Stadt die grandiose Vorstellung ableitet, Pisa habe sich als die italienische Hauptstadt einer Fortsetzung des Stauferreichs entworfen, bevor es von dem rivalisierenden Florenz unterworfen wurde.
Nun gibt es freilich noch eine andere Quelle für Borchardts harsche Moderne-Kritik: das altsprachliche Gymnasium. Uneingeschränktes Lob spendet er diesen Anstalten vor allem dafür, daß sie »das sich erst bildende Seelen- und Gemüthafte mit aller Beziehung auf Gegenwart und Zeit« verschonten. Trotzdem darf man nicht annehmen, sein Antimodernismus sei bloß eine aus der Schule mitgeschleppte Einstellung. Es empört ihn, daß eine falsche Umwertung aller Werte stattgefunden hat, daß das, was ihm als nichtig gilt, über »die Kräfte der Vergangenheit« gesiegt hat und sich seines Erfolgs brüstet. Da er eine kausalgenetische Erklärung ablehnt, kann er diese »Revolution ohne Revolution« nur aus der »lautlosen Katastrophe im Tiefenmeere des nationalen Genius« erklären.
Daß er mit seinem Kampf gegen die Moderne bereits mitten in der Gegenwart steht, scheint er lange nicht zu bemerken. Da fällt ihm beim Durchstöbern der Bonner Universitätsbibliothek eine kleine Schrift Herders in die Hände, die seinem orientierungslosen Studieren plötzlich eine Richtung gibt: »Das Volk, dessen Teil ich war, besaß also seine eigene größte Vergangenheit nicht mehr«. Damit hat er sein Thema gefunden. »Nicht das Paradies allein mußte wieder erlebt werden, sondern die Wiederentdeckung des Paradieses. Jenes war eben nur vergessen worden, diese war verwirkt.« Durch die triumphierende Moderne hatten die Deutschen den Anspruch auf eine Wiederentdeckung der Kultur der Goethezeit verloren. »Das verwirkte mußte im persönlichen Handelns- und Leidenswege der arbeitenden Seele einvergütet, gesühnt und verziehen werden«. Durch eigene Schuld war den Deutschen nicht nur ihre Kultur verlorengegangen, sondern auch der Anspruch, diese wiederzuentdecken. Nicht durch positivistische Forschung war er wiederzugewinnen, sondern nur dadurch, daß der einzelne den Verlust noch einmal als Leidensgeschichte für sich durchlebte und dadurch wiedergutmachte (»einvergütete«) und sühnte – darauf hoffend, daß ihm verziehen werde (wer auch immer der Adressat dieses Verlangens nach Verzeihung sein mochte).
(…)
SINN UND FORM 4/2017, S. 458-466, hier S. 458-461
Burghardt, Max
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Burkart, Erika
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Burmeister, Brigitte
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Burmeister, Wroblewsky, Brigitte
Gespräch mit Alain Robbe-Grillet
BURMEISTER/WROBLEWSKY: Alain Robbe-Grillet, Sie sind berühmt als Filmemacher, vor allem aber als Romanautor. Zweifellos gehören Sie zu denen, die die französische Literatur unseres Jahrhunderts geprägt haben. Das einzige Ihrer Bücher, das hier in der DDR veröffentlich wurde, ist »Ein Königsmord« - vielleicht das am wenigsten »Robbe-Grilletsche« von allen, in jedem Fall das erste, der Ausgangspunkt. Wie stehen Sie heute zu diesem frühen Roman?
ROBBE-GRILLET: Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, »Ein Königsmord« sei der am wenigsten typische meiner Romane. Denn dort findet man bereits eine Idee von Literatur, die darin besteht, nicht objektive Vorgänge, sondern das zu beschreiben, was sich in der Phantasie abspielt. Genau darum geht es dann in meinen Romanen, die etwa ab 1965 entstanden sind, während es in den fünfziger Jahren ein beträchtliches Mißverständnis gab zwischen der Literaturkritik und mir. Ein Mißverständnis, das den Begriff der Objektivität betraf. »Ein Königsmord« ist seinerzeit (1949) von allen Verlagen abgelehnt worden. Und erst viel später (1978) habe ich mich entschlossen, es zu veröffentlichen, da ich mir sagte, daß dies ein fehlendes Kettenglied ist. (...)
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Buselmeier, Michael
Heidelberg - Stadt der Dichter?
Das Thema erlaubt, ja verlangt es, wie jedes andere hinterfragt zu werden. »Heidelberg – Stadt der Dichter«, ohne Fragezeichen hingesetzt – kann man das ernsthaft behaupten? Gibt es tatsächlich vor Ort eine durch die Jahrhunderte sich fortzeugende literarische Tradition, die etwa von Goethe bis Hilde Domin reichen könnte und so lebendig, produktiv und untereinander bindend ist, daß sie das Attribut rechtfertigt? Wem aber »Stadt der Dichter« doch etwas hochstapelnd vorkommt, der könnte ja immer noch auf »Stadt der Poesie« ausweichen, das klingt allgemeiner, die Landschaft spielt mit herein sowie das Große und Ganze der Kunst, Burgruine und Brücke: Heidelberg als »Symbol der Poesie« und »geweihte Stätte«, als »Wallfahrtsort unserer Dichtung«. Mit solchen heute leicht verstiegen klingenden Formeln feiert Philipp Witkop, einst Heidelberger Student, ab 1910 Germanistik-Professor in Freiburg, in seinem grundlegenden Buch »Heidelberg und die deutsche Dichtung« von 1916 eine imaginierte, eine spät- oder neuromantisch erträumte Stadt, die schon damals nicht in die ernüchterte (Kriegs-)Zeit paßte und in die heutige erst recht nicht, wo man Begriffe wie Transzendenz, Schöpfertum, Genieglaube ja längst höhnisch verabschiedet hat und emsig auf Vermarktung, Vernetzung und Verwurstung baut.
Und wen gäbe es unter den Lobrednern Heidelbergs vor Goethe zu beachten? Oswald von Wolkenstein und seine spätmittelalterlichen Strophen, die lateinisch schreibenden Humanisten des 15. und 16. Jahrhunderts, den vergessenen Barockdichter Julius Wilhelm Zincgref (ein Einheimischer immerhin, was selten vorkommt) und seinen Freund, den Poetologen Martin Opitz, als »Vater der deutschen Dichtkunst« schon im 17. Jahrhundert viel gerühmt – doch all diese formelhaften, grob gereimten und geschmiedeten Verse sind, man muß es zugeben, von begrenztem Reiz. Dann aber tauchen plötzlich die hochpoetischen Texte der sogenannten Stürmer und Dränger über das zerstörte Heidelberger Schloß auf, die als erste einen persönlichen Ton anschlugen, als Individuen den Blick auch über die Stadt hinaus in die Ebene schweifen ließen und dabei so etwas wie landschaftliche Schönheit erkannten. Mit ihnen würde ich heute ein Heidelberg gewidmetes Lesebuch eröffnen und mich nicht – wie 1986 – aus Unsicherheit und partieller Unwissenheit hinter der klassisch-souveränen Stadtbeschreibung Goethes von 1797 verstecken. Und natürlich würde ich Autoren, die damals noch nicht in meinen Heidelberg-Kanon gehörten, mit aufnehmen, etwa den Freiherrn Adolph von Knigge, Ludwig Börne oder Friedrich Rückert, den Dichter und späteren Orientalisten, der im Sommersemester 1808 in der Mittelbadgasse wohnte und bei Friedrich Creuzer Philologie studierte. Er soll 44 Sprachen beherrscht haben.
Ist die 1909 geborene Hilde Domin als zeitlicher Gegenpol zu Goethe und als zumindest vorläufiger Endpunkt dieser Poetenreihe vorstellbar? Wurde und wird sie als Dichterin nicht überschätzt? So viele jüngere Künstler drängen sich vor, sind keineswegs erfolglos und wollen auch dazugehören, nicht zuletzt der experimentelle Filmemacher und Opernregisseur Werner Schroeter, der 2010 an Krebs gestorben ist und den ich im Leben nicht kannte, obwohl er zur gleichen Zeit wie ich als Außenseiter in Heidelberger Schulen gelitten hat und seine ersten Aufnahmen für den Film »Eika Katappa« just 1968 auf dem Schloß und auf der Thingstätte stilistisch streng in Szene gesetzt hat. Oder Bernhard Schlink, der ebenfalls in Heidelberg aufgewachsen ist. Seine Romane »Der Vorleser« und »Die Heimkehr«, in denen er spezifische Erfahrungen seiner, unserer Generation in der Nachkriegszeit aufgeschrieben und reflektiert hat, lassen sich topographisch exakt in der Weststadt zwischen Wilhelmsplatz, Blumenstraße und Bahnhofstraße festmachen.
»Meine Freunde, die Poeten« (so der Titel eines Buches von Hermann Kesten, das ich in meiner Jugend las), also die Dichter meiner Zeit, sofern ich sie im Lauf der Jahre durch Heidelbergs Gassen und Antiquariate führen durfte, melden sich zu Wort; einige haben über Aspekte der Stadt geschrieben. Ich nenne nur Charles Bukowski, Uwe Kolbe, Guntram Vesper, Volker Braun, Wulf Kirsten, Martin Walser, Ulla Hahn, Wilhelm Genazino, Dieter Kühn, Peter Handke und selbst der vermutlich berühmteste von allen, John le Carré, der seinen zur Hälfte im revolutionär gestimmten Heidelberg spielenden Roman »Absolute Freunde« (2004) bis in die Dialoge hinein so gut wie fertig hatte und von mir nur noch die dafür geeigneten Schauplätze gezeigt bekommen wollte – ein mich irritierendes Vorgehen. Nicht vergessen seien der Underground-Poet Jörg Burkhard, der in Heidelberg ausgeharrt hat, und Jürgen Theobaldy aus Mannheim, der als Heidelberger Student in den siebziger Jahren mit alltagsnahen Gedichten weithin Anklang fand. Oder ältere, mit der Stadt seit den fünfziger Jahren eng verbundene Autoren, die ich anfangs von fern bewunderte: Fritz Nötzoldt, Hans Bender, Walter Helmut Fritz, Gert Kalow, Herbert Heckmann, Andreas Rasp, Arnfrid Astel. Und heute? Ralph Dutli, Hans Thill, Johann Lippet, Martin Grzimek, Hella Eckert …
Ein Leben lang arbeite ich nun an meiner Geschichte, die zugleich winziger Teil einer Geschichte der Stadt und ihrer Menschen und einer Geschichte Deutschlands ist, zumindest seiner Kulturgeschichte. Denn ich war ja eigentlich, an meine Mutter gebunden, immer hier, sah und hörte vieles, nahm manches unbewußt wahr. Haßte und liebte die »Mutterstadt«. Wir sollten noch einmal an die Wurzeln des Phänomens gehen und nachforschen, wie bedeutend, wie weltbewegend die mit Heidelberg verbundene Literatur, Kunst und Architektur tatsächlich sind. Wir sollten den »Mythos« hinterfragen, den vor allem der Neuromantiker Richard Benz so betörend ausgemalt hat, mich als jungen, nach Orientierung suchenden Eleven durch alle weltanschaulichen Umbrüche begleitend und begeisternd. Dabei denke ich zuerst an seine Autobiographie mit dem hochfahrenden Bindestrich-Titel »Lebens-Mächte und Bildungs-Welten meiner Jugend« (1950), sodann an seine großangelegte Kulturgeschichte der romantischen Bewegung (»Die deutsche Romantik«, 1937) und nicht zuletzt an sein Spätwerk »Heidelberg, Schicksal und Geist« (1961), das ein verklärendes, die Moderne fast gänzlich aussparendes Bild unserer Stadt entwirft und gestaltet. Diese Donnerworte, Schicksal und Geist, haben mich fast benommen gemacht und wohlig eingelullt, als zählte ich, selbst einer der »Geistigen«, schon dazu (wobei anzumerken wäre, daß Benz mit solch dröhnendem Vokabular nicht allein dastand; ein Großteil der damaligen Geisteswissenschaftler, die Benz’ Arbeiten als »unwissenschaftlich« ablehnten, hat sie genauso unkritisch gebraucht). Wir alle konnten uns hinter solchen Begriffen eine Zeitlang verbergen, uns an ihnen festklammern in unserer Unsicherheit, bevor uns die nächste Serie von Kategorien, diesmal soziologische, die nach Fortschritt klangen und auch nicht haltbarer waren, überkam.
Eine nicht gerade große, eine überschaubare Stadt also in ihrer frühsommerlichen Schönheit. Der Blick über ihren mittelalterlich-barocken Kern, den Neckar mit der Brücke und die ihn begleitenden Berge in die Rheinebene hinaus hat etwas Beruhigendes, Schützendes, aber auch Befreiendes, Leuchtendes, auf jeden Fall etwas ganz Besonders; eine Art Aufbruch. »Der Jüngling, der Strom« zieht bekanntlich davon bis zum fernen Ozean und noch darüber hinaus ins Metaphysische. Der junge Hölderlin wollte oder mußte ihm folgen und nach ihm so mancher Student, der sich, Hölderlins Oden-Ton nachahmend, als Dichter verstand – während ich als Jüngling lieber hierblieb im Deutschen Haus am Marsiliusplatz, wo sich um 1960 noch das Germanistische Seminar befand, in dessen Grimmsaal ich auf der knarrenden Empore saß und die Werke der Romantiker Tieck und Wackenroder (»Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders« – was für ein Titel!) studierte, Zeile um Zeile, Wort um Wort, um sie mir einzuprägen. Manchmal warf ich ein Stöckchen oder ein Blatt Papier in den Fluß und sah ihm nach, wie es in die Ebene hinausschwamm. Oder ich ging auf stillen Waldwegen, im Mühltal, am Schloßberg, im Schwetzinger Park spazieren, Goethes »Werther« oder Mörikes »Maler Nolten« memorierend – eine inzwischen weithin untergegangene Lebensform.
Nein, Heidelberg ist nicht Weimar, aber als ehemalige Residenzstadt mit diesem vergleichbar, selbst wenn Weimar immer kleiner und wohl auch provinzieller war. Doch wirklich große Literatur (oder das, was man dafür ansieht) ist in Heidelberg, anders als in Weimar, kaum entstanden. »Stadt der Literatur« – wir sollten die Ansprüche vielleicht etwas bescheidener formulieren, neigen die hier Hängengebliebenen doch dazu, den eher harmlosen, freilich reizvollen Ort auch um ihrer selbst willen zum Mittelpunkt der geistigen Welt zu erheben. Wo sie auszuharren gezwungen waren, mußte es paradiesisch zugehen. Autoren wie Richard Benz, Rudolf K. Goldschmit-Jentner, Edwin Kuntz, Emil Belzner hielten die Vorstellung nicht aus, abseits der Metropolen in einer kleinteilig bebauten Stadt mit einer den Vogelflug nachahmenden Bogenbrücke und einem zerstörten Renaissance-Schloß zu leben. Alles mußte bedeutend und hauptstädtisch sein: das pfalzgräfliche Mittelalter, die kurfürstlich-katholische Barockzeit, die Lieder gleich Schmetterlingen sammelnde Romantik, die 1803 unter badischer Herrschaft neu begründete Universität, das Stadttheater natürlich, das Museum. Sogar die linksradikale Jugendrevolte von 1968 und die verspielte Sponti-Ära der siebziger Jahre sind inzwischen hoffähig geworden; man schmückt sich mit jenen, die mit Literatur wenig im Sinn hatten. Für den nicht gerade bescheidenen Benz, der das zweibändige Werk »Die Stunde der deutschen Musik« verfaßte, war die Musikgeschichte mit Schuberts Liedkompositionen im Grunde abgeschlossen. Dem 20. Jahrhundert widmete er kaum eine Zeile; es konnte ja nichts Gutes mehr kommen.
Wäre dieser unbescheidene Blick auf die vermeintliche oder wirkliche Größe der hier entstandenen Literatur, Malerei, Musik nicht auch produktiv nutzbar zu machen, zumal in unserer Zeit, wo all dies nichts mehr oder nur wenig zu gelten scheint, etwa als Gegenbild zur bedenkenlosen Vermischung von E- und U-Kunst, deren Zeugen wir seit längerem sind? Ich verkenne nicht, daß wir selbst, die sogenannten 68er, es waren, die zum Angriff auf die bürgerliche Hochkultur bliesen und die Klassiker, auch Gedichte, zugunsten von kritischer Illustrierten-Betrachtung oder TV-Krimis oder Schlagern aus den Lehrplänen verbannten. Wäre es nicht an der Zeit, am Singulären und Utopischen unserer Literatur festzuhalten, am Ernst der Sprache, an der Tiefe der Bilder, und damit ein Zeichen zu setzen gegen den Müllhaufen aus Trivialliteratur, Fernsehunterhaltung, Internet-Vernetzung?
In dem Fall sollte man es aber anders anpacken als der konservative Benz, der die wesentlichen Herausforderungen seiner Epoche, Expressionismus und Surrealismus, schon als Student der Kunstgeschichte bei Henry Thode nicht an sich heranließ, das Wilde und Schrille verabscheute und mied, während ich in meinen schüchternen Anfängen die älteren Werke »mit heißem Bemühn« (wie Faust das nennt) studierte und zugleich für alles Neue aufgeschlossen war, also Richard Benz verehrte und seinen Generationsgefährten Georg Trakl, Georg Heym und Ernst Blass nachstrebte, die er gar nicht zu kennen schien.
Vermutlich geht es den meisten, wenn von Heidelberg, seiner Landschaft und seiner Literatur die Rede ist, weniger um hermeneutische »Sinnfelder«, »Sinnfiguren « und ähnliche Abstraktionen als um die besondere »Atmosphäre«, um die »Aura«, die dieser Stadt seit mindestens zwei Jahrhunderten zugeschrieben wird, eine poetische »Stimmung«, etwas schwer zu Bestimmendes und gerade deshalb so Anziehendes – anziehend wie die im rötlichen Abendschein aufleuchtende Sandsteinbrücke, die Marianne und Max Weber 1914 in »einer Stunde höchster Feierlichkeit« an »das Blut von Tausenden« denken ließ, das bald ehrenvoll fließen werde.
Den steilen, mit duftendem Efeu dicht bewachsenen Schloßberg stieg ich als Schüler Mitte der fünfziger Jahre hinauf, um bei den Schloßfestspielen mitzuwirken (»Die Räuber«, »Die Freier«, »Ein Sommernachtstraum«), und vernahm dort zum ersten Mal ganz deutlich, hochpathetisch und aus nächster Nähe die Sprache der Poesie, die ich nie mehr vergaß. Etwas später, als Student, kehrte ich auf meinen Streifzügen im Haus Schloßberg 49 ein, vordem »Künstler-Pension Neuer«, und saß den für mich damals uralten Neuer-Töchtern gegenüber, die unverheiratet inmitten ihrer Bücher und Erinnerungen lebten, mit Werken von Goethe, George, Gundolf, von Jacob Burckhardt, Max Kommerell und Norbert von Hellingrath, darunter Widmungsexemplare; der Blick ging von der Terrasse zum Schloß hinüber und zum Neckar hinab. An diesem Ort, so scheint es mir im nachhinein, dürfte ich dem »Geist der Literatur«, falls es ihn geben sollte, wiederholt begegnet sein, ich Spätentwickler und miserabler Schüler, der mühelos in die Welt der Bücher eintauchen konnte. Meine »Literarischen Führungen«, die den Adressen und Worten der Dichter folgen, doch erst viel später, 1988 begonnen wurden, haben am Schloßberg ihren idealen Ursprung. Hier, in den hohen Räumen, fühlte ich mich fast zu Hause. Im Rauschen der Bücher, die zu mir sprachen, wähnte ich mich selbst den vielwissenden, aber extrem eitlen Professoren gewachsen, wahre Katheder-Fürsten, die sich kaum eine Blöße gaben und immer so taten, als wären sie die an der Härte der Verhältnisse leidenden Dichter, während ich der Überzeugung war, recht eigentlich einer zu sein.
Ich möchte nicht noch einmal die Literaturgeschichte Heidelbergs durchbuchstabieren und von Wolkenstein ausgehend die entsprechenden Titel aneinanderfügen, sondern anhand ausgewählter Texte nach dem Heidelberg-Bild (oder auch nur dem meinen) fragen, wie ich es schon in meinem 1986 bei Insel erschienenen Lesebuch sowie in meinem Beitrag zu dem von Elmar Mittler 1996 herausgegebenen Band »Heidelberg. Geschichte und Gestalt« versucht habe. Jaspers’ Gefühl, hier an bestimmten Tagen »einige Meter über dem Boden« zu schweben – hält es bis heute vor? Lebt dieser »lebendige Geist«, von einzelnen getragen, fort, trotz der immer dreisteren Vermarktungsstrategien in der Periode der »Kulturwirtschaft«? Worin besteht das Besondere und Faszinierende dieser Stadt? Mobilisiert sie noch immer die Dichter? Wir meinen ihre Bilder zu kennen, die sich im günstigen Fall mit unseren eigenen Urbildern treffen; doch in ihren stärksten Momenten verweisen sie auf eine andere Welt.
(…)
SINN UND FORM 3/2016, S. 399-414, hier S. 399-404
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