
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-66-9
Heft 4/2022 enthält:
Detering, Heinrich
Könige und Communismus. Eine Erinnerung an Bettine von Arnim 437, S. 437
Am offensichtlichsten ist der literarische Übergang von Romantik zu sozialkritischem Realismus im Werk Heinrich Heines, vom »Buch der Lieder« bis (...)
Detering, Heinrich
Könige und Communismus
Eine Erinnerung an Bettine von Arnim
Am offensichtlichsten ist der literarische Übergang von Romantik zu sozialkritischem Realismus im Werk Heinrich Heines, vom »Buch der Lieder« bis zum »Weberlied«. Aber auch so handfest agitatorische Texte wie die Dichtungen Georg Weerths – dieses »ersten Dichters des deutschen Proletariats«, wie Engels ihn genannt hat –, die »Lieder aus Lancashire« von 1845 etwa oder das »Hungerlied « ebenfalls aus der Zeit des schlesischen Weberaufstands 1844, lassen sich lesen als drastisch sozialrealistische Seitenstücke zu Achim von Arnims und Clemens Brentanos betont unpolitischem »Wunderhorn« (1805 – 08). Sie ergänzen die »Volkslieder« substantiell um die dort absichtsvoll ausgesparten Arbeiterlieder aus der Frühindustrialisierung. Von der Herkunft der revolutionären Lieder Ferdinand Freiligraths aus der exotistischen, orientalistisch-romantischen Dichtung, die er später selbstironisch »meine Wüsten- und Löwenpoesie « nannte, ist schon oft die Rede gewesen. Die Germanistik hat gezeigt, daß noch die 48er Revolutionsgedichte wie »Trotz alledem!« oder der revolutionäre Zyklus »Ça ira« oder der flammende Aufruf »Die Lebenden an die Toten« ähnliche wirkungsästhetische Verfahren erkennen lassen wie das Frühwerk: eine Wüsten- und Löwenpoesie der sozialen Revolution. Und wer hätte erwartet, daß eine der ersten – und verständnisvollsten – Besprechungen der Gedichte von Annette von Droste-Hülshoff von keinem Geringeren verfaßt wurde als Friedrich Engels? In diesem Kontext könnte es lohnen, eine romantisch-sozialistische Dichterin so vorzustellen, als sei sie eine Unbekannte: die tatsächlich immer neu zu entdeckende, immer wieder überraschende, fremde und doch noch in unsere Zeit hineinsprechende Bettina von Arnim.
»Es ist alles beim Alten. Immer sind wir allein, wenn wir den Königen schreiben, denen des Herzens und denen des Staats.« Die widerspenstige DDR-Schriftstellerin Sarah Kirsch hat das 1976 in einem Gedicht geschrieben, das den Titel »Wiepersdorf« trägt. Vertraulich redet Kirsch von Arnim mit »Bettine« an; das ganze lange Gedicht schreibt sie im Dialog mit der toten Romantikerin. Bettina oder Bettine – das kleine e macht den Unterschied zwischen offizieller und zutraulicher Namensform – war eine Autorität des geistigen Lebens im preußischen Berlin der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts, namentlich dort, wo die Romantik ins Politische ging. Sie war es nicht allein durch ihre Herkunft aus einer angesehenen Familie, sondern mehr noch durch die Souveränität, die sie sich als selbstbewußt auftretende Intellektuelle erschrieben hatte. Die privilegierte Position, in die sie hineingeboren war, blieb ihr lebenslang bewußt, und sie hat getan, was sie konnte, um sich von dieser Position aus den Marginalisierten, den Stigmatisierten der aristokratischen und bürgerlichen Gesellschaft zuzuwenden. Wie groß ihre Autorität war, zeigte sich schon darin, daß sie 1840 den eben erst auf den Thron gekommenen jungen und mit großen, allzu großen Hoffnungen begrüßten König Friedrich Wilhelm IV. allein durch ihr Insistieren dazu brachte, die liberalen Brüder Grimm, die Ende 1837 von einem reaktionären Welfenkönig aus ihren Göttinger Professuren entlassen worden waren, an die Berliner Universität zu berufen.
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Erfahrungen mit sozialer Marginalisierung und Stigmatisierung hat Bettine ihr Leben lang nicht nur gemacht, sondern aktiv gesucht. Das beginnt schon mit ihrer Sicht auf die Rolle von Frauen in der romantischen Bewegung. Anders als andere gab sich Bettine keineswegs mit den Rollen der Muse, der fürsorglichen Begleiterin, der »Frau an seiner Seite« zufrieden, auch nicht mit den traditionellen Tätigkeitsfeldern von Haushalt (oder in ihrem Fall: Gutshof) und Kirche. Sie suchte neue Rollen und Lebensbereiche nicht nur für sich – etwa in Berlin statt in Wiepersdorf –, sondern unterstützte rebellische Frauen wie die von Schiller als »Dame Luzifer« perhorreszierte Caroline Schlegel-Schelling, Dorothea Mendelssohn- Veit-Schelling oder die Günderrode und trug nach Kräften dazu bei, ein eigenes Netzwerk romantischer Frauen durch Briefe und Salons herzustellen. Schon die jugendliche Bettine wurde in ihrer Familie in Frankfurt am Main dadurch auffällig, daß sie immer wieder ins Ghetto lief, dahin, wo man als anständige, nicht-jüdische Bürgerstochter möglichst nicht ging, daß sie dort Freundinnen fand und über deren Lebensumstände berichtete. Sie wurde später eine der wichtigen Unterstützerinnen und Freundinnen einer Frau, die es schaffte, sich in einer frauen- und judenfeindlichen Gesellschaft zu behaupten, Rahel Varnhagen. Während derselben Jahre hat sie Erfahrungen mit sozialer und ökonomischer Verelendung nicht nur gesammelt, sondern aktiv gesucht. 1831 brach in Berlin eine Cholera-Epidemie aus, die zahllose Todesopfer forderte. Bettine, die leicht aufs Land nach Wiepersdorf hätte flüchten können, ging mitten ins Elend hinein und half mit einigen anderen zusammen tatkräftig mit, eine ärztliche Versorgung zu organisieren. Sie hat selbst erklärt, daß sie in dieser praktischen Arbeit begriffen habe, wie eine Epidemie die Ungerechtigkeiten einer Klassengesellschaft schlagartig zutage treten läßt: Die Armen sterben früher, schneller und elender als die Bessergestellten.
Es sind solche Erfahrungen, aus denen sich ein ohne jede Gattungsbezeichnung veröffentlichtes Buch speist, das den sonderbaren Titel trägt »Dies Buch gehört dem König«. Es erscheint 1843, und es war eines von vier ähnlichen Werken, mit denen Bettine von Arnim zu einer der großen Schriftstellerinnen der deutschen Romantik wurde. Das erste und bekannteste war 1835 in drei Bänden erschienen und trug den Titel »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde«. Es präsentierte sich als eine Dokumentation der Briefe, die ab 1807 zwischen dem alten, als Vaterfigur verehrten Goethe und der jugendlichen, sich als Kindfrau stilisierenden Bettine von Arnim gewechselt worden seien. Da waren allerdings Briefe zu lesen, die Goethe nie geschrieben, sondern die sich Bettine offensichtlich selbst ausgedacht hatte, und Briefe von ihr, die sie geschrieben, aber nie abgeschickt hatte; in den Briefen, die tatsächlich zwischen beiden gewechselt worden waren, standen Sätze, Abschnitte, die frei erfunden und nachträglich eingefügt worden waren. »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde« wurde zum erfolgreichsten Buch in Bettines Laufbahn, weil hier die Goethe-Verehrung einer jungen Generation einen genuin romantischen Ausdruck fand.
Zum ersten Mal erprobte sie hier eine Schreibweise, die kalkuliert und ungeniert zwischen Fakten und Fiktionen hin und her wechselte, eine Art romantischer Briefroman; er beansprucht, Wirklichkeit zu dokumentieren, aber tut das offensichtlich in fabulierender Weise. Daß zwischen Fakten und Fiktionen nicht genau unterschieden wird, gehört zu den Regeln des ästhetischen Spiels. Auf ihre Weise beherzigt Bettine von Arnim damit den romantischen Grundsatz, den einst Novalis in Jena formuliert hatte und demzufolge die Welt »romantisirt« werden müsse. Was hier noch spielerisch war, wurde ernst in dem zweiten Buch dieser Art, dem Bettine von Arnim 1840 den Titel »Die Günderrode« gab. Aus ihrem Briefwechsel mit der Dichterin Karoline von Günderrode, die sich 1806 das Leben genommen hatte, machte Bettine abermals einen Briefroman, halb dokumentarisches Porträt, halb fiktionale Idealisierung und Modellierung ihrer Freundin zu einer idealisierten romantischen Gestalt. 1844 erschien dann ein Buch, dessen Grundlage die Jugendbriefe zwischen Bettine und ihrem Bruder Clemens Brentano bilden, »Clemens Brentano’s Frühlingskranz«. In die Reihe dieser eigenwilligen und schon zu Lebzeiten höchst umstrittenen Versuche zwischen Fälschung und Docufiction gehört nun als viertes, in der Chronologie als drittes von vier Hauptwerken »Dies Buch gehört dem König«. Hier schreibt die Hauptfigur keine Briefe, sondern führt Gespräche, zuerst mit der Mutter des preußischen Königs, und sie erzählt der Bettine bei Besuchen und Spaziergängen davon. Es ist Catharina Elisabeth Goethe, Goethes Mutter, die in Frankfurt am Main allseits verehrte, berühmte »Frau Rat«, die längst vor Bettine von Arnims Buch eine überaus populäre und beliebte Gestalt gewesen war und auf die Goethe seine »Lust zu fabulieren« zurückführte. Ihre Briefe wurden, schon bevor sie nach ihrem Tod veröffentlicht wurden, bewundert für ihre Frische, ihre Anschaulichkeit und Lebendigkeit. Die Lust zu fabulieren lernt auch Bettine von Arnim von ihrer mütterlichen Freundin, die sie seit 1806 gekannt und immer wieder in Frankfurt aufgesucht hat.
Mit diesen Begegnungen und Gesprächen geht Bettine nun in »Dies Buch gehört dem König« so frei um, wie sie es mit den Briefen Goethes, Günderrodes oder Brentanos getan hat. Sie benutzt die Frau Rat als Schild und Galionsfigur, durch deren Mund sie, zwischen anekdotischen Erzählungen und allerlei Lebensweisheiten, die ungeheuerlichsten sozialkritischen Dinge sagen kann, ohne persönlich angreifbar zu werden. Da sie das Ergebnis zusätzlich dem jungen preußischen König widmet, unterstellt sie es seinem persönlichen Schutz. In einem Band über die Romantik, den Gerhard und Christa Wolf 1985 gemeinsam veröffentlicht haben, heißt es im Kapitel über das »Königsbuch« der »Frau von Arnim, zu deren demokratischem Salon man sich drängt«: »Wie unzuverlässig die Schonung war, die sie kraft ihres Ansehens in weitesten Kreisen, durch Polizei und Zensur genoß, war ihr natürlich überscharf bewußt; der Spielraum war ihr ja nicht geschenkt worden; sie hatte ihn sich durch Kühnheit, manchmal Tollkühnheit, erobert und erweitert. Man wußte nicht recht: War sie naiv? Stellte sie sich so? War sie vielleicht gerissen?«
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SINN UND FORM 4/2022, S. 437-494, hier S.437 - 440
Rosenlöcher, Thomas
Mäandertal, S. 450
Görner, Rüdiger
»Ich beginne zu wollen, was ich bin« Zum Werk von Clemens Eich, S. 453
Aichinger, Ilse
Notizen zum Werke Felix Hartlaubs. Mit einer Vorbemerkung von Andreas Dittrich und Jannis Wagner, S. 463
Bartsch, Wilhelm
Die Zukunft geht am Stock. Gedichte, S. 470
Eich, Günter
Alte Wolfsfährte. Hörstück. Mit einer Nachbemerkung von Roland Berbig, S. 479
Koziol, Andreas
Vom Nebel verschlungen. Gedichte, S. 484
Jäger, Lorenz
Henri Bergsons Familie, S. 489
Killert, Gabriele Helen
Neue Xenien. Gedichte [Gabriele Helen Killert, Kornelia Koepsell, Kerstin Hensel, Dirk von Petersdorff], S. 497
Davis, Lydia
Proust im Schlafzimmer, S. 500
Wagner, Jan
Python. Gedichte, S. 512
Wajsbrot, Cécile
Ein Gespräch mit Juan Allende-Blin übers Komponieren, über Literatur und Exil, S. 516
Beckford, William
Reise durch die Vereinigten Provinzen und das Rheinland im Jahre 1780, S. 522
Heinemann, Elke
Versuch über William Beckford im Jahr 2022, S. 534
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Social distancing, ein Schlagwort der Covid-19-Pandemie, läßt nicht von ungefähr an einen Mann denken, der 1760 in England geboren wurde (...)
Heinemann, Elke
Versuch über William Beckford im Jahr 2022
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Social distancing, ein Schlagwort der Covid-19-Pandemie, läßt nicht von ungefähr an einen Mann denken, der 1760 in England geboren wurde und den größten Teil seines Lebens Abstand zu anderen gehalten hat. William Thomas Beckford, Schriftsteller, Baumeister, Komponist, Objektdesigner, Kunstsammler und Mäzen, im Brotberuf Millionenerbe, war ein Exzentriker, im Wortsinn ein »Sonderling«, wie der durch das britische Königreich tourende Exzentriker Hermann Graf von Pückler-Muskau 1828 zu berichten weiß: »eine Art Lord Byron in Prosa, der das prachtvollste Schloß in England baute, seinen Park aber mit zwölf Fuß hohen Mauern umgeben ließ und ebenso viele Jahre lang niemand den Eintritt darin verstattete. Nun, dieser Mann verauktionierte plötzlich jenes Wunderhaus, Fonthill Abbey (dessen großer Turm, an dem man die Nächte durch bei Fackelschein gemauert, bald darauf einfiel), mit allem, was darin war (Die Auktion dauerte mehrere Monate, und nie sah man bei ähnlicher Gelegenheit eine reichere Sammlung der kostbarsten und geschmackvollsten Seltenheiten), und zog nach Bath, wo er ebenso einsam lebt. In der Nähe der Stadt hat er abermals einen sonderbaren Turm, mitten im Felde, gebaut, dem als Dach eine genaue Kopie des diminutiv Tempels in Athen, den man die Laterne des Diogenes nennt (Denkmal des Lysikrates), aufgesetzt ist.«
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Fast zweihundert Jahre später steht vor diesem Turm ein schwarzer Mann mit einem Fernsehteam der BBC. Der Brite Robert Beckford, Filmemacher, TVModerator, Theologe und Aktivist, stammt von Menschen ab, die William Beckford einst besaß. 1356 afrikanische Sklaven, 718 Männer und 638 Frauen, in die britische Kolonie Jamaika verschleppt und mit Peitschenhieben auf 18 Zukkerrohrplantagen zur Zwangsarbeit angetrieben, ermöglichten es dem absentee planter, in Europa fürstlich zu leben und wenig anderes zu tun, als »Melodien zu komponieren, Türme zu bauen, Gärten zu gestalten, altes japanisches Porzellan zu sammeln und Reisen nach China oder zum Mond zu beschreiben«. Der Name Beckford ist heute in Jamaika weit verbreitet: Die Sklaven hießen wie ihr Herr, sein Initial war in ihren Oberarmen eingebrannt. Nicht nur Sklaven, sondern auch Sklavenhalter waren unter seinen Ahnen, behauptet Robert Beckford, weiße Beckfords eben, schwerreiche Parvenüs, von der britischen Aristokratie verachtet und gefürchtet. Um soziales Prestige bemüht, investieren sie in England in Luxusimmobilien, Kunst, Bildung und Politik. Vergeblich hofft William Beckford auf ein Adelsprädikat und erfindet für sich eine Genealogie, in die er alle Barone der Magna Charta aufnimmt. Tatsächlich aber weist sein Stammbaum mütterlicherseits auf unbedeutende schottische Aristokraten zurück und väterlicherseits auf skrupellose Haudegen, die seit dem 17. Jahrhundert mit freundlicher Unterstützung der Krone in der Karibik Zuckerproduktion, Sklaverei und Menschenhandel betreiben. So akkumuliert sich das größte bürgerliche Vermögen Englands, das der zehnjährige William Beckford nach dem Tod des Vaters erbt. William Beckford der Ältere, auf Jamaika geboren und vom Adel als »Rumford Sugarcane« verspottet, hatte sich in London als mächtiger Politiker etablieren können. 1929 benennt man im Stadtbezirk Camden eine Grundschule nach ihm. 2020 teilt die Bezirksverwaltung mit, die Schule erhalte auf Anregung der Bewegung »Black Lives Matter« einen anderen Namen. 2021 hindert die britische Regierung den Rat der Londoner City daran, die überlebensgroße Statue des älteren William Beckford aus der Guildhall zu räumen, da es darum gehe, »unser Erbe zu bewahren und zu erklären, nicht zu entfernen«. Erklärungen für das Erbe des jüngeren William Beckford, das im Tower-Museum von Bath ausgestellt ist, sucht Robert Beckford im Auftrag der BBC. Er fragt sich, welche Art von Mann wohl täglich einen solchen Turm besteigt, um sich seiner Kunstsammlung zu erfreuen, die sorgsam abgestimmt ist auf Design und Dekoration des prächtigen Gebäudes. Die Antwort lautet: ein Mann, der in einer Phantasiewelt lebt.
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SINN UND FORM 4/2022, S. 534 -539 , hier S. 534 f.
Lambrou, Thanassis
Auf dem Hochseil. Gedichte, S. 540
Harman, Mark
Borges’scher als Borges? – Joyce, Borges und das Übersetzen, S. 542
Schöttker, Detlev
Ernst Jüngers Leser in Buenos Aires. Jorge Luis Borges und die erste Übersetzung der »Stahlgewitter«, S. 549
Raddatz, Fritz J.
Besuch bei Katia Mann und Gespräche mit Lou Eisler-Fischer, Charlott Frank und Walter Mehring. Mit einer Nachbemerkung von Joachim Kersten, S. 552
Ernst, Rudolf
Die verlorene Mitgift der Tony Buddenbrook, S. 559
Tony Buddenbrook mit ihrer charmanten Naivität und ihrem ausgeprägten Standesbewußtsein ist für viele Leser von Thomas Manns »Buddenbrooks« die (...)
Ernst, Rudolf
Die verlorene Mitgift der Tony Buddenbrook
Tony Buddenbrook mit ihrer charmanten Naivität und ihrem ausgeprägten Standesbewußtsein ist für viele Leser von Thomas Manns »Buddenbrooks« die heimliche Heldin des Romans. Der Verlust ihrer großzügigen Mitgift als Folge des »Bankerotts« ihres Ehemanns ist für sie, die sich in so hohem Maße über ihren Status und das Vermögen ihrer Familie definiert, ein Schicksalsschlag. Daher sind die Hintergründe dieses Wendepunkts in ihrem Leben von besonderem Interesse. Sie erklären sich durch reale Vorgänge, denen die Romanhandlung nachgebildet wurde. Bisher blieb die Frage offen, wie es überhaupt zu diesem Unglück, dem Verlust der Mitgift durch die Pleite des ersten Ehemanns von Tony Buddenbrook alias Elisabeth Mann kommen konnte. Wie war es möglich, daß so erfahrene Kaufleute wie der fiktive Jean Buddenbrook oder der reale Johann Siegmund Mann der Jüngere sich in der Person des Bendix Grünlich im Roman und Ernst Elfeldt in der Realität derart täuschen konnten?
Informationen dazu finden sich im sogenannten Lula-Brief, der in Sinn und Form 2 / 3 / 1963 erschien und in dem Julia Mann (in der Familie »Lula« gerufen) ihrem Bruder Thomas das Leben ihrer gemeinsamen Tante, Elisabeth Mann, schildert. Sie schreibt: »Schon als er um E’s Hand anhielt, hatte er [also Ernst Elfeldt] vor dem Ruin gestanden, er legte jedoch seinem Schwiegervater gefälschte Bücher vor und täuschte ihn dadurch über seine Verhältnisse. « Der Lula-Brief ist ein faszinierendes, aber umstrittenes Dokument, das die subjektive Rückschau Elisabeth Manns in der Überlieferung durch ihre Nichte wiedergibt. Der Wert der Quelle liegt darin, daß sie Thomas Mann als Inspiration für »Buddenbrooks« diente und er ausgiebig davon Gebrauch machte. Der Brief ist aber kein zuverlässiger Beleg, denn vieles wird darin falsch dargestellt. So wird die Mitgift Elisabeth Manns mit 80 000 Mark beziffert, tatsächlich betrug sie aber nur einen Bruchteil davon, nämlich 5000 Mark. Allerdings war auch das damals nicht wenig Geld. Ein einfacher Arbeiter, etwa ein Bahnwärter der preußischen Eisenbahn, verdiente seinerzeit rund 450 Mark im Jahr. Elisabeth Mann bekam also etwa das zehnfache Jahreseinkommen eines Arbeiters der untersten Lohngruppe als Aussteuer. Auf heutige Verhältnisse umgerechnet sind 5000 Mark rund 250 000 Euro. Eine Mitgift von 80 000 Mark hätte etwa vier Millionen Euro entsprochen. Johann Siegmund Mann der Jüngere war zwar vermögend, aber eine Morgengabe in dieser Höhe hätte er sich nicht leisten können. 1859, also zwei Jahre nach der Heirat seiner Tochter, betrug sein Vermögen ausweislich seines Privatbuchs rund 170 000 Mark. Dazu kommt, daß ein gerechter Vater seine anderen Kinder ähnlich großzügig hätte beschenken müssen. Aus den Akten des Elfeldtschen Konkursverfahrens, die sich in Hamburg er halten haben, wissen wir, daß dieser zum Zeitpunkt der Heirat tatsächlich überschuldet war, allerdings nur um den relativ kleinen Betrag von 1800 Mark. Offenbar hatte er nicht etwa Verluste in seinem Geschäft gemacht, sondern war schlichtweg nicht in der Lage, seinen Lebensunterhalt zu erwirtschaften. Der über drei Jahre angefallene Fehlbetrag entspricht rund 600 Mark pro Jahr. Das ist nur wenig mehr als unser preußischer Eisenbahnarbeiter verdiente.
Elisabeth und Lula hatten also recht, Elfeldt dürfte den Schwiegervater über seine Vermögensverhältnisse getäuscht haben. Daß er zu diesem Zweck gefälschte Bücher vorgelegt hat, erscheint plausibel, wir haben aber nur Elisabeth Manns Wort dafür. Was für gefälschte Bücher könnten das gewesen sein? Am wichtigsten wäre die Sammlung seiner Bilanzen gewesen, wie die folgende Vorschrift aus dem Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 zeigt (Bilanz heißt hier »Balance«): »Ein Kaufmann, welcher entweder gar keine ordentliche Bücher führt, oder die Balance seines Vermögens, wenigstens alljährlich einmal zu ziehen unterläßt, und sich dadurch in Ungewißheit über die Lage seiner Umstände erhält, wird bei ausbrechendem Zahlungsunvermögen als fahrlässiger Bankrutirer bestraft.«
Zwar hatte das Preußische Allgemeine Landrecht in Lübeck keine Gültigkeit, aber eine solche Art der Buchführung war auch in den Hansestädten für einen ordentlichen Kaufmann selbstverständlich. Wie solche Bilanzen auszusehen hatten, beschreibt das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch. Es wurde zwar erst 1861 eingeführt, basiert aber auf schon vorher gebräuchlichen Konventionen: »Jeder Kaufmann hat bei dem Beginne seines Gewerbes seine Grundstücke, seine Forderungen und Schulden, den Betrag seines baaren Geldes und seine anderen Vermögensstücke genau zu verzeichnen, dabei den Werth der Vermögensstücke anzugeben und einen das Verhältniß des Vermögens und der Schulden darstellenden Abschluß zu machen; er hat demnächst in jedem Jahre ein solches Inventar und eine solche Bilanz seines Vermögens anzufertigen.«
Die Bilanz eines Kaufmannes zeigt also auf einen Blick, ob sein Vermögen ausreicht, alle (Wechsel)-Schulden zu bezahlen, und wie hoch sein Restvermögen nach Abzug der Verschuldung ist. Ernst Elfeldt war 1856, als er um Elisabeth Mann zu werben begann, erst seit zwei Jahren im Geschäft. Es war also nicht besonders aufwendig, ein zweites Buch mit geschönten Bilanzen für 1854 und 1855 zu schreiben, das wären jeweils nur wenige Seiten gewesen. Eine solche Arbeit kann man zügig erledigen, wenn man von den vorhandenen Aufzeichnungen ausgeht und Vermögensgegenstände dazu erfindet bzw. Verpflichtungen gegenüber Dritten reduziert oder ganz wegläßt. Ist der Fälscher seiner Sache sicher, beschränkt er sich auf die Erstellung erfundener Bilanzen und vertraut darauf, daß der wohlmeinende Schwiegervater sie für bare Münze nimmt und nicht weiter recherchiert, ob die aufgelisteten Vermögenswerte tatsächlich existieren oder Schulden, insbesondere ausstehende Wechsel, verschwiegen wurden. Wer die kriminelle Energie besitzt, so etwas zu tun, ist natürlich auch in der Lage, das entsprechende Hauptbuch mit den einzelnen Geschäftsvorgängen nachträglich zu erstellen. Das ist zwar deutlich mehr Arbeit, hätte bei einer jungen Firma aber ebenfalls in wenigen Tagen erledigt werden können. Damals wie heute gilt: Der Bilanzfälscher hat Erfolg, wenn seine kriminelle Energie größer ist als die Zweifel oder der Aufklärungswille des Prüfers. Zudem gab es damals noch keine Verpflichtung, Bilanzen von einem unabhängigen Wirtschaftsprüfer kontrollieren zu lassen. Das erschien unnötig, weil der Kaufmann mit seinem ganzen Vermögen persönlich haftete – die Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) war noch nicht erfunden. Im eigenen Interesse wirtschaftete der Kaufmann daher vorsichtig. Da er seine Bücher aber selbst erstellte und niemand sie kontrollierte und mit Prüfvermerken versah, konnte man gefälschte nicht ohne weiteres von echten unterscheiden.
Elisabeth Mann heiratete Ernst Elfeldt im Mai 1857. Noch hätte die Sache gutgehen können, denn er war ja nur mit 1800 Mark verschuldet. Zwar hätte er schon zu diesem Zeitpunkt Konkurs anmelden müssen, aber die 5000 Mark Mitgift genügten zunächst, um ihm aus der Patsche zu helfen. Etwas frisches Geld für neue Geschäfte war auch noch übrig, nämlich rund 3200 Mark.
Die Sache ging aber nicht gut. Was Elfeldt nach der Hochzeit widerfuhr, wird durch das bekannte Zitat des Fußballers Jürgen Wegmann treffend beschrieben: »Zuerst hatten wir kein Glück und dann kam auch noch Pech dazu.« Möglicherweise auch von der Anspruchshaltung seiner verwöhnten jungen Frau getrieben, geht Elfeldt größere und vor allem risikoreichere Geschäfte ein, eine ebenso gefährliche wie typische Reaktion von undisziplinierten Spielern, die einen Anfangsverlust erlitten haben. Wahrscheinlich wäre seine Taktik auf die Dauer sowieso nicht aufgegangen, aber Elfeldt hat das Pech, sein Geschäft und auch sein Risiko zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt auszuweiten, nämlich im Sommer 1857, am Vorabend der großen Kreditkrise. Diese Krise, der jüngsten von 2009 nicht unähnlich, nimmt ihren Ausgang im August 1857 im amerikanischen Mittelwesten. Nach dem Ende des Krimkriegs wird Rußland wieder lieferfähig und ukrainisches Getreide drängt auf den europäischen Markt. Damit fällt dieser für amerikanische Exporte aus, die Farmer können ihre Ernte nicht verkaufen. Das bringt die US-Banken in Schwierigkeiten, die ihnen im Vertrauen auf die zu erwartenden Erlöse Geld geliehen haben. Wie das Kippen eines einzigen Dominosteins in einer Kettenreaktion auch die anderen zu Fall bringt, geraten Banken und Handelsfirmen in der ganzen Welt ins Straucheln. Die Krise greift von jenseits des Atlantiks nach London über und erreicht im November 1857, vier Monate nach der Heirat Elisabeth Manns, Hamburg. Im Dezember kann Elfeldt einen Wechsel (eine Art Schuldschein) nicht einlösen und erklärt sich vier Tage später für zahlungsunfähig. Anders als viele Zeitgenossen war er aber kein unschuldiges Opfer der Krise, sie hat seinen Untergang nur beschleunigt bzw. ihn daran gehindert, seine Überschuldung weiter zu vertuschen. Als der Konkurs nach fünf Jahren abgewickelt ist, stellt sich heraus, daß praktisch kein Geld mehr vorhanden war. Die Gläubiger bekommen lediglich eine Quote von 2,44 % ausgezahlt. Johann Siegmund Mann verzichtet auf seine Forderungen in Höhe von 24 576 Mark, nur so kann überhaupt etwas ausgezahlt werden. Der eigentliche Schaden, den Elfeldt der Familie Mann zufügte, bestand nicht im Verlust der Mitgift. Schmerzlicher waren die 25 000 Mark für Getreidelieferungen, die er seinem Schwiegervater mit wertlosen Wechseln bezahlt hatte. 30 000 Mark entsprachen etwa 15 % des Gesamtvermögens von Johann Siegmund Mann. Kurz nach Eröffnung des Konkursverfahrens verschafft dieser seinem Schwiegersohn eine kleine Anstellung in Uetersen bei Hamburg. Es war offensichtlich der Versuch, diesen aus der Schußlinie zu nehmen. Da Elfeldt als Hamburger Agent von J. S. Mann aufgetreten war, stand auch dessen Ruf auf dem Spiel. Das erklärt, warum er zugunsten der anderen Gläubiger auf seine Forderungen verzichtete. Anders als in »Buddenbrooks« trennen sich die Eheleute nicht sofort, sondern leben in Uelzen noch vier Jahre zusammen. Erst Ende 1861, anderthalb Jahre vor dem Tod des Vaters, verläßt Elisabeth Mann ihren Gatten und kehrt ins Elternhaus zurück. Der Lula-Brief wirft ein Schlaglicht darauf, daß ihre Ansprüche an ein standesgemäßes Leben zum Scheitern ihres Mannes wohl mit beigetragen haben. Über die Zeit in Uelzen schreibt Lula: »Hier verlebte sie zwei schreckliche Jahre, in den ärmlichsten Verhältnissen.« Wie gesagt, in Wirklichkeit waren es vier. Etwas weiter heißt es: »Von 1500 Mark mußte sie mit ihrer Familie leben.« Elisabeth Mann hatte also mehr als das Dreifache des Jahresgehalts eines einfachen Arbeiters zur Verfügung, umgerechnet etwa 80 000 Euro. Ihr Vater unterstützte die Familie nämlich finanziell, und zwar, wenn wir dem Lula-Brief trauen wollen, auf einem Niveau, das dem Einkommen eines leitenden Angestellten entsprach. Zum Vergleich: Seinem Prokuristen bezahlte Johann Siegmund Mann 1857 ein Fixgehalt von 1250 Mark zuzüglich einer kleinen Gewinnbeteiligung. Mit dem Verlust ihrer Mitgift büßte Elisabeth Mann auch ihre Chance auf finanzielle Unabhängigkeit ein. Johann Siegmund Mann der Jüngere enterbte in seinem Testament die »innig geliebte Tochter«, um »weitere derartig trübe Erfahrungen zu verhindern«. Auf den ersten Blick wirkt das zynisch und grausam. Wenn man sich aber mit den rechtlichen Hintergründen 562 Umschau beschäftigt, wird die Formulierung nachvollziehbar. Elisabeth Mann lebt 1863, als ihr Vater stirbt, zwar getrennt von ihrem Mann, ist aber noch mit ihm verheiratet und daher in einer Gütergemeinschaft. Ihr Erbteil wäre somit unter Elfeldts Verfügungsgewalt geraten, und das wollte der Vater verhindern. Statt dessen fällt es an ihre bigotte Mutter, von der sie fortan abhängig ist und mit der sich die lebenslustige junge Frau schlecht versteht. Aus dieser Zwangslage flüchtet sich Elisabeth Mann, kaum daß ihre Scheidung rechtskräftig ist, in eine zweite Ehe mit Gustav Haag. Sie gerät vom Regen in die Traufe, denn auch dieser gerät in wirtschaftliche Schwierigkeiten und landet sogar im Gefängnis. Sie läßt sich ein zweites Mal scheiden. Ernst Elfeldts Leben nimmt einen anderen Verlauf: Er heiratet eine junge Frau, die offenbar besser zu ihm paßt, denn diese zweite Ehe hält. Er erfindet sich gewissermaßen neu und findet in die bürgerliche Gesellschaft zurück. Den Erfolg, der ihm als selbständiger Kaufmann versagt blieb, hat er als leitender Angestellter. Nach Stationen in Hamburg und Wien zieht er 1890 nach Lübeck. Dort engagiert er sich im Industrie- Verein für das Wohl der Stadt und wird ein angesehener Bürger. Seiner Witwe hinterläßt er ein beachtliches Vermögen in Höhe von über 80 000 Mark. Ironischerweise entspricht Elfeldts reales Vermächtnis also in etwa dem – fiktiven – Betrag der verlorenen Mitgift Tony Buddenbrooks. Aber auch Elisabeth Manns Leben wendet sich zumindest finanziell zum Guten. Als ihre Mutter 1890 stirbt, erbt sie ihren Anteil des Riesenvermögens, nämlich 248 000 Mark. Den gleichen Betrag erhielten die beiden Geschwister. Anders als in »Buddenbrooks« beschrieben, werden die verlorenen Mitgiften nicht von ihrem Erbe abgezogen. Von den Erträgen dieses Vermögens, knapp 10 000 Mark jährlich, konnte man damals sehr gut leben. Elisabeth Mann stirbt 1917.
Die verlorene Mitgift der Tony Buddenbrook, SINN UND FORM 4/2022, S. 558-562
Fontane, Martha
»Für Papa ist es sehr nöthig, daß er heraus kommt« Ein Brief an Anna Witte. Mit einer Nachbemerkung von Regina Dieterle, S. 562