
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-63-8
Heft 1/2022 enthält:
Cole, Isabel Fargo
Worte, Wörter, Wandlungen. Widerspruchseinheiten aus Franz Fühmanns Zettelkästen, S. 5
Fühmann, Franz
Das Ungefähre gilt nicht mehr. Frühe Gedichte (1953 / 54), S. 15
Schulze, Ingo
»Ich möchte Ihnen Hoffnung machen« Franz Fühmann oder Der Mythos als Ort der Verständigung, S. 20
Anfang Juli 1984 wartete ich in der Sektion Altertumswissenschaften der Uni Jena darauf, zu meiner ersten mündlichen Prüfung (Grundkurs (...)
Schulze, Ingo
»Ich möchte Ihnen Hoffnung machen«.
Franz Fühmann oder Der Mythos als Ort der Verständigung
Anfang Juli 1984 wartete ich in der Sektion Altertumswissenschaften der Uni Jena darauf, zu meiner ersten mündlichen Prüfung (Grundkurs Griechenland) aufgerufen zu werden. Der Dozent, der schließlich die Tür öffnete und mich hereinbat, sagte, während ich aufstand und auf ihn zuging: »Ach, wissen Sie schon? Gestern ist Fühmann gestorben!«
In diesem Augenblick brach für mich eine Welt zusammen. Ich hatte Franz Fühmann nie persönlich erlebt, war nie auf einer Lesung von ihm gewesen, ich hatte ihm nie geschrieben, ich hatte weder Fernsehbilder von ihm gesehen noch wußte ich, wie seine Stimme klang. Ich kannte nur einige seiner Bücher. Trotzdem lebte ich in der Gewißheit, in ihm einen wohlwollenden Leser zu haben, sobald ich nur etwas Selbstgeschriebenes vorzuweisen hätte. Ich würde nicht leichtfertig sein, denn in unserem Land, so schien mir, gab es kaum jemanden, der nicht schrieb und seine Texte nicht Fühmann schicken wollte. Auch mir war er die Versicherung dafür, nicht unbeachtet zu bleiben, sollte meine Schreiberei etwas taugen. Ich weiß nicht, woher ich damals diese Gewißheiten nahm. 1984 hatte ich von ihm gerade die im Jahr zuvor erschienenen Essays gelesen. Lag es an seinem Text über Wolfgang Hilbig? Da schenkt Fühmann seinem Verlag einen Schriftsteller. Und welcher unveröffentlichte Autor träumte nicht davon? Oder lag es an seiner Vorlesung »Das mythische Element in der Literatur« oder den E. T. A.- Hoffmann-Essays? Und noch während meines Grundwehrdiensts hatte ich »Vor Feuerschlünden«, seinen großen Trakl-Essay, gelesen, der den Schattenriß einer Autobiographie in sich barg. Dessen Offenheit, das Vorweisen der eigenen grauenhaften Irrtümer, war bestürzend und befreiend. Nicht weniger unerhört war Fühmanns Reflexion darüber, daß er selbst nach Salzburg fahren durfte, während anderen diese Möglichkeit verwehrt wurde. Wer von denen, die fahren durften, sprach sonst darüber? Wenige Wochen vor jener ersten Prüfung hatte ich einen Vortrag halten dürfen, ein Vergleich von Christa Wolfs »Kassandra« mit Fühmanns »König Ödipus«, es ging um die verschiedenen Arten des Umgangs mit dem Mythos. Daher wußte der Dozent, daß mich dieser Autor etwas anging. Doch 1984 gab es für den einundzwanzigjährigen Studenten kaum Bücher, die ihn nicht ergriffen, veränderten, erhoben, quälten oder zum Epigonen machten. Beinah jedes Zeugnis von Geistigkeit konnte brisant werden, jede Lektüre, jedes Gespräch fand in einem Alltag statt, den politisiert zu nennen sich erübrigte. Alles war politisch. Einen anderen Alltag kannte ich nicht. Doch warum ausgerechnet Franz Fühmann? Der Sternenhimmel der ostdeutschen Literatur leuchtete schließlich hell.
Als Kind habe ich nicht gelesen, drängte aber darauf, vorgelesen zu bekommen. Relativ früh bekam ich »Das hölzerne Pferd – Die Sage vom Untergang Trojas und von den Irrfahrten des Odysseus. Nach Homer und anderen Quellen neu erzählt von Franz Fühmann« geschenkt. Bei Fühmann sind die Götter keine erhabenen Wesen, aber mächtig und gefährlich. »Poseidon hat in meiner Vorstellung oft Züge eines Bahnhofvorstehers«, schreibt er 1973. »Den Apollo könnt’ ich mir ganz gut so denken, den Hermes und Ares zur Not, den Hephaistos, Hades, Dionysos gar nicht. Auch Zeus nicht, ihn am wenigsten: Dies Amt wäre für ihn zu groß / Den Prometheus auch nicht, der spielte herum … Aber Epimetheus wäre die ideale Besetzung.« Wenn meine Langeweile zu groß wurde, nahm ich mir das Buch heraus und blätterte zu jener Stelle – ich erkannte sie an den Illustrationen –, an der die Trojaner die Griechen fast zu besiegen scheinen. Weil es in dieser Neuerzählung soziale und ökonomische Unterschiede gibt, gewinnt eine Figur wie Thersites an Bedeutung. Er, der einzige ohne Genealogie und Adelsrang, der Mann aus dem Volk, der »immer zum Friedensschluß und zur Rückkehr in die Heimat geraten« hat, erzählt bei Fühmann von Prometheus, denn »die Götter sind grausam und böse und den Menschen feind«. Doch Fühmann weiß: »Im Mythos ist immer der ganze Mensch da, auch als Geschlechts-, auch als Naturwesen, aber nie auf diese reduziert.«
Auf Troja und Odysseus folgte beim abendlichen Vorlesen bald das Kinderbuch »Prometheus«. In ihm entdeckt Fühmann eine Figur, die Aufstieg und Fall verschiedener Zeitalter verbindet. Der Menschenfreund Prometheus wird zum Protagonisten eines Machtkampfs, der den jungen Lesern oder Zuhörern ein Gefühl für das Gewordensein der Welt gibt, für die Abfolge von Bündnissen und Kämpfen, aus denen Hierarchien und damit Herrschaftsverhältnisse entstehen. Erwachsenen mußte es schon damals (und heute erst recht aufgrund der postum erschienenen Teile) als Parabel auf das 20. Jahrhundert erscheinen. Das gilt auch für die »Nibelungen« und erst recht für »Reineke Fuchs«, der im Grunde bereits ein Muster für alle Mafia-Serien liefert: Der Schurke ist tatsächlich ein Schurke, aber als Leser hält man ihm unfaßbarerweise die Treue.
Fühmanns Neuerzählungen von Mythen und Sagen beunruhigten mich als Kind. Warum findet Hektor solch ein schmähliches Ende? Warum muß Prometheus so schrecklich leiden und gewinnt nicht gegen Zeus? Warum sind Götter eitel und egoistisch? Das waren nicht jene Figuren, die ich später im Museum fand. In einer Gegenwart, in der alles überdeutlich in Gut und Böse aufgeteilt war, stifteten Fühmanns Neuerzählungen Verunsicherung. Man wußte ja nicht einmal, wer die Guten und wer die Bösen waren. Diese Verunsicherung war für mich (und nicht nur für mich) noch wichtiger als die lustvolle Vermittlung weltliterarischer Stoffe, über die wir in der Schule (mit Ausnahme des »Reineke Fuchs«) kaum etwas hörten. Im Schullesebuch der 8. Klasse begegnete ich Fühmann mit »Kabelkran und blauer Peter«. Ich war irritiert, vielleicht sogar etwas enttäuscht, daß »mein« Autor, der doch bisher ganz der häuslich-vertrauten Atmosphäre angehört hatte, nun »allen« gehörte und Götter und sprechende Tiere keine Rolle spielten. Ich kann mich nicht mehr an die Lesestellen erinnern. Sie werden den Vierzehnjährigen nicht vom Hocker gerissen haben.
Wer heute in Bitterfeld an dem großen, gerade einmal wieder vor dem Abriß geretteten Kulturhaus vorüberfährt, in dem einmal herausragende nationale und internationale Ensembles und Solisten auftraten, in dem die Arbeitenden und ihre Kinder sich in Ballett und Fotografie, in bildender Kunst und Schauspiel versuchen konnten, dem bleibt der Spott über den »Bitterfelder Weg« im Hals stecken, auch wenn dieser in mehrfacher Weise ein Irrweg war. Denn was tatsächlich für »Bitterfeld« tauglich gewesen wäre, wie zum Beispiel der grandiose Roman »Erziehung eines Helden« von Siegfried Pitschmann, dem zweiten Ehemann von Brigitte Reimann, der aus freien Stücken und vor dem Bitterfelder Beschluß auf den Baustellen von Hoyerswerda / Schwarze Pumpe geschuftet hatte, wurde nicht nur nicht gedruckt. Der Autor wurde durch absurde Kampagnen gedemütigt und zum Selbstmordversuch getrieben.
Fühmann hat sich dem Anspruch des »Bitterfeldes Wegs« gestellt und immer wieder versucht, ihn zu erfüllen. Doch sein Widerspruch ist grundsätzlicher Art: »Was zum Beispiel empfindet ein Mensch, der weiß, daß er sein Leben lang so ziemlich dieselbe Arbeit für so ziemlich dasselbe Geld verrichten wird, als beglückend und was als bedrückend an eben dieser Arbeit; wo bringt sie ihm Reize, wo Freude, wo Leid, in welchen Bildern, auf welche Weise erscheint sie in seinem Denken und Fühlen usw. usw. Ich weiß es nicht und kann es nicht nachempfinden, und der Arbeiter spricht, obwohl er mein Freund ist, nicht darüber, weil es für ihn die allerselbstverständlichsten Dinge sind, so selbstverständlich, daß man die Frage danach gar nicht versteht, weil man die Antwort eben in Fleisch und Blut hat, nicht im Mund.«
Fühmann schummelt nicht. Es ist der Blick von einem, der die Welt der Arbeiterinnen und Arbeiter nicht aus eigener Erfahrung kennt, sich das aber als Defizit ankreidet und sich damit nicht abfinden will.
»Aufs Gymnasium kamen Arbeiter nicht; nach dem Abitur war ich zur Wehrmacht gekommen und hatte ein Maschinengewehr bedienen gelernt; in sowjetischer Kriegsgefangenschaft hatte ich in einem kleinen Waldlager Bäume gefällt und dann Karl Marx gelesen, und nach meiner Entlassung war ich für zehn Jahre an einen Büroschreibtisch geraten«, wo er seine Zeit »mit der Gliederung von Lektionen und Referaten, mit Aktennotizen und einem Rattenkönig an Papier und Protokollen hingebracht« hat. Hier macht sich einer auf den Weg, der nur den »Abklatsch der Wirklichkeit auf Rotations- und Schreibmaschinenpapier« kennt.
Fühmann, für den »Wahrheit und Schreiben« Synonyme sind, markiert eher die Unterschiede, die ihn von den Arbeitern trennen, als daß er die Grenzen mit seiner erzählerischen Kraft verwischt. Weil er die Voraussetzungen seines Schreibens benennt, weil sein Blickwinkel nichts vortäuscht, weiß ich als Leser immer, woran ich bei ihm bin.
Deshalb ist »Kabelkran und blauer Peter« heute wohl noch interessanter als bei seiner Veröffentlichung 1961. Denn diejenigen, deren Arbeit körperliche Schufterei ist, werden heute in der Literatur, im Film und Fernsehen kaum noch sichtbar – und wenn, dann als underdogs in den Nachmittagsprogrammen. Diese Exkursion des Schriftstellers auf die Werft (er hat viele weitere Versuche unternommen, in Großbetrieben zu arbeiten) liest sich von heute aus auch als Beginn eines Weges, der zu seiner literarischen Schürfarbeit »Im Berg« führen wird. Seine Erzählungen entdeckte ich nicht selbst. Anfang 1978, in den Winter ferien der 9. Klasse, saß ich der Malerin Gerda Lepke in ihrem winzigen Atelier am Laubegaster Ufer in Dresden Modell. Ich hatte gerade die Hermann-Hesse- Romane und Erzählungen gelesen und rang mit mir, ob ich in den sogenannten persönlichen Gesprächen mit unserem Klassenlehrer, der uns für die Offizierslaufbahn werben oder zumindest das Zugeständnis eines dreijährigen Armeediensts abpressen wollte, nicht doch, wie mein Banknachbar, er war Mitglied im Kreuzchor, bekennen sollte, den Dienst an der Waffe aus religiösen Gründen zu verweigern. Während Gerda mit der schräg vor ihr liegenden Leinwand kämpfte – die Pinsel waren an Stöcke gebunden – und mir von dem Duft der Ölfarben und des Terpentins, dem vielen Kaffee und dem überheizten Raum schon etwas flau war, sprach sie darüber, daß sie sich gerade mit Fühmann »beschäftige«. Sie schien immer einen Autor zu haben, mit dem sie sich beschäftigte. Und darunter waren einige, die ich auch aus meinen Lesebüchern kannte, Kurt Tucholsky und Majakowski zum Beispiel, aber auch ein gewisser Robert Walser, von dem ich noch nie gehört hatte. Nun sprach sie über Fühmanns Erzählungen. Vor allem die erste, »Kameraden«, empfahl sie mir nachdrücklich (die unter dem Titel »Betrogen bis zum jüngsten Tag« verfilmt worden war). Ich kaufte mir den Band (oder bekam ich ihn geschenkt?) und muß zumindest bis zum »König Ödipus« gelangt sein. Etwas später las ich den Zyklus »Das Judenauto«, ohne mir des Glücks bewußt zu sein, ihn in der ursprünglichen Fassung kennenzulernen, die allerdings erst 1979 herausgekommen war, achtzehn Jahre nach der Erstpublikation. Wiederum vier, fünf Jahre später, ich war schon Student, nahm ich mir die Erzählungen wegen des »Ödipus« erneut vor. Erst da fielen mir die Verletzungen auf, die Fühmann seinen Texten aus Überzeugung oder Selbstzensur zugefügt hatte. In »König Ödipus« planen Wehrmachtssoldaten während der Okkupation Griechenlands eine Aufführung der Tragödie des Sophokles. In langen Gesprächen bemühen sie sich um deren Deutung und offenbaren dabei ihren Rassenwahn wie ihre Blindheit für die eigene Situation. Die langen Sätze der Beschreibungen und wörtlichen Reden winden sich wie Schlangen um die Figuren. Immer gehetzter wird der Erzählduktus, der das Geschehen auf die Katastrophe zuführt. Die Peripetie blitzt auf den letzten zwei Seiten wie eine Erkenntnis auf, die nicht gänzlich unvorbereitet kommt, jedoch in der Eindeutigkeit, ja Konformität, mit der sie geschildert wird, die Novelle ihrer Ambivalenz beraubt und einen Hauptmann dem Publikum sagen läßt, was Sache ist: »und nun brach die neue Zeit des Menschenrechts aus den Schlünden des Balkans und den Hainen des Maquis und den sanften Ebenen Polens und rollte donnernd her aus den Weiten Rußlands, um die alte Zeit zu begraben, der anzugehören einfach schon Schuld war«.
Es zerstört nicht die Novelle, aber es bleibt ein Kratzer, den man wie auf einer Schallplatte hört. Das als Fühmanns Tribut für eine Veröffentlichung zu deuten, wäre zu billig. Allein äußeren Zwängen hätte er sich nicht gebeugt. Die vierzehn Erzählungen von »Das Judenauto« fügen sich zu einer großen Lebenserzählung, die man heute wohl »Roman« nennen würde. Dafür, wie Fühmann die eigene Verblendung nachzeichnet, gibt es, soweit ich das sehe, kaum Vergleichbares in deutscher Sprache. Kindheit, Jugend, die Zeit im Arbeitsdienst, in der Wehrmacht und der sowjetischen Gefangenschaft werden aus der Position desjenigen erzählt, der die nationalsozialistische Gesinnung verinnerlicht hat. Dieses »ich«, sei es das Kind mit seiner Angst vor den Juden oder der Landser, der noch Anfang Mai 1945 auf die Wunderwaffe hofft, quält mich als Leser, weil er keinen Ausweg aus seiner Logik findet, einem Gespinst aus Antisemitismus, Nationalismus, Antikommunismus, Herrenmenschentum, Angst und Rechtfertigung von Kriegsverbrechen. Die Unerbittlichkeit vorzuführen, die dieses Denken beherrscht, es nacherlebbar zu machen, wie ein Glauben auch Lüge und Verbrechen zu integrieren vermag, ist die Leistung dieser Prosa. Die zwei letzten Erzählungen fallen heraus und bekennen sich nun, da sich das erzählende Ich dem Abgrund entkommen glaubt, zur im Entstehen begriffenen neuen Welt, deren Licht aus dem Osten kommt. Dabei bleibt Fühmanns Darstellung so anschaulich und deutlich, daß ich als Leser die alten Muster unter dem neuen Bekenntnis sehe. Nun sollen sie aber wirklich einer anderen, einer besseren Sache dienen. In den Nachbemerkungen zur Ausgabe von 1979 schreibt Fühmann: »Diese vierzehn Episoden des ›Judenautos‹ werden hier dem Leser zum ersten Mal in der ursprünglichen Gestalt des Gesamtzyklus mitgeteilt. Die bisher gedruckte Version folgte dem Redigierungsvorschlag meiner damaligen Lektoren, die jene erste Fassung für unlesbar hielten. Heute scheint es mir eher umgekehrt, aber es ist meinen Autoritäten von damals gelungen, mich zu überzeugen, und ich füge hinzu: Sie hatten’s nicht schwer.« Fühmann spricht von einem literarischen Qualitätsgefälle »zwischen der ersten und der letzten Geschichte«, wobei die Vorschläge der Lektoren »auf eine Angleichung« hinausliefen, »wenn auch auf eine nach unten«.
Sein Zusatz »Sie hatten’s nicht schwer« ist etwas, worauf man immer wieder bei Fühmann trifft. Er schiebt das Versagen nicht auf andere, auf die Zensur. Seine inneren Nöte und Schuldgefühle, auch seine Hilflosigkeit, gehören dazu. »Ich widerstehe jedoch auch heute der Versuchung«, fährt Fühmann fort, »diesen Zyklus, dessen methodischer Eklektizismus mir bald weh tat, zu verstümmeln oder umzuarbeiten, also eine erste ästhetische Reflexion über den Ort meiner selbst in der neuen Gesellschaft auf den Stand einer zweiten und dritten zu bringen, anstatt eben diese zweite und dritte als bewußteres Leben und Schreiben zu leisten und die erste zu lassen, was sie gewesen ist: Stufe. Im Prozeß der Selbstfindung eines Autors sind alte Arbeiten nur korrigierbar durch neue, vorausgesetzt, daß sie das überhaupt sind (…).« Nach einem Hinweis auf Brecht heißt es dann: »Das Endziel meiner literarischen Bemühungen wäre die Darstellung Eines, von dem ich erfahren könnte, dieser sei ich. Ich werde sie wohl nie in dem Grade vollbringen, in dem ich ihr Vollbringen wünsche wie fürchte: Nicht der äußere Zensor, der innere ist das Hauptproblem. Nebenbei: Die Identität dieser Instanzen (…) macht letztlich den Mangel des ›Judenautos‹ aus.«
Das Bestehen einer Zensur in der DDR öffentlich anzusprechen ist das eine, den eigenen Anteil daran zu benennen das andere. Fühmann legt den Zusammenhang beider Zensuren offen. Für ihn ist Veränderung ein gesellschaftlicher und ein persönlicher Prozeß, also etwas, das sich gegenseitig beeinflußt und in Bewegung ist. Für die Selbstermächtigung und Emanzipation, die Fühmann im Laufe seines Lebens gelingt – bei allen Skrupeln, die an ihm in verschiedenste, mitunter entgegengesetzte Richtungen zerren –, brauchen Staat und Gesellschaft letztlich bis zum Herbst 1989, auch wenn sich der Spielraum zuvor stetig erweitert hat.
[...]
SINN UND FORM 1/2022, S. 20-31, hier S. 20-25
Braun, Volker
Luf-Passion, S. 32
Kleinschmidt, Sebastian
Menschenferne und Gottesnähe. Spiritualität in apokalyptischer Zeit, S. 44
[…]
Aber ist die Corona-Krise vielleicht nur ein Vorspiel, das Menetekel für etwas, das noch kommt und das weit schlimmer ausfällt? Ich (...)
Kleinschmidt, Sebastian
Menschenferne und Gottesnähe. Spiritualität in apokalyptischer Zeit
[…]
Aber ist die Corona-Krise vielleicht nur ein Vorspiel, das Menetekel für etwas, das noch kommt und das weit schlimmer ausfällt? Ich spreche von der heraufziehenden Klimakrise, vom drohenden Versiegen des Golfstroms, von starken Stürmen, langen Dürren, großen Überflutungen, vom Auftauen der Permafrostböden, vom Schmelzen des polaren Eises und dem alptraumhaften Ansteigen des Meeresspiegels. Hier gewinnen die Voraussagen – nicht von Sehern, sondern aus der Forschung (der Schriftsteller Ulrich Horstmann nennt sie »das verhängnisorientierte wissenschaftliche Hochrechnungswesen«) – inzwischen tatsächlich den Charakter apokalyptischer Prophezeiungen. Und werden an manchen Orten schon Wirklichkeit und Wahrheit. Ende Juni 2021 wurden in der Ortschaft Lytton in der westkanadischen Provinz British Columbia sage und schreibe 49,6 Grad Celsius im Schatten gemessen. Drei Tage später wurde das Dorf von einer Feuerwalze überrollt. Die Einwohner mußten fliehen, Hals über Kopf. So gut wie alles, was sie besaßen, wurde ein Raub der Flammen. Komplett verkohlte Häuserreihen und Straßenzüge, der Ort zu neunzig Prozent zerstört.
Und drei Wochen darauf das Gegenstück in Deutschland. Zwei Tage Starkregen in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz. Die Wassermassen haben zwei kleine Flüsse, die Ahr und die Erft, in rasender Geschwindigkeit auf Rekordpegel ansteigen lassen, zum Überlaufen gebracht und zu gewaltigen Überschwemmungen und Erdrutschen geführt, die besonders die Orte Ahrweiler und Erftstadt schwer in Mitleidenschaft gezogen haben. Mehr als hundertachtzig Tote, verseuchter Schlamm, weithin ruinierte Häuser, Straßen, Bahngleise, Brücken, Strom- und Gasleitungen, Fabriken und Krankenhäuser sind die Folge. Nicht wenige, die in Kanada das Feuerinferno durchmachten, werden gedacht haben, daß das die Anfänge hyperletaler Hitzewellen sind. Und nicht wenige, die in Deutschland das Wasserinferno erlitten, werden gedacht haben, daß so moderne Sintfluten aussehen. Und daß das eine wie das andere ein Zeichen dafür ist, daß unser Aufenthalt auf Erden ein tragisches Ende nehmen könnte.
Apokalypse heißt Enthüllung, Offenbarung. Was offenbart sich hier? Der Dichter und Theologe Johann Gottfried Herder hat einmal in einem hochfliegenden Wort vom Menschen als dem ersten Freigelassenen der Schöpfung gesprochen. Heute erst zeigt der Satz seinen diabolischen Doppelsinn. Der Freigelassene der Schöpfung, der aus ihr Herausgetretene, der nicht mehr an sie Gebundene. Der Mensch, die Krone der Schöpfung, entpuppt sich als Parasit der Erde, als Irrläufer der Evolution. Und die Erde schickt sich an, ihn abzuwerfen.
Wir kennen alle die berühmten Verse aus Bertolt Brechts Exilgedicht »An die Nachgeborenen«, geschrieben zwischen 1934 und 38 im dänischen Svendborg: »Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!« Natur als Gegenstand der Poesie, so die politische Botschaft, ist nur zulässig, wenn das gesellschaftliche Unheil aufgezeigt wird. Und nun scheint es so zu kommen, daß gesellschaftliches Unheil künftig direkt durch Naturunheil hervorgerufen wird, ein Unheil, das nicht durch die Natur selbst, sondern durch menschliche Einwirkung auf sie mitverursacht ist. Gespräche über Bäume werden immer öfter zu Gesprächen über brennende Bäume. Auf griechischen Inseln werden dieser Tage Kirchenglocken geläutet, um Menschen zu evakuieren. Im Nu wird dort ein Sommerwald zu Winterwald – nur ohne Schnee und Kälte. Statt dessen Asche und verbrannte Erde.
Augenscheinlich befindet sich der Metabolismus zwischen Mensch und Natur an einem schicksalhaften Wendepunkt. Wir leben mehr und mehr in der gleichsam mythischen Befürchtung, daß es mit der Duldsamkeit der Natur zu Ende geht, daß uns Wetter und Himmel dafür strafen werden, daß wir im Aussaugen, Verschmutzen und Vermüllen, im Versiegeln und Vergiften, im Bebauen und Besiedeln der Erde, kurz im herrschsüchtigen Industrialismus der Massenzivilisation zu weit gegangen sind.
In der heutigen Wirtschaft, so Klaus Michael Meyer-Abich, der 2018 verstorbene Naturphilosoph, tun die Menschen so, als seien sie irgendwann als interplanetarische Eroberer auf die Erde hinabgeschwebt, um es sich dort eine Zeitlang möglichst gutgehen zu lassen, und als könnten sie, wenn nichts mehr zu holen ist, auf demselben Wege wieder verschwinden.
Flucht nach vorn, könnte man das nennen, und Milliardäre wie Jeff Bezos, Richard Branson und Elon Musk sind im Begriff, sie exklusiv anzutreten. Damit sind wir mittendrin im Sorgenzentrum der Gegenwart. Hat das 20. Jahrhundert – in Gestalt von Hitlerismus und Stalinismus – das Grundvertrauen in die menschliche Zivilisation erschüttert, droht das 21. Jahrhundert auch noch das Grundvertrauen in die Natur zu zerstören.
Inzwischen macht sich die Erkenntnis breit, daß ein neues Erdzeitalter begonnen hat, das Anthropozän, und daß bestimmte Reaktionen der Natur erstmals eine Folge menschlicher Rückwirkungen auf sie sind. All diese Dinge und besonders die Erderwärmung und was aus ihr folgt machen mehr und mehr Angst. Ist sie berechtigt? Ich fürchte – nüchtern betrachtet und ohne die Maske der Kassandra anzulegen –, ja.
Über Angst wird ungern gesprochen, denn sie scheint, da mit Gefühlen der Ohnmacht und Hilflosigkeit verbunden, den Menschen zu lähmen und zu erniedrigen. Die Leute denken, Angst sei etwas für Feiglinge. Doch dem ist nicht so. Es gibt auch einen Mut zur Angst. Angst ist keine Störung, sie wird durch bedrohlich wirkende Signale der Umgebung geweckt, sie ist eine instinktive Form der Wahrnehmung von akuter und von künftiger Gefahr. Und so stellt sich – wir sind ja hier unter dem Dach der Kirche – die Frage: Sollte man sie, die Angst, nicht zum Angelpunkt einer dem Ernst der Lage angemessenen Spiritualität machen? Von Gottesdiensten, die das Bewußtsein der Bedrohung schärfen? Denn ohne Angst, ohne das Vor- und Mitwissen der Angst, ohne ihre Nähe zur Wahrheit sind wir, um an ein Wort des Philosophen Günther Anders zu erinnern, »apokalypseblind«. Doch höre ich schon den Einspruch der Theologen, Angst dürfe niemals die Grundlage des Glaubens sein. Christen bauen auf Hoffnung, auf Vertrauen in Gott als Fundament der Hoffnung, und sei es am Ende die Hoffnung verzweifelt Hoffender.
Doch vergessen wir nicht, daß die alte, vertraute christliche Hoffnung nicht mit der diesseitigen Apokalyptik verbunden war, sondern mit der biblischen. In der Heiligen Schrift gibt es mindestens zwei davon, im Alten Testament das Buch Daniel und im Neuen Testament die Offenbarung des Johannes. In beiden artikulieren sich nicht nur bildmächtige Gesichte göttlich beorderter Schrecken zum einbrechenden Ende der bisherigen Welt, des alten Äon, sondern auch Gesichte einer messianischen Rettung, einer neuen Welt, des neuen Äon. Die Johannesoffenbarung, geschrieben in der Zeit römischer Christenverfolgung, endet mit der Vision des himmlischen Jerusalem, das Buch Daniel, dessen Geschehnisse sich während der babylonischen Gefangenschaft der Juden ereignen, endet mit der Vision des aus den Wolken herniederschwebenden Menschensohns und der Vorhersage, daß die Gerechten des Volkes Israel aus den Gräbern auferstehen werden zu ewigem Leben.
»Der Zweck dieser Literatur«, so der jüdische Religionswissenschaftler Pinchas Lapide ganz unpathetisch, »ist zweifach: Trost zu spenden über das Elend heute – mittels der Belehrung über das Unheil von morgen, dem das Heil von übermorgen unverzüglich folgen muß.«
Was aber wenn – wie in der säkularen Apokalyptik – keine Rettung, kein Heil von übermorgen verheißen wird? Wenn folglich die Erwartung dunkler Fatalität jeden Versuch, auf religiöse Weise an neue Anfänge zu glauben, unausführbar macht? Gleichsam das Kreuz ohne Auferstehung, Karfreitag ohne Ostersonntag. Dann stünden wir an einem Punkt, wo es nirgendwo transzendenzverbürgte Hoffnung mehr gäbe. Und wo allein die Angst der irdischen Wesen bliebe.
Im Umgang mit Angst sind uns drei Reaktionen vertraut, ja wohlvertraut, verkleinern, vergrößern oder bannen. Angst verdrängen macht blind für Gefahr. Angst schüren macht zittern bei Gefahr. Angst bannen macht stark in Gefahr. Ins Politische gewendet: Angst ignorieren führt zu Illusionismus. Angst schüren zu Machiavellismus. Angst bannen zu Wachsein und Besonnenheit.
Das »führt zu« gilt auch andersherum: Ignoranten – nach dem Motto, dieser Kelch wird schon an uns vorübergehen – drängen auf Angstvergessen; Machiavellisten – nach dem Motto des Namensgebers »Angst ist die solideste Grundlage, um andere für sich einzunehmen« – drängen auf Angstschüren; Wache und Besonnene – ganz ohne Motto – drängen auf Angstbannen.
Als Gebot der praktischen Vernunft bleibt nur das Dritte, die Mitte zwischen den Extremen, nämlich das kluge, pragmatische Bannen der Angst. Ansonsten wird sie uns in ihren Bann schlagen. Soll heißen, daß wir uns von ihr überwältigen lassen. Wir müssen in unserer Lage Angst sowohl respektieren als auch bezwingen. Nicht nur um der Schreckensspirale des Prognosen-Alarmismus zu widerstehen, sondern auch dem Doom Scrolling. Doom, englisch, steht für Untergang, Scrolling für das Verschieben von Bildausschnitten auf den Displays unserer Smartphones. Doom Scrolling ist der obsessive Drang, unentwegt düstere, ja dystopische Nachrichten im Netz zu konsumieren. Es befeuert das, was man inzwischen weltweit Climate Anxiety, Klima-Angst, nennt. Doch auch dem Gegenteil, der wenig ratsamen Gelassenheit, gilt es zu trotzen, der Vogel-Strauß-Mentalität. Der Dichter Hanns Cibulka, der nicht aufs Warten setzen wollte, schrieb schon Anfang 2000: »Obwohl die Temperaturen nur langsam steigen, fühlen wir bis in die Fingerspitzen die Bedrohung. In allen Dingen wächst verdeckt die Angst.« Aber wie und mit welchen Mitteln will man sich dem unheilschwangeren Ganzen, von dem wir schon seit drei Jahrzehnten wissen, überhaupt entgegenstellen? Jetzt spreche ich nicht von Aktivismus, nicht von Politik, nicht von Wissenschaft, nicht von Maßnahmen der sogenannten Klimarettung wie der Reduzierung des anthropogenen Anteils am CO2-Gehalt der Atmosphäre und der daran geknüpften Hoffnung, den Treibhauseffekt und damit die Erderwärmung zu stoppen. Die Angst, die tückische, sagt uns ja gerade: Das Drama ist nicht aufzuhalten, was auch immer wir dagegen unternehmen. Die Gewichte, die zu stemmen wären, sind zu groß. Kaum daß es uns gelingen werde, den Lauf der Dinge zu verzögern, von Richtungsumkehr nicht zu reden. Der alles andere als apokalypseblinde Rudolf Bahro meinte einmal: »Es ist, als wollten wir uns mit Tonnen Blei an den Füßen aus einem Schiffbruch retten.«
Hier stellt sich nun erneut die Gottesfrage, eine Frage, von der so viele dachten, daß sie längst hinter uns liege. Sie geht übrigens auch Agnostiker und Atheisten etwas an. Selbst wenn wir nichts von der Angst wüßten, eines wissen wir: Angst lehrt beten. Auch diejenigen, die zuvor noch nie gebetet haben. Und nicht nur das. Beten ist auch ein wirksames Mittel dagegen. Die Angst drückt von außen nach innen, das Gebet löst von innen nach außen. Ohne Beten kein Bannen. Das gilt auch für das Singen. Von Augustinus stammt der Satz: »Wer singt, betet doppelt.« Der Psalm 107 spricht von jenen, »die dann zum Herrn riefen in ihrer Not, und er errettete sie aus ihren Ängsten«.
Diese Ansicht wird natürlich nicht von allen geteilt, zum Beispiel nicht von Bertrand Russell, dem britischen Mathematiker und Philosophen. Der Nobelpreisträger hat in seiner Schrift »Warum ich kein Christ bin« von 1927 kurz und bündig erklärt: »Was die Religion betrifft, bin ich der gleichen Ansicht wie Lukrez. Ich halte sie für ein aus der Angst geborenes Übel und eine Quelle unsäglichen Leids für die Menschheit.« In seinem Buch »Eroberung des Glücks« von 1930 hat er jenseits des Glaubens ein eigenes Programm der Angstbekämpfung entworfen, das ganz auf Rationalisierung setzt.
Es geht in etwa so: Wenn Unheil drohe, sei es ratsam, sich ernsthaft und bedacht zu überlegen, was im schlimmsten Falle eintreten könnte. Hat man sich das möglicherweise bevorstehende Mißgeschick genau ausgemalt, dann suche man nach triftigen Gründen, aus denen es alles in allem doch nicht gar so furchtbar sei. Solche Gründe gebe es immer, da selbst im allerschlimmsten Falle nichts, was uns persönlich geschehe, irgendeine kosmische Auswirkung habe. Sobald man eine Zeitlang den schlimmsten Ausgang in Ruhe überdacht habe und mit aufrichtiger Überzeugung zu dem Schluß gekommen sei, daß er schließlich doch nicht von so ungeheurer Bedeutung ist, werde man finden, daß die Selbstquälerei in ganz erstaunlichem Grade nachlasse.
Wohl dem, möchte man dem großen Gelehrten zurufen, bei dem es funktioniert! Allerdings war dies nicht einmal bei ihm selbst der Fall. Wie Russell in seiner Autobiographie erzählt, erlebte er verschiedentlich Angstzustände, die er durch kein intellektuelles Verfahren beheben konnte. Auch war es bei ihm nicht die Angst vorm Klimawandel, sondern vor erblichem Wahnsinn und vor Depressionen.
SINN UND FORM 1/2022, S. 44-56, hier S. 49-54
Benrath, Ruth Johanna
Psalm. Aus der Tieffen. Gedichte, S. 57
Gracq, Julien
Novalis und Heinrich von Ofterdingen, S. 61
Wolter, Christine
Dante, ein paar Anmerkungen. Gedicht, S. 75
Földényi, László F.
Die Wahrheit erlügen. Über die Schwierigkeiten biographischen Schreibens, S. 79
Ionesco, Eugène
Elegien für kleine Wesen. Gedichte. Mit einer Vorbemerkung von Alexandru Bulucz, S. 90
Meckel, Christoph
Was ein Gedicht kostet. Mit einer Vorbemerkung von Marie-Luise Bott, S. 99
Becker, Jürgen
Die Rückkehr der Gewohnheiten. Journalgedichte, S. 109
Sayer, Walle
Das Zusammenfalten der Zeit, S. 114
Paret, Christoph
Wettbewerb mit Toten. Über eine eigentümliche Rezeptionstheorie Boris Groys’, S. 124
Ist es trotz oder wegen der Publikationsflut unserer Tage, daß die Ratgeber, die ich mir eigentlich wünschen würde, partout nicht erscheinen (...)
Paret, Christoph
Wettbewerb mit Toten. Über eine eigentümliche Rezeptionstheorie Boris Groys’
Ist es trotz oder wegen der Publikationsflut unserer Tage, daß die Ratgeber, die ich mir eigentlich wünschen würde, partout nicht erscheinen wollen: »Stillschweigen. Wie Sie zu Ihrer eigenen Schreibblockade werden«, »Das leere Blatt – eine Utopie«, »Schreib-Enthemmung? 120 geniale Tips sich zurückzuhalten«. Jedenfalls muß es mittlerweile als Ereignis allerersten Ranges angesehen werden, wenn ein Text einmal nicht geschrieben wird. So erklärt sich die Aufmerksamkeit, die der in Sinn und Form veröffentlichte Briefwechsel zwischen Hans Magnus Enzensberger und Theodor W. Adorno jüngst erfahren hat. Adornos angekündigte Kritik des Godesberger Programms der SPD ist nie erschienen, da mochte Enzensberger als Herausgeber des Kursbuchs noch so sehr drängen, bitten und ermutigen. Der gegenwärtige Herausgeber Armin Nassehi teilte seiner Leserschaft gutgelaunt mit, er habe die Probleme seines Vorgängers nicht. Adorno habe sich auf eine Weise geziert, »die heutigen Autorinnen und Autoren wohl nicht mehr zur Verfügung« stehe. Man gönnt es ihm. Die Autoren von heute lassen sich nicht lange bitten. Kein Potential, das unausgeschöpft bliebe, keine Gelegenheit, die verpaßt würde. Ohne mich hier über die Gründe auslassen zu wollen: Nicht zu schreiben ist ein Luxus, den sich kaum noch jemand leisten kann. Die nachfolgenden Generationen werden es uns hoffentlich danken und über uns sagen, wir hätten alles gegeben, was wir konnten, und dann hätten wir weitergemacht. In Anbetracht des Umstands, daß an Geschriebenem kein Mangel besteht: Gibt es etwas Kostbareres als unterbliebene Schriften, also Momente, in denen einer davon Abstand nahm zu schreiben? Was ließ Adorno zögern?
Der erstaunlichste Hinderungsgrund bekundet sich im Eingeständnis: »Über einem solchen Text liegt der Riesenschatten der ›Kritik des Gothaer Programms‹ von Marx, und ich bitte es nicht als anmaßend zu betrachten, wenn ich hinter diesem Vorbild nicht zurückbleiben möchte.« Hier haben wir sie also, die Schreibhemmung allererster Güte namens Karl Marx!
Was Adorno innehalten ließ, war weniger Rücksichtnahme auf lebende Leser als auf die Schriften eines Toten. Diese Rücksicht scheint uns in der Tat abhanden gekommen zu sein. Wer wollte sich, so Nassehi, »noch als Licht im Schatten von Vorgängertexten stilisieren, die zu übertreffen auch eine negative Dialektik nicht in Frage stellen könne. Solche Sprecherpositionen gibt es aus guten Gründen nicht mehr.« Es gab einmal eine Zeit, in der man die alten Texte nicht nicht überbieten wollen konnte. Wobei die »guten Gründe«, warum es damit nun vorbei ist, von Nassehi nicht ausgeführt werden. Ich bin jedenfalls geneigt, Nassehis Verdikt ein wenig abzumildern: Einer, der sich wie Adorno in einen »Riesenschatten « gestellt sieht, muß sich nicht gleich für die Sonne selbst halten oder sich als »Licht stilisieren«. Besteht nämlich ein alternativer Weg, sich für ein großes Licht zu halten, nicht gerade darin, die Existenz von »Riesenschatten« zu leugnen? Was ist vermessener: das Ansinnen, es mit jemandem wie Marx aufzunehmen, oder aber der Entschluß, ihn zu ignorieren?
Adornos Verlegenheit ist eine doppelte. Gewiß, es ist ihm etwas peinlich, sich dem Vergleich mit einem Marx-Text auszusetzen (»ich bitte es nicht als anmaßend zu betrachten …«), doch diese Betretenheit setzt eine andere voraus: Hier sah sich jemand von einem Text aus der Vergangenheit derart in Verlegenheit gebracht, daß ein eigener Text nicht zustande kam. Was hat es mit dieser Besorgnis auf sich, Ansprüchen nicht gerecht zu werden, die aus der Geschichte in die Gegenwart hineinragen? Und gehören solche Ansprüche nunmehr selbst der Vergangenheit an? Ich kenne keinen Text, der darüber mehr Aufschluß gibt als Boris Groys’ »Politik der Unsterblichkeit. Vier Gespräche mit Thomas Knoeffel« von 2002:
»Als Philosophen oder als Künstler stehen wir vor allem im Wettbewerb mit den Toten. Im Grunde wollen wir, daß Hegel oder Kant uns sagen: Auf diese Idee bin ich nicht gekommen, wie wunderbar hast du das gemacht. Unsere eigentlichen Leser sind die Toten. Auch wenn wir meinen, Platon oder Kant überwunden zu haben – wirklich beseitigen können wir sie nicht. Aber wir können auch nicht von ihnen anerkannt werden, wie wir es uns insgeheim wünschen.«
Damit geht Groys über das hinaus, was die Rezeptionsästhetik als Erklärung des geschichtlichen Lebens literarischer Werke in Anschlag gebracht hat. Kontextualisierende (Kunst-)Theorien stoßen rasch an ihre Grenzen, wenn es um die Frage geht: Warum gehen einen die Texte längst Verstorbener in jedem Sinn des Wortes an? Warum kann uns ein Werk betreffen, »das als bloßer Reflex einer längst überwundenen gesellschaftlichen Entwicklungsform nur noch das Interesse des Historikers verdienen würde«, wie Hans Robert Jauß in »Literaturgeschichte als Provokation« schrieb? Die Antwort auf die Frage, aus welchen Gründen Werke jenseits ihres Entstehungskontexts rezipiert werden, fiel bei der Rezeptionstheorie seltsam zirkulär aus: Sie werden rezipiert, weil sie rezipiert werden. Jauß: »Das literarische Ereignis hat im Unterschied zum politischen nicht für sich weiterbestehende unausweichliche Folgen, denen sich keine nachfolgende Generation mehr entziehen könnte. Es vermag nur weiterzuwirken, wo es bei den Nachkommenden noch oder wieder rezipiert wird – wo sich Leser finden, die sich das vergangene Werk neu aneignen oder Autoren, die es nachahmen, überbieten oder widerlegen wollen.«
Doch warum sollte man ein Werk nachahmen, überbieten und widerlegen wollen, wenn man nicht zunächst im Bann des Eindrucks stünde, daß es von sich aus fortwirkt, ob nun als verpflichtende Instanz, Herausforderung oder verhängnisvoller Irrtum? Jauß’ Fehler ist die Annahme, daß die »Pflege« der Tradition den Lebenden obliege und daß diese augenblicklich verfallen würde, wenn sich nicht jede Generation dazu bereit erklärte, sie sich von neuem anzueignen. Die Vitalität einer Denktradition hängt jedoch weniger davon ab, ob man sie rettet, sondern eher davon, ob man sich vor ihr oder in ihr rettet. Wenn es nämlich Groys’ »Wettbewerb mit den Toten« gibt, dann bedürfen diese weniger des Beistands der Lebenden, als daß die Lebenden vor den Toten bestehen müssen. Ironischerweise hätte die Rezeptionstheorie also den Rezipienten nicht stark genug gewichtet. Sie hätte sich mit der Auskunft begnügt, daß die Meisterwerke gelesen und wiedergelesen würden. Sie hätte nicht zugestehen wollen, daß sie insofern groß sind, als sie uns lesen: Sie sind der eigentliche Rezipient und Adressat unserer Schriften. »Unsere eigentlichen Leser sind die Toten«, schreibt Groys. In Jauß’ Gedanken von der »Aktualisierung literarischer Texte durch den aufnehmenden Leser« bleibt die Möglichkeit der Aktualisierung aktueller Texte durch aufnehmende tote Leser ungedacht.
Demnach bestünde die angemessene Reaktion auf eine Standardfrage wie »Was hat uns Hegel heute noch zu sagen?« nicht darin, sie zu beantworten, sondern zurückzuspielen: »Was hätten Sie Hegel denn zu sagen?« Das Schicksal solcher Texte ist in dem Moment zu ihren Ungunsten entschieden, da sie vor der Gegenwart in der Rechtfertigungspflicht stehen, anstatt daß sich die Gegenwart in ihrem Licht erklären muß. Anders gesagt: Hegel, Kant oder Marx anzuerkennen, impliziert immer schon den Wunsch, von ihnen, oder wenigstens in ihrem Sinne, anerkannt zu werden. Alle »guten Gründe« sind in dem Falle schon die ihrigen, nämlich Gründe, die man ihren Texten entnehmen kann. Wer also fragt, warum er die Texte von Toten ernst nehmen sollte, hat sich bereits darauf festgelegt, daß er nicht gewillt sei, hinsichtlich ihrer ernst genommen zu werden. Das bedeutet nicht, daß die Frage falsch ist, wohl aber, daß sie nicht neutral ist. Und es bedeutet auch, daß es sich gar nicht um eine echte Frage handelt, weil sie die Antwort immer schon in sich trägt. Zudem wäre es viel zu harmlos, sich zu fragen, ob man beim Schrei ben den Schriften der großen Toten Rechnung tragen sollte. Gerade Adorno hat in dem Moment, der uns hier interessiert, gezeigt, daß ihnen Rechnung zu tragen bisweilen auch bedeuten kann, gar nicht zu schreiben.
Die »Relevanz« vergangener Texte für die Gegenwart entscheidet sich nicht an der Frage, inwieweit die Toten recht hatten oder falsch lagen. Wenn sie nämlich relevant sind, dann weil sie nicht aufhören, einem recht zu geben oder weil sie einen weiterhin aufs Glatteis führen. Noch immer muß man sich ihrer Irrtümer erwehren, noch immer ihre Bestätigung einholen. Gewiß ist es problematisch, derartiges zu sagen. Unleugbar tut sich hier eine verdächtige spiritistische Tendenz kund. Dabei ist aber weitaus mehr im Spiel als die Frage, ob jemand ernstlich an die Gespenster namens Kant, Hegel oder Marx glaubt. Es geht darum, ob diese Gespenster an einen selbst glauben.
Die besondere Ironie besteht darin, daß es Groys nicht bloß darum geht, eine »karrieristische « und falsche Form des Philosophierens von einer sachorientierten, wahren zu unterscheiden. Groys ist erklärter Pragmatist, wenn nicht gar Neoliberaler, der in den Begriffen des Wettbewerbs denkt. Würde er den Neoliberalismus für irgend etwas kritisieren, dann allenfalls für das Unlautere eines Wettbewerbs, zu dem allein Lebende Zugang haben, obgleich die Toten recht besehen die stärksten Konkurrenten sein müßten.
Es gibt ein weiteres anti-neoliberales Element: Die Toten, und nicht der »Markt«, sind die letzte Instanz: »Wenn ich von der Pragmatik des philosophischen Erfolgs spreche, dann meine ich damit weniger den Erfolg bei den Lebendigen als den Erfolg bei den Toten.« Wobei diese Pragmatik nicht sonderlich pragmatisch anmutet: Philosophieren soll hier nämlich heißen, die berühmten Toten noch einmal töten zu wollen und rückwirkend ihre Bestätigung einzuholen, und dies im vollen Bewußtsein der Tatsache, daß der eine Wunsch dem anderen widerspricht und beide unerfüllbar sind. Man weiß deshalb nicht recht, ob der Kampf gegen die Toten überflüssig oder aussichtslos ist, »denn auf der einen Seite sind sie, Gott sei Dank, tot, aber auf der anderen Seite gehen sie uns immer weiter auf die Nerven«. Ein solcher Kampf trüge gleichermaßen lächerliche wie heroische Züge. Man fragt sich unwillkürlich: Was wäre das Ziel? Groys’ Antwort: in gewisser Weise selbst tot sein.
»Was ich unter Genuß verstehe, ist die Möglichkeit, nachdem man sein Grab gebaut hat, darin ruhig zu liegen und dieses Grab zu genießen, noch bevor man tot ist. Bei vielen Autoren, die ihre philosophischen Konstruktionen schon gebaut haben, spürt man das Gefühl: Meine Grabstätten sind bereits da, alles bleibt erhalten. Dann tritt eine gewisse Entspannung ein, die Bereitschaft zur ungezwungenen Plauderei – eben ein bißchen angenehmes Leben im Tode.« Das Verhältnis zum eigenen Tod würde ein chiastisches sein: Philosophieren hieße vom Wunsch geleitet sein, nach dem Tode fortzuleben, im Gegenzug jedoch zeit seines Lebens tot zu sein. Man muß das vor dem Hintergrund des grassierenden Biographismus lesen, der glaubt, uns daran erinnern zu müssen, daß die großen Toten ganz normale Menschen mit gewöhnlichen kleinen Leben gewesen seien. Peter Sloterdijk hat in diesem Zusammenhang von der »Liquidierung des alteuropäischen Theoriesubjekts « gesprochen, wodurch »nun auch die theoretischen Menschen wieder wie Leute von nebenan erscheinen, sollten sie auch Albert Einstein, Max Weber, Claude Lévi- Strauss oder Niklas Luhmann heißen«. Ironischerweise bestünde diese Liquidierung darin, den Theoretiker ins pralle Leben zurückzuholen, weshalb Sloterdijk mutmaßen konnte: »Nicht alle Subjekte von Reanimationen begrüßen ihre Rückkehr ins volle Leben, ja, ich hege den Verdacht, sie bedauerten ihre Zurückholung aus dem schönen Tod der Interessenlosigkeit in die Arena der kognitiven Realpolitik.« (»Scheintod im Denken«, 2010)
Mit Groys will ich zweierlei zu bedenken geben: Erstens hätte Philosophie weniger mit dem »schönen Tod der Interessenlosigkeit « zu tun, sondern bedeutet, sich für Tote zu interessieren, wenn nicht gar, sich für Tote interessant zu machen. Zweitens würde die Verwandlung des Theoretikers in einen Normalsterblichen ihn nicht notwendigerweise seines Status als Theoretiker berauben. Vielmehr verwandelt er sich erst dadurch, daß er etwas Definitives geschrieben hat, in einen normalen Menschen, mit dem sich ungezwungen plaudern ließe. Vor diesem Zeitpunkt wird er dagegen ein anstrengender Zeitgenosse sein, der sich seinen Platz erkämpfen muß. Normalität gäbe es nicht vor der Theorie und als deren Quelle; normal und entspannt wäre der Theoretiker erst nach seinem Tod, der ihm in Gestalt der eigenen Konstruktionen entgegentritt. Hier begegnet einem übrigens ein weiterer Grund nicht weiterzuschreiben: Man hält nicht deshalb inne, weil man glaubt, vor gewissen Toten nicht bestehen zu können, sondern weil man glaubt, als Toter selbst Bestand zu haben.
Groys gibt nirgendwo ausdrücklich zu, mit der Erhaltung seiner Grabstätte zu rechnen, hat aber für das Titelbild als Leiche posiert, die mit offenen Augen im Bett liegt, während auf dem Beistelltisch die, wie man es ihm gern wünschen würde, definitiven Papiere liegen. Dazu paßt nicht ganz, daß er am Ende des Gesprächs bestreitet, am Wettbewerb mit Toten teilzunehmen: »Wenn die Philosophie eine Lebensform und ein Wettbewerb ist, dann bedeutet die philosophische, kontemplative Haltung in bezug auf die Philosophie die Nicht-Teilnahme an diesem Wettbewerb. Ich befinde mich viel lieber auf der Zuschauerbühne.« Kontemplativ sein kann man demnach nicht erst, wenn die eigenen Konstruktionen gebaut sind, sondern auch indem man anderen dabei zusieht, wie sie die ihren errichten. Doch wer macht das eigentlich noch?
Wenn Nassehis Behauptung stimmt, daß man mittlerweile davon Abstand nimmt, Vorgängertexte als Bezugspunkte des eigenen Schreibens zu begreifen, würde einem solchen Zuschauer nicht viel geboten. Diese Erfahrung kann man tatsächlich machen: Sobald die Texte der Vergangenheit als mehr oder minder unbeträchtlich gelten, büßen paradoxerweise auch diejenigen der Gegenwart ihre Wirksamkeit ein. Zwar würde sich Nassehi, wie er schreibt, Enzensbergers Satz »verzeihen sie meine ungeduld: es ist aber nicht ein redakteur, der hier drängt, es ist die sache selbst« gern für die eigene Autorenkorrespondenz ausbedingen, zugleich muß er aber eingestehen, »daß sich im Kontakt mit Autorinnen und Autoren heutzutage viel seltener geschichtsphilosophische Wucht oder gar ein Fenster für eine Offenbarung auftut«. Die Sache selber drängt nicht mehr zum Text, sie drängt am Text vorbei. Als hätte man in dem Moment, da man sich der Bürde der Vergangenheit entledigte, nicht nur an Unbefangenheit gewonnen, sondern sich zugleich um alle Relevanz für die Gegenwart gebracht. Ein weiterer Grund, weshalb Adorno den Text über das Godesberger Programm schuldig blieb, bestand darin, daß er beim Verfassen seiner »Negativen Dialektik « ins Stocken geraten war. Ihre Fertigstellung erforderte höchste Konzentration. Die heutigen Autoren des Kursbuchs würden Nassehi zufolge auch deshalb kaum eine Anfrage ausschlagen, weil sie nun einmal nicht damit beschäftigt seien, eine »Negative Dialektik« zu schreiben. Schade eigentlich. Für Groys hatte sich die Situation deshalb schon 2015 ins Gegenteil verkehrt: »Wenn ich früher an meinen Tod dachte, war ein unangenehmer Gedanke immer der, daß, wenn ich sterbe, in der Kultur noch viel geschehen wird. Heute fühle ich mich glücklich, denn die Kultur ist früher gestorben als ich. Also kann ich glücklich sterben in der Überzeugung, daß nach meinem Tod nichts mehr passieren wird, was mich hätte interessieren können.« (Boris Groys, Frank M. Raddatz: »Geld schlägt Wort«, in: Lettre International 2015 / 111)
Im Abstand eines guten Jahrzehnts präsentiert er somit zwei Versionen vom Glück des Theoretikers, die auch zwei unterschiedliche Weisen sind, sich mit der eigenen Sterblichkeit abzufinden: Bei der einen besteht sein Glück darin, sich schon zu Lebzeiten in den Archiven der Kultur begraben fühlen zu können, bei der anderen darin, Zeuge zu werden, wie diese selbst begraben werden.
SINN UND FORM 1/2022, S. 124-128
Trutmann, Albertine
Sanskrit-Lyrik auf deutsch? Von der Schwierigkeit, Murāris Gedichte zu übersetzen, S. 128
Beyer, Marcel
»Und wie geht der Gesang«. Laudatio auf Anja Kampmann, S. 132
Thimm, Günter
Nicht immer Kiefer am Waldrand, S. 137