
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-58-4
Heft 2/2021 enthält:
Kunert, Günter
Besuche beim reichen B. B., S. 149
Hauptmann, Elisabeth
»2 × sehr über ihn geärgert«. Tagebuchaufzeichnungen zu Brecht. Mit einer Vorbemerkung von Martin Kölbel und Peter Villwock, S. 155
Schwinghammer, Mae
Covids Metamorphosen. Gedichte, S. 164
Weiland, René
Wenn Philosophie vom Denken abhält, S. 167
Kienlechner, Sabina
Die Mutter, das dritte Geschlecht, S. 178
(...)
Die Menschen um sie herum, Arzt, Hebamme, Hebammenschülerin, Kindsvater und wer sonst noch dem Ereignis assistiert, erscheinen ihr (...)
Kienlechner, Sabina
Die Mutter, das dritte Geschlecht
(...)
Die Menschen um sie herum, Arzt, Hebamme, Hebammenschülerin, Kindsvater und wer sonst noch dem Ereignis assistiert, erscheinen ihr ungewohnt plastisch, charaktervoller denn je, wie Titanen in ein Tun involviert, dessen taghelle Oberflächlichkeit ihr noch niemals aufgegangen war. Ihr eigener dunkler Blick ruht auf ihren geschäftigen Gesichtern: Wie aus tiefstem Meeresgrund blickt sie hinaus in das, was man Wirklichkeit nennt. Sie ist überzeugt, daß nie ein Strahl des menschlichen Geistes in diese physiologischen Tiefen vordrang oder jemals vordringen wird: aus denen aber doch soeben ein Mensch geboren werden soll. Alles, woran sie bisher geglaubt hatte, stürzt lautlos in sich zusammen, und vor Staunen wird der Frau ganz kalt.
Nach einer Weile überläßt sich die Frau dem Schmerz; sie achtet nur noch darauf, ihre Atmung seinem rhythmischen Wellengang anzupassen und dem Geschehen keine Hindernisse in den Weg zu legen. Sie hat begriffen: Ihrem Körper, ihrem eigenen Körper geht es jetzt nicht mehr um sie, sondern nur noch um den Menschen in ihr. Es ist ein absolut einzigartiger Zustand: Niemals hätte sie sich vorstellen können, daß ihrem Körper je etwas anderes wichtiger sein könnte als der Erhalt ihrer selbst. Deutlich hat sie das Gefühl, daß nicht er es ist, der das alles in Bewegung gesetzt hat. Es ist das Organ, welches das Kind umschließt: Es ist in ihr, aber es gehört nicht zu ihr, es gehört zum Kind. Es arbeitet nur für das Kind. Unter Mißachtung sämtlicher Gesetze und anscheinend bereit, wenn nötig auch über Leichen zu gehen, nimmt und verwertet es alles, dessen es nur habhaft werden kann, für diesen einzigen Zweck. Nur der absoluten Entschlossenheit dieses Organs ist es zu verdanken, daß ihr Körper es geschehen läßt und sogar den Verstand aufgibt, der noch kleinlaut versucht, Einspruch zu erheben; wie eine lästige, nutzlose Hülle bleibt er zurück.
Mit grenzenlosem Staunen unterwirft sich die Frau. Ihr gehorsam pumpendes Herz füllt sich mit einer fast demütigen Hochachtung vor diesem Organ, das zu solch rücksichtsloser Mütterlichkeit fähig ist. Keine Menschenseele könnte je mit ihm konkurrieren. Die Evolution hat das Organ in ihren Körper verlegt oder dort belassen: eine Evolution, die bis ans äußerste gegangen ist, an den äußersten Rand einer stets noch naturimmanenten Widersprüchlichkeit. Sie ließ zu, daß der Mensch einen Menschenverstand entwickelte, mit dem er alles zu seinem Nutzen auslegt – dem Kind aber reservierte sie eine rein physiologische Mutter: als wolle sie die größten und elementarsten Aufgaben dem Menschenverstand lieber nicht anvertrauen.
Wenn das Kind geboren ist, hört das mütterliche Organ fast augenblicklich auf zu arbeiten; eine einzige Wehe noch für die Nachgeburt: und dann nichts mehr. Die Frau schlägt die Augen auf und betrachtet das Kind mit Neugier und Befremden. Keinen Augenblick hat sie das Gefühl, das Kind sei ein Stück von ihr. In der Somatotopie ihrer Großhirnrinde ist das Kind nicht repräsentiert. Es ist ein absolut eigenes Wesen.
Die Frau ist wieder Frau: ein ganz normaler Mensch. Nichts Mütterliches regt sich mehr in ihrer Tiefe. Es gehört zu den Eigenschaften des Gattungswesens Mensch, daß das biologisch Mütterliche auf die Tätigkeit der Gebärmutter beschränkt ist. Alles weitere muß erlernt werden, auch das Stillen. Während die Frau zuvor, in den Stunden der Geburt, sich schlechthin nicht zu den Geschehnissen verhalten konnte, ist sie jetzt wiederum in der Lage, sich schlechthin zu allem verhalten zu müssen. Für jeden weiteren Schritt, den sie tut, ist sie verantwortlich, bei jedem muß sie ihren Verstand zu Hilfe nehmen. Es ist nicht selbstverständlich, daß sie sich des Kindes annimmt. Es mag für sie außer Frage stehen, aus den verschiedensten Gründen: aber die Natur gebietet es ihr nicht. Nichts von der physiologischen Mutter ist auf die Frau übergegangen. Dafür aber auf das Kind: Das Kind hat die Natur dieser Mutter geerbt. Tatsächlich ist dies seine einzige Natur: denn vorerst gibt es nichts an dem Kind, das irgendwie anders als in physiologischen Termini beschrieben werden könnte. Was immer das Kind auch »mitbringen« mag ins Leben – es hat bisher keine weltliche Gestalt; keine Eigenschaften, keine Werte, keine Inhalte. Man sagt der Frau: das Kind erkenne seine Mutter, es kenne ihren Herzschlag, ihre Stimme ... Aber das ist ein Mißverständnis. Das Kind kennt ihren inneren, das heißt physiologischen Herzschlag, ihre physiologische Stimme. Es ist das physiologische Kind einer physiologischen Mutter.
Nichts aber kann darüber hinwegtäuschen, daß es von dieser Mutter nun entbunden ist. Die pumpende, rauschende Zuverlässigkeit der physiologischen Tiefe hat es vertauscht mit der Offenheit der Welt. Die Nähe, die zuvor in absoluter Weise gegeben war, muß nun von Augenblick zu Augenblick erst entdeckt und erobert werden. Jede Art der Begegnung ist völlig neu.
Der Frau ergeht es nicht viel anders: Auch für sie ist diese Begegnung völlig neu. Kein »Instinkt« ist ihr behilflich; im Gegenteil. Ihr »Instinkt« scheint sich partout an das halten zu wollen, was sie über Kindererziehung schon zu wissen glaubt: Angelesenes, Gehörtes, Zusammengereimtes, Gewähntes, Gewolltes und das, was Intuition und Liebe ihr vorgaukeln. Nichts von alldem läßt sich anwenden; es steht nur im Wege. Die Frau ist von dem Kind eine Welt weit entfernt, im buchstäblichen Sinn. Was immer sie wahrnimmt, ist vom Vorurteil des Weltlichen vereinnahmt.
Bestürzt stellt die Frau fest, daß sie auf die Präsenz des Kindes in keiner Weise vorbereitet ist. Der Schrei des Kindes vermag ihr nicht zu sagen, was das Kind »will«; das Kind will nichts; der Schrei besagt nur, daß bereits etwas schiefgelaufen ist. Die Frau muß darauf eingehen, sie muß ihr Verhalten ändern, muß Abhilfe schaffen, möglichst sofort – aber wie? Wie kann sie in die Welt des Kindes eindringen, die mit der Welt, die sie kennt, nichts zu tun hat? Sie kann ihre »Intuition« zu Hilfe nehmen, gewiß ... aber sie wird doch merken, wie sehr auch die Intuition an die Erfahrung des Weltlichen gebunden ist. Immer wieder fällt sie in die gewohnten Denkbahnen zurück, sie kann es gar nicht verhindern. Immer wieder ist sie versucht, das Kind zu interpretieren, als gälte es herauszufinden, was es eigentlich im Schilde führt, immer wieder beurteilt sie es nach dem Maßstab eines zwar noch sprachlosen, aber doch schon eigensinnigen Menschen; sie kann sich einfach nicht vorstellen, daß seine Existenz sich nicht nach irgendwelchen Normen richtet. Wieder und wieder ertappt sie sich dabei, dem Kind etwas beibringen zu wollen, mit den Mitteln der Domestikation. Ihre Augen blicken auf das Kind, aber sie haben nicht gelernt zu beobachten. Sie erkennen nichts.
Sie wird es nicht schaffen, ohne den Verstand zu Hilfe zu nehmen. Es ist eine durch und durch paradoxe Leistung, die ihm abverlangt wird: die Rückkehr zur totalen Präsenz. Der Verstand muß lernen zu verzichten, keine seiner gewohnten Hochleistungen ist hier gefragt. Statt dessen beginnt die Frau, sich auf das Nächste und Unmittelbarste zu konzentrieren, auf die tausend Handgriffe, die sie tut von morgens bis abends, auf die kurzen Wege, die sie geht, auf die Räume, die sie so selbstverständlich umgeben, sie hört die unendliche Folge der Töne und Geräusche, an denen ihr Ohr schon seit langem nicht mehr interessiert war, sie sieht die zahllosen unscheinbaren Gebrauchsgegenstände, die immer zur Hand sind. In einem kleinen Umkreis entfaltet sich die Welt auf eine längst vergessene Weise, sie gibt das Unbeachtete preis, sie zeigt ihr ganz und gar alltägliches Gesicht: als sei es ihr höchstes Gut. Mit einem Mal fühlt die Frau die Nähe ihres Kindes; sie hat es endlich gefunden. Ihre Blicke kreuzen sich, und sie sieht in seinen Augen die ersten Zeichen des Verstehens und erstmals ein Lächeln, das etwas zu sagen hat; es sagt: Wir sind zusammen in der Welt.
SINN UND FORM 2/2021, S. 178-183, hier S. 180-183
Buselmeier, Michael
Auf der Eiskante. Gedichte, S. 184
Bürger, Christa
Widersagung, S. 188
Brissa, Enrico
Schein und Sein. Manieren in Tomasi di Lampedusas »Der Leopard«, S. 203
Kluge, Alexander
Die zärtliche Kraft als Wurzel der Aufklärung. Gespräch mit Thomas Combrink, S. 214
Pietraß, Richard
Fürwitz. Gedichte, S. 222
Brombert, Victor
Lob der Eifersucht?, S. 224
Różycki, Tomasz
Morgen die Sintflut. Gedichte, S. 235
Różycki, Tomasz
Sternenvehikel. Zum Übersetzen von Gedichten, S. 240
1. Als ich, zusammen mit anderen mehr oder weniger gelungenen Definitionen von Poesie, vor Jahren Robert Frosts Aussage »I could define poetry this (...)
Różycki, Tomasz
Sternenvehikel. Zum Übersetzen von Gedichten
1. Als ich, zusammen mit anderen mehr oder weniger gelungenen Definitionen von Poesie, vor Jahren Robert Frosts Aussage »I could define poetry this way: it is that which is lost out of both prose and verse in translation« in polnischer Übersetzung zum ersten Mal las, fand ich sofort, dies sei einer jener wunderbaren und zugleich scheußlichen Sätze, in denen kein Wort ersetzt oder gar umgestellt werden kann. Ein Satz wie eine mathematische Gleichung mit einer Unbekannten. Und zugleich eine dieser Definitionen, die, statt etwas zu erklären, weitere Fragen provozieren und uns nicht sicherer machen, sondern leicht benommen und verloren zurücklassen. Wenn sie überhaupt etwas sagt, dann vor allem, was Poesie nicht ist – was sie sein könnte, bleibt offen. Eine Definition, die nichts definiert, die zu keiner Grenze und zu keinem Ende führt, wie sie es dem lateinischen Ursprung des Wortes nach sollte. Eine negative Definition. Es gibt keine Grenze. Es gibt kein Ende. Solche Definitionen mag ich am liebsten. Vielleicht liegt es am Alter, vielleicht an den Dingen, mit denen ich mich beschäftige.
2. Da schon das Wort Grenze fiel: Bei allem, wovon hier die Rede sein wird – Dichtung, Schreiben, Übersetzen –, geht es um vorhandene oder fehlende Grenzen. Es geht darum, sie zu überschreiten, sowohl konkrete, wie Mauern, Stacheldrahtverhaue oder Minenfelder, als auch abstrakte, wie Verbote oder strikte Formen. Das sage ich nicht allein deswegen, weil ich über Fragen des Übersetzens spreche und aufgrund meiner Tätigkeit besonders neugierig bin, was auf der anderen Seite ist, unter anderem auf der Seite der Übersetzer. Ich sage es auch nicht deswegen, weil das Übersetzen heute eine Wertschätzung erfährt wie wohl nie zuvor und weil immer mehr und immer besser übersetzt wird. Dadurch hat die Menschheit die Chance, sich besser kennenzulernen, sich neuer schmerzlicher Details ihrer Existenz bewußt zu werden. Manche behaupten, die Übersetzer retteten die Welt, zu deren größten Problemen es gehöre, daß die Menschen einander nicht verstehen. Sowohl die Globalisierung als auch der große babylonische Turm der westlichen Zivilisation sind nicht zuletzt das Verdienst von Übersetzern. Der menschliche Drang zu Systematisierung und Abgrenzung hat die Translationswissenschaft hervorgebracht, die inzwischen an fast allen Universitäten praktiziert und gelehrt wird. Es wird immer mehr übersetzt und immer weniger gelesen, und vielleicht wachsen deshalb Bitternis und Verzweiflung in der Welt analog zur Zahl ihrer Bewohner, analog zur Zunahme der Möglichkeiten, sich zu äußern, und zur Meinungsfreiheit, während sich in fast allen Sprachen das fortschreitende Bewußtsein vom Ende der Menschheit zu Wort meldet. Wenden wir uns also wieder dem Ende zu, dem Begriff der Grenze, dem Transitverkehr und der Immigration der Wörter.
3. Zunächst geht der Dichter über seine Grenzen hinaus. Er tut das, indem er Wörter schreibt, Buchstaben zu Wörtern zusammensetzt. Dabei offenbart sich seine psychische – oder vielleicht sollte man sagen: geistige – Substanz. Dann geht der Leser aus sich heraus, indem er liest. Seine psychische – oder geistige – Substanz findet ihren Platz auf den für ihn anfangs ja fremden Seiten der Dichtung. Und manchmal geschieht ein Wunder: Der Leser betrachtet die Wörter eines Gedichts als seine eigenen. Später verläßt die Lyrik die Grenzen ihrer Sprache und auch der Übersetzer überschreitet eine Grenze, indem er übersetzt. Er ist in seiner Sprache Leser und Dichter zugleich. Das Wort translatio bedeutet ursprünglich Hinübertragen, Hinüberbringen. Das Wichtigste geschieht also in der Bewegung und in der Überschreitung, in der Transzendierung, und der Übersetzer ist derjenige, der die Ware über die Grenze bringt, derjenige, der selbst bei größter moralischer Integrität mehr transportiert, als in den Frachtpapieren steht, der – ob er will oder nicht – zum Schmuggler wird.
4. Natürlich hat Frost recht: Der Übersetzer verliert einen Teil seines Schmuggelguts, ein Teil wird ihm an der Grenze abgenommen, ein Teil verflüchtigt sich von selbst. Außerdem muß er Zoll zahlen. Bisweilen ist die Entfernung, die überwunden werden muß, zu groß, und damit meine ich nicht nur die Sprachen, die durch Meere, Gebirge und Ozeane voneinander getrennt sind, sondern auch die Zeit, zumal wenn etwa in unseren Tagen ein Übersetzer aus unbekannten, zweifelhaften Gründen beschließt, ein Gedicht aus dem 16. Jahrhundert zu übersetzen. Zum Glück – auch zu seinem eigenen – merkt der Übersetzer oft gar nicht, daß ihm etwas entging. Auch deshalb, weil unser ganzes Leben ab der Geburt das Resultat einer Subtraktion ist und der Verlust fest und selbstverständlich dazugehört. Frost hat auch insofern recht, als derartige Sentenzen etwas in sich tragen, das auch ein Merkmal von Poesie ist – sie sind ebenso universell wie hermetisch, sie sollen uns verführen. Ihr Sinn entzieht sich uns, als läge er jenseits der Zeilen, doch sie bezaubern uns durch ihre Anmut, sie wecken unsere Neugier, sie wollen entdeckt werden, wollen, daß wir ihnen folgen. Immer in der Nähe, immer einen Schritt voraus. Frosts Satz ist wie die Poesie, von der er spricht. Sie ist das, was verlorengeht, was wir verlieren, was sich uns entzieht, was in ständiger Bewegung ist. Und wir laufen immer hinterher. Doch wenn die Poesie das ist, was in der Übersetzung verlorengeht, dann müßte man, um sie wiederzufinden, eine Subtraktion durchführen, das heißt Original und Übersetzung vergleichen. Also – welch absurde Operation – die Übersetzung vom Original abziehen, und was übrigbliebe, wäre die Poesie. Nur was sollte das sein? Der Klang? Die Musik? Die Stimme? Der Kontext? Die Geschichte? Die Erfahrung? Das Leben des Autors? Die Geschichte der Sprache, in der er das Gedicht schrieb? Die Summe seiner Lektüren, die Momente der Begeisterung oder der Langeweile beim Lesen oder Hören fremder Texte? All seine Vormittage? All seine Nächte? All seine Feinde und all seine Lieben? Daß er blind war? Daß er hinkte? Daß seine Nachbarn ihn für einen Besessenen hielten? Daß er ein italienisches Mädchen war, das im Lyon des 16. Jahrhunderts auf italienisch schrieb? Daß er der russischsprachige Sohn eines jüdischen Tuchhändlers aus Warschau war? Der Enkel schwarzhäutiger Sklaven, die auf die Antillen verkauft worden waren? Eine Hofdame im Japan des 11. Jahrhunderts? Ja, all das und vieles mehr. Kurzum alles, was sich nicht übersetzen läßt. Wir können aber auch annehmen, das Leben eines Autors sei wenig relevant oder der Autor sei ganz einfach tot und es lebten nur die Originale seiner Gedichte. So sollte es doch eigentlich sein, oder? Was also geht in der Übersetzung verloren? Der Klang? Der Kontext? Die Stimme? Die Historie? Die Geschichte der Sprache, die erklingt, und das Besondere der in ihr gesagten Worte, deren versteckte Bedeutungen und emotionale Aufladungen? Wie, wie oft und von wem sie zuvor benutzt wurden, in welchem anderen Gedicht und in welchem Lied, das abends auf dem Balkon gesungen wird? Oder daß sie eben noch nie in einem solchen Kontext benutzt wurden? Und schon ist nicht mehr der Autor wichtig, sondern der Leser dieser Gedichte: sein Leben, seine Vormittage und Nächte, seine Lektüren und Lieben, seine Krankheiten und Obsessionen. Daß er die Tochter eines Immigranten aus einem armen, vom Krieg zerstörten Land ist. Daß er eine Brille mit sehr dicken Gläsern tragen muß. Daß er Hunde lieber mag als Katzen. Jedesmal spricht ihn die Lyrik auf andere Weise an, weil er ihr jedesmal eine andere Stimme gibt. Jeder einzelne Lektüreakt ist anders, einzigartig, und diese Einzigartigkeit hat wenig mit dem Wörterbuch zu tun, sie spielt sich anderswo ab, neben den Wörtern, vielleicht über ihnen. Vereinfacht können wir sagen: in der Psyche des Lesers oder, wenn wir das griechische Wort übersetzen, in seiner Seele. Im geistigen Raum. Derlei kann man schwerlich einpacken und über die Grenze transportieren und gleichzeitig hoffen, daß sich unterwegs nichts davon verflüchtigt.
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 2/2021, S. 240-248, hier S. 240-242
Schäfer, Hans Dieter
Der Anschein vollkommener Leere. Gedichte, S. 249
Georgi, André
Der Türke, S. 253
Greg, Wioletta
Silberne Unendlichkeitszeichen. Gedichte, S. 259
OSTERGEDICHT
Kalter April. Die Küken reiften
in dem Käfig unter der großen Glühbirne,
die wir Glucke nannten.
Ich (...)
Greg, Wioletta
Silberne Unendlichkeitszeichen. Gedichte
OSTERGEDICHT
Kalter April. Die Küken reiften
in dem Käfig unter der großen Glühbirne,
die wir Glucke nannten.
Ich gab ihnen kleingeschnittenes Futter:
hartgekochte Eier, Schafgarbe, Wasser auf einem Deckel.
Ich schaute sie an – Geschöpfe, die nach Sand und
Schleim rochen, ausgeschlüpft aus einer Dunkelkammer,
die wie die Pausen in der Stromversorgung war.
Dieses Knistern in der Dunkelheit, wenn die Birne erlosch,
die steif werdenden Fleckchen, das Flimmern.
SCHWIMMUNTERRICHT
Ich war kaum sechs Jahre alt, als Vater
mir den ersten Schwimmunterricht gab,
mich mitten auf dem See vom Floß stoßend.
»Nur die Starken überleben«, sagte er,
als ich mit blauen Lippen auftauchte
Jahre später. Er selbst war vorher
am Ufer desselben Sees gestorben.
Nach seinem Tod zog ich auf eine Insel,
die allmählich von der Landkarte verschwinden wird.
Ich kann nicht einschlafen, wenn es stürmt im September,
wenn Algen die Klippen stempeln und der Wind Lavendel
von der Erde löst. Wieder ertrinke ich und auferstehe.
VERSPÄTETE FÜTTERUNG DER BIENEN
Vater rührt mit dem Löffel die braune Melasse.
Luftbläschen entweichen aus dem Topf,
greifen seine geschwollenen Finger an.
Mit dem fertigen Karamel läuft er in den Garten,
wo zwischen Johannisbeersträuchern die Beuten schlafen
und der Frost die Bienen mit Stacheln durchbohrt.
Ihr Blut erstarrt in den Chitinkörpern.
In den unterteilten Augen schwindet der Glanz
und zerfließt zu einem unbegreiflichen Ganzen.
AM BOZY STOK IM JULI
Die Sonne heftet über das Wasser
die regenbogenfarbenen Broschen der Libellen.
Zwischen Steinen hindurch schlüpfen
silberne Unendlichkeitszeichen.
Die Kinder bauen einen Damm aus Erde,
suchen Schätze im Schlamm,
kratzen den Grind von Mückenstichen ab
und erklären den Kletten den Krieg.
Am Ufer ein sommersprossiger Charon,
der mit Papierschiffchen spielt.
VERSCHWUNDEN
Sucht mich auf dem Speicher unter der Plane,
unter den Blättern der Teichrose, auf dem Grund des Steinbruchs.
Ich sitze auf dem Kirschbaum und schlucke unreife Früchte.
Der Baum flüstert: »Ich verrate dich den Staren.«
KERNE
Ich gehe mit einem Korb Kirschen in die Papierfabrik.
Am Stahltor Schwefelradierungen,
ein Transparent über die Zukunft des Volkes.
Das Volk rödelt um den Holzbrei herum,
hat das noch warme Papier unter der Fuchtel,
das ernsthaft erst in den Ämtern reift.
Die erste Schicht kriecht aus dem PKS-Bus,
hält die Karten in die Stechuhr
wie kranke weiße Zungen.
Im Pförtnerhaus raucht Vater eine Zigarette,
über die Konsole gebeugt öffnet und
schließt er mit einem Knopfdruck das Tor.
Seit dem Tag, an dem ich entdeckte,
daß wir sterblich sind,
floß zwischen uns nur noch Zeit.
IM SCHRANK VON GROSSMUTTER STEFANIA
In Baumwolle und Samt Blutspuren,
Salzkristalle von nicht ausgewaschenen Tränen
in Spitzenkrägen, gekauft auf dem Markt
von Siewierz bei einer bekannten Händlerin,
kupferne Broschen, wertvolle Erinnerungen.
Durch das Schlüsselloch fließt Wärme,
nach der sich die Sonnenblumenkerne sehnen,
lange verborgen in den Taschen des Mantels.
In von Borkenkäfern geschnitzten Gängen
wohnen Feen, die ein leises Wiegenlied summen.
Dort ist der Lavendelhimmel der überschrienen Kinder.
Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall
SINN UND FORM 2/2021, S. 259-261
Schönlau, Rolf
Was ist was?, S. 262
Friede, Steffen
Bilder-Prawda. Aus dem sowjetischen Jahrhundert des Films, S. 269
Schmidgall, Renate
Warschau, achtziger Jahre, S. 271
Krieger, Hans
Fausts Männerwahn und das Ewig-Weibliche, S. 274
Knott, Marie Luise
Lala-fafa-yamying-tutu. Zur Jesus-Trilogie von J. M. Coetzee, S. 277
Stepanowa, Maria
Celanwärts, S. 284