
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-54-6
Heft 4/2020 enthält:
Gasdanow, Gaito
Straßenlaternen, S. 437
Die Bibliothek Sainte-Geneviève in Paris hat meines Erachtens vor allem den Nachteil, daß Rauchen dort verboten ist; weil ich gezwungen war, lange (...)
Gasdanow, Gaito
Straßenlaternen
Die Bibliothek Sainte-Geneviève in Paris hat meines Erachtens vor allem den Nachteil, daß Rauchen dort verboten ist; weil ich gezwungen war, lange Stunden dort zu verbringen, litt ich sehr darunter. Mir standen zu der Zeit die Aufnahmeprüfungen für die Universität bevor; zum Kauf der kostspieligen politischen und philosophischen Bücher, deren Inhalt ich ungefähr zu kennen hatte, fehlte mir das Geld, so mußte ich mich wohl oder übel in die Bibliothek Sainte-Geneviève begeben. Alle vierzig oder fünfzig Minuten ging ich aus dem Lesesaal auf den Hof und zündete mir eine Papirossa an. Im Hof begegnete ich ein paarmal einem hochgewachsenen und bleichen, äußerst ärmlich gekleideten jungen Mann; wie ich war er Bibliotheksbesucher und leidenschaftlicher Raucher. Er hatte sonderbare, momentweise völlig leere Augen – Augen, die meine Aufmerksamkeit erregten; mir kam es stets vor, als wäre er einem Herzanfall oder einer Ohnmacht nahe. Ich lernte ihn nach ein paar Tagen näher kennen und fand in ihm einen Gesprächspartner, der mit einer überaus raschen, fast weiblichen Auffassungsgabe gesegnet war; und weil ich in meinem Leben nur fünf Menschen kennengelernt hatte, die ich als Gesprächspartner bezeichnen könnte, war mir diese Bekanntschaft sofort viel wert. Ich unterhielt mich jeweils lange mit diesem Mann; ihm war eine abnorme Transparenz der Vorstellungen und jene Leichtigkeit des Begreifens eigen, die ich in seltenen und rasch sich verflüchtigenden Momenten ebenfalls kannte und die entfernt an ein Schwindelgefühl erinnerten. Seine Erzählungen waren stets ein wenig ungeordnet, trotzdem lauschte ich ihnen mit Interesse, denn oftmals fand ich in dem, was er sagte, meine eigenen Gedanken, die ich, wie mir schien, zuvor noch nicht in Worte gefaßt hatte.
Jetzt, da seit unserer Begegnung einige Jahre vergangen sind, habe ich von diesen Erzählungen einen anderen Eindruck; sie enthalten etwas, das ich früher nicht begriffen habe. Wie es jemandem ergeht, der eine Fremdsprache kann, aber nicht mit der Sprechweise des Ortes vertraut ist, wohin die Reise ihn geführt hat – er begreift, was ihm gesagt wird, erst nach ein oder zwei Minuten, und bis zu diesem Moment des Begreifens bewahrt sein Gedächtnis eine Reihe vorerst sinnloser Laute –, so erging es auch mir: Ich hatte mir wirklich vieles gemerkt aus den Erzählungen meines Bekannten, ohne sie gänzlich zu begreifen; und erst jetzt ersteht vor mir, lautlos, die Bewegung der Wörter, die Veränderung des Tonfalls und die Vision der leeren, von Straßenlaternen erhellten städtischen Avenue, die in einer der frühen Erzählungen meines Freundes erstmals vor mir aufgetaucht war – in der Erzählung von den Straßenlaternen. Er hatte gesagt, von allen unvermittelten psychischen Schwankungen, die ihn bisweilen befielen, komme ihm jenes Gefühl am verwunderlichsten vor, das ihn lediglich zweimal heimgesucht und beide Male in ihm und in allem, was sein Leben ausmachte, tiefe Veränderungen bewirkt habe. Am ehesten habe es noch einer urplötzlichen Willenserkrankung geglichen, die weder durch seelische Erregungen noch durch einschneidende Mißerfolge hervorgerufen wurde. Sie tauchte auf, ohne daß ihr ein faßbarer Auslöser vorausgegangen wäre, bemächtigte sich seiner vollkommen, schwächte sich eine Zeitlang ab, überwältigte ihn dann erneut und verschwand schließlich. Beide Male bemerkte er eine unbezweifelbare Ähnlichkeit dieses Leidens mit körperlichen Krankheiten; es gab ebensolche Phasen der Verschlimmerung und der Besserung, ebensolche Krisen, und nur die Genesung verlief unterschiedlich; so war im ersten Fall viel Zeit erforderlich, um die Kräfte wiederherzustellen, im zweiten geschah das plötzlich und war radikal, bis das Leiden doch zurückkehrte, unvermittelt und furchtbar schnell. Es glich keineswegs einer seelischen Zerrüttung oder der Konzentration aller geistigen Fähigkeiten auf eine zerstörerische Idee, wie das für eine Geisteskrankheit typisch wäre. Seine sämtlichen Fähigkeiten blieben erhalten, er sah alles, was ihn sonst interessiert hatte, nahm es noch genauso wahr; aber sein Wille zu praktischer Tätigkeit atrophierte mit einem Mal, und dieses Aussetzen zog sogleich Veränderungen in seinem Privatleben nach sich. Die unbegreifliche Verlagerung seiner Aufmerksamkeit bewirkte sogar eine gewisse Sensibilisierung der Sinne, besonders von Gehör und Gesichtssinn; aber der Bereich, in dem es normalerweise um die materielle Lebensgrundlage ging, war ihm nun verschlossen, und während der gesamten Zeit der Krankheit kam ihm das nicht einmal in den Sinn; der Gedanke an die äußeren Existenzbedingungen tauchte erst wieder auf, wenn die Krankheit zu Ende ging. Es begann gewöhnlich damit, daß alle Menschen, die er liebte, und die Gedanken an sie allmählich in die Ferne rückten, wie im Traum fortgehende Frauen oder verschwindende Spukgestalten. Er sagte sich: »Da gibt es nun zwei oder drei Menschen auf der Welt, die ich am allermeisten liebe und um die sich mein jetziges Leben dreht. Was wird sein, wenn es sie nicht mehr gibt, wenn sie aus irgendeinem Grund von mir gehen?« Zu jeder anderen Zeit wäre ihm das als nicht wiedergutzumachendes Unglück erschienen, woran die Erinnerung ihn stets verfolgen würde. Aber damals gab er sich zur Antwort: »Tja, was schon, es wird sie eben nicht mehr geben, nichts weiter.« Eine solche Primitivität der Gefühle war ihm sonst nicht eigen, schon sie allein konnte ziemlich beunruhigend erscheinen.
In der Folge tauchten weitere Fragen auf: Wieso tut er, was er tagtäglich tut, was ihn belastet und ihm unangenehm ist und wozu ihn im Grunde niemand verpflichtet?! Also hörte er auf, frühmorgens aufzustehen, zur Arbeit zu gehen und abends nach Hause zurückzukehren. Er hörte auf, sich selbst zu gehören; und innerhalb von zwei oder drei Tagen geriet er, schon in seinen Krankheitszustand versunken, in eine unendliche zeitliche Distanz zu allem, was seiner Erkrankung vorausgegangen war.
Damit nahm alles einen anderen Charakter an, und das erschien sonderbar, sobald die Krankheit auf dem Rückzug war. Er schilderte eine unbedeutende Vorstellung aus einer frühen Phase. Eines Nachts ging er – es regnete – durch eine schmale und lange Pariser Straße; er wußte nicht recht, seit wann er sie entlangging, sie würde auch nicht bald enden. So kam er an eintönigen dunklen Mauern vorbei, es regte sich kein Luftzug, und von seiner Papirossa stieg langsam der Rauch auf – ein kleiner Nebelfetzen, durchkreuzt von trüben Wassertropfen. Ziemlich weit vor sich sah er stets ein und dasselbe: zwei hohe Mauern, dazwischen den schwarzen nächtlichen Weg, gleichmäßige Pflastersteine, die vom Regen glänzten, und sonst nichts. Er blickte sich um – kein einziger Mensch war zu sehen, auch vor ihm nicht. An seine Empfindung in diesem Augenblick erinnerte er sich gut, es war regelrecht ein Absturz in der Zeit; Straße wie Weg kamen ihm endlos vor, während er selbst gleichsam irgendwo unterhalb der Zeit dahinschritt, sehr fern von seinem damaligen Leben. ›Wie fern!‹ dachte er – und ging weiter, drang immer tiefer ein in diese Finsternis und sah aus der Distanz, wie seine Gestalt bald an der, bald an jener Ecke auftaucht, wie sie hinter einer Wasserwand verschwindet, wie sie geht und sich vor ihr der graue Nebelfetzen kräuselt. Und als er einen breiten, erleuchteten Boulevard erreichte, hatte er ein Gefühl, als ob er von einer Reise nach rückwärts wiederkehre, und es erschien sonderbar, daß der Gedanke an eine Reise sich in seiner Vorstellung mit diesem krankhaften und qualvollen Begriff verbinden konnte – »nach rückwärts«.
Er begriff damals, was es heißt, von einer äußeren Macht fortgerissen zu werden, denn er gehörte nicht mehr sich selbst; und da er seine Denkfähigkeit nicht verloren hatte, suchte er das Sonderbare dieses Zustands zu begreifen, der im Grunde dem eines Mondsüchtigen glich. Ihm fielen die Erzählungen seiner Mutter ein, wie sie als Kind in Mondnächten aufstand und durchs Zimmer wanderte, ohne sich bewußt zu sein, was sie tat. Und er überlegte, ob sich der plötzliche Verlust des Orientierungssinns nicht auf ihn übertragen habe, nur in einer so veränderten Form, die wohl kaum den Schluß nahelegte, es handle sich um Vererbung. Jedenfalls gab es dort wie hier eine Gemeinsamkeit, den urplötzlichen Verlust des Willens und die Abhängigkeit von äußeren Einflüssen. »Es kam mir vor, als gliche ich einem toten Fisch, der von der Strömung fortgerissen wird«, sagte er.
Aus dem Russischen von Rosemarie Tietze
SINN UND FORM 4/2020, S. 437-450, hier S. 437 -439
Koepsell, Kornelia
Weiße Elegien. Gedichte, S. 451
Lehnert, Christian
Mikroben, S. 454
Michaeli, Lali Tsipi
Zeigst mir das Meer. Gedichte, S. 468
Köpp, Ulrike
Nacktbaden. Technik des Glücks. Zur Freikörperkultur in der DDR, S. 470
Wie angewurzelt stand ich in der Alten Nationalgalerie vor dem Gemälde, ich hatte die gelöste Szenerie der Nacktbadenden am Ostseestrand (...)
Köpp, Ulrike
Nacktbaden. Technik des Glücks. Zur Freikörperkultur in der DDR
Wie angewurzelt stand ich in der Alten Nationalgalerie vor dem Gemälde, ich hatte die gelöste Szenerie der Nacktbadenden am Ostseestrand wiedererkannt, die mir aus DDR-Zeiten so vertraut war. Dabei befand ich mich doch in dem Raum mit der Kunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts, und die »Tritonen und Najaden«, die sich da am Meeressaum ergingen, waren von Max Klinger. Ein Mann und eine Frau liefen ins Meer, zwei Liebende, den Rücken zum Betrachter gekehrt, vor ihnen ließ sich eine Frau ins Wasser fallen. Alle Bewegung auf diesem Bild rührte von dieser Menschengruppe in seiner Mitte her. Denn im Blaugrün des Wassers war nicht eine Welle auszumachen. Allenfalls der Struwwelkopf des Kindes, das auf dem linken Oberarm des Mannes saß, ließ eine Brise ahnen, aber vielleicht war sein Haar auch nur von dem Schwung bewegt, mit dem der Vater es hochgehoben hatte. Rechts im Bild standen zwei Frauen und ließen ihre Blicke ins Weite schweifen, links hatte der Maler drei weibliche Figuren gruppiert, die eine sitzend, die beiden anderen, ihren Oberkörper auf den Arm gestützt, im Wasser liegend. Träge, wie hingegossen auf eine Wiese. Es war die Sinnlichkeit des Leibes, die Klinger dem Betrachter vor Augen führte. Er hatte die »Tritonen und Najaden« 1884/85 für den Fries in einer Villa bei Berlin gemalt, sie waren sein lebensreformerisches Programm, ein Gegenentwurf zur Körperfeindlichkeit und Prüderie seiner Zeit. Mit seiner arkadischen Landschaft brachte Klinger auch die Sehnsucht nach einem vom Kampf der Geschlechter befreiten und ebenbürtigen Umgang von Mann und Frau zum Ausdruck. In mir aber rief sein Bild andere Bilder wach, Willy Sittes kraftvolle Männer und Frauen und Liebespaare, die mit ihrer ungezügelten Sinnlichkeit ein irdisches Glück priesen. Ein Strandbild von Werner Tübke kam mir in den Sinn, mit dem Gewimmel von Nackten und Halbnackten, deren Körper sich zu einem einzigen Wirbel verbanden und die dabei doch ganz bei sich selbst blieben. Wo Klinger seine Darstellung nackter Leiber noch mit mythologischen Namen rechtfertigen mußte, nobilitierte Tübke mit seiner altmeisterlichen Kunst die Ungeniertheit der Leute und verlieh ihnen die Würde von Renaissance- und die Sinnlichkeit von Barockmenschen.
Um die DDR als Paradies der Nacktbadenden ranken sich Legenden. So geht die Mär, die Bürger hätten sich im Widerstand gegen die SED ihre Freiheit am Strand erkämpft. Zwar gab es anfänglich Verbote und Restriktionen gegen Freikörperkultur, letztlich war es aber genau umgekehrt: Die Freiheit zum Nacktbaden verdankte das Volk der DDR den Genossen.
Wenn die VP, die Volkspolizei, Anfang der fünfziger Jahre Badewiesen und Strände auf die Einhaltung des Verbots kontrollierte, mußte sie die Nackten nicht selten als die ihren identifizieren. Die Anhänger der Freikörperkultur, die etwa am Waldteich bei Moritzburg »gewohnheitsmäßig« zusammenkamen, seien zum größten Teil Mitglieder der SED gewesen, berichtete die sächsische Landesbehörde nach einer Personenfeststellung im August 1950 an die Hauptverwaltung der VP in Berlin. Die Genossen hätten zudem darauf hingewiesen, daß das Nacktbaden anderswo im Land erlaubt sei, auf der Insel Rügen und überhaupt an der Ostseeküste wie auch an den um Berlin gelegenen Seen. Eine der »festgestellten Personen« sei der Professor Ludwig Renn gewesen, der sich in der Angelegenheit an die »Deutsche Demokratische Regierung« wenden wolle. In der Volkspolizei herrschte Verwirrung, das VP-Kreisamt Teltow faßte im Herbst 1951 die Lage an den südlich von Berlin gelegenen Seen zusammen: »Übersichtlich gesehen« seien die Ermittlungen »schwieriger Natur« gewesen, denn man sei zumeist auf Personen getroffen, »die der Freikörperkultur sympathisch gegenüberstehen und überdies zum großen Teil Genossen unserer Partei sind«. Nicht anders als in Ahrenshoop oder an den Volkersdorfer Teichen bei Dresden hatten sich auch im Umland von Berlin nach dem Krieg wieder Sozialdemokraten und Kommunisten eingefunden, die dort bereits in den zwanziger Jahren in der linken Gruppe »Fichte«, im Arbeitertourismusverein »Die Naturfreunde« oder im »Bund Freier Menschen« nackt gebadet hatten. Oft waren es jene Mitglieder der SED, die jetzt die maßgeblichen Positionen in Partei und Staat besetzten. Sie waren also vom selben Stamm wie die Polizisten, die sie am Strand kontrollierten.
Der von der sächsischen VP festgestellte Ludwig Renn, Professor für Kulturgeschichte und Vorsitzender des Sächsischen Kulturbunds, gehörte freilich nicht zu den frühen Lebensreformern, sondern war auf anderem Wege zum Nacktbaden gekommen. Als geborener Vieth von Golßenau hatte er als Junge schwer unter der seelischen Kälte und den ständischen Reglements seines Elternhauses gelitten. In seiner Einsamkeit suchte er nach anderer Zugehörigkeit und fand sie als Offizier im Ersten Weltkrieg. Er fühlte sich verantwortlich für seine Soldaten, in der Begegnung mit gebildeten wie ungebildeten Arbeitern und den analphabetischen Bauern schärfte sich sein sozialer Sinn. Sein Entsetzen angesichts des kriegerischen Gemetzels verwandelte sich in Empörung gegen die deutsche Generalität. Als sich dem adligen Offizier zum Kriegsende nicht wenige seiner Soldaten als Sozialdemokraten zu erkennen gaben, weitete sich sein politischer Horizont, obgleich er die Wirren der Novemberrevolution noch kaum verstand. Arnold Friedrich Vieth von Golßenau will die hinter ihm liegenden Erfahrungen schreibend verarbeiten, nimmt für einen Sommer Quartier in einem Dorf im Elbsandsteingebirge. Ein Gebüsch am Fluß wird seine Klause zum Schreiben. Dort legt er seine Kleider ab, setzt seinen nackten Körper der Sonne aus und versucht, »auf eine fast verkrampfte Weise, dem gewöhnlichen Volk ähnlich zu werden«. Und wird der Schriftsteller Ludwig Renn.
Wiewohl Renn sich das Nacktbaden also nicht von anderen Lebensreformern abgeguckt hat, bricht er doch wie diese mit seinem bisherigen Leben. Er findet Anschluß an den »Bund Freier Menschen« in Sachsen, reist durch Europa, immer »von Enttäuschung zu Enttäuschung«, kehrt nach Deutschland zurück und schließt sich den Kommunisten an. In Berlin findet er endlich zur »Fichte«. Er hält Vorlesungen über Militärgeschichte in der MASCH, der Marxistischen Arbeiterschule, und gibt seine militärischen Kenntnisse auch im Rotfrontkämpferbund weiter, denn die Arbeiter wollen lernen, sich gegen den aufziehenden Faschismus zu verteidigen und für eine Revolution zu wappnen. Mit »Fichte« hatte Renn seine Lebensform gefunden. Die Organisation unterhielt um Berlin herum auf gepachteten oder gekauften Grundstücken Zeltplätze. Dort verbrachten Arbeitslose, die sich die Miete in der Stadt nicht mehr leisten konnten, die Sommer, aber auch Intellektuelle und Künstler suchten hier am Wochenende Erholung. Man spielte Ball und trieb Gymnastik, traf sich im Lesezirkel zum Diskutieren und badete selbstverständlich nackt. Ludwig Renn tat sich zudem mit seinen arbeitslosen Zeltnachbarn zu einer Eßgemeinschaft zusammen, zu der er Lebensmittel beisteuerte. Es muß der Zeltplatz in Nassenheide gewesen sein, zumindest passen Renns Erinnerungen genau zu denen des Schauspielers Erwin Geschonneck. Dieser nämlich gehörte zu den Arbeitslosen, die zweimal die Woche mit dem Fahrrad von Nassenheide im Norden »zum Stempeln« nach Berlin fuhren, um sich ihre Arbeitslosenunterstützung zu holen. Für den aufgeweckten jungen Proletarier »gehörte es sich«, damals in den Jahren der Weltwirtschaftskrise, aus der Kirche auszutreten, zu politischen Demonstrationen zu gehen und im Arbeitersportverein organisiert zu sein. Geschonneck versuchte es zuerst mit den Boxern, ging dann aber zu den Arbeiterwanderern – die schienen ihm geistig reger. In Nassenheide fand er reichlich Zeit zum Lesen und den dazugehörigen Zirkel, in dem er sein Studium der Werke von Karl Marx vertiefte. Von hier aus ging er auch mit den Freunden am Wochenende »auf Fahrt« bis zur Ostsee, und eines Tages wurden die Mitglieder von »Fichte« sogar zum Film gerufen: Sie spielten als Statisten in »Kuhle Wampe«, dem Film von Bertolt Brecht und Slatan Dudow, und Geschonneck sang in der legendären S-Bahn-Szene mit den anderen Jungen »Vorwärts und nicht vergessen, / Worin unsre Stärke besteht!«
Renn erinnerte sich an eine Begebenheit, in der Freikörperkultur als Lebensform zur Weltanschauungsgemeinschaft verdichtet erscheint: Mitglieder von »Fichte« hatten ihn um militärische Schulung im Rahmen ihres Sommerlagers gebeten, er vergatterte die Freunde dazu, splitternackt zu dem verabredeten Waldstück zu kommen und auch kein Blatt Papier mitzubringen, denn so könne sich auch ein möglicher Spitzel keine Notizen machen. Im Fall des Falles wären seine Aussagen vor Gericht also nicht zu gebrauchen. So schützte unverfängliches Nacktbaden politisch höchst verfängliches Tun. Die existentielle Bedeutung seiner Entscheidung für die kommunistische Bewegung aber erhellt der bittere Vorwurf, den Renn in seinen Erinnerungen gegen Sigmund Freud richtet. Der habe mit seiner Psychoanalyse die Menschheit nur »noch tiefer in die Krankheit der Vereinsamung hineingestoßen«, an der sie durch den Kapitalismus ohnehin schon litt. Renn verknüpfte seine Suche nach einer alternativen Lebensform mit der Vorstellung von einer fundamental anderen Gesellschaftsform. Die Szene im Wald macht deutlich, daß das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer politischen Organisation keinen Widerspruch zu einer selbstbestimmten Lebensform bildete, in der Nacktheit des individuellen Körpers fand dies nur den sichtbarsten Ausdruck, bei Proletariern wie Intellektuellen bürgerlicher Herkunft gleichermaßen. Nach Nassenheide zog es am Wochenende auch Hilde und Georg Benjamin, von hier fuhr der aus armem jüdischem Milieu stammende Alexander Abusch täglich nach Berlin, wo er sich als Redakteur der »Roten Fahne« zum Intellektuellen mauserte. Er auch gehörte nach 1945 zur politischen Prominenz, die sich an den FKK-Strand in Ahrenshoop verlief.
SINN UND FORM 4/2020, S. 470-483, hier S. 470-473
Kampmann, Anja
Seeigel. Gedichte, S. 484
Beckford, William
Reise nach Rom und Neapel im Jahre 1780, S. 488
Hettinga, Eeltsje
Ein Spiegel das Meer. Gedichte, S. 504
Wolfe, Thomas
Eine Reise durch den Westen. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow, S. 508
Zeitlose Zeit. Eine Vorbemerkung Die Legende vom »hungrigen Gulliver« ist schon oft erzählt worden. Daß Thomas Wolfe (1900–1938) sein (...)
Wolfe, Thomas
Eine Reise durch den Westen. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow
Zeitlose Zeit. Eine Vorbemerkung
Die Legende vom »hungrigen Gulliver« ist schon oft erzählt worden. Daß Thomas Wolfe (1900–1938) sein Erwachsenwerden in zwei wortgewaltigen Großerzählungen ausgebreitet hat, die sein Entdecker Maxwell E. Perkins vom Verlag Charles Scribner’s Sons erst auf ein zumutbares Format eindampfen mußte, hat sich herumgesprochen; auch den schwelenden Streit um die Authentizität zweier postum erschienener Werke Wolfes, in denen er seine »Geschichte vom begrabenen Leben« mit anderem Personal und in weniger Worten nochmals aufrollt, kann man getrost der amerikanischen Wolfe-Philologie und ihrem Hausorgan »The Thomas Wolfe Review« überlassen.
Es wäre zwar verlockend, die vier Breitwandromane »Schau heimwärts, Engel« (1929), »Von Zeit und Fluß« (1935), »Geweb und Fels« (1939) und »Es führt kein Weg zurück« (1940) mit den beiden Fassungen des Bildungsromans »Der grüne Heinrich« zu vergleichen, aber Gottfried Keller konnte sich für die Revision seines zwischen Selbstbeobachtung und Tatsachenbeschreibung ähnlich schwankenden Jugendwerks bis ins hohe Alter Zeit lassen; der »früh Unvollendete« aus North Carolina dagegen hatte in seinem kometenhaften Leben nicht die Möglichkeit, abgeklärt zu werden. Gegen Ende seiner Tage beschleunigte er sein ohnehin schon hohes Lebenstempo nochmals. Er trennte sich Hals über Kopf von seinem langjährigen Mentor Perkins und begab sich unter die Fittiche des jungen Lektors Edward C. Aswell von Harper & Brothers, dem er mit einem Kehraus sämtliche Manuskripte aushändigte.
Wolfe wollte offenbar mit siebenunddreißig noch einmal ganz neu anfangen. Der riesige Stapel seiner Skizzen und Entwürfe war ihm über den Kopf gewachsen. Es grauste ihn davor, aus dem Wust die beiden nachgelassenen Romane und die unfertige Novelle »Die Party bei den Jacks« zu fischen. »Genie genügt nicht«, hatte der Literaturkritiker Bernard de Voto im April 1936 in »The Saturday Review of Literature« gegen seine als redundant und formlos empfundene Prosa eingewendet, und sein Kollege Robert Penn Warren pflichte ihm bei: »Es sei daran erinnert, daß Shakespeare zwar Hamlet schrieb; aber nicht Hamlet war.« Solche Formulierungen wollte der »gigantomanische Rhapsode« (Paul Nizon) nicht auf sich sitzenlassen und nahm sich eine objektivere Diktion mit weniger puerilem Pathos und weniger sprachlichen Manierismen vor.
Die Einladung zu einem Vortrag an der Purdue University in Indiana im Mai 1938 kam für Wolfe wie gerufen. Er sei zwar kein Redner, aber für ein fettes Honorar von d-drei- hundert Dollar k-könne er einen beträchtlichen Haufen Gestotter zum Thema »Writing and Living« von sich geben, witzelte er gegenüber Freunden in New York, wo er im Chelsea Hotel zuletzt mehr gehaust als gewohnt hatte. Danach werde er in den Nordwesten der USA weiterreisen, wo er noch nie gewesen sei, und spätestens im Juli wieder an seinem Schreibtisch sitzen. Doch er hatte sowohl die Weite des Kontinents als auch eine unbändige Reiselust unterschätzt. »Ich habe noch nie so viel Üppigkeit, so viel Behäbigkeit, so viel Fruchtbarkeit gesehen«, schrieb er aus dem Mittleren Westen, aber er sei heilfroh, nicht aus diesem satten Flachland zu stammen, sondern aus den »rauhen Bergen« von North Carolina. Nach einem Aufenthalt in Chicago reiste er im Stromlinienzug »Burlington Zephyr« über Denver und Cheyenne nach Portland, Oregon, wo der Mount Hood ihn auf die uralte Felsenwelt der Cascade Range, der Sierra Nevada und der Rocky Mountains vorbereitete.
Eigentlich wollte er dort nach einem Zweig seiner Sippe suchen, von dem er sich Material für ein neues Romanprojekt erhoffte, das weit in die Geschichte zurückgehen und den ganzen Kontinent in den Blick nehmen sollte. Doch es kam anders: Richard Conway von der Oregon State Motor Association und Edward Miller von der Tageszeitung »The Oregonian« hatten von seiner Anwesenheit in Portland gehört und boten ihm für fünfzig Dollar eine Mitfahrgelegenheit an. Sie wollten mit dem Auto in nur zwei Wochen elf Nationalparks abklappern, um ihren Landsleuten zu zeigen, was für wenig Geld in ein paar Urlaubstagen möglich war. Die Idee hätte vom Verfasser der »Reise um die Erde in 80 Tagen« stammen können; in der »runaway world« von heute ist sie zur Normalität geworden.
Die Frage nach dem Sinn solcher Höllentrips hat sich für Thomas Wolfe anscheinend gar nicht gestellt. Er war aufreibende Besichtigungen gewohnt. Zwischen 1924 und 1936 hatte er auf Luxuslinern wie der »Olympic«, einem Schwesterschiff der »Titanic«, siebenmal den Atlantik überquert. Er war durch das fidele Paris und das neblige London gestreunt, hatte Goethes Gartenhaus besichtigt und im Romanischen Café gesessen. Doch die Naturwunder des amerikanischen Westens kannte er nur vom Hörensagen. Um diese Wissenslücke zu füllen, zwängte er sich am 20. Juni 1938 auf den Rücksitz eines cremeweißen Ford 81A und ließ in den nächsten zwei Wochen zackige Bergkämme und gigantische Felstafeln, dunkle Talgründe und gleißende Schneefelder, hitzeflirrende Salbeiwüsten und strotzende Obstfarmen an sich vorbeidefilieren.
Was hatte es mit dieser zyklopischen Bergwelt auf sich? Warum nahmen die Naturwunder zwischen Kalifornien und Colorado kein Ende? Bei den geologischen Vorträgen der Park-Ranger hörte er weg. Von Subduktion und Laramischer Gebirgsbildung wollte er nichts wissen. Die gigantischen Kräfte in der Erdkruste berührten ihn nicht. Als ihn am feingliedrigen Bryce Canyon eine »schicke junge Frau« über dessen 125 Millionen Jahre zurückreichende Erosionsgeschichte aufklären wollte, war er mehr an ihren engen Pyjamahosen als an der geologischen Tiefenzeit interessiert. Doch die elf Naturparks, mit denen er auf einer Strecke von mehr als siebentausend Kilometern konfrontiert wurde, ließen ihn natürlich nicht kalt: Crater Lake, Mount Shasta, Yosemite, Sequoia, Grand Canyon, Zion, Bryce Canyon, Grand Teton, Yellowstone, Waterton-Glacier, Mount Rainier.
Während Miller und Conway sich am Steuer abwechselten, war der Zweimetermann auf dem Rücksitz einem Feuerwerk von Bildern ausgesetzt. Abends im Schlafquartier trug er die optische Tagesausbeute in eines jener großformatigen Kontorbücher ein, die ihm schon bei der Niederschrift von »Schau heimwärts, Engel« zu Diensten gewesen waren. Sein fotografisches Gedächtnis kam ihm dabei entgegen: »Die Art und Eigenheit meines Gedächtnisses ist durch einen, wie ich glaube, mehr als gewöhnlichen Heftigkeitsgrad bewahrter Sinneseindrücke gekennzeichnet, durch ein Vermögen, dinghaft-lebendig die Gerüche, Laute, Farben, Formen und stofflich Tastbares wieder aufzurufen«, heißt es in seiner Programmschrift »Die Geschichte eines Romans« aus dem Jahr 1936, in der er seine Schreibweise erklärt. Abgesehen von ein paar Briefen sind die vorliegenden Reisenotizen das letzte Zeugnis, das der »gehetzte Reporter seines eigenen Lebens« (Alfred Andersch) hinterlassen hat. Vollständig veröffentlicht wurden sie erstmals 1951 von der University of Pittsburgh Press unter dem Titel »A Western Journal. A Daily Log on the Great Parks Trip«. Die Herausgeberin Agnes Lynch Star macht für den Telegrammstil der Aufzeichnungen die Bilderflut verantwortlich, die der Protokollant im zerknitterten Straßenanzug zu verarbeiten hatte. Doch sie hält den vom Fahrtwind durchwehten Notaten bei aller Flüchtigkeit auch ihren fiebrigen Eifer und ihre elementare Poesie zugute. Nirgends sonst in Wolfes Werk komme man dem Funkenflug der Inspiration so nahe wie hier.
Ein bloßer Mitschreiber ist der Verfasser der »Reise in den Westen« also nicht gewesen. Dagegen sprechen allein schon die bizarren Komposita und komplexen Wortspiele, mit denen er Lichtzauber und Farbenglanz der Landschaft einfängt. Mit dem Stakkato seiner Aufzählungen und Wiederholungen bildet er zudem das Höllentempo der Fahrt ab. Daß er ein sprachlicher Feinarbeiter von hohen Graden war, fiel schon Gottfried Benn auf: »Sätze reiner Lyrik« attestierte er Wolfes Novellensammlung »From Death to Morning« von 1936, die ein Jahr später unter dem Titel »Vom Tod zum Morgen« in Deutschland herauskam.
Im »Land seiner Vorfahren« wurde der Sohn eines pennsylvaniadeutschen Vaters von Beginn an begeistert aufgenommen. Eine Zeitlang war er hier sogar populärer als in seiner amerikanischen Heimat. Mit seinem faustischen Gebaren schien er den Deutschen aus der Seele zu sprechen; sie ernannten ihn kurzerhand zum »germanischen Berserker«. Nur der Emigrant Klaus Mann sah genauer hin und widersprach der vorschnellen Eingemeindung: »Im Gegensatz zu den Repräsentanten der älteren Generation, den nüchternen Chronisten und Gesellschaftskritikern Dreiser, Sinclair Lewis und Upton Sinclair, erscheint Wolfe durchaus lyrisch bekenntnishaft gestimmt; sein Stil ist weder journalistisch-tendenziös noch episch-objektiv, sondern primär poetisch; er ist der Visionär, der inspirierte Sänger unter den großen Erzählern des erwachenden, zu sich selber kommenden Kontinents.«
Daß Wolfe sich den Naturparks des amerikanischen Westens zuwandte, hat auch mit der politischen Versteinerung seiner Wunschheimat zu tun. Spätestens seit dem Jahr der Berliner Sommerolympiade 1936 ließ er sich nicht mehr von romantischen Giebelhäusern und Butzenscheiben täuschen, sondern nahm auch die Folterkeller und den Gesinnungsterror wahr. Im weltoffenen Berlin ging plötzlich die Angst um. Argwohn schlich sich in alle Gespräche ein. Die wulstnackigen Männer mit den geschorenen Köpfen, die dem jungen Wolfe schon bei seiner ersten Deutschlandreise im Jahr 1926 nicht ganz geheuer waren, hatten die Macht ergriffen.
Ein Foto zeigt ihn in Rückenansicht beim Ausbruch des berühmten Geysirs »Old Faithful«. Wie seine respektlose Akimbo-Pose ("legs apart and hands on the hips«) verrät, beeindruckte ihn der geothermische Kraftakt nicht sonderlich. Den majestätischen Redwoods dagegen, auf die er im Sequoia National Park traf, fühlte er sich auf Anhieb verbunden. Vor einem dieser bis zu dreitausend Jahre alten Bäume soll er eine Stunde lang verharrt haben. Erst die Meldung eines Parkbesuchers, Joe Louis habe Max Schmeling auf die Bretter geschickt, holte ihn in die Gegenwart zurück. Gern wüßte man, was der »amerikanische Homer« und der Baumriese aus der Familie der Zypressengewächse sich bei dieser Gelegenheit zu sagen hatten. Seiner Bewunderung waren die größten Geschöpfe der Erde allemal sicher, die mit einer Höhe von bis zu hundert Metern und einem Gewicht von zweitausend Tonnen selbst den Blauwal in den Schatten stellen. Daß es im Sequoia National Park zu der denkwürdigen Begegnung kam, ist John Muir (1838 –1914) zu verdanken, der Präsident Theodore Roosevelt auf einer Bergtour für die Idee der Naturreservate gewinnen konnte. Muir hatte die Sierra Nevada nicht im Auto durchquert, sondern auf alten Indianerpfaden erwandert. Er nächtigte in keiner Touristen-Lodge, sondern im Freien oder in einer selbstgezimmerten Hütte wie Henry David Thoreau. Für sein leibliches Wohl reichten ihm ein Brot und ein paar Becher Tee pro Tag. Statt uferloser Romane schrieb er naturgeschichtliche Studien und philosophische Traktate. Vor allem aber verfügte er über etwas, das Thomas Wolfe am allerwenigsten besaß: Zeit. »Nachdem ich mir einen Zinnbecher voll Tee gemacht hatte, setzte ich mich ans Feuer und dachte über die Erhabenheit der Gletscher nach, die ich gesehen hatte. Als die Nacht fortschritt, schienen die gewaltigen Felswände meiner Unterkunft näher zu rücken, während sich der Sternenhimmel strahlend hell wie eine Zimmerdecke von der einen Felsmauer zur anderen erstreckte«, schreibt er in einer Abhandlung über die Gletscher des Yosemite Valley (Die Berge Kaliforniens, Berlin 2013).
Nie wäre der Vordenker der Entschleunigung auf die absurde Idee gekommen, elf Naturparks in dreizehn Tagen zu bereisen. Und doch hat er durch sein stimmungsvolles »Nature Writing« dazu beigetragen, daß auch die letzten unberührten Wildnisse zur Beute der Zivilisation werden konnten. Am Ende dieser touristischen Aneignung der Natur stehen die Autos vor dem gigantischen Wahrzeichen »El Capitan« Stoßstange an Stoßstange. Ein Besucherstrom von mehr als vier Millionen Menschen jährlich trifft auf eine Infrastruktur aus asphaltierten Straßen, Parkplätzen, Unterkünften, Restaurants, Sportstätten und Informationszentren.
"Menschen, Menschen, Menschen« waren längst massenhaft in den Naturparks unterwegs, als die skurrile Fahrgemeinschaft den Tourismus weiter ankurbeln wollte. Wolfe nimmt in seinem Reisebericht nicht nur schneebedeckte Berge und düstere Schluchten, smaragdgrüne Ströme und schroffe Canyons, verbrannte Teufelswüsten und fruchtberstendes Farmland in den Blick, sondern vermerkt auch die Kellnerin mit dem müden Gesicht, den einsamen Tankwart, das putzige alte Mädchen, die Griesgrame auf der Veranda, den Eastern Cowboy und das blonde »Flittchen-Engelchen«. Wie der Maler Edward Hopper registriert er neben ausdruckslos ins Leere starrenden Menschen am Straßenrand auch architektonische Sinnbilder des Stillstands: verwitterte Geisterstädte, geschlossene Postämter, verlassene Tankstellen, leere Hot-Dog-Läden, riesige Getreidesilos, monströse Zementwerke und irre glitzernde Ladenfronten.
Der magische Moment seiner Aufzeichnungen kommt, als er in der verdorrten Wüstenwelt Arizonas einen Güterzug erblickt, der klein wie ein Insekt über eine ferne Bergflanke kriecht. Während John Muir es sich inmitten zerklüfteter Felswände und lichtloser Canyons gemütlich machte, löst die bewegungslose, die fortschrittslose, die »zeitlose Zeit« der Felsen bei Wolfe ein dunkles Vorgefühl kommender Schrecken aus.
Ob es sich um die rosafarbigen und grellweißen Erosionen des Bryce Canyon, die »teufelsverzerrte Röte« der Vermilion Cliffs oder die vom Colorado River ausgefräste Urlandschaft des Grand Canyon alias »Big Gorgooby« handelt, immer ist die anorganische Welt für ihn mit Ängsten besetzt, die von weit her kommen. Aus solchem toten Material stellte der aus Deutschland stammende Steinmetz William Oliver Wolf einst am Pack Square von Asheville Grabsteine und Friedhofsengel her. Sein jüngster Sohn entschied sich für biegsameren, verletzlicheren Stoff. Sein Thema war nicht die stoische Zeit der Felsen, sondern die flüchtige Zeit der Menschen: »Die Menschen! Ja, die Menschen! Die bestechlichen und die irregeführten Menschen, die übertölpelten und die abergläubischen Menschen, aber am Ende immer wieder die unbesiegbaren und ewigdauernden Menschen«, sagte er in seinem Vortrag an der Purdue University.
Nach dreizehn Tagen der »Vergeblichkeit, des Terrors, der Fremdheit und der Großartigkeit« nahm er am 2. Juli 1938 in Olympia, der Hauptstadt des Bundesstaats Washington, »mit ein bißchen Traurigkeit im Herzen« Abschied von seinen Begleitern Collins und Mitchell. Statt sich ein paar Tage auszuruhen, floh er vor der »kalten Bedrohung und Entsetzlichkeit« der Berge nach Seattle. Aus dem New Washington Hotel schrieb er an seine Agentin Elizabeth Novell: »Die Reise war wunderbar und entsetzlich zugleich – ich habe in den letzten zwei Wochen 5000 Meilen zurückgelegt, erst die ganze Küste hinab bis beinahe nach Mexiko, dann 1000 Meilen landeinwärts und schließlich nach Norden bis zur kanadischen Grenze – natürlich sind die Naturparks großartig, aber wichtiger waren für mich die Städte, die Dinge, die Menschen, die ich unterwegs traf – ein Kaleidoskop des Westens und seiner Geschichte entrollte sich in kurzer Zeit vor meinen Augen.« Doch der »hungrige Gulliver« wollte noch mehr sehen, erleben, aufnehmen. Er buchte eine Schiffspassage von Seattle nach Vancouver durch den Puget Sound. Dort kam er mit Schüttelfrost und hohem Fieber an. Auf dem kalten Deck des Küstendampfers hatte er einem »armen zitternden Kerl« einen Schluck aus seiner Schnapsflasche genehmigt und sich dabei nach eigenem Bekunden eine Grippe eingehandelt. Es dürften aber eher die Reisestrapazen und das exzessive Rauchen und Trinken gewesen sein, die ihn dafür anfällig gemacht hatten. Schwerkrank kehrte er nach Seattle zurück, wo ein überforderter Hausarzt ihn mit Hochfrequenz-Diathermie und Hustenmedikamenten traktierte. Wirksame Antibiotika gegen die viel zu spät diagnostizierte Lungenentzündung gab es noch nicht. Als die Kopfschmerzen und das Fieber nicht weichen wollten, legte man ihm eine Einweisung in das Providence Hospital von Seattle nahe. Dort wurde ein tuberkulöser Herd in seiner Lunge entdeckt.
Das Wort Tuberkulose versetzte den Patienten in Panik. Was es bedeutet, wußte er aus eigener Erfahrung. Seine Heimatstadt Asheville war ein bekannter Luftkurort, in der Pension seiner Mutter hatten auch Lungenkranke logiert. Als die Kopfschmerzen schließlich unerträglich wurden und alles auf eine Hirnhautentzündung hinwies, konnte ihm auch eine mehrtägige Bahnfahrt an die Ostküste nicht mehr helfen. Nach einer Schädelöffnung durch den angesehenen Hirnchirurgen Walter Dandy im Johns Hopkins Hospital zu Baltimore starb Thomas Wolfe am 15. September 1938 an tuberkulöser Meningitis.
"Ich habe wunderbare Dinge gesehen und alle Arten von Menschen getroffen – Ärzte, Anwälte, Holzfäller –, und wenn hier alles vorbei ist, habe ich einen Haufen großartigen Materials beisammen«, hatte er aus Seattle an seine Agentin geschrieben. Vor allem unter diesem Aspekt ist die hier erstmals in deutscher Übersetzung vorgelegte »Reise durch den Westen« lesenswert. Auf dem Tiefpunkt deutscher Wolfe-Vergessenheit, in der von Hubert Zapf herausgegebenen »Amerikanischen Literaturgeschichte« von 1996, wurde Thomas Wolfe nur noch mit einem Halbsatz als »Verfasser von ins Universale ausgeweiteten Autobiographien« bedacht, während seine Zeitgenossen Ernest Hemingway, William Faulkner, John Dos Passos und F. Scott Fitzgerald seitenlang gewürdigt werden. Nach seiner Wiederentdeckung durch die Neuübersetzungen des Manesse Verlags kann der unterschätzte Klassiker der amerikanischen Moderne zwar nicht mehr ignoriert werden, aber sein früher Tod spricht nach wie vor gegen ihn. Er ließ ihm einfach keine Zeit zur literarischen Entfaltung.
Doch nicht nur Totgesagte, auch Frühverstorbene leben bisweilen länger. Die losen Enden ihres kurzen Lebens lassen der Nachwelt keine Ruhe. Wolfe hat in seiner auto- biographisch grundierten Prosa eine so intensive und lebensechte Gedächtnisspur hinterlassen, daß ihm ein spukhaftes Nachleben sicher ist. In seiner düsteren Kellerwohnung in Brooklyn Heights brennt immer noch Licht. Kein Wunder, daß die literarische Hinterlassenschaft des Wiedergängers für immer neue Überraschungen sorgt, wie die Nachlaßeditionen »The Hound of Darkness«, »The Good Child’s River«, »The Starwick Episodes« und die ins Deutsche übersetzten Kabinettstücke »Der verlorenen Knabe« und »Die Party bei den Jacks« zeigen. Wolfe war nicht nur ein ruheloser Vielschreiber, sondern auch ein emsiger Projektemacher. Da er seine Lebensgeschichte so gut wie aus- geschöpft hatte, mußte er das Erinnern durchs Erfinden ersetzen und ist dabei offenbar im Wilden Westen fündig geworden, wie Mark Kanada in seinem Buch »Out of the West. Thomas Wolfe’s Final Journey« (Bloomington 2014) andeutet.
Zwischen Chicago und Portland muß Wolfe die Idee zu einer fiktiven Stadt namens Rolesby gepackt haben. Ein in dieser Finanzmetropole angesiedelter Roman sollte anscheinend die verderbtesten und ruchlosesten Seiten des amerikanischen Kapitalismus schildern. Als reale Vorlage des imaginären Sündenbabels kommt die von »schmutzigen kleinen Mormonendörfern« umgebene Kapitale Salt Lake City in Frage, wie die besonders ausführlichen und engagierten Notizen der »Reise durch den Westen« vom 26. Juni vermuten lassen. Mit ihren Wolkenkratzern, Hotelpalästen und dem »größten Tanzlokal der Welt« weist die bigotte Hauptstadt des Bundesstaates Utah genau die soziale Fallhöhe auf, die der Autor für seinen geplanten Roman brauchte. Obszöner Reichtum und krasse Armut existierten dort in unmittelbarer Nachbarschaft, ohne daß es die »Church of Jesus Christ of Latter-Day Saints« gestört hätte. Ein Gott, der die Reichen segnete und die Armen verkommen ließ, mußte Wolfe als »armer Leute Kind« empören. Wäre der verlorene Sohn der amerikanischen Literatur in der Lage gewesen, diesem Erzübel seines Landes in einem hochkarätigen Depressionsepos zu begegnen, auf das in Ansätzen schon der Roman »Es führt kein Weg zurück« und die nachgelassene »Party bei den Jacks« hinweisen?
Wie W. R. Burnetts 1941 erschienener Roman »High Sierra« zeigt, lag das Thema damals in der Luft. Auch er ist im moralischen Zwielicht der Zwischenkriegszeit angesiedelt und kann zudem mit einer packenden Verfolgungsjagd und einer wilden Schießerei zwischen den Bergzinnen der Rocky Mountains aufwarten. Eine filmreife Räuberpistole aus der Feder des »inspirierten Sängers« Thomas Wolfe? Das wohl eher doch nicht, aber ein alle Prunkbauten und Kellerlöcher des Hochkapitalismus ausleuchtendes Gesellschaftspanorama war dem »größten Talent seiner Generation« (William Faulkner) allemal zuzutrauen: »Haar sprießt aprilgleich aus der begrabenen Brust. Und aus den Stirnhöhlen sprießen die Totenblumen« ("Von Zeit und Fluß«, 1935).
Kurt Darsow
SINN UND FORM 4/2020, S. 508-531 , hier S. 508-513
Gourmont, Remy de
Schritte im Sand. Aphorismen, S. 532
Sayer, Walle
Die leere Seite im Reisetagebuch, S. 535
Dąbrowski, Tadeusz
Das Keimen neuer Wörter. Gedichte, S. 538
Schock, Ralph
Die Abkürzung. Eine jugoslawische Erzählung, S. 541
Asgari, Marjan
Die Liste, S. 549
Steinkopf, Leander
Zartplastik, S. 552
Hug, Annette
Wilhelm Tell aus Korea. Eine literarische Unterwanderung, S. 555
Noll, Chaim
»Ein großer verwirrender Irrtum«. Jenny Alonis Lebensfahrt in die Wüste, S. 560
Drees, Jan
Lesende Zeugen. Laudatio zum Kurt-Wolff-Preis 2020, S. 563
Bormuth, Matthias
Wort und Bild. Martin Warnke zum Gedächtnis, S. 568