
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-47-8
Heft 3/2019 enthält:
Kempowski, Walter
»Dieser Brief mußte geschrieben werden«. Korrespondenz mit Jörg Drews 2005 – 2007. Mit einer Vorbemerkung von Simone Neteler, S. 293
Vorbemerkung »Ich glaube, Du bist der einzige Mensch, der das, was ich unternehme, zu würdigen versteht «, schrieb Walter Kempowski am 30. (...)
Kempowski, Walter
»Dieser Brief mußte geschrieben werden.« Korrespondenz mit Jörg Drews 2005 - 2007. Mit einer Vorbemerkung von Simone Neteler
Aus dem Archiv der Akademie der Künste
Vorbemerkung
»Ich glaube, Du bist der einzige Mensch, der das, was ich unternehme, zu würdigen versteht «, schrieb Walter Kempowski am 30. Januar 1998 an den Literaturwissenschaftler und Kritiker Jörg Drews. Der hatte kurz vorher unter der Überschrift »Das Fernsehen, von Walter Kempowski geschreddert« eine Rezension zu dessen »Bloomsday ’97« verfaßt. Das Buch – ein Protokoll der Fernsehrealität, von Kempowski und seinem Team am 16. Juni 1997 auf 37 Sendern zusammengezappt – war von den meisten Rezensenten äußerst kritisch aufgenommen worden. Wie oft in solchen Momenten fühlte sich Kempowski von der Kritik unverstanden. Drews dagegen hatte den richtigen Ton getroffen. Er beschrieb die Lektüre zwar als »problematisch, ja vielleicht eigentlich gar nicht möglich «, doch in einer glühenden Verteidigungsrede zündete er ein wahres Feuerwerk an Argumenten, um die Berechtigung eines solchen literarischen Experiments – fast »ein Stück Concept Art« – zu unterstreichen, und bescheinigte dem Autor scherzhaft eine »hochgradig naive Intelligenz«. Kempowski wäre nicht Kempowski, hätte er dieses Bonmot unkommentiert gelassen. Selbstironisch begann er seinen Brief mit den Worten: »Bevor ich wieder an die Arbeit gehe, ›hochgradig naiv‹, aber einigermaßen intelligent, möchte ich Dir noch einen kurzen Liebes- und Dankesgruß senden.«
Warum sich zwei Menschen befreunden, gehört vielleicht zu den größten Mysterien des Daseins; was dieses Mehr an Sympathie stiftet, läßt sich oft nur schwer ergründen. Daß aber ein Schriftsteller und ein Kritiker auf Dauer Freundschaft schließen, darf an sich schon als seltener Umstand gewertet werden – um so mehr, wenn sie a prima vista so unterschiedlich sind, wie es Kempowski und Drews waren: auf der einen Seite der zierlich gebaute und introvertiert wirkende Autor, der als »Dorfschulmeister« (Kempowski) zurückgezogen im niedersächsischen Nartum lebte und über Jahrzehnte ein riesiges literarisches Werk schuf, auf der anderen Seite der stattliche, weltläufige, dynamisch und vital auftretende Drews, der nicht nur zwischen Bielefeld, wo er bis 2003 als Professor lehrte, und seinem zweiten Zuhause München pendelte, sondern überall auf der Welt in literarischer Mission unterwegs war.
Daß der in seinem Kosmos wie in einer Zelle lebende Kempowski und der umtriebige Drews dennoch Freundschaft schlossen und diese mehr als drei Jahrzehnte, bis zu Kempowskis Tod hielt, war kein Zufall. Was die beiden verband, war offensichtlich stärker als die vordergründigen Gegensätze: Es war zuallererst das Eintreten für experimentelle moderne Literatur. Dazu paßte ihre gemeinsame Begeisterung für das Werk von Arno Schmidt. Drews, der keine Berührungsängste vor Autoren zeigte – auch nicht vor solchen, die wie Schmidt als »verschroben« galten –, besuchte den notorischen Einzelgänger 1964 in Bargfeld, einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide. 1970 erfand er das »Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikat«, dessen Mitglieder insbesondere den Monumentalroman »Zettel’s Traum« zu entschlüsseln suchten und auch vor Ort Studien betrieben. 1972 gründete Drews den »Bargfelder Boten«, quasi ein wissenschaftliches »Fanzine«, das sich bis heute mit Schmidts Werk befaßt. Er widmete sich dem Autor mit der ihm eigenen Leidenschaft, und es darf als eines seiner großen Verdienste gelten, dessen avantgardistisches Werk einer breiteren Öffentlichkeit und auch zahllosen Studenten – und damit der Wissenschaft – zugänglich gemacht zu haben.
Im Gegensatz zu Drews, der über viele Jahre persönlichen Umgang mit Schmidt pflegte, war Kempowski ein privater Kontakt nicht vergönnt gewesen. Einige Briefe, die er in den sechziger Jahren an Schmidt schrieb, ließ dieser unbeantwortet, sieht man einmal davon ab, daß er den Sonderdruck eines seiner Essays kommentarlos an Kempowski schickte. Trotzdem outete sich der Autor aus Nartum bei vielen Gelegenheiten als Schmidt-Verehrer und beschwor immer wieder seine geistige Nähe zu dem Eigenbrötler, so zum Beispiel im Juni 1979 in seinem Nachruf in der »Zeit«: »Arno Schmidt wohnte zwar nicht in meiner Nähe (…), aber er war mir der Nächste, er war mein Nachbar.«
Am 27. November 2001 sagte Kempowski im »alpha-Forum« des Bayerischen Rundfunks: »Ich habe mir von ihm das, was er in seinen Büchern ›Schnappschußtechnik‹ nannte, abgeschaut: Das hat mich interessiert, das hat mich beeinflußt. Ähnlich ist aber auch dieses merkwürdig abgeschlossene und klösterliche Leben, das er geführt hat.« Und an Drews schrieb er am 14. November 2006: »Wenn ich heut so daran denke, verband mich etwas mit ihm, das meiner Bindung zu Johnson ähnlich war. Eine Art Furcht / Liebe / Respekt. Daß ich auch ›dazu gehöre‹, stellt sich erst jetzt heraus.« Dazu zeichnete er die drei Namen mit verbindenden Linien zu einem Dreieck: oben »Schmidt«, links und rechts »Kempowski« und »Johnson«.
Wann und wo genau sich Drews und Kempowski kennenlernten, ist nicht mehr zu klären. Daß es Anfang der siebziger Jahre war, darin waren sich beide einig. So schrieb Drews in einem Beitrag zu »Erst-Begegnungen« mit Autoren über die seiner Meinung nach erste Zusammenkunft mit Walter Kempowski: »Es muß ein ganzer Trupp von Leuten gewesen sein, der da Anfang der siebziger Jahre bei ihm einfiel, als er noch bei Hanser war. Wir tafelten in der Halle seines Hauses in Nartum, und ich nahm ihn nur ungenau wahr, er war nur vage ein Erfolgsautor für mich, hatte noch kaum Kontur, erst später las ich den ›Block‹, sein erstes und eines seiner besten Bücher. Aus diesen lärmenden und leicht angetrunkenen Anfängen entwickelte sich die Wahrnehmung eines Werkes von – auf weite Strecken – scheinbar kurioser Biederkeit und Drögheit, und erst nach und nach lernte ich Walter Kempowskis Bücher lesen: Sie sind viel unheimlicher und hinterhältiger, als den meisten Kritikern bis heute aufgegangen ist. Damals aber, Anfang der siebziger Jahre, wuselte Kempowski für mich nur im Hintergrund einer großen Gesellschaft in seinem geräumigen Haus herum, klein und schmal, und alle andern wirkten neben ihm fast ungeschlacht und dröhnend selbstsicher.«
Kempowski dagegen verortete die erste Begegnung in München. So diktierte er einer Mitarbeiterin im Jahr 2005 zu dem Messingtäfelchen mit dem Namen des Freundes, einem der vielen, die bis heute die Regale im Turm des Kempowski-Hauses zieren: »Jörg Drews, der Liebe, gehört nun wirklich zu meinem engsten Freundeskreis und er war unzählige Male hier. Ich lernte ihn 1971 oder ’72 in München kennen. Damals trug er noch eine Beatle-Mähne, damals war er noch langhaarig. Und er machte, von mir bestaunt, zusammen mit Ludwig Harig die sonderbarsten Witze. Bis heute ist er mir treu geblieben, und ganz unauffällig sorgt er immer dafür, daß mein Name gefördert wird. Er ist also Freund und Wohltäter und auch allerdings Beichtiger, denn oft habe ich ihn angerufen und mich mit ihm über heikle Angelegenheiten besprochen.«
Das Treffen in München und der Besuch in Nartum – beides könnte sich so zugetragen haben. Dafür, daß sich der Kontakt nach der von Drews beschriebenen Begegnung in Kempowskis Haus – es wurde im Sommer 1974 bezugsfertig – intensivierte, spricht auch die Tatsache, daß vorher keine Eintragungen zu Drews in den Tagebüchern Kempowskis zu finden sind und der mutmaßlich erste Brief vom 28. März 1975 stammt. In ihm dankte Kempowski dem lieben Herrn Drews für dessen »Zeppelin-Informationen«. »In den großen Ferien«, schrieb er, »gehe ich mit dem Tonbandgerät auf die Reise. Ich will Altersheime abklappern nach Weltkrieg I-Veteranen. Daß ich Luftschiffer finden werde, ist unwahrscheinlich, und diese Lücke eben werde ich mit Hilfe Ihrer Literatur schließen können.«
Jörg Drews, der gern Pilot geworden wäre, hatte von Jugend an ein Faible für die Luftfahrt – wer sein Besprechungszimmer an der Universität Bielefeld betrat, konnte an einem Tisch mit zwei Lufthansa-Sitzen Platz nehmen. Seine Kenntnisse waren nahezu unerschöpflich, und offensichtlich hatte Kempowski diese Quelle, möglicherweise für ausgedehnte Recherchen zu seinem Roman »Aus großer Zeit«, angezapft. Später bot er Drews die Mitarbeit an verschiedenen Projekten an, so zum Beispiel an »Kempowskis Kuriositäten-Lexikon« (kurz »KKL«) sowie einem »Kalender«, beide wurden jedoch nicht realisiert. Erst bei der »Gast-Lektoren-Tätigkeit« kam es zu einer Kooperation. Kempowski schrieb am 19. September 1978: »Ich habe lange überlegt, wen ich dafür auswählen könnte (…). Nur Du bist mir eingefallen, vielleicht ein Zeichen für Dich, wie sehr ich Dich schätze.«
Drews nahm das Angebot an, traf sich Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre in Nartum mit Kempowski und verfaßte nach diesen Arbeitsgesprächen Gutachten, die dem Gründer und Leiter des Münchner Knaus Verlags, Albrecht Knaus, zur Orientierung über die Vorhaben seines Autors dienten. 1983 begann auch die von Radio Bremen in Kempowskis Haus veranstaltete Reihe »Literatur im Kreienhoop«, bei der Drews ein gerngesehener Gast war. Zu dieser Zeit gehörte Kempowski bereits zu den vielgelesenen deutschen Autoren, Teile seiner Familiengeschichte waren von Eberhard Fechner verfilmt worden, und der Abschlußband der »Deutschen Chronik« mit dem Titel »Herzlich willkommen« stand kurz vor der Veröffentlichung.
Drews war seit 1973 Professor für Literaturkritik und Literatur des 20. Jahrhunderts in Bielefeld. Er rezensierte für die »Süddeutsche Zeitung« und andere Printmedien, war Mitbegründer des »Bielefelder Colloquiums Neue Poesie«, verkehrte freundschaftlich mit zahlreichen Autorinnen und Autoren, kurz: war gut vernetzt und hatte sich als gewichtige Stimme in der deutschen Literaturlandschaft etabliert. Kempowski suchte seinen Rat, wenn literarische Vorhaben ins Stocken zu geraten drohten. Drews erkundigte sich regelmäßig nach dem Stand der Arbeiten. War ein neues Buch erschienen, verfaßte er in der Regel nicht nur eine Rezension, sondern schrieb dem Autor auch persönlich. So zum Tagebuch »Sirius«, das 1990 erschien: »ich habe mich sehr gefreut an dem buch, bei dem du eine schöne balance hältst von infragestellung deiner selbst und rechtbehaltenwollen, von haarsträubenden späßen und einem ernst, den du aber nicht zu lange durchzuhalten versuchst. manchmal hat man auch den eindruck, daß du gar ein ganz klein bißchen weise wirst. und das sage ich ohne spott & ironie!« (18. Dezember 1990) Doch Drews konnte auch Kritik anbringen, wie im Brief vom 22. Juni 1992 anläßlich des Romans »Mark und Bein«: »ich habe das buch als sehr unterhaltend empfunden, aber es hat nicht die pranke des löwen in seiner handschrift, das muß ich dir doch sagen. das erschütternde wird ein bißchen überlaufen oder verwischt durch das pläsierliche. pardon! da hatte doch der SIRIUS einen anderen biß!!!! und vom ECHOLOT verspreche ich mir höchstes und intensivstes.«
Immer war es der experimentelle, ja avantgardistische Ansatz, den Drews besonders schätzte; sobald Kempowski sich ins Fach des konventionellen Romanciers entfernte, konnte er eine gewisse Zurückhaltung an den Tag legen. Der Austausch intensivierte sich im Zusammenhang mit dem zehnbändigen »Echolot«, neben der »Deutschen Chronik « und den Tagebüchern eine weitere tragende Säule des Werks. Von Anfang an war Drews in die Entstehung involviert und vom Vorhaben und seiner Umsetzung begeistert. Kempowski schrieb ihm regelmäßig von den Versuchen, der Textmassen Herr zu werden, aber auch vom Ringen um die Form. Experimente zur Collage- und Montagetechnik, eingefügte Bilder und Zeitsprünge, die Sprechspur (ein Versuch, die Ebene der »Echolot"-Texte mit Notaten aus dem eigenen Tagebuch zu kontrastieren): Was in der Dichterwerkstatt in Nartum diskutiert wurde, erfuhr man auch in Bielefeld. Und Drews setzte sich mit den Ideen weitsichtig auseinander und gab Ratschläge, die der Autor zu schätzen wußte. Oft folgte er ihnen, wenn auch manchmal erst nach weiteren Experimenten.
Ende 1993 war es soweit: Die ersten vier Bände des »Echolots« zum Januar / Februar 1943 erschienen. Das »kollektive Tagebuch« fand in der Presse großen Zuspruch und wurde zu einem der aufsehenerregenden Bucherfolge der neunziger Jahre. Drews verfaßte in der »Süddeutschen Zeitung« (4. / 5. Dezember 1993) unter der Überschrift »Ein Meisterwerk wird besichtigt. ›Das Echolot‹: Walter Kempowskis literarische Jahrhundertcollage « eine der zentralen Rezensionen. Am 30. Dezember dankte Kempowski ihm in einem zweiseitigen Brief für »die gute Meinung«, die er von dem Buch habe. »Du warst ja von Anfang an mit dem Projekt vertraut, und ich vergesse nicht den guten Ratschlag, den Du mir gabst, im Hinblick auf die ›Sprechspur‹, die in der Tat das Ganze nur belastet hätte. In der Reihe der großen Kritiken über das Echolot hast Du das Wort ›Pietät‹ gebraucht, Du hast sie gespürt, die Verhaltenheit oder Scheu, die mich davon abhielt, allzu kraß neben TM [Thomas Mann] etwa Auschwitz [Eintragungen aus dem »Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939 –1945« von Danuta Czech] zu setzen. Der Versuchung, womöglich Beiträge in Anekdotenlänge aneinanderzureihen, bin ich nicht erlegen, wie Du selbst schreibst. Kürzen war mir immer peinlich, das wär mir so vorgekommen, als hätte ich nachträglich den Toten den Mund zugehalten. Wir müssen uns auch mal ›Längen‹ aussetzen, wieso sollten wir nicht die Zeit dazu haben?« Der letzte Band des »Echolots« erschien 2005.
[…]
Simone Neteler
SINN UND FORM 3/2019, S. 293-316, hier S. 293-296
Kielar, Marzanna
Frost im Mai. Gedichte, S. 317
Miłkowski, Maciej
Nicht-Fiktion, S. 321
Mateer, John
Das Zeitalter umschiffen. Gedichte, S. 332
Hartmann, Bernhard
Die Kunst des Überdauerns. Ein Gespräch mit Tomasz Różycki über Geschichte und Sprache, S. 335
Różycki, Tomasz
Nach Moskau. Eine europäische Reise , S. 345
Auden, Wystan Hugh
Geheimnisse. Gedichte, S. 357
Katajew, Iwan
Chamowniki. Einleitung zu einer Erzählung, S. 363
Axelsson, Linnea
Ædnan, S. 375
Lethen, Helmut
Unter dem Pflaster die Kanalisation. War das Böse das wirklich Reale der historischen Avantgarden?, S. 382
Unter dem Pflaster ist die Kanalisation – mit diesem Titel visiere ich kein verborgenes Terrain an, kein unterirdisches System, durch das die (...)
Lethen, Helmut
Unter dem Pflaster die Kanalisation.
War das Böse das wirklich Reale der historischen Avantgarden?
Unter dem Pflaster ist die Kanalisation – mit diesem Titel visiere ich kein verborgenes Terrain an, kein unterirdisches System, durch das die Abfälle des oberirdischen Systems der sozialen oder moralischen Hygiene zuliebe abgeführt wurden. Im 20. Jahrhundert lag die finstere Kanalisation aufgedeckt vor uns, was auch eine Leistung der Avantgarden war. Dort befand sich keine geheime Tiefenstruktur mit Plantagen verbotener Drogen und versteckten Waffenlagern. Nein, das 20. Jahrhundert hatte den Vorteil, daß es im Scheinwerferlicht technisch hochmoderner Apparate den moralischen Untergrund und die Schauplätze des Gemetzels ausleuchtete, die auf niedrigerem technischen Niveau auch im 17. Jahrhundert, aus dem die Avantgarden viele Inspirationen empfangen hatten, schon ins Licht gerückt worden waren.
I. Neolithische Kindheit
Im heißen Sommer 2018 konnte man im Haus der Kulturen der Welt in Berlin die fabelhafte Ausstellung »Neolithische Kindheit. Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930« besichtigen. Der Katalog beginnt mit einer Kritik der Avantgarde forschung. Sie habe nach dem Zweiten Weltkrieg die »radikalsten Elemente der Avantgarde« neutralisieren müssen, um sie »für den neuen westlich bürgerlichen Kanon reklamieren zu können«. Man denkt oft, die Demokratie sei ein »Allesfresser« (Heiner Müller). Das ist nur insofern wahr, als sie Brisantes in der Regel ausscheidet.
»Neutralisiert« wurden in der Nachkriegsrezeption krasse Merkmale der Avantgarden wie ihre Abwertung des Humanen, ihre Feier des teuflischen Chaos, ihr Einsatz der Sprache als Desinfektionsmittel der Moral, ihr faschismusaffiner Biologismus und ihre Verachtung demokratischer Tugenden, wie der Balance oder des Austauschs, das heißt ihre Liebe zum Absturz in Zonen, in denen Gefahr die Berührung mit dem Realen garantieren sollte. Orte archaischer »Naturvölker «, Stierkampfarenen, Schlachthöfe, Schauplätze der Revolution, Boxringe, Schützengräben oder Bordelle und Psychiatrien – waren solche mit Vorliebe aufgesuchte oder imaginierte Zonen. Wahrscheinlich hätte man sich darauf einigen können, daß, wie Heiner Müller einmal bemerkte, hinter den Kulissen der Demokratie eine stabile Sphäre »des Bösen, also eine gewisse Menge an Bestialität, eine gewisse Menge von Gewalt« versteckt sei, die der Avantgardist aufspüren müsse, um ihren ästhetischen Reiz mit Erkenntnisgewinn oder Vergiftungswillen auszustellen.
Die historischen Avantgarden zerlegten jedenfalls die Grundfesten einer aus ihrer Sicht schwachen, das heißt humanistisch gefärbten Anthropologie, die die Natur des Menschen als demokratiekompatibel begreifen wollte. Der einzelne als Individuum und moralische Größe wurde von ihnen demontiert. 1931 schrieb Carl Einstein, der den Begriff der »Neolithischen Kindheit« geprägt hat: »Der Mensch war nicht mehr ein stabiler Typus sondern ein Bündel schwer überschaubarer Vorgänge, die man allzulange verheimlicht hatte, um das Ebenbild Gottes intakt zu halten.« Diese Kränkung hatten im 19. Jahrhundert schon der Darwinismus, der Marxismus und die Psychoanalyse dem humanistischen Menschenbild zugefügt. Jetzt wendet man die aus dieser Verletzung resultierende Wut gegen den »Liberalismus«, ein diffuses, aber allgegenwärtiges Feindbild der Avantgarden. Dieser habe, so Einstein, die »Fähigkeit zum Notwendigen« eingebüßt. Es gelte nun, aus dem »trüb wogenden Schlamm« einem »neuen gewaltsamen Geschick« zum Durchbruch zu verhelfen. Ernst Bloch ergänzt 1935: Der Relativismus der Liberalen habe eine »allgemeine Müdigkeit« erzeugt, so daß jetzt die antihumanen archaischen Bestände wie »Magma der Vorzeit« durch die dünne Eisdecke der Zivilisation brechen können.
Die Bannflüche gegen den Liberalismus klingen verdächtig nach Parolen der Konservativen Revolution. Bekanntlich waren die Avantgardisten in Frankreich und Italien enger mit den faschistischen Bewegungen verbunden als in Deutschland, George Sorels revolutionärer Mythos hat aber auch viele Intellektuelle in Deutschland angesteckt. Waren die Avantgardisten durch ihren biologistischen Bildraum grundsätzlich anschlußfähig an faschistische Strömungen? Eigentlich nicht, meint der Kurator der Berliner Ausstellung, Tom Holert, obwohl »die Ideologien des Imperialismus und Faschismus in doktrinärer Unverfrorenheit mit biologistischen Theoremen und Sprachbildern ausgestattet waren«. Hätte man den Vitalismus besser in dem geschützten Raum der Kunstautonomie des Surrealismus eingehegt, statt ihn in den politischen Raum auszuwildern? Oder anders gefragt: War die historische Avantgarde so etwas wie die ästhetische Auswilderung lebensgefährlicher Strömungen? Wurde in ihr die menschliche Scham im Ofen des Bösen verbrannt?
Jedenfalls hatten die Kuratoren der Berliner Ausstellung große Mühe mit Werken, die keine »kritische Figuration« der Gegenwart leisten, sondern sich in einen »faschistischen Kosmos« eingliedern lassen, in dem »das Volk in einem monumentalen und nach allen Seiten hin phobischen Volkskörper verschmilzt«. Carl Einstein ist frei von diesem Verdacht. Immerhin war er Sozialist und Spanien kämpfer, auf der Flucht vor den Nazis beging er 1940 Selbstmord; das macht es schwer, die finsteren Dimensionen seines Denkens um 1930 wahrzunehmen. Die Kuratoren neutralisieren radikale Elemente der Avantgarde, oder genauer: Sie spalten eine politisch gefährliche Avantgarde von einer Spielavantgarde ab. Damit gerät die Wirklichkeit der Entscheidungen auf die moralisch diskreditierte Seite.
Das weist auf ein Dilemma der Avantgardeforschung hin: Einerseits verbündet sie sich mit den wilden Attacken gegen den Liberalismus, natürlich nur als ästhetisch reizvolles Unternehmen; andererseits benutzt sie dessen Grundwerte zur Abgrenzung gegen politisch tabuisierte Bewegungen.
II. Das Aussetzen der Evolution
Als Marcel Mauss 1938 in einem Vortrag die Entwicklung der Fundamental-Kategorie »Person« von der Maskerade der ausgefüllten Rolle in heiligen Vorzeit-Dramen zur individuellen Figur mit moralischem Wert verfolgte, schloß er nicht aus, daß diese Entwicklung auch rückgängig gemacht werden könnte: »Wir haben große Güter zu verteidigen«, warnt er am Schluß seines Vortrags, »mit uns kann die Idee (des Individuums, HL) verschwinden«. Die Avantgardisten hatten sie bereits weitgehend eliminiert. Eines ihrer Spiele im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts bestand darin, die Stufenleiter der Herausbildung der »Person « im moralischen Verstande bis in die Zeit der »Masken-Zivilisation« hinabzusteigen, in der sich der Mensch in Ritualen seine Person erstellt.
Das Konzept der Evolution hatte aus der Vorgeschichte eine hinter uns liegende Zeitspanne gemacht, einen Raum in Australien oder Südafrika, wo lebende Fossilien der Steinzeit, die »Wilden«, zu finden waren. Die Avantgardisten liebäugelten mit der Idee, die Stufenfolge der Zivilisation außer Kraft zu setzen, die Barbarei schien ihnen als Endpunkt der Entwicklungsgeschichte nicht unwahrscheinlich. Zumindest erschien ihnen dieser Zustand als ästhetisch reizvoll.
1933 entdeckte der Fotograf Brassai in den Graffiti auf Pariser Fabrikmauern Gesten von Menschen, die einst auf Höhlenwände gemalt hatten. Er glaubte, in ihnen den Sieg der Ethnologie über die Geschichte des Fortschritts zu erkennen, aber auch den Triumph der Fotografie über das normale Sehvermögen. 1933 schrieb er: »Allein durch das Eliminieren des Faktors Zeit führen lebendige Analogien zu schwindelerregenden Annäherungen durch alle Zeitalter hindurch. Im Lichte der Ethnografie (…) wird die Steinzeit zu einem Geisteszustand«. Unter den Automatismen des modernen Lebens habe die Steinzeit »überlebt«. Sie war ein Jungbrunnen, eine »Neolithische Kindheit«, wie Einstein fand.
Es geht Avantgardisten wie Brassai nicht um die Rekonstruktion eines linearen Progresses der Kulturen, sondern um die Eliminierung des Faktors Zeit, wie Maria Stravinaki im Kommentar zur Ausstellung erläutert, um die schwindelerregende Präsenz der Vorzeit. Darum konnten Avantgardisten die dreißiger Jahre mit der Steinzeit identifizieren. Hat man erst einmal den Evolutionismus verabschiedet, zeigen sich Analogien zwischen den vermeintlich »Zivilisierten« und den »Primitiven«. Dunkel, rätselhaft und nur bruchstückhaft erschlossen, bot sich die Vorgeschichte als offener Horizont an, ohne spezifischen Ursprung, mit ungenauen Anfängen, ohne organische Abfolge: »Niemandes Herkunft und niemandes Erzeuger«. Daran wird erkennbar, wie sich die Verdikte der Konservativen Revolution, die im Wortlaut ähnlich klingen wie die oben zitierten Aussprüche der Avantgardisten, von diesen unterscheiden. Vertreter der Konservativen Revolution dringen in den von der Avantgarde hergestellten Hohlraum der Herkunftslosigkeit ein, besetzen ihn mit Mythen des Ursprungs, Genealogien des Blutes, Heldenliedern der Nation und der Gewißheit der Identität eines Volkes. Je genauer man den Anfang eines »Ursprungs« untersucht, desto mehr zerstreut er sich in viele Anfänge, die sich im historisch dunkeln verlieren. Diesen desillusionierenden Blick haben die Konservativ-Revolutionären nie riskiert.
[…]
SINN UND FORM 3/2019, S.382-390, hier S. 382-385
Möhlmann, Thomas
Wir brauchen unter dem Pflaster den Sumpf nicht zu fürchten. Gedichte, S. 391
Reinert, Bastian
Die Wahrheit liegt im Zerfall. Aphorismen, S. 393
Es gibt nichts, was nicht Abschied wäre.
Selbst das Willkommen ist einer.
Meist sind Feinde gewissenhafter als Freunde.
An jedem Gedanken hat (...)
Reinert, Bastian
Die Wahrheit liegt im Zerfall. Aphorismen
Es gibt nichts, was nicht Abschied wäre.
Selbst das Willkommen ist einer.
Meist sind Feinde gewissenhafter als Freunde.
An jedem Gedanken hat sich schon einmal ein Mensch erhängt.
Nichts von dem, was wir tun, hat Bestand.
Darum tun wir es und täten nichts, wenn alles bliebe.
Am freiesten sind wir in unseren Widersprüchen.
Wer die eigenen Lügen irgendwann glaubt, dem sind sie zu Wahrheiten geworden, um die man ihn beneiden kann.
Denken heißt: seinem Verstand mißtrauen, daß er etwas bereits verstanden hat.
Du mußt mit den Ohren staunen!
Im Vergleich werden die Unterschiede sichtbar, in den Unterschieden aber verblaßt das Gemeinsame.
Der Mensch ist nicht mehr das Maß seiner Maßstäbe.
Wer Uhren trägt, den trägt die Zeit davon.
Was wir uns selbst verschweigen, verrät uns ein anderer.
Man kann Gott nur wünschen, daß es ihn nicht gibt.
Der Mensch ist das Wie seines Sterbens.
Der Abergläubische steht mit einem Bein im Glauben und mit beiden im Wahn.
Es ist doch so, daß das Böse erklärbar ist und ein Rätsel nur das Gute bleibt.
Wenn wir unsere Widersprüche nicht lösen können, sollten wir neue produzieren.
Wer im Kreis denkt, läuft sich ständig selbst über den Haufen.
Toleranz ist eine Anmaßung.
Was uns so gleich macht, ist, daß wir uns so gerne voneinander unterscheiden wollen.
Uns sind die Töne gegeben, aber nicht die Melodie.
Leben heißt: Einwilligung in den Zufall.
Wer geliebt werden will, sollte (sich) verschweigen können.
Vergangenheit ist die Behauptung, daß etwas war.
Erinnerung ist die Behauptung, wie es war.
Alles Leben widerspricht dem Tod – ein Widerspruch auf Zeit.
Extreme sind nur das Gewöhnliche in grellerem Licht.
Unser Wissen wird weniger, je größer es wird.
Das ist kein Paradox, das ist Relativität.
Am schlimmsten sehnt man sich, wenn man nicht weiß, wonach.
Das Leben hat keinen anderen Zweck als den des Überlebens.
Alles andere ist Ideologie, selbst das Überleben ist schon eine.
Wer für die Gegenwart blind ist, sollte nicht in die Zukunft schauen.
Die Gescheiterten sind oft die Gescheitesten.
Der einzige Unterschied zwischen Freunden und Feinden ist der, daß man Freunden nicht sagt, was man wirklich denkt.
Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Wahrheit, das keine einzige mehr besitzt.
Wer glaubt, hört auf zu denken. Wer weiß, denkt weiter.
Die meisten Dinge sind schon mehrfach gedacht worden. Aber erst von den wenigsten.
Lügen kann man zurücknehmen, Wahrheiten nicht.
Die größte Kränkung des Denkenden ist, zu wissen, daß es auf ihn nicht ankommt.
Man sucht Streit, um das Gemeinsame zu finden.
Wer seine Flaschenpost in einen Teich wirft, wartet auf ein Urteil der Karpfen.
Der Dilettant findet sich überall bestätigt, das Genie bestätigt sich selbst.
Sich erklären heißt, sich verklären. Man sollte beides vermeiden.
Nur im Unglück sind wir ganz frei.
In manchen Sprachen läßt es sich besser schweigen als in anderen.
Du mußt an dem, was dich kleinhält, wachsen lernen!
Wir sind mit dem Tod geboren und sterben am Leben.
Glauben ist das Unvermögen, das Nichts zu denken.
Die schönste Sehnsucht ist die, die eine bleiben darf.
SINN UND FORM 3/2019, S.393-395
Misiak, Anna Maja
Räume zwischen Licht und Abglanz. Gedichte, S. 396
Köpp, Ulrike
»Abstrakte, Moderne, verschiedene Ismen«. Zur Ablösung des Begriffs »entartete« Kunst, S. 398
Thieme, Saskia
Ein Heimkehrender ist ein Träumender. Arnold Zweigs Heimatutopie in der DDR, S. 413
Honigmann, Barbara
Diese schwierige Freiheit. Dankrede zum Jakob-Wassermann-Preis 2018, S. 417
Steinkopf, Leander
Geschichte meines Autos, S. 421
Dieckmann, Friedrich
Fontanes Lücken, S. 424
Fontane hat mich in jungen Jahren irritiert. »Schach von Wuthenow« gab den Anlaß, der Roman kam mir an zentraler Stelle mißlungen vor. Kürzlich (...)
Dieckmann, Friedrich
Fontanes Lücken
Fontane hat mich in jungen Jahren irritiert. »Schach von Wuthenow« gab den Anlaß, der Roman kam mir an zentraler Stelle mißlungen vor. Kürzlich habe ich abermals nach dem Buch gegriffen, neugierig darauf, ob sich der Eindruck von einst erneuern werde, und wirklich, wie einst an der Oberschule kam mir die Geschichte, deren Umschlagspunkt, die Peripetie, in der Achse des Buches durch eine Auslassung bezeichnet ist, realiter verfehlt und künstlerisch ausflüchtig vor. War dieses Aussparen des Delikaten, das sowohl das Unbegreifliche wie das Unaussprechliche war, ein Ausfluß jener stillen gesellschaftlichen Zensur gewesen, die die Leser der Zeitungen und Zeitschriften, auf deren Vorabdruck der Autor angewiesen war, über sein Schreiben verhängten, oder überstieg die Darstellung ebenso wie die Motivierung des Vorgangs (ein ebenso schöner wie schönheitsversessener Offizier verführt bei einer Zufallsgelegenheit die blatternarbige Tochter einer begehrenswerten Mutter) die epischen Mittel eines Autors, der, im geistreich parlierenden Dialog zu Hause, keine Sprache für einen solchen Überfall des Kreatürlichen besaß?
Am Ende mochte beides zusammenkommen, um die Lücke zu bewirken. Fontane, der Theaterkritiker, ist als Epiker ein Antidramatiker, der nach dem Plot greift, damit die Geschichte einen Kern bekommt, der diesen Plot, wenn es um seine Darstellung geht, aber der Vorstellungskraft des Lesers anheimstellt, der sich das Unerklärliche als geschehen zusammenreimen muß. Ähnlich geschieht es in »Effi Briest« und noch andernorts und ist charakteristisch für beide, den Autor und die Gesellschaft, in der er und für die er schreibt. Beide haben keine Sprache für das Kreatürlich-Elementare, das inkommensurabel Hervorbrechende, weil sie keine dafür haben dürfen; Dezenz spart den Raum des Unbeschreiblichen aus.
So könnte man denken und vergäße dabei, daß Fontane jene Leerstellen gleichsam symbolisch setzt, für die Schwäche der von ihm beschriebenen Gesellschaft und derer, die in ihren Normen befangen sind. Die Lücken, die er an charakteristischen Stellen läßt, stellen dieses Symbolhafte sicher; würde er sie beschreibend ausfüllen, wäre ihr Zeichenhaftes ästhetisch geschwächt. Diese Figuren erliegen dem Über-Ich der Konvention nicht, weil sie an diese glauben, sondern weil sie – und damit »die Gesellschaft« – übermächtig ist, auch in ihrem Innern. Sei es in »Schach von Wuthenow « die aufgeklärte Frau von Carayon, die zum König geht, um den Rittmeister zur Ehe mit ihrer Tochter zu zwingen, sei es in »Effi Briest« der aus dem Brieffund im Sekretär seiner Frau wider besseres Wissen die Duell-Notwendigkeit ableitende Ehemann oder in »Stine« der liberale Onkel, der dem die Näherin zur Ehe begehrenden Neffen die gesellschaftliche Ausstoßung ankündigt, worauf dieser, ein tapferer Offizier, sich bedacht erschießt – der Unentrinnbarkeit der gesellschaftlichen Norm unterliegen gerade die, welche sich zuvor plaudernd-geistreich ihrer Unabhängigkeit versichert hatten. Auf die Probe der Realität gestellt, erweist sich diese als haltlos. So zivil diese Fälle im einzelnen sind: Der Mann fällt darin allemal auf dem Feld der Ehre, im Duell oder von eigener Hand, die Frauen aber schwinden dahin, falls nicht, wie im phantastischen Falle des sich unmittelbar nach der erzwungenen Heirat erschießenden Rittmeisters v. Schach, dem irrationalen Schäferstündchen ein gesunder Knabe entspringt.
Die innere Widerstandslosigkeit gegenüber dem drohenden oder dem verhängten gesellschaftlichen Makel ist auch auf seiten der Frauen symbolisch gesetzt; das zeigt sich an der »realen« Effi Briest (auch hier hatte Fontane nach dem Leben, also nach einer wirklichen Geschichte gearbeitet), die, ihrer Kinder beraubt, nach der Verstoßung durch den adligen Gatten keineswegs wie ihr Gegenbild im Roman vor sich hin kümmerte, sondern eine berufstätige Existenz begründete, die der Hohlheit männlicher Normergebenheit einen emanzipatorischen Eigensinn entgegensetzte. Eben das konnte und wollte Fontane im Roman nicht gebrauchen, es hätte die Energien des Widerspruchs, die er im Leser wecken wollte, auf die Figur übertragen und damit abgeschwächt. Dieser sollte lieber mit dem Verfasser und der von ihm geschaffenen Figur hadern, als sich am schönen Beispiel – der Ausnahme statt der Regel – zu genügen. Brecht hat zwei Generationen später die Frage, warum die Courage in seinem Stück nichts lernt, mit dem Satz beantwortet: »Der Zuschauer soll lernen.«
Hier liegt das Geheimnis der Irritation, die Fontanes Gesellschaftsromane damals und auch heute noch zu erregen wissen. Das Lebensferne und Lebensfremde der gesellschaftlichen Normen, denen sich die Eliten des wilhelminischen Preußens unterwarfen, sollte in der Widerstandslosigkeit, mit der seine Figuren den Tod einem Leben außerhalb der etablierten Gesellschaft vorziehen, kenntlich werden; mit künstlerisch-immanenten Mitteln war so das Defizit bezeichnet, an dem das glorreich emporgestiegene preußisch-deutsche Reich nach nur zwei Generationen unterging; seine politische Gestalt hieß Reformunfähigkeit. Dem mitteldeutschen Rumpfpreußen, das aus seinem Untergang hervorging, sollte es unter anders hierarchischen Verhältnissen ähnlich ergehen. Doch an jede Gesellschaft, nicht nur an die hierarchisch durchdrungene, ergehen die Fragen, die Mahnungen, die Fontanes Romane an die preußische stellten. Moralvorstellungen, die sich von der Lebenswirklichkeit ablösen und, blind ihre Geltung behauptend, die sozialen Strukturen immer mehr unterhöhlen, sind keine Spezialität illiberaler Ordnungen.
Der Romanautor, der in seinem letzten Werk, dem »Stechlin«, alles Plotmäßige von sich tat und im Dialog zweier älterer Herren das Parlando der Lebenserfahrung spielen ließ, ist der eine, der spätere Fontane. Ihm geht der Flaneur voran, der das eigene Land episch durchstreifende Wandersmann mit seinem wissenden Blick für dessen Bewohner und für eine Geschichte, die ihm an immer neuen Geschichten aufgeht. In frühen und späteren Jahren: Stets ist der Lyriker und der Briefschreiber am Werk. Ein Wort, das er im Blick auf Adolph Menzel geprägt hat, daß »erst der Fleiß das Genie« mache, ist wie auf ihn selbst gemünzt.
Fontane der Lyriker – auch er will immer wieder entdeckt sein, von den englischen Balladen, in denen die dramatischen Momente, auch die erotischen, keinesfalls ausgespart sind, bis hin zu jenen Altersgedichten in Knittelversen, in denen Welt- und Selbsterkenntnis wie beiläufig das Wort nimmt. Parlando auch hier, mit spielendem Witz, wissender Melancholie, einer ausgefeilten Sprachkunst. Entdeckt sein will das Gesamtwerk, das mit den »Wanderungen« des Vierzigjährigen in das Stadium der Reife eintritt; es ist ein Ganzes in denkbar reichen Facetten. Fontane hat einem Preußen, das zwei Generationen nach dem tiefen Fall von 1806 aufs neue in die Weltgeschichte eintrat, in Vers und Prosa ein Gesicht gegeben, das fernab aller offiziellen Ruhmredigkeit lag. In seinen späteren Jahren registrierte er die Anzeichen des Niedergangs; er selbst ist der Hermundure, der sich – »Veränderungen in der Mark« heißt das Gedicht von 1890 – von Odin Urlaub erbittet, um in Berlin nach dem Rechten zu sehen, und, zurückkehrend nach seinen Eindrücken befragt, antwortet: »Gott, ist die Gegend ’runtergekommen.«
An aller Welt Enden ist sein Ruhm dabei nicht gedrungen; er schrieb »Verzeiht« über ein Gedicht, in dem er mit dem Understatement, das seine Spezialität war, den »Weitsprung« verschwor:
Der faßt es so, der anders an,
Man muß nur wollen, was man kann;
Mir würde der Weitsprung nicht gelingen,
So blieb ich denn bei den näheren Dingen.
Die näheren Dinge, das sind die betreffenden, die überdauernden; so kommt es, daß dieser Zweihundertjährige, dem Heinrich Mann attestierte, daß er den modernen Roman »für Deutschland erfunden, verwirklicht [und] auch gleich vollendet« habe, trotz des Abstands der Zeiten fast wie ein Mitlebender zu uns spricht, und das nicht, weil die Straßennamen noch oder wieder die alten sind: Behrenstraße und Gendarmenmarkt, Wilhelmstraße und
Unter den Linden. Sollte auch in der Situation, die er im Alter an Preußen wahrnahm, etwas Bezügliches stecken? Deutschland hat sich nach einer Niederlage, die viel schlimmer noch als die preußische von 1806 war, aufs neue zu einer Weltgeltung erhoben, die es selbst manchmal gar nicht wahrhaben mag und durch ein besonders musterhaftes Verhalten glaubt rechtfertigen zu müssen. Das Fatale ist, daß man mit einer völlig konträren Haltung denselben Fehler machen kann wie mit der Überspanntheit, in der Fontane die Keime des preußischen Untergangs erkannte. Das Verbindende zwischen beiden ist der Mangel an Selbstbewußtsein.
SINN UND FORM 3/2019, S. 424-426