
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-45-4
Heft 1/2019 enthält:
Kertész, Imre
Die eigene Mythologie schreiben. Tagebucheintragungen zum »Roman eines Schicksallosen« 1959 –1962, S. 5
Koepsell, Kornelia
Weiße Gedichte, S. 24
Kehlmann, Daniel
Die verdunkelten Jahre. Über zwei Romane Franz Werfels, S. 26
Bove, Emmanuel
Das Warten, S. 37
Bürger, Christa
Die Ordnung der Liebe. Marie de France, S. 40
Cole, Isabel Fargo
Legenden des Wachstums, S. 47
Lebda, Małgorzata
Die Dinge des Waldes. Gedichte, S. 54
Seiler, Lutz
Der einzige Weg, S. 57
Hilbig, Wolfgang
»Aber lassen wir die Ironie, es geht ums Heiligste.« Briefe an Ursula Großmann. Mit unveröffentlichten Gedichten. Mit einer Vorbemerkung von Michael Opitz, S. 61
Vorbemerkung Wenn 2020 der siebente und zugleich letzte Band der Werkausgabe Wolfgang Hilbigs erscheint, werden in erster Linie seine zu (...)
Hilbig, Wolfgang
»Aber lassen wir die Ironie, es geht um das Heiligste»
Briefe an Ursula Großmann. Mit unveröffentlichten Gedichten
Vorbemerkung
Wenn 2020 der siebente und zugleich letzte Band der Werkausgabe Wolfgang Hilbigs erscheint, werden in erster Linie seine zu Lebzeiten veröffentlichten lyrischen, erzählerischen und essayistischen Texte vorliegen. Editorisch noch weitgehend unerschlossen sind hingegen das unveröffentlichte Werk und die umfangreiche Brief- und Postkartenkorrespondenz des 1941 im thüringischen Meuselwitz geborenen Autors. Der gelernte Bohrwerkdreher, der viele Jahre als Heizer arbeitete, war ein eifriger Briefeschreiber, noch häufiger verschickte er Postkarten, besonders Kunstpostkarten. Einige der Briefe und Karten werden vom Marbacher Literaturarchiv und vom Wolfgang-Hilbig-Archiv der Akademie der Künste aufbewahrt, der überwiegende Teil seiner Korrespondenz aber befindet sich in Privatbesitz.
Die Korrespondenz zwischen Hilbig und Ursula Großmann begann im Sommer 1968. Den ersten, nicht erhaltenen Brief schrieb Großmann, nachdem sie seine legendäre Annonce in der Zeitschrift »Neue Deutsche Literatur« (Nr. 7/ 1968) gelesen hatte. Anderthalb Jahre später, im Januar 1970, kam der Briefwechsel zum Erliegen. Die Gründe dafür können nur vermutet werden. Hilbig arbeitete ab 1970 als Heizer im Dreischichtsystem. Möglicherweise hatte er einfach keine Zeit mehr. Während von ihm siebzehn Briefe, eine Brief- und eine Postkarte erhalten sind, gingen die Briefe Ursula Großmanns – bis auf einen, der als Durchschlag vorliegt – verloren.
Auf ihren Namen wurde ich bei Recherchearbeiten zu meiner 2017 erschienenen Hilbig-Biographie aufmerksam. Im Archiv der Akademie der Künste fand sich der Entwurf eines von Hilbig an Großmann adressierten Schreibens, das ich zitierte. Darauf stieß Großmann bei der Lektüre des Buches. In einem Telefonat erfuhr ich, daß sich noch weitere von Hilbig verfaßte, bislang unbekannte Briefe in ihrem Besitz befinden. Einige Briefe aus diesem Konvolut werden hier erstmals veröffentlicht.
Sie sind insofern bemerkenswert, als sie Aufschluß über eine Lebensphase des Autors geben, aus der nur wenige Zeugnisse bekannt sind. Nach seiner Entlassung aus dem Grundwehrdienst der NVA im Oktober 1963 – ein Brief Hilbigs, in dem er sich kritisch über die Zustände in der Armee geäußert hatte, rief das MfS auf den Plan – schickte er verschiedenen Verlagen in Ost und West seine Gedichte. Doch weder der Rowohlt Verlag noch der Ostberliner Union Verlag konnten sich 1964 entschließen, diese Texte zu veröffentlichen. Johannes Bobrowski, damals Lektor im Union Verlag, ließ Hilbig im Oktober 1964 immerhin wissen, er besitze Talent, und ermunterte ihn, in »ein, zwei Jahren« erneut etwas einzusenden. Hilbig schickte seine Gedichte zwei Jahre später an »Sinn und Form«, erhielt aber auch von dort im März 1966 einen ablehnenden Bescheid. Und auch bei dem von Hans Magnus Enzensberger herausgegebenen »Kursbuch« versuchte er sein Glück: »Ich habe mich mit solchen Anliegen schon an mehrere Zeitschriften und Autoren aus der DDR gewandt, die Antworten waren teils ablehnend, teils (in letzter Zeit) blieben sie einfach aus.« Enzensberger fand zwar »sympathisch«, was ihm der Lyriker aus dem Osten schrieb, aber die Texte schienen ihm dennoch »unbrauchbar«.
Hilbig reagierte auf die Ablehnungen radikal: Er verbrannte 1965 einen Teil seines Frühwerks – das ihm, wie er es formulierte, »peinlich war« – und zählte fortan nur das zu seinem eigentlichen Werk, was er nach dieser Zäsur geschrieben hatte. Frühere Texte gehörten nur dazu, wenn sie von ihm überarbeitet wurden. Über die schwierigen Lebensumstände der sechziger Jahre schrieb er im Entwurf eines Lebenslaufs: »Ablehnungen, Depressionen, Ablehnungen.« Er hatte weder Erfolg mit seinem Versuch, Leistungssportler zu werden, noch mit seinem Antrag, als Matrose auf einem Schiff der Deutschen Seereederei die Weltmeere zu befahren.
Anerkennung fand Wolfgang Hilbig zunächst nur als »inoffizieller« Lyriker. Denn die Motorbootlesung auf dem Leipziger Elsterstausee, auf der er am 26. Juni 1968 seine Gedichte vor einem begeisterten Publikum vortrug, wurde vom MfS als »illegale Zusammenkunft « eingestuft. Siegmar Faust, der damals als Schiffsführer arbeitete, hatte junge Lyriker dazu eingeladen. Außer Hilbig kamen unter anderen Gert Neumann und Andreas Reimann. Zur Eröffnung zitierte Faust Abschnitte aus dem Programm der KPCˇ und empfahl deren liberale Kulturpolitik der DDR zur Nachahmung. Wenige Wochen später, am 21. August 1968, wurden die Hoffnungen auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz von den Panzern des Warschauer Pakts niedergewalzt. Seit dieser Lesung war der Name des Heizers aus Meuselwitz in den literarisch interessierten Kreisen Leipzigs ein Begriff.
In der DDR führten die Prager Ereignisse dazu, daß sich die bereits seit dem 11. Plenum des ZK der SED 1965 angespannte kulturpolitische Lage noch verschärfte. In dieser Situation einen Verlag für seine Gedichte zu finden, war schwierig. Hilbig versuchte es dennoch und schrieb an die »NDL«: »Darf ich Sie bitten, in einer Ihrer nächsten Nummern folgende Annonce zu bringen: ›Welcher deutschsprachige Verlag veröffentlicht meine Gedichte. Nur ernstgemeinte Zuschriften an: W. Hilbig, 7404 Meuselwitz, Breitscheidstr. 19 b‹.« Es ist erstaunlich, daß seine Annonce überhaupt abgedruckt wurde, da die Zeitschrift über keinen Inseratenteil verfügte. Und es war in der Redaktion offenbar auch niemandem aufgefallen, daß sich Hilbig ausdrücklich an »deutschsprachige« und nicht nur an DDR-Verlage wandte. Post allerdings erhielt er weder von Ost- noch von Westverlegern. Der einzige Brief kam aus der Heidenauer Kantstraße. Absenderin war die 1927 geborene Ursula Großmann, ebenso wie Hilbig Mitglied in einem Zirkel schreibender Arbeiter (Dresden-Nord). Wie Hilbig hatte sie nur die Grundschule besucht (1934 – 42). Nach dem Pflichtjahr (1943 / 44) begann sie eine Lehre als Damenschneiderin, da ihre Lehrwerkstatt im Februar 1945 beim Angriff auf Dresden total zerstört wurde, konnte sie die Lehre aber nicht abschließen. Nach dem Krieg besuchte sie zunächst die Handelsschule in Pirna und begann wenig später eine Ausbildung als Neulehrerin. Von 1946 bis 1952 unterrichtete sie in der Heidenauer Goethe-Schule. 1952 – nach der Geburt ihres Sohnes – erlitt sie einen Nervenzusammenbruch, woraufhin sie für drei Monate zu ihren in Westdeutschland lebenden Eltern fuhr. Als sie in die DDR zurückkehrte, wurde sie wegen politischen Fehlverhaltens aus dem Schuldienst entlassen und erhielt Berufsverbot. Lehrerin konnte sie in der DDR nicht wieder werden. Als sie den ersten Brief an Hilbig schrieb, befand sie sich in der Ausbildung zur bibliothekarischen Mitarbeiterin und arbeitete in der Stadtbibliothek Heidenau. Zusammen mit ihrem Mann lebt sie noch heute in Heidenau. Ihr Interesse an der Literatur ist ungebrochen, sie schreibt weiterhin Gedichte.
Michael Opitz
SINN UND FORM 1/2019, S. 61-83, hier S. 61-63
Krause, Thilo
Mit dem Geschmack eines zerbissenen Kerns. Gedichte, S. 84
Klein, Georg
Junger Pfau in Aspik, S. 89
Krusovszky, Dénes
Minotaurus. Gedichte, S. 102
Killert, Gabriele Helen
Die Kunst, das Unendliche hereinzubitten. Zur Poetik des literarischen Surrealismus, S. 106
Die surrealistische Revolution Mitte der zwanziger Jahre in Paris war vielleicht nicht die wichtigste, wohl aber eine der schönsten und unblutigsten (...)
Killert, Gabriele Helen
Die Kunst, das Unendliche hereinzubitten. Zur Poetik des literarischen Surrealismus
Die surrealistische Revolution Mitte der zwanziger Jahre in Paris war vielleicht nicht die wichtigste, wohl aber eine der schönsten und unblutigsten aller historischen Revolten. Was ist passiert? Ein paar Priester wurden beschimpft, der Papst ein Hund genannt. Und ein paar Ausstellungsräume und Kinos gingen zu Bruch. Nicht eben viel, wenn man bedenkt, welche Zukunft das »Büro für surrealistische Forschung« über die Menschheit verhängt hatte: Enteignung des Bewußtseins, der Logik, des perfiden Wachzustandes. Und: schöpferischer Schlaf, Mystik, Magie, Hysterie und automatisches Schrei ben – für alle!
Wieder einmal zogen die Proletarier aller Länder nicht mit. Dafür strömte die Boheme aller Länder und Wolkenkuckucksheime in Paris zusammen, um André Breton bei der »Neueinteilung des Lebens« zur Hand zu gehen. So nahm die Bewegung ihren Lauf.
Bei uns kam sie allerdings nie so richtig an. Der literarische Surrealismus hatte in Deutschland erst spät, seit den vierziger Jahren, eine bescheidene, leise vor sich hin bröckelnde Bastion. Weithin unbekannte Namen wie K. O. Götz, Johannes Hübner, Joachim Uhlmann, Lothar Klünner wären zu nennen. Ein Grüppchen, so klein und anfangs gänzlich unsichtbar, daß der Übersetzer Friedhelm Kemp nach 1945 immerhin noch meinte, einen deutschen Surrealisten – Friedrich Umbran – erfinden zu müssen, um einer etwas tristen Nachkriegsanthologie etwas mehr Pep und Farbe zu verleihen: »Unter den süßen Schenkeln / Wenn die Galle der Gärten im Nebel schläft / Und die Teiche wie Bienen sich umsehen …« Mit seinem eigenen guten Namen wollte Kemp dafür lieber nicht geradestehen.
Der deutsche Geschmack hat es gern profund. Ein bißchen schwer, ruhig auch schwerverdaulich. Nur nicht zu leicht, dann wird es schnell frivol. Dadaismus ja. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Bei Dada fällt so viel Sprachschrott hinten raus, man merkt, wie fleißig da gearbeitet wurde. Das spricht das deutsche Handwerkergemüt an. Aber Surrealismus? Ziemlich französisch, ziemlich artistisch. Schön vielleicht, aber wozu das Ganze?
Mit solch obstruktiven Sinnfragen wird dem Surrealismus hierzulande das Leben schwergemacht. Betrachten wir zum Beispiel das Gedicht »Steinbläue über dem Dolchschatten« von Anfang der sechziger Jahre: »Weil das Fleisch mit / dem Knochen schläft / rollen Augen über den Tisch / tanzt löwenbeinig / der Tisch übers Meer / öffnet das Meer Fenster / über einem Meer von Gesichtern.«
Das Gedicht verfaßte der Berliner Lyriker Richard Anders, ein Mensch von sanfter Schale, aber rauhem Kern, wenn es darum ging, Breton und den Surrealismus vor der Welt zu verteidigen. Bis zu seinem Tod 2009 hielt er tapfer die Stellung als vermeintlich »letzter deutscher Surrealist«.
In dem kleinen Text werden Dinge behauptet, die nur schwer nachvollziehbar sind. Dieses Gedicht kann sich nicht ausweisen: weder als Sinngedicht noch als lyrisches Stimmungsgedicht. Erst recht nicht als engagiertes, dazu fehlt ihm der angemessen freudlose Ton. Es hat keine Chance, in ein Lesebuch der sechziger Jahre aufgenommen zu werden, neben Verse von Günter Kunert, Erich Fried oder Hans Magnus Enzensberger, denn wo sind hier die sechziger Jahre? Keine Chance, überhaupt in ein Lesebuch zu kommen, denn was soll man hier interpretieren? Es wirkt so leicht, so übermütig, als hätte es gar keine Arbeit gemacht.
Es ist eben ein surrealistisches Gedicht. Ein Stück magische Kunst, die »irgendwie erneut den Zauber zeugt, der sie selbst gezeugt hat«, wie André Breton in »L’art magique« (Magische Kunst) zu definieren versucht hat. Es handelt sich um die schwer faßliche Disziplin des somnambulen Arbeitens. »Der Dichter arbeitet «, ein Schild mit diesem Hinweis stand an der Tür des Surrealisten Robert Desnos, während er schlief und träumte. Die Ressourcen des Innern, des eigenen respektive kollektiven Unbewußten sprudeln zu lassen, darum ging es von Anfang an. Der Surrealismus ist vor allem »ein Zustand des Geistes«, dekretierte Antonin Artaud, der zeitweilige Bürochef der Bewegung. Will heißen, der Surrealist »besitzt keine Gefühle, die zu ihm selbst gehören, er bekennt sich zu keinem Gedanken. Sein Denken errichtet ihm keine Welt, der er vernünftig zustimmt. Er gibt die Hoffnung auf, den eigenen Geist zu treffen. Aber endlich ist er im Geist (…), und vor seinem Denken wiegt die Welt nicht schwer«.
Wie man in diesen Schwebezustand einer ungelenkten Rezeptivität gerät, der die poetische Energie des Unbewußten freisetzt, skizzierte André Breton nach Art einer Gebrauchsanweisung der écriture automatique, des primären jeu surréaliste. Man möge sich in einen quasi meditativen Zustand des Nichtwollens, der Gedankenleere und Absichtslosigkeit versetzen und schnell, ohne Plan und vorgefaßtes Thema drauflosschreiben. »Der erste Satz wird ganz von alleine kommen, denn es stimmt wirklich, daß in jedem Augenblick in unserem Bewußtsein ein unbekannter Satz existiert, der nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden. Ziemlich schwierig, etwas darüber zu sagen, wie es mit dem folgenden Satz geht; zweifellos gehört er unserer bewußten Tätigkeit und zugleich der anderen an, (…) gerade darin liegt zum großen Teil der Wert des surrealistischen Spiels.« Man solle sich dabei, betont Breton, ganz auf »die Unerschöpflichkeit dieses Raunens« verlassen. Wenn ein Verstummen sich einzustellen droht, breche man bei einer zu einleuchtenden Zeile ab und setze hinter das suspekt erscheinende Wort irgendeinen beliebigen Buchstaben als Anfang des folgenden Wortes, um so die Willkür wiederherzustellen.
Ausgenommen die theoretischen Texte, wie etwa dieser aus dem ersten surrealistischen Manifest von 1924 – hier mußte zum Bedauern Bretons »in Formeln« statt in Zungen geredet werden –, verdanken wir dieser Technik einer blind agierenden sprachlichen Induktion die frühen Texte des Surrealismus. Entscheidend beim automatischen Schrei ben ist der Verzicht auf Kontrolle. »Denk-Diktat jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Reflexion« soll der Text sein. Das Karussell darf sozusagen nicht an der Kasse haltmachen. »Die magnetischen Felder«, Bretons erster, gemeinsam mit Philippe Soupault verfaßter, kanonisch surrealistischer Text – eine lyrisch dramatische Collage aus Kindheitserinnerungen und aggressiv getönten Ängsten, die die Lebenssituation der Freunde nach dem Ersten Weltkrieg spiegeln –, entstand so in automatischer Schreibweise.
Soupault: Ein guter Rat: Gehen Sie in die Avenue du Bois und schenken
Sie einem Mieter dieser Häuser, deren entzückende Geschmacklosigkeit
unsere Leidenschaften erregt, ein bescheidenes Zehnsousstück.
Breton: Wir werden dann den Rückzug der toten Generäle erzwingen können
und ihnen von neuem die Schlachten liefern, die sie verloren haben.
Sonst müssen wir eine Fälschungsklage einreichen gegen die gerechtesten
Urteile der Welt, und das Palais de Justice ist naß.
Soupault: Ich bin dessen nicht so sicher wie Sie. Eine Straßenlaterne, die
ich liebe, hat mir zu verstehen gegeben, daß Generäle und Nonnen den
Verlust der geringsten Träume zu schätzen wissen …
Syntaktisch gesehen scheint die Welt auf den ersten Blick noch in Ordnung. Doch die formale Verknüpfung innerhalb des Textes durch Rede und Gegenrede, das Vertraute rhetorischer Figuren sind trügerisch. Was hier geschieht, gleicht dem Ins-Leere-Reden des Absurden Theaters, das mit Alfred Jarry und Apollinaire beginnt und sich bei Beckett bis zur Selbstauflösung, zum Paroxysmus des Absurden im Schweigen, radikalisiert hat. Die beiden glücklichen Verfasser staunten über den Elan, die Leichtigkeit und die »bemerkenswerte Auswahl derart guter Bilder, wie wir sie bei langer Vorbereitung unfähig gewesen wären hervorzubringen«.
Der assoziative Schwung, die Schubkraft der Bilder ermöglicht ungewöhnliche Konstellationen, wie die »Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf dem Seziertisch«, die wir dem Vorreiter und Spiritus rector des Surrealismus, Lautréamont, verdanken. Er sprach solchem Schöpfungsakt »konvulsivische Schönheit« zu, die Breton und sein Kreis nunmehr von jedem surrealistischen Akt verlangten. Man könnte hier an Schillers Begriff des Schönen denken als Freiheit in der Erscheinung«. Surrealismus bedeutet aber vor allem: Freiheit in actu. Was Friedrich Schlegel für die Ironie reklamiert – »sie ist die freieste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst weg« –, gilt auch für die Praxis des jeu surréaliste. Niemand ist freier als der Surrealist, der sich der Willkür des Einfalls, dem Handstreich des Augenblicks überläßt. Dies ist jedenfalls sein Glaube und sein Credo.
(…)
SINN UND FORM 1/2019, S. 106-115, hier S. 106-109
Gracq, Julien
Bewohnbare Welt, S. 116
Modiano, Patrick
Zu Julien Gracq, S. 125
Lewitscharoff, Sibylle
Erich Auerbach liest Dante als Dichter der irdischen Welt, S. 126
Zagajewski, Adam
Die Tür zum Labyrinth des Gedichts. Über Tomas Tranströmer, S. 132
Troller, Georg Stefan
Die Hoffnung der hoffnungslosen Fälle. Ein Gespräch mit Marion Neumann über Heimat, Emigration und Verwandlung, S. 136
MARION NEUMANN: In Ihrer Autobiographie »Selbstbeschreibung« von 2009 erzählen Sie vor allem von den Jahren 1938–45, auch vom Nachkrieg und von (...)
Troller, Georg Stefan
Die Hoffnung der hoffnungslosen Fälle.
Ein Gespräch mit Marion Neumann über Heimat, Emigration und Verwandlung
MARION NEUMANN: In Ihrer Autobiographie »Selbstbeschreibung« von 2009 erzählen Sie vor allem von den Jahren 1938–45, auch vom Nachkrieg und von Ihrer Rückkehr nach Paris. Wie haben die Jahre des Exils Sie geprägt? Und hat sich diese Zeit auch auf Ihren Stil ausgewirkt?
GEORG STEFAN TROLLER: Das ist nicht einfach zu beantworten. Jahrelang habe ich unter Zukunfts- und Lebensangst gelitten, auch unter der Minderwertigkeit, die mir so viele Jahre lang eingetrichtert wurde, und der eigenen Bedeutungslosigkeit: Es kommt nicht auf dich an. Ob du lebst oder stirbst ist der Welt vollkommen gleichgültig. Ein Soldat, der im Krieg fällt, hat irgendwie seine Pflicht getan oder war Teil eines Verbunds. Der Emigrant hingegen ist isoliert, bestenfalls mit seiner Familie unterwegs, aber sonst hat er niemanden. Er ist ein Einzelwesen, das sich sinnlos vorkommt. Diese Sinnlosigkeit des eigenen Lebens muß man und kann man, wenn man jung ist, überwinden. In meinem Fall waren es die journalistischen Arbeiten, meine Filme und Bücher, die mich mein Leben als halbwegs gerechtfertigt ansehen ließen. Daß die Emigration heutzutage Exil genannt wird, scheint mir die Veredelung einer Sache durch ein schönes Wort zu sein. Wir kannten das Wort gar nicht. Exil, das war Thomas Mann, vielleicht noch Brecht oder Anna Seghers – Leute, die zurückkommen und Deutschland umformen würden. Wir hatten ja keine Idee davon, wir waren überzeugt, daß wir in unseren Ländern, Amerika, Mexiko oder Shanghai, bleiben würden, weil es nichts Besseres gab und weil kein Ruf aus der Heimat kam: »Wir wollen euch zurück.« Die österreichische Sozialistische Partei etwa war zum Großteil von menschenfreundlichen Juden gegründet und geleitet worden. In der Emigration bekamen sie Briefe von den Daheimgebliebenen und neu erwachten Sozialisten, daß sie doch bitte bleiben sollten, wo sie waren, damit man nicht wieder als Judenpartei in Verruf käme. Und wer hätte mich denn gebraucht? Ich hatte mir eine Chance ausgerechnet, in Los Angeles, wo ich damals wohnte, Scriptwriter für Hollywood zu werden. Das hätte ich auch gekonnt, berühmt wäre ich wohl nicht geworden. Und ob ich glücklich geworden wäre, weiß ich auch nicht. Es gab so viele Emigranten, die in Hollywood unterkamen, ich kannte viele. Erich von Stroheim etwa traf ich nach seiner Rückkehr in Europa wieder. Denn auch ich kehrte 1949 aus Europasehnsucht zurück, obwohl alle Kollegen und Kameraden sagten, ich sei meschugge, in dieses zerdepperte deutsche Kulturgebiet zu gehen, wo nichts zu holen sei. Ich werde immer wieder gefragt, ob Frankreich oder Amerika meine Heimat ist: Eine Heimat kann man sich nicht wieder aufbauen, das funktioniert nicht. Man kann einen Wohnsitz und Freunde finden, man kann sich zurechtfinden und seinen Lebensunterhalt verdienen. Aber Heimat ist da, wo man zum ersten Mal die Welt als etwas wahrgenommen hat, das außerhalb von einem selbst besteht. Heimat ist das Kennenlernen der Umwelt als kleines Kind. Wie uns die Psychologie lehrt, finden die entscheidenden Erfahrungen größtenteils vor dem achten oder zehnten Lebensjahr statt, und diese machst du nur in der Heimat als Zugehöriger. Und so ist dieses Österreich, das mich rausgeworfen hat, doch Heimat, ich kann es nicht ableugnen.
NEUMANN: Sie haben über 150 Reportagen und Filme gedreht, meistens Porträtfilme, die fast immer davon handeln, wie ein Mensch in schwierigen oder hoffnungslosen Situationen zurechtkommt. Wie hat Ihre Jugend, die Sie dann auch in Amerika verbrachten, Ihren Zugang zu diesen Themen geprägt?
TROLLER: Einen Film, der mir besonders am Herzen liegt – »Ron Kovic – Warum verschwindest du nicht?« –, habe ich 1977 mit einem amerikanischen Vietnam-Veteranen gedreht. Kovic war querschnittsgelähmt, seit seinem 23. Lebensjahr im Rollstuhl, und kämpfte nicht nur gegen den Vietnam-Krieg, sondern allgemein gegen Krieg. Dieser ungebildete Junge, der den Titel seiner Autobiographie »Geboren am 4. Juli« nicht richtig buchstabieren konnte, hatte begriffen, worum es geht: Jeder kann seine Schwächen überwinden. Das ist mir sehr nahegegangen, weil ich mich als Kind nicht mochte und mich als verzweifelten Fall ansah. In Amerika habe ich vor allem gelernt, daß man sich zu einem neuen Menschen ummodeln kann. Die Millers oder Smiths hießen alle ursprünglich Müller oder Schmidt und waren zuvor ganz andere Leute: arme Emigranten, arme Juden, arme Deutsche. Alle waren hoffnungslose Fälle, ohne professionelle Ausbildung. Sie änderten ihre Namen, wurden Amerikaner und schließlich zu anderen, vielleicht auch fähigeren Menschen. Als amerikanischer Student in Kalifornien habe ich mich Steve genannt – George habe ich immer gehaßt. Und Steve war ein anderer, ein interessanter Europäer von irgendwoher, ein Dichter und Frauenliebhaber – Steve kam an. Ich wußte, daß ich das nicht bin, und ging zurück, weil ich wieder ich sein wollte. Diese Möglichkeit der Selbstverwandlung gibt es. Mein verstorbener Bruder zum Beispiel, der in England lebte, hat sich zum Katholizismus bekehrt. Er wurde begeisterter Katholik, hat seine ganze Arbeitskraft und sein Geld der Kirche gewidmet und ist in Frieden mit seinem Gott gestorben. Das war nicht vorgesehen. Auf einmal war er Francis Trent, obwohl er in Wirklichkeit Herbert Troller hieß. Die Möglichkeit, jemand zu werden, der wir sein wollen, haben wir alle – ohne daß wir unbedingt unseren Namen ändern müßten. Mich interessierte in meinen Filmen immer: Wie ziehst du dich am eigenen Zopf aus der Misere? Denn nur du kannst es, andere können höchstens helfen. Und wie die Leute, mit denen ich diese Filme gedreht habe, es geschafft haben, fand ich lehrreich für mich und andere.
NEUMANN: Sie zitieren in Ihrem Erinnerungsbuch sehr eindrücklich Alfred Polgar, der 1938 im Prager Tagblatt über die Lage der österreichischen Flüchtlinge schrieb: »Ein Mensch wird hinterrücks gepackt und in den Strom geworfen. Er droht zu ertrinken. Die Leute auf beiden Seiten des Stroms sehen mit wachsender Beunruhigung den verzweifelten Schwimmversuchen des ins Wasser Geworfenen zu, denkend: wenn er sich bloß nicht an unser Ufer rettet.« Ihre Erlebnisse liegen über siebzig Jahre zurück. Hat sich heute in der Haltung der Leute auf beiden Seiten des Stroms etwas geändert?
TROLLER: Rund um Europa werden überall Mauern aufgerichtet, genau wie damals, und jedes einzelne Land denkt oder sagt offen: wenn er sich bloß nicht an unser Ufer rettet. Und dann schaue ich mir die Gesichter der Flüchtlinge an, der Frauen und Kinder, der jungen Männer. Sie sehen nicht anders aus als ich und haben dieselben Gefühle. Meistens hatten sie irgendwo ein Haus oder eine Wohnung. Zum Teil hatten sie Arbeit, zum Teil waren sie Intellektuelle. All das ist zerstört oder aufgegeben worden, und jetzt dürfen sie darum bitten, sich als Zimmermädchen oder Straßenarbeiter integrieren zu dürfen. Auch das wird abgelehnt, weil sie zu viele sind. Wie viele sind »zu viele"? In der Schweiz gab es den Spruch »Das Boot ist voll«. Er wurde zu einer Zeit verkündet, als es dort um die fünf Prozent Ausländer gab. Später sagte man, die Obergrenze liege bei 25 Prozent. Nun wird auch diese Zahl schon in manchen Ländern überschritten. Manche fühlen sich fremd in ihrem eigenen Land. Ich habe mal einen Film mit Abbé Pierre gemacht, einem katholischen Geistlichen, der als Apostel der Obdachlosen in Frankreich Tausende von Behelfswohnungen errichten half. Im Krieg war er im Widerstand und hat jüdische Kinder gerettet und über die Grenze gebracht. Er sagte mir: »Wenn die wohlhabende Welt nicht zehn Prozent ihres Einkommens, und das betrifft jeden einzelnen Bürger, abführt, so werden unweigerlich diese Ausgespuckten und Verhungerten der Dritten Welt millionenfach zu uns nach Europa kommen, und was willst du dann tun? Mit Maschinengewehren hineinfeuern?« Er hat vor dreißig Jahren vorhergesehen, was passieren würde.
NEUMANN: Was raten Sie jungen Menschen, was sie für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft tun können?
TROLLER: Noch läuft alles gut. Die Jugend hat Zukunft. Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt. Es kann sich glücklich schätzen, es gibt sehr viel Freiheit und auch Respekt vor der Jugend. Man hört ihr zu und tut etwas für sie. Ganz allgemein bin ich optimistisch. Aber ich habe keine Ahnung, was die Zukunft bringt: der Brexit in England, der zunehmende Nationalismus in Österreich, Polen, Ungarn etc. Irgendwie kommt da etwas auf uns zu, das einen fatal an die dreißiger Jahre erinnert. Das Volk wird nicht mehr vom Volk repräsentiert, sondern von Volksverführern, die behaupten, in seinem Namen zu sprechen, und ihre Ideen durchsetzen, die immer von Ausländerhaß getragen sind oder von Haß gegen andere Religionen, gegen Banker und Unternehmer, gegen die Reichen und Eliten ganz allgemein. Irgend jemand muß schuld sein, und diese Schuldigen werden auch gefunden. Was mich derzeit beunruhigt, ist diese wieder erwachte antidemokratische Tendenz zur radikalen Vereinfachung. Alles drin. Kinder, freut euch des Lebens, aber seid bereit, euch zu wehren und zu organisieren und zu kämpfen, denn es kommen harte Zeiten.
NEUMANN: Sie haben viele Reportagen gedreht, die in gewisser Weise subversiv waren, die Abseitiges gezeigt haben. Durch sie hat man immer viel über das jeweilige Land, Amerika zum Beispiel, gelernt. Ich habe das Gefühl, daß diese Art des Journalismus ausgestorben ist, daß die intensive, ruhige Auseinandersetzung mit einer Situation gar nicht mehr stattfindet, obwohl die Themen doch auf der Straße liegen.
TROLLER: Ja, was ist da passiert? Natürlich geht es um Geld, um Werbung, darum, wo sie am effektivsten ist. Daß die Fernsehanstalten sich dermaßen in diese Richtung verkauft haben, ist das Verblüffende und Erschütternde. Man sagte zu meiner Zeit immer, wenn eine Sendung wichtig ist, wird sie zu einer guten Sendezeit gebracht. Davon kann heutzutage keine Rede mehr sein, es wird nur noch nach potentiellen Einschaltquoten geschielt. Ich bin kein Philosoph, aber der steigende Materialismus und der absackende Idealismus auf der Welt sind evident. Das ist aber nicht das Ende der Geschichte, denn die verläuft wellenförmig. Wie bekannt, hat Ludwig XVI. an dem Tag, als die Bastille gestürmt wurde, »rien«, nichts, in sein Tagebuch geschrieben. Es erschien unwichtig, daß seine Pariser Hauptfestung erstürmt worden war. Eine umwälzende Veränderung war nicht vorstellbar. Ich bin in diesem Sinne kein Pessimist, der alles für verloren hält, es kommen immer wieder neue Strömungen und Möglichkeiten. Und jungen Menschen fällt es leicht, diese Strömungen zu lenken oder etwas in Bewegung zu setzen. Die Leute sind da und die Überzeugungen sind da. Nur wissen sie oft nicht, daß es allgemeine Überzeugungen sind. Jeder meint, nur er denke so und man könne nichts tun. Und auf einmal stellt sich heraus: Millionen glauben dasselbe. Ich denke, die Jugend hat ihre Chance und wird, vielleicht als letzte Generation, noch durchsetzen, was sie sich erträumt. Was danach kommt, weiß niemand. Vielleicht ja auch das Paradies auf Erden. Pessimismus ist gefährlich, denn was man erwartet, das passiert auch.
NEUMANN: Sie äußerten einmal, Ihre Vorstellung von Religion sei, daß in jedem Menschen ein göttliches Prinzip vorherrsche. Was für eine Bedeutung hat diese Vorstellung für Sie?
TROLLER: Wir wollen hier nicht von Religion reden. Aber ein göttlicher Funke ist in uns allen, ob wir es nun Gott nennen oder anders. Fast alle haben eine Ahnung davon, daß etwas Größeres als wir selbst existiert. Das scheint mir sehr wichtig, weil sonst alles an Eigennutz krepiert. Wenn man so vielen Leuten verhältnismäßig intim, wie es mir mein Beruf erlaubte, gegenübergetreten ist, weiß man doch häufig, wo die Grenzen sind. Manchmal erreicht man sie verhältnismäßig schnell, manchmal hat man das Gefühl, man erreicht sie gar nicht, und manchmal passieren völlig überraschende Dinge. Ein Mann wie Charles Bukowski war in Wirklichkeit ein Mystiker und sprach mir in die Kamera von seinem kommenden Tod und wie er ihn erleben will, während seine junge Freundin dabeisaß und mißbilligend den Kopf schüttelte. Da war ich vollkommen verblüfft. Diese Ansichten hatte er immer verheimlicht, weil sein Erfolgsrezept der Schweinkram war – dem ist er gefolgt, so wollten ihn die Leute sehen und so gab er sich. Und nun, als alter Mann, der den Tod kommen fühlte, wollte er darüber reden, was dieser für ihn bedeutet und daß er sich das Recht zuerkennt, in Frieden zu sterben, weil er sich so ausgelebt hat. Ich glaube, wir sind alle mit einem Funken geboren. Als Kind wissen wir noch Bescheid. Kinder leben mit Fragezeichen: Wer bist du, was ist die Welt, wieso bist du meine Mutter, wieso bin ich ich? Ein Kind stellt die richtigen Fragen, die nachher vergraben werden. Aber zu diesen Fragen kann man wieder durchstoßen und das Gefühl haben, man habe nicht umsonst gelebt. Irgendwann hört die Jugend auf, man meinte als junger Mensch, sie währe ewig. Aber dann kommen die Dinge auf einen zu und man fragt sich in schlaflosen Nächten, wofür man eigentlich gelebt hat, was man gemacht hat. Dann ist es gut, wenn man sich sagen kann: Mehr, als ich je gedacht habe, nichts so Ungeheures, aber mehr, als ich mir zugetraut hätte, ist daraus geworden. Das ist schon allerhand, damit kann man leben und vielleicht auch sterben.
SINN UND FORM 1/2019, S. 136-139