
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-35-5
Heft 3/2017 enthält:
Hartlaub, Felix
»In Neapel war ich sehr von der eigentlichen Ohnmacht der Kunst vor dem Leben überzeugt«. Briefe an die Familie aus Italien , S. 293
Vorbemerkung Italien: Sehnsuchtsland der Deutschen. Nicht nur Touristen zieht es gen Süden, auch Schriftsteller konnten und können sich der (...)
Hartlaub, Felix
»In Neapel war ich sehr von der eigentlichen Ohnmacht der Kunst vor dem Leben überzeugt«. Briefe an die Familie aus Italien 1933
Vorbemerkung
Italien: Sehnsuchtsland der Deutschen. Nicht nur Touristen zieht es gen Süden, auch Schriftsteller konnten und können sich der Faszination des Landes nicht entziehen, wie sich an alpenähnlich hohen Bücherbergen zeigt. Während Goethe in Italiens Kunst und Landschaft noch Arkadien zu finden meinte, blickte mancher seiner Zeitgenossen schon kritisch auf das Land, wo die Zitronen blühn – zum Beispiel Johann Gottfried Seume, der auf seinem fast einjährigen »Spaziergang« durch Italien gerade auch dessen Schattenseiten beschreibt. Später setzte tatsächlich eine Art Italienverweigerung ein. Die Kritik entzündete sich unter anderem am Massentourismus, der das Land verschlossen habe, statt es zu erschließen – glaubte jedenfalls Rudolf Borchardt. Wolfgang Koeppen schließlich konstatierte, Italien beziehungsweise Rom als Projektionsflächen hinterfragend: »Die Tradition, die Kultur hat sich in einen endgültig leeren Haufen Ruinen verwandelt, die niemanden mehr erschüttern.«
Warum sich also den Zeugnissen eines weiteren Vertreters dieser reisenden Literaten zuwenden, den, in Anbetracht seines schmalen OEuvres, erstaunlich zahlreichen Texten mit Italienbezug von Felix Hartlaub? Außer seiner einzigen vollendeten Novelle »Parthenope oder Das Abenteuer in Neapel« (die in der Zeit spielt, in der Seume seine Reise antrat, und in der Hartlaub sich ebenfalls der sozialen Verhältnisse des Landes annimmt) und dem posthum unter dem Titel »Italienische Reise« edierten Bericht von 1931 existieren vor allem substantielle Briefe, die der Student aus Italien an seine Familie schrieb und denen er selbst offenbar literarische Qualität zusprach.
Daß Felix Hartlaub Schriftsteller werden wollte und Italien als wichtige Bildungsetappe ansah, genügt nur bedingt, um ein tiefergehendes Interesse an jenen Briefen zu begründen, die der 1913 Geborene ins heimische Mannheim sandte. Zwar sieht man in diesem Briefwerk durchaus einen Schriftsteller am Werk, der die früh entdeckte eidetische Begabung, Wahrnehmungen fast überscharf wiederzugeben, an unvertrauten Landschaften und Städten erprobte – die Lust an der Ausbildung eines ganz eigenen Stils ist in jedem Brief spürbar. Doch die eigentliche Bedeutung der umfangreichen Nachrichten aus Italien ist eine andere.
Noch vor dem Abitur war es zu einer ungewöhnlichen Begegnung mit dem Land gekommen. Die Odenwaldschule hatte in dem nicht nur für sie finanziell schwierigen Jahr 1931 das Projekt des Lehrers Werner Meyer genehmigt, mit einem guten Dutzend Zöglingen in Italien zu wandern – und zwar nicht etwa in der lieblichen Landschaft um die oberitalienischen Seen, die man natürlich auch nicht ausließ, sondern in den touristisch noch kaum erschlossenen Cinque Terre, jenen nur vom Wasser oder eben zu Fuß zugänglichen fünf Städtchen an der Steilküste südlich von Genua. Hartlaub führte ein Skizzenbuch mit sich, in dem er immer wieder zeichnete, vor allem aber das Gesehene mit Worten festhielt. Dieses frühe Wandertagebuch, das wir 2013 in der Bibliothek Suhrkamp veröffentlicht haben, enthält neben einigen Kuriosa, etwa der Reaktion der Italiener auf das gemeinsame Campieren der männlichen und weiblichen Odenwald-Sprößlinge im Schatten des Schiefen Turms von Pisa, deutliche Hinweise darauf, daß Hartlaub sich hier an Schreibverfahren wagte, die seine zeichnerische Begabung gleichsam in einem anderen Medium fortsetzten. Nicht die Briefe aus Florenz und anderen Orten der Toskana waren das wichtigste Medium zur Erprobung seines Stils, sondern das tagebuchartige Skizzenbuch. Zudem bestritt die Odenwaldschule eine Ausgabe ihrer Schülerzeitung »Neuer Waldkauz« weitgehend mit Berichten von dieser sogenannten Homerwanderung: Hartlaubs Notate stechen vom Geschreibsel der übrigen Schüler deutlich ab. Zwei Jahre später, als er unter ganz anderen Bedingungen nach Italien zurückkehrte und auch viel länger blieb, wurden die Briefe zum Experimentierfeld, in dem etliches erprobt, wieder aufgegriffen und variiert werden konnte.
Doch warum zog es Hartlaub abermals in den Süden? Da war zunächst der Wunsch des Abiturienten und seines Vaters, die Grundlage für eine Karriere als Romanist zu schaffen. Hartlaub hatte unmittelbar nach dem Abitur zu studieren begonnen, sich von dem eher kaufmännisch orientierten Mannheimer Lehrbetrieb aber bald wieder abgewandt. Nun strebte er eine akademische Laufbahn an, etwa als Lehrer für Romanistik und Geschichte. 1933 war es allerdings keine leichte Entscheidung, in den Staatsdienst einzutreten – vor allem, wenn man die Moderne, die französische Literatur und die italienische Landschaft so sehr liebte wie Hartlaub. Noch dazu war Italien seit 1922 ein faschistisches Land, wo man mit dem, was Deutschland bevorstand, bereits konfrontiert wurde. Möglich, daß Hartlaub deshalb die Hauptstadt mied und lieber nach Neapel ging. Natürlich war auch Neapel keine Exklave, in der man vom Faschismus unbehelligt blieb. Wie die Briefe zeigen, war die dortige Archäologie – eine Modewissenschaft des Faschismus, wie Hartlaub feststellte – von Parteigrößen infiltriert. Dennoch bot das Institut Andersdenkenden Unterschlupf und Freiräume für Gespräche. Zudem war Neapel die Stadt des verfemten Benedetto Croce, in dessen unmittelbarer Nähe Hartlaub sein Quartier aufschlug – dank der Kontakte seines Vaters zu Hilda Ferraro, einer gebürtigen Österreicherin und entfernten Verwandten von Gustav Hartlaubs Mutter. Auch zog die Stadt viele Denker an, die man später der Kritischen Theorie zurechnete und von denen einige, wie Theodor W. Adorno, mit den Hartlaubs in Kontakt kamen. Sie alle beschrieben Neapel als Stadt des Porösen, Durchlässigen, Hybriden.
Von hier aus erlebte der neunzehnjährige Hartlaub, der kurz zuvor seine Mutter verloren hatte, eine weitere Familienkatastrophe mit: die Entlassung des Vaters aus dem Amt des Direktors der Kunsthalle Mannheim und seine Verleumdung als Kulturbolschewist. Gustav Friedrich Hartlaub hatte sich den Ruf eines bedeutenden Förderers moderner Kunst erworben. Ausgebildet bei Gustav Pauli in Bremen, dann unter Fritz Wichert in Mannheim tätig, hatte er eine Fülle überregional beachteter Kunstausstellungen initiiert und kuratiert. Diese erregten nicht nur das Mißtrauen der Berliner Behörden, sondern weckten auch die Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen, darunter Walter Benjamin, der Hartlaubs auf seiner wohl berühmtesten Ausstellung beruhendes Buch »Der Genius im Kinde« begeistert rezensierte. Bereits in der Endphase der Weimarer Republik war es zu Kulturkämpfen zwischen Rechten und Linksbürgerlichen wie Hartlaub senior gekommen, die ahnen ließen, was nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten folgen sollte. In Mannheim erfolgte gleichsam der Probelauf für die 1937 zuerst in München gezeigte Propagandaausstellung »Entartete Kunst«. Der Direktor der Kunsthalle wurde mit Gefängnis bedroht und seine jüngst angekauften Werke – insbesondere Marc Chagalls »Rabbiner« – an den Pranger gestellt.
Darüber hinaus hatte Felix Hartlaub allen Grund, sich aus der Ferne auch um die eben erst »neugestaltete« Familie, wie er mit einer eigentümlichen Wendung sagt, Sorgen zu machen. Der Vater hatte unmittelbar nach der einjährigen Trauerzeit die Bankierstochter und Kunsthallenpraktikantin Erika Schellenberg geheiratet, die Schwester Geno weilte noch auf der nun als Kommunistenschule verunglimpften Odenwaldschule und versuchte vergeblich, ihre Zulassung zum Studium zu erwirken, und auch die Zukunft des kleinen Michael war ungewiß. Dies wie auch die bange Frage, was aus der Rente des auf Grundlage des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« entlassenen fünfzigjährigen Vaters werden und wie es überhaupt finanziell weitergehen würde, klingt in vielen Passagen der Briefe an. Zu große Deutlichkeit mußte Felix Hartlaub aus politischen Gründen vermeiden, aber er meinte wohl auch, als ältester Sohn den Vater eher aufmuntern als belasten zu sollen. Die Eindringlichkeit, mit der Hartlaub Neapel beobachtet und beschreibt, entsteht sicher auch aus dem Wunsch, das frühere Sehnsuchtsland des Vaters, über dessen Kunst dieser promoviert wurde und das er oft bereist hatte, auf trostspendende Weise zu vergegenwärtigen.
Im Chaos der Jahre 1933/34 konnte Italien sogar als möglicher Exilort ins Auge gefaßt werden, wenn man die Ballungszentren der Macht mied oder »poröse« Orte wie Neapel und Perugia aussuchte. Zwar war das Land faschistisch, doch gab es, wie Klaus Voigt in seiner grundlegenden Studie »Zuflucht auf Widerruf« gezeigt hat, Inseln, auf die sich zumindest eine kleine Zahl »Schiffbrüchiger« retten konnte, deren Namen nicht ganz oben auf den schwarzen Listen standen. Daß Felix Hartlaub und vor allem seinem Vater das bewußt war, belegt eine Reihe von Formulierungen in den Briefen. Offenbar überlegte die Familie, den Sohn auf Dauer oder zumindest auf unbestimmte Zeit in Italien zu belassen. Da kein Geld mehr vorhanden war, hätte ein solches Exil auf Probe aber mit Erwerbsmöglichkeiten verbunden sein müssen. Doch Hartlaub entschied sich, fast gegen den Willen seiner Familie und vielleicht aufgrund seiner schärferen Wahrnehmung der politischen Situation, zur Rückkehr; nicht weil er sich einfügen wollte, sondern weil er wohl nur in Deutschland jenen Beobachtungsposten vermutete, auf dem er zum Historiker seiner Zeit werden konnte: als Schriftsteller, der in seinen Aufzeichnungen Erfahrungen eines Lebens bewahrt, das sich täglich radikal änderte. Ein gesellschaftlicher Umbruch, wie er in der Geschichte nur selten vorkommt.
Nikola Herweg und Harald Tausch
SINN UND FORM 3/2017, S.293-317, hier S. 293-295
Koepsell, Kornelia
The Course of Empire. Gedichte, S. 318
Schlaffer, Heinz
Das Ansehen des Originals , S. 321
Krieger, Hans
Wie schön darf Kunst sein?, S. 329
Bán, Zsófia
Der Turulvogel und der Dinosaurier. Fabulamento, S. 336
Wagner, Jan
Kalifornische Sonette, S. 343
Maeß, Emanuel
Werra und Wehr. Erinnerungen an Urspring, S. 347
Engelberg, Achim
»Zum Streit reizet allzu langer Frieden«. Ein Gespräch über Krieg, Kunst und Mut. Mit Rolf Hochhuth, S. 356
Bulla, Hans Georg
Der Tag lief uns nach. Gedichte, S. 364
Dieckmann, Friedrich
Erasmus und Luther. Doppelbild einer Umbruchszeit , S. 367
Tschaprasow, Wassil
Alte Worte. Gedichte, S. 374
Delius, Friedrich Christian
Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden?, S. 377
Einen Punkt hab’ ich noch: Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden? fragte mich eine Studentin, und ich sagte ohne zu zögern: Nein. Aber Sie (...)
Delius, Friedrich Christian
Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden?
Einen Punkt hab’ ich noch: Kann Angela Merkel eine Romanfigur werden? fragte mich eine Studentin, und ich sagte ohne zu zögern: Nein.
Aber Sie haben doch irgendwo geschrieben, jeder Mensch, jeder Konflikt, jedes Ereignis könne zum Gegenstand der Literatur werden, antwortete sie gegen Ende eines längeren Interviews, das sie für ihre Masterarbeit mit mir führte.
Ja, dabei bleibe ich. Es gibt nichts, was mit sprachlicher Kunst nicht erfaßt werden könnte, entgegnete ich der jungen Frau, die ich hier E. nennen möchte. Dazu gehören von mir aus auch bekanntere oder unbekanntere Politikerinnen oder Politiker. Irgendeinen Stoff, irgendwelche Konflikte, irgendwelche Fallhöhen liefern die immer, aber es ist ja ein allgemeiner Irrtum zu glauben, Literatur entstünde durch den Stoff, die Konflikte, die Fallhöhen, die Handlung, durch eine oder mehrere interessante, irgendwie besondere Hauptfigur. Stoffe liegen ja immer noch buchstäblich auf der Straße, jedes Leben, jede Familie, jede Firma ist voll von Geschichten, jede Handlung läßt sich mit schrillen, raffinierten Einfällen effektvoll aufladen, Hauptfiguren kann man in ein bestimmtes Licht rücken, aber das alles reicht ja noch lange nicht, um Literatur zu werden. Entscheidend ist etwas ganz anderes, es ist die Perspektive auf diesen Stoff, also eine ästhetische Entscheidung, und es ist die Sprache, die man für diese Perspektive findet. Ohne subjektive, unverwechselbare Sprache kommt keine literarische Kunst zustande. Imre Kertész hat mal gesagt: »Im Roman sind nicht die Tatsachen das Entscheidende, sondern allein das, was man den Tatsachen hinzufügt.« Die Betonung liegt auf dem »allein"!
Verzeihen Sie, meinte Frau E., ein schönes Zitat, aber ganz so blöd sind wir heutigen Studenten auch nicht. Ich habe sehr wohl gelernt, Literatur nicht mit Handlung, dem Stoff eines Buches zu verwechseln.
Das freut mich, aber die meisten Leute, ich meine die lesenden Leute, sogar viele Kritiker, machen sich nicht klar, wie hoch der Anteil der meistens ja sehr bewußt gewählten, oft hart erarbeiteten Sprache ist. Die sprachliche Spannung zwischen zwei Punkten, zwischen den Worten, die Dichte, die Neuheit der Sätze, die Genauigkeit der Beobachtung und des sprachlichen Ausdrucks und im Idealfall das Poetische, also das Schöne, Überraschende, Bildliche, Mehrdeutige, die Strahlkraft der Wörter …
Das ist mir vom Prinzip her klar, fiel mir die Studentin ins Wort, aber das schließt doch nicht aus, daß jemand auch für eine Figur aus der Politik die passende Sprache und die passende Perspektive findet.
Ich will nicht so töricht sein und das völlig ausschließen, sagte ich. Es kann schon sein, daß anderen Autoren mit Geschick und Glück auf diesem Felde etwas gelingt, doch ich fürchte, da wird nicht viel mehr zu finden sein als die satirische oder die biographische Lösung, aber das sind ja noch keine ausreichenden Romanlösungen. Satirisch auf politische Figuren loszureiten oder an einer mehr oder weniger bekannten Biographie entlang zu erzählen, das ist eine leichte Übung, das mag, wenn es auf intelligente Weise gelingt, gutes Handwerk sein, aber keine literarische Kunst. Denn dazu gehört immer auch das Ungesagte, ein Geheimnis, vor allem das Einverständnis zwischen Autoren und Lesern, sich gemeinsam auf etwas Erfundenes einzulassen. Das Problem mit historischen Figuren ist nun aber, daß sie nicht erfunden sind und man relativ viel über sie weiß, daß sie in vielerlei Hinsicht schon definiert sind. Sie laufen oft sogar als ihr eigenes Klischee herum, jeder hat seine Meinung über sie und seine Vorurteile. Doch: Leser wollen nicht lesen, was sie schon wissen, Autoren wollen nicht über etwas schreiben, was allgemein bekannt ist. Und bei einer prominenten Figur noch eine ergiebige Lücke, eine originelle Perspektive zu finden und wirklich etwas Spannendes, etwas Neues, Widersprüchliches oder intelligent Unterhaltendes oder gar Geheimnisvolles herauszuholen aus dem Material, das eine Bundeskanzlerin so bietet, und speziell diese auf den ersten Blick so stocknüchterne und spannungsarme Kanzlerin, das scheint mir unmöglich. Deshalb bleibe ich dabei: Für mich ist Angela Merkel keine Romanfigur.
Aber Sie sind doch ein politischer Autor, warf Frau E. ein, Sie haben uns in so vielen Büchern politische Zusammenhänge beschrieben und erklärt, vom deutschen Herbst über die deutsche Einheit bis zur deutschen Familie und so weiter. Sie lassen sich feiern als Chronist der Bundesrepublik, da müßte es doch eine vergleichsweise leichte und naheliegende Aufgabe für Sie sein, die amtierende Kanzlerin mit all ihren Widersprüchen zu durchleuchten.
Langsam! sagte ich. Erstens gibt es in der Kunst keine leichten Aufgaben, auch nicht in der Romankunst. Zweitens müßten wir klären, was ein politischer Autor ist, ich wehre mich seit Jahrzehnten gegen diesen Stempel, auch mit politischen Argumenten, aber lassen wir das mal für den Moment. Drittens habe ich das Etikett des Chronisten nie für mich beansprucht, es ist als Kompliment ganz nett gemeint, aber ziemlich falsch. Nach meiner Vorstellung jedenfalls notiert ein Chronist die Fakten sauber und ordentlich hintereinander, und wenn was Neues passiert, hat er das qua Amt getreulich festzuhalten. Romanschreiber sind keine solchen Beamten, sie produzieren Unruhe und Verstörung. Romanschreiber tun viel mehr als Chronisten, sie wirbeln die Fakten durcheinander, vermengen sie mit Fiktion und setzen sie neu zusammen. Das Bild paßt also gar nicht. Der Chronist muß objektiv sein, der Schriftsteller subjektiv, radikal subjektiv. Er ist wie jeder Künstler Subjektivist durch und durch, was eine hohe Sensibilität für das sogenannte Objektive, für seine Umwelt einschließt. Das, was er herstellt, kann nur ein einziger Mensch auf der Welt so herstellen, nämlich er, mit einer eigenen Perspektive, einer eigenen Sprache, einem eigenen Stil. Ohne ein großes und demütiges Ich geht gar nichts. Der Kern der Sache muß mit mir zu tun haben.
Aber so weit können Sie doch gar nicht auseinander sein, Pfarrerstochter Merkel und Pfarrerssohn Delius …
Ganz schön forsch sind Sie, Frau E., das gefällt mir. Aber so schnell lass’ ich mich nicht verkuppeln, außerdem bin ich mit meinen Argumenten noch nicht am Ende. Ihre Frage ist noch lange nicht ausreichend beantwortet. Wenn Sie noch Zeit haben, können wir hier gern ein bißchen weiterfechten. Gut? Also, was ich sagen wollte: Mein Ich und die Kanzlerin, ich sehe da keine Brücke, also keine produktive Perspektive, also keine Sprache. Bei aller Liebe zum Grundgesetz, so weit geht mein staatsbürgerliches Engagement nicht, daß die amtierende Kanzlerin meinem Ich nahe oder mir zur Herzenssache geworden wäre. Im Gegenteil, solche Stimmungen bei anderen treiben mich erst recht in den kritischen Modus. Ich sehe in ihr auch nicht den Anker oder die Hoffnungsträgerin als letzte Protestantin zwischen lauter Oligarchen.
Das ist Ihre Sicht, sagte E., Sie sind nun mal ein, wie soll ich sagen, älterer Schriftsteller, der schon mit etwas Distanz auf die Gegenwart schaut, mit Gelassenheit oder auch Herablassung, was weiß ich. Aber ich stecke da mittendrin, in dieser Gegenwart, und seit ich denken kann, so ungefähr, gibt es diese Kanzlerin, tagaus, tagein und alle Jahre wieder, dunkel erinnere ich mich an Schröder und an die uralten Altkanzler. In dieser Frau bündeln sich alle Probleme, die wir haben, und sie demonstriert uns, oder mir, besser gesagt, daß sie selber nicht weiß, wo es langgeht, welchen Kurs sie fahren möchte und welchen sie wirklich fährt. Irgendwas rebelliert in mir gegen die ewige Merkel, irgendwas stimmt an ihr und läßt mich vorsichtig Vertrauen fassen und irgendwas stört mich wahnsinnig und macht mich sehr mißtrauisch. Ich hab’ keine richtigen Argumente, die ganz rechten und die ganz linken Ablehnerargumente sowieso nicht. Aber am schlimmsten finde ich die Meinung: Sie ist ja immer noch die beste weit und breit, nach ihr wird alles noch schlimmer. Das ist doch ein ganz fieser Mißtrauensantrag gegen uns, gegen die Jugend!
(…)
SINN UND FORM 3/2017, S. 377-386, hier S. 377-380
Buch, Hans Christoph
Bagatellen zum Massaker oder Der Schriftsteller ist zu größerer Verworfenheit fähig als andere Menschen, S. 387
Kaminsky, Ilya
Autorengebet. Gedichte, S. 398
Földényi, László F.
Ein Labyrinth ohne Ausweg. Melancholische Erinnerungen an Michael Parkinson und W. G. Sebald, S. 401
Damm, Sigrid
For Sigrid Ever Max, S. 411
Spinnen, Burkhard
Bücher machen, ohne sie selbst zu schreiben. Laudatio zur Verleihung der Kurt Wolff Preise, S. 413
Estis, Alexander
Von den modernen Kunststücken. Satiren, S. 418
Heinemann, Elke
Kleists Briefwechsel mit einer Dame oder Über die allmähliche Verfälschung der Schriften beim Redigieren, S. 420
Habel, Sabrina
Wahrheitskunst. Brechts Anleitung zum richtigen Lesen, S. 422
Für Bertolt Brecht ist Wahrheit nicht nur eine Frage der Gesinnung, sondern auch eine Frage des Könnens. Die Wahrheit, schreibt er, wird (...)
Habel, Sabrina
Wahrheitskunst. Brechts Anleitung zum richtigen Lesen
Für Bertolt Brecht ist Wahrheit nicht nur eine Frage der Gesinnung, sondern auch eine Frage des Könnens. Die Wahrheit, schreibt er, wird gesellschaftlich hergestellt und ihre genauen »Produktionsweisen « lassen sich beschreiben. Bemerkenswerterweise zieht Brecht daraus nicht den Schluß, daß es mehrere Wahrheiten gebe oder gar geben solle – wie Roland Barthes, der sagen wird, daß es für jede Begierde eine eigene Sprache geben soll. Brechts Verständnis von Wahrheit (und vielleicht auch von Begierde) ist einfacher: »Es gibt nur eine Wahrheit«, schreibt er, »nicht zwei oder ebenso viele, als es Interessengruppen gibt.« In diesem Sinne gibt es auch nur eine Sprache, allerdings in zwei Zuständen: einem, in dem sie die Wahrheit abbildet, und einem, in dem sie die Wahrheit verstellt. Es gibt nämlich auch Produktionsweisen des Unwahren. Während Adorno unter dem Falschen einen Zusammenhang versteht, in den jeder bereits verstrickt ist, und betont, daß daraus bestenfalls ein Index des Besseren und Richtigeren entstehen kann, zeigt sich Brecht optimistischer. Am Richtigen läßt sich teilhaben, die erkannte Wahrheit kann das Falsche nicht nur anzeigen, sondern es auch stellen. Der Abgleich mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit ermöglicht es, die Sprache Lügen zu strafen. Es sei denn, die Wirklichkeit ist genauso falsch wie ihre Sprache: 1934, in »Zeiten, wo die Täuschung gefordert und die Irrtümer gefördert werden«, entwirft Brecht in seinem dänischen Exil ein Programm zur »Wiederherstellung der Wahrheit«. Der kurze Prosatext ist eine Auseinandersetzung mit dem faschistischen Deutschland und der faschistischen Propaganda, den Radioansprachen von Göring und Hess. Brechts Text beschreibt eine Methode, sich dem Imperativ der Täuschung entgegenzustellen und der Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen. Wenn Irrtümer »gefördert« werden, dann bedeutet das nicht allein, daß sie positiv sanktioniert werden. Das Fördern weist metaphorisch in den Bereich der Schwerindustrie: Die Bedingungen zur Produktion von Unwahrheit werden geschaffen, das Rohmaterial Irrtum wird industriell geborgen und zur Lüge weiterverarbeitet. Brechts Text ist eine Anleitung, das Falsche – die allgemeinen Irrtümer und das bewußt produzierte Unwahre – zur Rede zu stellen. Er ist zugleich eine Anleitung zum richtigen Lesen.
Brecht erfindet das »close reading«
In Zeiten der Täuschung, beginnt Brecht, »bemüht sich der Denkende, alles, was er liest und hört, richtigzustellen. Was er liest und hört, spricht er leise mit, und im Sprechen stellt er es richtig.« Lesen und Hören werden hier als Aktivitäten verstanden, als Arbeit an der Sprache. Diese beginnt mit dem Wiederholen, dem tätigen Wiederaufnehmen des Gesagten. Brechts Anweisung führt auch direkt vor, wovon sie spricht. Der zweite Satz wiederholt den ersten und liest ihn erneut, mit einer Hinzufügung: dem leisen Mitsprechen. Das Mitsprechen erinnert an das kantische Programm der Aufklärung. Es ist der wörtliche Übergang von der Unmündigkeit zur Mündigkeit oder eben: Mündlichkeit. Das Selbstsprechen richtet sich gegen die Bevormundung, es bricht die monolithische Schriftfläche und monologische Rede des anderen auf. Wer sich durch Mitsprechen in die Rolle des Sprechenden versetzt, der mimt die Hervorbringung des Gesagten. Denn die Wiederholung ist keine bloße Tautologie, keine Festigung und Affirmation des Vorherigen. Sie ist ein Rückgang an den Ort der Produktion, ein Auflösen der Verfestigung der Worte und ihres Zusammenhangs. Im Nachsprechen wird die Sprache aktualisiert, werden ihre Lautlichkeit und Zeitlichkeit bewußtgemacht: Der zweite Satz des Textes, der den ersten wiederholt, ist – bei genauem Mitsprechen und Hinhören – ganz eigentümlich rhythmisiert und akzentuiert: Was er liest und hört, spricht er lei-se mit – und im Sprechen –: stellt er es rich-tig. Das tätige Lesen soll nach Brecht so lange geübt werden, bis es von der Fertigkeit zur Gewohnheit wird, bis man »nicht mehr anders lesen und hören kann«. Der Lesende kann das ihm Vorgesetzte nun aktiv be-richtig-en: Dazu gehe er »von Satz zu Satz«, »so daß er langsam, aber vollständig das Gehörte und Gelesene in seiner zusammenhängenden Form berichtigt«. Die aufmerksame, langsame, gründliche Arbeit am Wortlaut, die Brecht hier beschreibt, ist das, was in der Literaturwissenschaft später »close reading« genannt wurde. Es wendet sich gegen die autoritäre Erstarrung der Sprache und die Sprachvergessenheit ihres Lesers.
(…)
SINN UND FORM 3/2017, S. 422-425, hier S. 422-423