
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-27-0
Heft 1/2016 enthält:
Michon, Pierre
Wintermythologien. Drei Wunder in Irland, S. 5
Różycki, Tomasz
Tomis. Notizen vom Haltepunkt, S. 15
Winter. Erster Eintrag: So sei es denn eine – sicher unvollkommene – Existenzweise und ein ebenso unvollkommener Verständigungsversuch. Dem (...)
Różycki, Tomasz
Tomis. Notizen vom Haltepunkt
Winter. Erster Eintrag: So sei es denn eine – sicher unvollkommene – Existenzweise und ein ebenso unvollkommener Verständigungsversuch. Dem Anschein nach ist es ein richtiger Winter, sentimental und mythisch, die Stadt ist eingeschneit, die Autos passieren einander vorsichtig wie beladene Elefanten auf einem Dschungelpfad. Fluß und Kanäle sind zugefroren, im Fernsehen schneit es. Einstweilen muß man nicht über den sechs Monate langen, bis in den April dauernden winterähnlichen Herbst voller Schlamm klagen, die Zeit des Schlamms kommt später – wenn es taut, wenn die Schneewehen, -berge und -halden schmelzen und die Sintflut einsetzt. Vorerst ist alles, wie es sein soll, wie es auf dem Wunschzettel steht: Das Licht ist zurück, wird vom Schnee reflektiert, selbst die Nacht leuchtet festlich, als sei die Kindheit zurückgekehrt und halte Ausschau nach uns. Gloria. In unserem Tomis spricht freilich niemand Latein, hier gefriert der Wein in der Flasche, und der einzige rote Fleck auf der weißen Tischdecke könnte ein Blutfleck sein. Doch alle verfluchen in ihren Dialekten den Winter, sie kratzen Schnee und Eis von den Autos und tauen die Batterien auf. Und wiewohl ich eine direkte Verbindung nach Rom habe, sind zum Glück sämtliche Wege zugeschneit.
Die Besuche in der Hauptstadt, in dieser wie in jener, enden immer gleich: mit der Einfahrt des Zuges in den verdreckten Bahnhof, der von Jahr zu Jahr zu schrumpfen scheint, bis er eines Tages ganz verschwindet – dann werde ich auf der weißen Flur aussteigen und verdutzt durch den Schnee stapfen. Ich steige aus und stecke gleich fest im Schnee, im Schlamm, in der Provinz, und mir wird klar, eine bestimmte Art von Fremdheit muß wohl sein. Man empfindet sie sicher auch, wenn man in New York im vierzigsten Stock lebt und jedes Mal beim Zigarettenkaufen denkt, man kehre von einer Reise um den Mond auf unseren grünen Planeten zurück. Tomis ist wohl eine Notwendigkeit: der Ozean von Schlamm ringsum, die verschneiten Felder bis zum Horizont, die staubigen Straßen, und fast niemand spricht Latein. Hier kann man vergessen werden, während man auf der Veranda jeden Tag neue altmodische Simulakren der Wirklichkeit heranzüchtet, indem man Geschichten erfindet oder erschütternde Briefe an die Nachkommen schreibt.
Das große Gebäude am Platz ist das Hauptgebäude der Universität. Es gibt eine unklare Verbindung zwischen uns. Zuweilen bekomme ich den Schlüssel zu einem Zimmer in der obersten Etage, ich komme, wenn schon alle weg sind, und gehe – mit dem seltsamen Gefühl, doch nicht allein zu sein – durch die Korridore. Früher befand sich hier ein Kloster, später lange ein Spital; ich erinnere mich noch an die Barmherzigen Schwestern mit den spitzen Hauben. Die gleichen, denen Rimbaud ein hoch in den Alpen aufgestelltes Klavier vererbte. In den Sälen lagen die Kranken. Ich habe meine Großväter besucht, beide sind hier gestorben. Wohl kaum ein Universitätsgebäude in Polen hat eine vergleichbare Tradition und Geschichte. (…) Inzwischen wurde das Gebäude generalüberholt, die Wände und sehr dicken alten Mauern desinfiziert, wobei ja Bakterien und Viren tief ins Gemäuer eindringen können, sie verstecken sich und liegen noch Jahrzehnte auf der Lauer. Ich sitze hier, atme den Geruch ein und versuche mit Hilfe des Tamtams mit den Seelen der hier Verstorbenen in Kontakt zu treten. Eine von ihnen wird mich schon hören. Die einstige Augenklinik ist heute die Anglistik, die Innere Medizin die Polonistik. Die Klinik für Haut- und Geschlechtskrankheiten ist die Romanistik, die Neurologie die Slawistik. Wo jetzt die Bibliothek ist, war früher die Intensivstation. Das Dekanat war Operationssaal, das Büro des Rektors die Toilette. Wo heute die Toiletten sind, war früher das Chefarztbüro. Für den Rest der Universität wurden zum Glück ehemalige Kasernen umgebaut. Sie haben eine andere Tradition, aber auch die läßt sich erzählen.
Mit Hilfe des Tamtams kontaktiert mich Leonardo, der Castaneda zitiert: »Unsere Sprache ist überaus schwach.« Und tatsächlich, meine Zunge ist kalt und die Hände klopfen mit letzter Kraft auf die Tastatur des Tamtams. Das kommt bestimmt vom gefrorenen Wein. Zeit, dieses Gespräch zu beenden. Obwohl der autobiographische Pakt vermutlich so clever erdacht ist, daß er uns alle mit seinen sieben Mäulern verschlingen kann – mein Pakt ist wohl anders, und man darf hoffen, daß nicht nur böse, sondern auch gute Geister über dem Papier kreisen. Solange der Tiefkühlwein sie nährt, besteht Aussicht auf Fortsetzung. Heute faßte ich den Entschluß, diese Notizen zu beginnen. Erster Eintrag: Winter.
Auf dem Hügel, wo das heutige Universitätsgebäude steht, gibt es einen Brunnen und eine heilige Quelle. Der Legende nach soll 984 der heilige Adalbert, Schutzheiliger Polens, nach Oppeln gekommen sein. Der damalige Bischof von Prag predigte auf dem Hügel und taufte die bekehrten Einheimischen. Als ihm einmal das Taufwasser ausging, stieß er den Bischofsstab auf die Erde, und an dieser Stelle entsprang eine Quelle. Das Wasser hatte wundertätige Eigenschaften: Es förderte die Fruchtbarkeit, festigte die eheliche Treue, heilte Melancholie, Depression und Jugendakne.
Der heilige Adalbert wird häufig mit einem Bischofsstab in Gestalt eines doppelten oder einfachen Kreuzes dargestellt, was sein missionarisches Wirken betonen soll. Doch die schmuckvollen Basreliefs an der Bronzetür der Gnesener Erzkathedrale aus dem zwölften Jahrhundert zeigen, wie Otto III. Adalbert als Bischof einsetzt und ihm den Bischofsstab überreicht. Der Griff dieses Bischofsstabs, von dem sich Adalbert der Darstellung auf der Bronzetür zufolge bis zum Tod nicht trennte, ist schneckenförmig nach innen gewunden und wird von einem Schlangenkopf abgeschlossen.
Ein Bild: Mitteleuropa, Lemberg, 1945 oder Anfang 1946. Die sowjetischen Behörden organisieren die Deportation der Polen aus der Stadt, was sie frech Repatriierung nennen. Nach Beschluß der Siegermächte UdSSR, Großbritannien und USA wird Lemberg der Sowjetunion zugeschlagen, die Polen sollen in die von Deutschland gewonnenen neuen polnischen Westgebiete umgesiedelt werden. Man kennt die Geschichte, aber ich versuche sie mir jetzt vorzustellen – in der Stadt herrscht Chaos, wie ein böses Omen erscheinen die Güterzüge, in denen die polnischen Lemberger, die den Krieg überlebten, abtransportiert werden sollen. Man kann eine Kiste mit persönlicher Habe mitnehmen, vielleicht zwei. Gemeinsam mit den Nachbarn zimmert Großvater eine Kiste, danach eine zweite, kleinere. Mehr wird er ohnehin nicht tragen können – er muß alles allein zum Bahnhof schleppen. Großmutter hat gerade ein Kind zur Welt gebracht, es gibt nun drei Kinder im Haus: die Tochter und die zwei jüngeren Söhne. Der ältere ist mein Vater.
Großvater geht durch die Wohnung und überlegt, was er mitnehmen soll. Versucht es euch vorzustellen: zwei Kisten, um das Leben eurer Familie einzupacken. Großvater betrachtet Möbel, Figuren, Bilder, Fotografien und alte Briefe, Schrank und Nachtschränkchen, Küche und Bad. Wenige Monate später werden die Familien von NKWD-Offizieren in die großen, ruhig gelegenen Wohnungen einziehen. Zwei Häuser weiter wohnten der Architekt Szulim Barenblüth und seine Frau Debora Vogel, die Freundin von Bruno Schulz, mit ihrem Sohn Aszker. Alle drei wurden 1942 bei der Liquidierung des Lemberger Ghettos von der ukrainischen Polizei erschossen. Sie hinterließen Dokumente und Schriften, darunter unveröffentlichte Manuskripte von Bruno Schulz, Briefe und unvollendete Romane sowie Erzählungen von Schulz und Vogel – als neue Bewohner 1964 den Keller aufräumen, verbrennen sie alles.
Lemberg wurde im Juli 1944 im Rahmen der Aktion Burza von der polnischen Heimatarmee befreit. Die Rote Armee rückte auf die Stadt vor, man kämpfte gemeinsam gegen die deutschen Besatzer – die Polen sahen trotz allem die Rote Armee als Verbündete in der Anti-Hitler-Koalition. Wenige Tage darauf verhafteten diese Verbündeten polnische Offiziere und Soldaten und verschleppten sie tief ins russische Landesinnere. Lemberg war zum zweiten Mal während des Krieges sowjetisch besetzt. Nach der ersten Besetzung von September 1939 bis zum Einmarsch der Deutschen im Sommer 1941 hatten die Sowjets in Lemberg Berge von in der Junisonne verwesenden Leichen hinterlassen. 1945 richteten die Behörden Repatriierungspunkte ein, die Deportationen erfolgten in mehreren Phasen bis 1946, als man bekanntgab, die verbleibenden polnischen Einwohner würden nach Kasachstan oder in den Donbaß gebracht. Nur wenige wagten es, in der Stadt zu bleiben und abzuwarten, ob diese Ankündigung wahrgemacht würde.
Großvater geht durch die Wohnung. Sie können nicht viel mitnehmen, sie müssen wählen, viele Dinge werden sie nie wieder sehen. Großmutter packt Bettzeug, ein paar Teller, Töpfe, Kinderkleidung und einige Andenken in die erste Kiste, nur das Allernotwendigste, dennoch ist sie bald voll. Die zweite Kiste füllt Großvater – zu Großmutters Verzweiflung – bis zum Rand mit Büchern aus seiner nicht sonderlich umfangreichen Bibliothek. Services, das Radio und alles andere Wertvolle läßt er zurück. Die Kiste ist höllisch schwer und läßt sich selbst mit Hilfe von Bekannten und Nachbarn kaum bis zum Bahnhof transportieren, wo der Zug wartet und sie in den Waggon geladen wird. Einmal rutscht sie jemandem aus der Hand und verfehlt nur knapp einen herumwuselnden Sechsjährigen – um ein Haar wäre mein Vater von einer Kiste voller Bücher erschlagen worden.
Die Kiste war schwer. Moby Dick und die Nautilus mußten hinein, Captain Bloods Piratenschiffe, Die geheimnisvolle Insel, Wolfsblut, Wotan, der Wolfshund. Winnetou und Der letzte Mohikaner, das Lager des Vaters der Pestkranken, Soplicowo, Kamieniec Podolski, die Lauda und Elefant King. Die Alte Mär und Krakau zu Łokteks Zeiten. Die Jungen von der Paulstraße und Die drei Musketiere. Der Graf von Monte Christo und Lord Jim. In einem anderen Land und Der Zauberberg. Der brave Soldat Schwejk und Ivanhoe, Zwanzig Jahre später und Madame Bovary, Anna Karenina und Das Dschungelbuch. Die Kartause von Parma und Der Mann mit der eisernen Maske. Die Brüder Karamasow und Die Elenden. Einige dieser Bücher habe ich selbst noch gesehen, manche sogar gelesen, andere gingen verloren. Mein Vater hat bestimmt alle gelesen.
Die Kiste war mehrere Wochen unterwegs, bis sie in Oppeln ankam. In den Zügen war nicht genug Platz, die Männer reisten auf dem Dach. Sie sangen: »Eine Atombombe oder zwei, dann kehren ist Lemberg wieder frei.« Alle glaubten, der nächste Krieg stehe unmittelbar bevor, nach Hitler komme nun Stalin an die Reihe, der Alptraum dauere schon lange genug und werde bald enden. Niemand wußte, was sie am Ziel ihrer Reise erwartete. Unten im Waggon weinte ein Säugling, mein Onkel.
Ich weiß nicht, warum Großvater ausgerechnet Bücher einpackte. Er hielt sie wohl für das Wertvollste, das er besaß. Ansonsten sprach alles dagegen: Der Krieg war zwar zu Ende, aber die Geschehnisse der letzten Jahre zeigten deutlich, daß die Geschichte über die Kultur triumphieren würde. Meine Großeltern waren aus ihrem Zuhause vertrieben worden und sollten nie wieder zurückkehren, sie fuhren ins Unbekannte, nachdem sie wie durch ein Wunder den Krieg und die anschließenden Gemetzel überlebt hatten. Der neue Staat, der gerade auf Grundlage der Beschlüsse von Jalta entstand, war fremd und verhieß nichts Gutes. Ihre Heimatstadt war von der Roten Armee besetzt und sie waren unterwegs in die einstmals deutschen Gebiete, die von den Sowjets unter polnische Verwaltung gestellt worden waren, wiewohl jeder wußte, daß es sich um eine Marionettenregierung handelte. Man mußte weiter ums Überleben und Durchkommen kämpfen. Um so erstaunlicher war die Entscheidung für die Bücher – sie zeugte von Hoffnung, vom privaten Sieg der Kultur über die Geschichte, von der Kontinuität des Geistes gegen das Chaos von Gewalt, Krieg und Materie. Großvater wußte wohl nicht, daß er eine rettende Geste vollzog. Er war kein Universitätsprofessor, sein Vater war Fleischer gewesen. Er selbst, ein aufsässiges Einzelkind, war viel gereist, er hatte die Welt gesehen und sich in Häfen herumgeprügelt. Auf seinen Armen prangten Seemannstätowierungen, darunter das Zeichen der Fremdenlegion. Er war ein Batiar, ein Kind der Lemberger Straße, kein Intelligenzler. Ich weiß nicht, was er im Krieg gemacht hat, er sprach nicht darüber, wahrscheinlich aus politischen Gründen. Er blieb manchmal tagelang fort, während Großmutter verzweifelt wartete. Er konnte gut mit Waffen umgehen. Er trieb ein wenig Handel, so kamen sie über die Runden. Er nahm an der Befreiung der Stadt teil, vielleicht als Angehöriger der Heimatarmee, vielleicht spontan. Nach dem Krieg war es nicht ratsam, sich bestimmter Dinge zu rühmen, also erfuhr ich nie, ob er sich gut oder schlecht verhalten hatte, heldenhaft oder feige oder von beidem etwas. Ich erfuhr nicht, ob er ein gutes oder ein schlechtes Gewissen hatte, ob er Leben gerettet oder getötet hatte – er starb lange vor dem Fall des Kommunismus in Polen.
Die Bücher, genauer die Erinnerung an die Titel dieser Bücher – die meisten sind zerfallen oder bei Umzügen verlorengegangen –, sind mein einziges Andenken an ihn. Er hatte sonst nichts aus Lemberg mitgebracht, keinen materiellen Beweis für die Existenz dieser Welt, nichts, was er mir hätte vererben können. Er hinterließ mir eine Liste mit den Titeln nicht existierender Bücher, exotische Namen und Nachnamen. Einen leeren Koffer, eine sprechende Kiste, Mikroben, Staub, Rußkrümel.
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 1/2016, S. 15-27, hier S. 15-19
Hartwig, Julia
Unsterbliche Einsamkeit. Gedichte, S. 28
Benn, Gottfried
Gottfried Benn, Friedrich Wilhelm Oelze. »Alles, was ich zu wünschen vermag, gilt Ihnen«. Aus dem Briefwechsel 1945. Mit einer Vorbemerkung von Matthias Weichelt, S. 33
Widerhall ohne Widerspruch. Eine Vorbemerkung Nach der Feier seines fünfundsechzigsten Geburtstags, zu der sein Verlag im Mai 1951 nach (...)
Benn, Gottfried
Gottfried Benn, Friedrich Wilhelm Oelze. »Alles, was ich zu wünschen vermag, gilt Ihnen«. Aus dem Briefwechsel 1945. Mit einer Vorbemerkung von Matthias Weichelt
Widerhall ohne Widerspruch. Eine Vorbemerkung
Nach der Feier seines fünfundsechzigsten Geburtstags, zu der sein Verlag im Mai 1951 nach Wiesbaden eingeladen hatte, schrieb Gottfried Benn seinem Brieffreund Friedrich Wilhelm Oelze: »Der Eindruck, den Sie gemacht haben, war allgemein groß. Wollen Sie wissen, was meine Tochter, deren Gedanken sich viel mit Ihnen beschäftigen, unter Anderem sagte? ›Eine unheimliche Erscheinung! Man muß damit rechnen (!), daß er nachts ein schwarzes Trikot anzieht u. auf Einbruch geht‹. Nun? Wenn das kein Effekt ist!«
Wenn der Bremer Großkaufmann und Jurist (1891–1978) eines vermeiden wollte, dann Effekte und Auffälligkeiten. Entsprechend verstört fiel die Antwort aus. In einer seinem Brief angefügten Notiz mit dem Titel »Das schwarze Trikot« sieht Oelze sich als »Hochstapler- oder Verbrechertyp« bloßgestellt: »das also steht in meinem habitus geschrieben für den, der zu sehen und zu lesen versteht? Das scheint mir unheimlich, und zwingt mich zu sehr schwierigen und peinlichen Selbstkorrekturen.« Daß Benn, der die labile Konstitution, die existentielle Unsicherheit des Freundes kannte und ihn zuweilen damit quälte, daraufhin die von seiner Tochter vermuteten Motive der obskuren Aktivitäten nachreichte (»aus Sensationsbedürfnis, aus Abwegigkeit, aus Perversion«), dürfte wenig zu Oelzes Beruhigung beigetragen haben. Er ging darauf nicht mehr ein. Dabei hatte das Bild des nächtlichen Phantoms die Sache nicht schlecht getroffen. Der 1891 geborene Oelze stammte aus einer alten Kaufmannsfamilie, hatte u. a. in London Jura studiert und war nach der Promotion Teilhaber einer Handelsfirma geworden, die vor allem Kolonialwaren importierte. Schon sein Großvater hatte auf Jamaika Zuckerrohrplantagen erworben, seine Mutter war dort zur Welt gekommen, und auch Oelze selbst reiste immer wieder in die Karibik – von wo aus Ansichtskarten mit exotischen Motiven auf Benns schlichtem Schreibtisch in der Bozener Straße 20 in Berlin-Schöneberg landeten. Auch dank der Heirat mit einer vermögenden Bürgertochter verfügte Oelze, dessen einziger Sohn im Zweiten Weltkrieg fiel, über die Mittel, repräsentative Wohnsitze zu unterhalten und bedeutende Möbel-, Kunst- und Büchersammlungen zusammenzutragen (darunter fast alle Veröffentlichungen Goethes in Erstausgaben). Denn die Bilanzen seiner internationalen Handelsaktivitäten waren ihm Pflicht und Aufgabe, boten aber keinerlei Befriedigung. Oelzes eigentliche Leidenschaft galt dem Geist, der Kunst, dem Schöpferischen. Ohne selbst künstlerisch begabt zu sein (die »Gedichte sind nicht gut«, schrieb ihm Benn auf übersandte Verse), wollte er teilhaben an der Sphäre der Dichter und Denker, am besten durch direkten Austausch mit Schriftstellern, Gelehrten, Philosophen wie Maximilian Harden, Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt, Martin Heidegger, später auch Hans Mayer. Die Bedingungslosigkeit, mit der er sich Benns absolutem Kunstanspruch und nihilistischer Weltsicht unterwarf, bedrohte immer wieder die Fassade seines bürgerlichen Lebens und verlangte nach Camouflage und Verstellung. Wie auch seine homoerotischen Neigungen, denen er allenfalls auf Geschäftsreisen und im Schutz der Anonymität nachgehen konnte. Hinzu kam ein fast zwanghaftes Bedürfnis nach Selbstverkleinerung, ein Gefühl der Unwichtigkeit und Bedeutungslosigkeit, das durch den Austausch mit den als Genies empfundenen Gesprächs- und Briefpartnern nicht gemindert wurde (und auf eigentümliche Weise mit seinem großbürgerlichen, fast dandyhaften Auftreten, den von Benn als aristokratisch empfundenen Umgangsformen und Manieren kontrastierte): »Seit dem Abitur feierte er keinen seiner Geburtstage, verbrannte 1947 sämtliche Fotos von sich und vernichtete fast alle in seinem Besitz befindlichen privaten Dokumente bis hin zum ›Westindischen Tagebuch‹ von 1939 mit dem Ziel, ›sich selbst zu löschen‹, um keine ›Restbestände‹ zu hinterlassen, wie Benn in ›Chopin‹ formuliert hatte.« (Hans Dieter Schäfer, Herr Oelze aus Bremen. Göttingen 2001)
Auch als Oelze 1977 die an ihn gerichteten Briefe Benns zur Veröffentlichung freigab, ließ er die eigenen weg. Viele seiner Schreiben seien verlorengegangen oder in der Nazizeit auf seinen Wunsch hin vernichtet worden, notierte er im Vorwort der Ausgabe: »Aber meinen Briefen kommt nicht mehr zu als die Bedeutung von Anregungen, Stichworten, Fragestellungen; alles Wesentliche enthalten die Antworten des Dichters.« Ob dem tatsächlich so ist, kann man anhand der nun im Wallstein Verlag erscheinenden Edition erstmals überprüfen. In jedem Fall wird man die vierundzwanzig Jahre währende Korrespondenz endlich wieder als das lesen, was sie ursprünglich war: als intensives, forderndes, mit kaum nachlassender Energie geführtes Gespräch zweier in Temperament und Herkunft grundverschiedener, einander aber bald unentbehrlich werdender Geister. Für Oelze sind Benns Nachrichten »eine immer neu sich erschliessende, immer sich mehrende Offenbarung«, deren Auslöser zu sein er immerhin für sich in Anspruch nimmt: »Ich dachte an die Briefe grosser Männer, die ich kannte; mir fiel auf, daß selbst da wo die Empfänger unbedeutende Personen waren, oft Tieferes in den Briefen stand als in den Werken, das Abgründigste, Persönlichste, nur auszudrücken wenn einer zuhörte, aber dieser musste noch den Hauch einer Schwingung empfangen können.« So am 3. Oktober 1937 an Benn. Dieser wiederum hatte das Glück, in Oelze seinen idealen Leser gefunden zu haben, mit einem feinen Gespür für jede Schwingung seiner Texte, mit der Fähigkeit, auf Fragen und Anspielungen einzugehen, und einer Aufnahmebereitschaft, die bis zur Selbstaufgabe ging. Benn erfuhr hier, anders als bei Schriftstellerkollegen und Kritikern, Widerhall ohne Widerspruch. Durch Oelzes nie nachlassendes Interesse an allem, was Benn schrieb und dachte, durch seine unverminderte Aufmerksamkeit und Anteilnahme hielt er dessen Spannung und Produktivität aufrecht und ersetzte ihm das Publikum, das es nach dem Veröffentlichungsverbot 1938 nicht mehr gab. Vor allem nach dem Krieg wird Oelze dann zum publizistischen Berater, ist einbezogen in die Zusammenstellung von Gedicht- und Auswahlbänden, läßt Journalisten und Wissenschaftler Einsicht nehmen in seine Sammlung. Denn sein größter Schatz sind jene Briefe und Aufzeichnungen Benns, deren Sicherung ihm in der Kriegs- und Nachkriegszeit zur Hauptaufgabe wird: »Das Wichtigste zunächst: Die Manuskripte sind bei mir, unbeschädigt, von keiner fremden Hand berührt.«
Begonnen hatte das alle Umbrüche und Einschnitte überdauernde Verhältnis mit einem nicht erhaltenen Brief Oelzes, den Benn am 21. Dezember 1932 mit routinierter Distanziertheit quittierte: »Mir eine große Freude, wenn Ihnen meine Aufsätze gefallen haben. Eine mündliche Unterhaltung würde Sie enttäuschen. Ich sage nicht mehr, als was in meinen Büchern steht.« Oelze hatte Benns kurz zuvor in der Neuen Rundschau erschienenen Aufsatz »Goethe und die Naturwissenschaften« gelesen und als entscheidendes Bildungserlebnis empfunden: »Bei der Lektüre dieser knappen, kaum sechzig Seiten umfassenden Darstellung erfuhr ich das spontane Betroffensein, wie es nur die Kunst zu bewirken vermag, wenn die Stunde der Bereitschaft da ist.« Und wem solches widerfährt, der läßt sich nicht so leicht abschrecken. In einem weiteren verlorenen Brief muß Oelze dann den rechten Ton getroffen haben, um Benns Interesse zu wecken und ihn zu einer ausführlichen Antwort zu bewegen. Er habe mit seiner »Frage ins Schwarze« getroffen, schreibt Benn ihm am 27. Januar 1933: »wie kann man einerseits die Wissenschaft u. ihre Resultate skeptisch ansehn, ja verächtlich betrachten u. doch sie dann für wahr setzen u. zu eigenen Ideen verwerten. Scheinbar widerspruchsvoll. Aber nur scheinbar. Anstelle des Begriffs der Wahrheit u. der Realität, einst theologisches, dann wissenschaftliches Requisit, tritt ja jetzt der Begriff der Perspective.« In diesem ersten längeren Brief, in dem Benn seine Unterscheidung von Wissenschaft und Kunst erläutert (»Sie ist Erkenntniss; während Wissenschaft ja nur Sammelsurium, charakterloses Weitermachen, entscheidungs- u. verantwortungsloses Entpersönlichen der Welt ist. … Das wahre Denken aber ist immer gefährdet u gefährlich.«), klingt schon vieles von dem an, was den Briefwechsel für beide Korrespondenten in den kommenden Jahren zum unersetzlichen Dialog – und noch heute zum großen Leseerlebnis macht: rückhaltlose Offenheit, scharfe Argumentation, das Spiel mit Ideen und Gedanken, das Aufnehmen von Anregungen und Fragen, die Lust an Zuspitzung und Provokation, auch eine gewisse Freude an Klatsch und Häme. Die Ungeduld und Neugier, mit der die Gegenbriefe zumeist erwartet wurden, ist auch nach Jahrzehnten noch spürbar.
Im Verlauf der Brieffreundschaft, nach ersten persönlichen Begegnungen (die Benn allerdings genau zu dosieren versteht, man blieb zeitlebens beim »Sie«) und regelmäßigen Kaffee-, Rum- und Blumensendungen Oelzes, nimmt auch das Private und Privateste immer mehr Platz ein, häufen sich Fragen nach Lebensumständen und Krankheitsverläufen, nach Reisen, Begegnungen, Familienverbindungen. Gerade Benn interessiert sich lebhaft für Oelzes großbürgerliches Milieu, für Kleidervorlieben und Eßgewohnheiten, die sich so deutlich von seinem eigenen Dasein unterscheiden – die in Hannover gemietete Wohnung sei »mehr eine Höhle für Molche u. Menschenfeinde als ein Renaissancebau «, läßt er den Bremer Villenbesitzer am 9. Dezember 1935 wissen. Als dieser ihn in seiner Garnison besucht, erhält die Geliebte Tilly Wedekind am 11. Juni 1936 ein genaues Porträt: »Oe. sah extravagant elegant aus. Wirklich ein merkwürdiger ungewöhnlicher Typ, gänzlich undeutsch. Sieht älter aus, als er ist (45 J.), Haar fast weiß, sehr schlank, schmales spitzes Gesicht, Gesichtsfarbe rötlich wie bei Lungenkranken, unwahrscheinlich gut angezogen. Er sieht eigentlich aus wie aus einer Revue, Hoffmanns Erzählungen, am Rand von Wirklichkeit und Halluzination.« Die daran anschließende Überlegung, ob Oelze »im Unterbewußtsein doch homo« sei, hindert Benn jedenfalls nicht, in seine Briefe an den Freund gelegentliche Berichte über Liebschaften und Amouren einzustreuen und diesen zu ermuntern, es ihm gleichzutun: »Noch sind Sie nicht 50. Der Abend des Lebens hat noch nicht sein Zwischenreich begonnen. Noch ist es etwa zwischen 4 u. 5, Theestunde, u. die charmanten Achtzehnjährigen bezaubern noch u. gefährden und beglücken. Erhalten Sie sich das! Erhalten Sie es mir!« (1. Januar 1939) Oelze geht über dergleichen meist diskret hinweg. Und lenkt das Gespräch wieder auf das, was ihm das Wichtigste geworden ist: Benns Werk.
Für solch emphatischen Zuspruch dürfte Benn gerade zu Beginn ihrer Bekanntschaft besonders empfänglich gewesen sein. Seit Anfang der dreißiger Jahre hatten die politischen Auseinandersetzungen unter Schriftstellern und Künstlern noch einmal an Schärfe gewonnen, prallten die weltanschaulichen Gegensätze mit zunehmender Wucht aufeinander. Thea Sternheim, Exfrau Carl Sternheims und Freundin Benns, notiert am 28. November 1931 in ihrem Tagebuch nach einem Besuch Franz Pfemferts und Heinrich Schaefers, wie schwer es sei, den »Jargon der Klassenwahnsinnigen aller Kategorien zu ertragen. Ob sie nun über Benn herziehen oder mit nicht misszudeutender Befriedigung für die kommenden Monate die Diktatur des Proletariats ankündigen – was kann man in dieser mit Bluträuschen aller Art durchzogenen Welt anders tun als sich auf sein Martyrium vorbereiten.« (Gottfried Benn / Thea Sternheim, Briefwechsel und Aufzeichnungen. Göttingen 2004) Wie groß die Enttäuschung unter vielen von Benns Freunden über seine Versuche war, die politischen Umwälzungen nach 1933 als geschichtliche Notwendigkeit zu deuten und mit Reden wie »Der neue Staat und die Intellektuellen«, »Zucht und Zukunft « oder der berüchtigten »Antwort an die literarischen Emigranten« zu verteidigen, läßt sich in Thea Sternheims Tagebüchern in erbitterten Eintragungen nachlesen (»Welch ein Jammer ein ganzes Volk sich dem Veitstanz der absoluten Entmenschung einreihen zu sehen. Und zu diesem Reigen erniedrigt sich ausgerechnet Gottfried Benn aufzuspielen! «). Mit dieser Begleitmusik hatte es allerdings bald wieder ein Ende. Die Akademie der Künste (»eine glanzvolle Angelegenheit«), in die er 1932 gewählt worden war und für die er, im Glauben, so deren Souveränität sichern zu können, noch im März 1933 eine Loyalitätserklärung zum neuen Regime mitverfaßt hatte (woraufhin Thomas Mann, Alfred Döblin, Jakob Wassermann, Ricarda Huch und etliche weitere Mitglieder austraten oder ausgeschlossen wurden, nachdem zuvor schon Käthe Kollwitz und Heinrich Mann hinausgedrängt worden waren), betrat er von 1934 bis zum Ende des Krieges nicht mehr. Was von dort komme, schreibt er Oelze am 5. September 1935, zeige einen »Tiefstand an Moral, innerer Makellosigkeit, aber auch rein gesellschaftlichem Schliff, dafür Überfluss an formellem Knotentum, läppischer Gesinnung, auch Unverschämtheit, dass ich ganz bestürzt bin. ›Auslese nach unten‹, Darwinismus rückwärts – das wäre die Formel, die über allem schwebt.« Viele der alten Bekannten und Kollegen waren emigriert, ein offener Austausch nicht mehr möglich. Am 1. September 1935 antwortete Benn auf eine von Oelzes Ergebenheitsadressen: »Bitte schreiben Sie doch nicht davon, dass ich Sie geistig entwickelt habe u. s. w. Ich bedarf Ihrer ja viel mehr. Sie machen sich nicht klar, wie völlig isoliert ich bin, ohne jede Beziehung geistiger Art zu meiner Umwelt. Meine Umwelt ist z. Z. nicht in diesem Land.« Schon nach Hitlers Juni-Morden hatte er am 27. August 1934 an Ina Seidel geschrieben: »Ich lebe mit vollkommen zusammengekniffenen Lippen, innerlich u. äußerlich. Ich kann nicht mehr mit. Gewisse Dinge haben mir den letzten Stoß gegeben. Schauerliche Tragödie! Wie groß fing das an, wie dreckig sieht es heute aus. Aber es ist noch lange nicht zu Ende.« Benn gibt 1935 seine Praxis auf und wird, als »aristokratische Form der Emigrierung« (an Oelze am 18. November 1934), Oberstabsarzt der Wehrmacht in Hannover. 1936 erscheint ein Angriff gegen ihn in der SS-Wochenzeitung »Das schwarze Korps«, 1938 wird Benn aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und erhält damit Veröffentlichungsverbot. Schon 1937 hatte er sich als Gutachter in Fürsorge- und Rentenfragen nach Berlin ins Oberkommando der Wehrmacht versetzen lassen; 1943 wird die Dienststelle nach Landsberg an der Warthe verlegt, von wo aus Benn 1945 nach Berlin flieht. Seine zweite Frau Herta schickt er am 5. April vor der heranrückenden Front nach Neuhaus an der Elbe, wo sie sich am 2. Juli das Leben nimmt.
Mit der von Oberst Fritz Ohmke nach Kriegsende auf Benns Bitte versandten Nachricht setzt der hier abgedruckte Ausschnitt des Briefwechsels ein. Nach der im Chaos der Nachkriegstage unterbrochenen Verbindung stehen zunächst die Schilderung des Überlebens, das Resümee der Verluste im Vordergrund. Doch schon bald geht es darum, geistig Bilanz zu ziehen, erste Ausblicke auf das Kommende zu wagen. Die drängenden Fragen der Zeit spielen in diesen auf ein vertrautes Gespräch gestimmten, um ein Werk und seinen Schöpfer kreisenden Briefwechsel, der zu den bedeutendsten des 20. Jahrhunderts gehört, immer wieder hinein, wie die durch Walter von Molos offenen Brief an Thomas Mann ausgelöste Kontroverse zwischen Exil-Schriftstellern und Autoren der sogenannten Inneren Emigration, wer über die Nazijahre und Deutschlands Niederlage überhaupt zu reden berechtigt sei. Doch Politik und Moral, schreibt Oelze am 12. Dezember, böten längst keine Hilfe mehr: »Die alten Schemen wollen nicht mehr passen, die politischen nicht mehr, und die moralischen nicht mehr; die Ideologien aller Parteien sind von der Wirklichkeit längst überholt, aus ihnen ist kein revolutionärer Auftrieb mehr möglich.« Die Zukunft, davon ist er überzeugt, liegt allein im Geistigen, in der Kunst. Und Kunst, hatte er von Benn gelernt, ist »Herstellung von Wirklichkeit« (22. Dezember 1943). Die dafür notwendigen Gründungsurkunden und Geheimpapiere befinden sich ohnehin in seinem Besitz, nun geht es darum, sie an die Öffentlichkeit zu bringen und ihre Wirkung tun zu lassen. Er glaube, schreibt Oelze am 16. November 1945 an Benn, »daß die grosse Periode Ihrer öffentlichen Anerkennung und Ihrer Wirkung ins Weite etwa um 1950 herum beginnen wird«. Eine allen persönlichen Wunschgedanken zum Trotz sehr hellsichtige Prophezeiung. 1949 erscheinen vier Bücher Benns, 1951 erhält er den Büchner-Preis, 1953 das Bundesverdienstkreuz. Am wiedererwachten öffentlichen Interesse hatte auch »Bennpartner« Oelze großen Anteil, als Berater, Freund, Mäzen. Doch der Mann im schwarzen Trikot scheute zu Lebzeiten das Licht der Öffentlichkeit. Mit dem Abdruck seiner Briefe hat er die Tarnkleidung endlich abgelegt.
Matthias Weichelt
SINN UND FORM 1/2016, S. 33-37
Llywelyn-Williams, Alun
In Berlin – August 1945. Gedichte. Mit einer Nachbemerkung von Wolfgang Schamoni, S. 60
1. Lehrter Bahnhof Heledd und Inge im roten Fackelschein – Inge oder Heledd, wer ist wer? Die Jahre betrügen uns – Sieh nur, wie dort, wo (...)
Llywelyn-Williams, Alun
In Berlin – August 1945
1. Lehrter Bahnhof
Heledd und Inge im roten Fackelschein –
Inge oder Heledd, wer ist wer? Die Jahre betrügen uns –
Sieh nur, wie dort, wo eilig Fäden ineinanderlaufen,
wir fernen Reisenden zusammenkommen, durch Zufall unter der Uhr.
Wirklich durch Zufall? Auf diesem Bahnhof beginnt keine
Reise, es endet auch keine, es sei denn, man sieht
in seinen zerborstenen Bahnsteigen das Ende aller Reisen.
Kauft eure armselige Fahrkarte wohin auch immer;
lang, lang ist das Warten dieser Menschenmenge,
groß ihre Geduld und ohne Murren,
weil das blinde Geschoß, das meinen tumben Kadaver
zum Schmollen auf den Rost der Schienen warf,
abprallte und das runde Glas zerschlug,
die Zeiger wegriß, die das Hin und Her gewiesen
dem würdevollen Lärm der harten Räder.
Der Sturmwind ging vorüber –
und aus der Spalte in der Wand, dem Riß im Pflaster
quillt Wasser, doch ohne
das Lied des Bergbachs.
Um uns tröpfelt Nacht herab.
Ihr vergessenen Reisenden, weil ihr so still seid,
will ich all meinen Schrecken sammeln und ihn für eine Weile
hier am Saum des Lebens niederlegen, will ihn
vom feuchten Boden heben
und mit euch warten auf den Bahnhofsvorsteher.
Stille fließe zwischen uns; wir wollen wieder,
nach den vergeblichen Jahrhunderten,
sehen, wie Lava langsam die Straße niederrinnt,
wie Sand die Gräber der Herrschenden bedeckt,
und preisen die Schönheit dieser Herdstatt unter grauem Flechtenschorf.
(Lang ist es her, undeutlich die Erinnerung, ob jedesmal
das gleiche Schicksal uns beschieden war;
doch bevor die Brücken gesprengt wurden, wart auch ihr auf der Flucht.)
Scharf ist der Wind; Heledd, zittre nicht, weine nicht;
habe Mut, versteckt auf dem bequemen Bett im Schutt,
als Gegengabe
für den Genuß einer Zigarette,
für eine Tafel Schokolade,
magst du deine Liebe geben dem einsamen Eroberer.
Erbarmungslos tröpfelt die Nacht.
Wann kommt er, wann, der blaue Beamte,
im eleganten Anzug, von erlesenem Geschmack,
sein Signalhorn zu blasen und die Menge wieder in Bewegung zu setzen?
Stolz und feist war diese Stadt schon immer,
wie geschaffen für die Zerstörung;
hast du gehört, Heledd – nein, du, verwundete Inge –
das wilde Lachen des gierigen Adlers,
hast du gesehen in seinen halbgeschlossenen Augen
das vorbestimmte Schicksal all unserer brüchigen Städte?
2. Zehlendorf
Der Tod kam zum öffentlichen Garten:
Das flache Grab sah ich, das winzige Holzkreuz
zwischen Fußweg und Seeufer,
auf der kleinen Landzunge, wo hohe Kiefern stehen.
Wie seltsam wäre im Roath Park oder in den Gärten von Kensington
diese vergebliche, hilflose Geste.
Knie nieder, Inge, und küsse die Erde:
Wenn du magst, streu zärtlich Blumen aus über dem Helden,
gib keinen Namen ihm –
die Kinder haben lange schon den Ort geflohen, ein Spielzeug nur,
ein Segelboot, der Mast gebrochen, ist übrig noch von ihrem Treiben.
Vertraut ist sicherlich der Tod, wenn er kommt,
tröstend in unser Bett steigt am Ende eines langen Tages,
auf uns wartet in den fernen Regionen unseres Bewußtseins,
auf dem höchsten Gipfel des Everest, um unsere Stärke zu begrüßen:
Er gab in fern vergangenen Tagen
langen Schlaf und ewiges Lied dem Wächter der Furt,
dem Schützer der Grenze.
Ach, der Kerl hat nicht gesagt, ob hier, bei diesem unbenannten Kreuz,
Angst auf der Flucht ihn niederstreckte, ob
die hoffnungslose Verzweiflung einsamen Widerstands
oder die gierigen Feuerzungen Bergen-Belsens an ihm zehrten.
Unscheinbar ist das Grab, und über ihm
wagt der prophetische Wald nicht
zu versprechen, daß es je wieder Frühling wird.
3. Theater des Westens
Es regnet weiter. Unter dem Dache irgendwo
fließt ein verborgener Stausee über in einen Deckenspalt,
rinnt Tropfen um Tropfen durch das gefesselte Dunkel,
unglücklich, unablässig den losen Teppich nässend.
Was soll's – wir freuen uns an Inges Tanz,
sie tanzt im konzentrierten Licht der strengen Lampe;
stärker als Furcht, versteckt im Trommelregen,
ist die Musik, die den geschmeidigen Arm mit Stolz erfüllt,
den Jubel einer jeden wohlerlernten Körperneigung lenkt.
In ihrer flinken Schritte Spuren wächst der Klee –
die Brust von Last befreit, daß wieder Freude sei der Mutter,
daß fröhlich sei der müde Arzt beim Abschied von den Freunden.
Denn lang war ihre Ausbildung und gründlich die Schulung
in so mancher alten Stadt, und viele Zeiten
haben ihr feines Spiel geformt, die Kunst, die Fleisch fügt
zum Gespinst der Noten, die reinigt das ererbte Leid.
Hier ist ein Garten zu hegen, ist eine Seuche einzudämmen;
nachdem wir schworen einen Eid, unlöslich, ihrer hohen Würde
sind uns die Schritte leichter auf der harten Bühne, wir fühlen
die Macht des Firmaments, die Kraft der grünen Knospen.
Aus dem Walisischen von Wolfgang Schamoni
Nachbemerkung
Alun Llywelyn-Williams (1913-1988) wurde in Cardiff als Kind walisischsprachiger Eltern geboren, wuchs jedoch in englischsprachiger Umgebung auf. Er studierte Geschichte und Walisische Literatur und arbeitete zunächst für das walisischsprachige Programm der BBC. Von 1935 bis 1939 gab er die Literaturzeitschrift „Tir Newydd“ (Neuland) heraus, in welcher zum ersten Mal in der walisischen Literatur ein dezidiert städtisches Lebensgefühl (verbunden mit einer undogmatisch linken Einstellung) artikuliert wurde. Als der Krieg näherrückte, war er nicht froh über die Aussicht, »den Faschismus zu bekämpfen, um ein verkommenes System zu stützen«, meldete sich aber gleichwohl nach dem deutschen Einmarsch in die Niederlande und dem Beginn der »Battle of Britain« Ende 1940 zur Armee und blieb bis 1945 Soldat. Als solcher nahm er an den Kämpfen am Niederrhein teil und wurde am 1. März 1945 verwundet. Danach war er Presseoffizier u. a. in Berlin und von 1948 bis zu seiner Pensionierung Direktor der »Extra Mural Studies« (Programme für das allgemeine Publikum) der Universität Bangor in Nordwales. Llywelyn-Williams’ dichterisches Werk umfaßt nur drei schmale Bände (1944, 1956, 1979) und zeichnet sich durch ästhetische Konzentration sowie einen humanen Grundton aus. Außerdem hat er eine Studie über walisische Romantiker (Der Nebel, die Nacht und die Insel, 1960), eine Biographie des walisischen Historikers R. T. Jenkins, zwei Reisebücher über walisische Landschaften, eine Autobiographie (Frühling in der Stadt, 1975) und Essays, meist zu literarhistorischen Themen, veröffentlicht. Bis auf die (englische) Arbeit über Jenkins bedient sich Llywelyn-Williams in allen genannten Publikationen des Walisischen.
In seinen ab 1934 veröffentlichten Gedichten orientierte er sich zunächst an der englischen Avantgarde (T. S. Eliot, W. H. Auden), die mit ihrer Urbanität, ihren zuweilen schroffen Fügungen und der oft schwierigen Sprache einen Gegenentwurf bot zur bis weit ins 20. Jahrhundert wirksamen Tradition spätromantischer walisischer Dichtung mit ihrer klangvollen Eingängigkeit und der Idealisierung des ländlichen Lebens. In seinem Spätwerk kehrte der Autor zu einer einfacheren Sprache und weniger avancierten poetischen Verfahren zurück, blieb jedoch seiner Thematik treu.
Die hier abgedruckten Gedichte beruhen auf Erlebnissen im zerstörten Berlin, entstanden allerdings mit einigem Abstand: Die beiden ersten wurden 1949 geschrieben, das dritte 1951. Sie beziehen sich gleichzeitig auf eine Reihe früher walisischer Gedichte, die ins neunte oder zehnte Jahrhundert datiert werden und die Niederlagen der Briten (Waliser) im Kampf gegen die Angelsachsen im 7. Jahrhundert zum Hintergrund haben: So sind etwa »diese Herdstatt«, »scharf ist der Wind« und »Wächter der Furt« wörtlich aus jenen frühen Gedichten übernommen. Zudem ist der Bezug durch die Gleichsetzung von »Inge« (der Name läßt das walisische Wort »ing« = »heftiger Schmerz« anklingen) mit »Heledd« augenfällig. Letztere ist die einzige überlebende Schwester von Cynddylan, dem im Kampf getöteten Herrscher von Pengwern im heutigen Shropshire. Immerhin stand der Autor 1945 auf der Siegerseite, während die Waliser einst ihre Niederlage betrauerten. Aus dieser Konstellation heraus gelingt es ihm, in der zerstörten Stadt die gescheiterte Hybris »all unserer brüchigen Städte« zu erkennen und das Elend der Unterlegenen und Entwurzelten mitzuempfinden. Das dritte Gedicht schließlich feiert die Kunst als Retterin inmitten der Zerstörung.
Wolfgang Schamoni
SINN UND FORM 1/2016, S. 60-63
Kehlmann, Daniel
Der Apfel, den es nicht gibt. Unordentliche Gedanken über Bilder und Wirklichkeit, S. 64
I Wer in diesen Tagen eine Ausstellung schöner Dinge eröffnet, muß auch von den häßlichen reden. Wer laut über Schönheit nachdenkt, muß im (...)
Kehlmann, Daniel
Der Apfel, den es nicht gibt.
Unordentliche Gedanken über Bilder und Wirklichkeit
I
Wer in diesen Tagen eine Ausstellung schöner Dinge eröffnet, muß auch von den häßlichen reden. Wer laut über Schönheit nachdenkt, muß im Verdacht der Gefühllosigkeit stehen, als wollte er sie mit Gewalt nicht sehen, die Fliehenden, die überfüllten Boote, die in Lastwagen Erstickten, die Menschen hinter Stacheldrähten und die Mordbanden, die im Namen der Religion Köpfe abschneiden. Das Schlimmste passiert gerade jetzt, und natürlich ist es nahezu blamabel, so zivilisiert hier zu stehen, als passierte es nicht. Wie also den Übergang finden, wie sich hinüberretten zur Schönheit?
II
Wer durch diese Räume geht, wird wohl auch vor Willem van Haechts »Apelles malt Kampaspe« stehenbleiben. Das Bild verdoppelt die Realität: in einem Raum voller Gemälde ein Gemälde, das einen Raum voller Gemälde darstellt. Van Haechts Gestalten des Malers, des Modells, des mächtigen Herrschers und der Umstehenden sind letztlich weniger interessant als ihr wundervoll reicher Hintergrund: ein heller Museumsraum, an dessen Rückwand sich ein Torbogen auf einen weiteren Raum voller Bilder und Statuen öffnet, an dessen Rückwand sich als traumartige Versprechung ein weiteres Tor zu einem weiteren Raum befindet. Es könnte einen die Lust anwandeln, statt durch die echte durch die imaginäre Ausstellung zu gehen und statt des Städels bloß van Haechts Bild zu besuchen. So imaginär sein Museum ist, so echt ist doch die Ausstellung darin: Vorlage war die vom Künstler selbst als Kurator betreute Sammlung des Antwerpener Gewürzhändlers Cornelis van der Geest. Da sind Rubens’ »Amazonenschlacht« und Renis »Kleopatra«, da sind Tizian, van Dyck und Domenichino, und da sind viele Bilder, die heute nicht mehr identifizierbar und nirgendwo sonst erhalten sind als auf diesem Bild, das ein schlechthin vollkommenes Museum ohne Anmaßung und falsche Sakralität zeigt, eine scheinbar unordentliche, aber innerlich wunderbar geordnete Heimstätte der Kunst.
Van Haecht malte sie im Jahr 1630. Er malte sie als Bürger eines Landes, das seit zweiundsechzig Jahren in einen Krieg mit Spanien, der führenden Großmacht der Welt, verwickelt und außerdem seit zwölf Jahren vom blutigsten Schlachten der europäischen Geschichte umgeben war, das man damals naturgemäß noch nicht das Dreißigjährige nennen konnte und das den Norden des Kontinents in einer Weise verwüstete, wie wir es uns unter Aufbietung unserer ganzen Phantasie nicht vorstellen können. Wir beschweren uns über die Wespenplage dieses heißen Sommers, aber in jenen Jahren gab es eine Wolfsplage, und dieses Wort bedeutet genau das, was wir uns darunter vorstellen und wovon heute noch unsere Märchen erzählen, und dazu war die lange Pestepidemie noch immer nicht vorbei, und auf den Scheiterhaufen brannten in katholischen wie protestantischen Landen Menschen unter der Anklage der Hexerei, insgesamt über hunderttausend. All das ist keine schwarze Folklore. Willem van Haecht malte diesen hellen und friedlichen Dialog der Meisterwerke in einem der schlimmsten Momente der Geschichte. Das Bild selbst scheint das nicht zu wissen, einzig die auftrumpfende Figur des Monarchen vorne bringt eine Ahnung von der Anmaßung der Mächtigen herein.
Was ist wirklich geblieben aus dieser Zeit – geblieben in dem Sinn, daß es uns noch vertraut und nahe ist? Dieses Bild und viele der Bilder, die es zeigt, und andere Bilder und einige Gedichte und große Musik. Ich meine das nicht im Sinn einer Phrase wie »Die hehre Kunst überdauert alles«. Erstens überdauert auch die hehre Kunst meist nicht, und zweitens bin ich nicht sicher, ob das Vergehen, Verwehen, Verschwinden und Vergessen des millionenfachen Menschenleids so eine erfreuliche Sache ist. Die großen Verbrechen werden, ist genug Zeit vergangen, zu spannenden Schauergeschichten, und die Schmerzen, die sie verursachten, bestenfalls zum Detail im Geschichtsbuch. Die Kunst ist für die Wahrheit da, aber diese findet ihren Ausdruck im Schein – ein Wort, das schon Hegel im Bewußtsein seines Doppelsinnes von Glanz und Illusion verwendet hat, oder stärker ausgedrückt: von Licht und Lüge.
III
Nun muß ich doch meine Kunstlehrerin erwähnen. Ich wollte es nicht, aber es läßt sich nicht vermeiden. Sie hat sich wohl nicht träumen lassen, daß einmal im Städel von ihr die Rede sein könnte. Aber ich verdanke ihr viel. Hat sie mein Interesse für Malerei geweckt? Das kann man beim besten Willen nicht behaupten. Ich hatte ein paar großartige Lehrer. Sie gehörte nicht dazu.
Ihr Hauptanliegen bestand darin, von uns Schülern in Ruhe gelassen zu werden, damit sie Zeitung lesen konnte. Also stellte sie irgendeinen per se schon wenig einnehmenden Gegenstand vor uns hin – eine Blumenvase, eine Lampe, eine unglücklich blickende Puppe –, forderte uns auf, ihn abzuzeichnen, und verstummte. An einem besonders tristen Vormittag bestand die Aufgabe darin, unseren Ärmel zu zeichnen. »Schaut darauf, schaut, wie der Stoff Falten wirft, und dann zeichnet das!«
Es verging eine quälende Stunde, in der ich Stifte kratzen hörte und sah, wie andere rechts und links von mir das hinbekamen, manche gut, manche weniger gut, viele, so wie ich, überhaupt nicht. Ich wurde immer verzweifelter, weil dieser schreckliche Stoff meines Ärmels, den ich doch so deutlich sah, sich weigerte, den Weg aufs Papier zu nehmen. Ich versuchte es immer wieder, aber jedesmal entstand nur ein unförmiger Fleck mit ein paar hellen und ein paar dunkleren Stellen, der wirklich nicht meinem Ärmel ähnlich sah. Wenn jemand nachfragte, wurde die Lehrerin ungeduldig. »Schau doch einfach hin!« Und ihr Gesicht verschwand wieder hinter den Schlagzeilen.
Also schaute ich hin. Und das half nichts! Wie konnte das sein? Denn es klang ja so überzeugend, was sollte man denn noch tun als einfach hinschauen! Und doch ging es nicht.
Damals, mit zehn Jahren, begriff ich, was es heißt, begabt zu sein. Ich begriff es, weil mir klar wurde, daß ich unbegabt war. Daß es eine Verwandlung gab, zu der andere imstande waren, ich aber nicht. Und noch etwas verstand ich: daß das Hinschauen allein niemals nützt. Nicht beim Zeichnen, nicht beim Geschichtenerzählen. Daß es eine Technik gibt, daß jemand dir erklären muß, wie man es macht, denn auch das einfachste Abbilden ist ein Vorgang der Transformation. Vor kurzem fand ich eine ähnliche Kunstunterrichtsituation im Roman »Der Scheiterhaufen« des ungarischen Schriftstellers György Dragomán wieder, da allerdings geschildert aus der Sicht eines im Unterschied zu mir begabten Mädchens. Ihr Lehrer fordert sie auf, einen Baum abzuzeichnen:
»Der Kohlestift sitzt auf dem Blatt, die Bewegung in meiner Hand, ich weiß schon, daß es gut wird, diese Linie wird gut, so wie es sein muß, und ich weiß, man darf das nicht denken, ich darf mich nicht darum kümmern, ob es gut wird, sicher, wenn es schlecht wäre, müßte ich mich darum kümmern, doch wenn es gut ist, spielt es keine Rolle, es bedeutet nur, daß man nicht aufhören muß. Das Papier ist weiß, die Kohle schwarz, der Zeichenlehrer hat nicht erklärt, was das bedeutet, ich führe den Kohlestift, und wie sich die Knorren des Baumstammes aus der Linie herausbilden, begreife ich es. Es bedeutet, daß man dumm sein muß, beim Zeichnen muß man dumm sein, nicht blind und nicht eingebildet, sondern einfach nur dumm genug, um zu akzeptieren, daß die Linie nur eine Linie ist, auch dann, wenn sie sich für mehr ausgeben will.«
Denn die Außenwelt kommt nicht in runder und bunter Vollständigkeit zu uns, die man nur passiv betrachten muß, wir setzen sie kontinuierlich und unter erheblichem Aufwand zusammen. Strecken Sie den Arm aus und blicken Sie auf Ihren Daumennagel, so klein ist der Fleck, den Sie scharf und farbig sehen können, größer nicht. Alles darum herum glauben Sie nur zu sehen, aber Sie sehen es nicht, sondern erinnern sich nur daran, daß Sie es soeben oder vorhin oder irgendwann gesehen haben oder meinen es gesehen zu haben, und setzen es aus vagen und oft nicht korrekten Erinnerungen zusammen, und das, was dabei herauskommt, ist löchriger, als wir meinen. Da ist natürlich der blinde Fleck in der Mitte unseres Blickfeldes, den unser Bewußtsein einfach ausblendet, und da ist der noch viel größere blinde Fleck des Raumes hinter uns, den wir nicht sehen, ohne uns überhaupt darüber zu wundern, daß diese große Dunkelheit nicht in irgendeiner Form in unserem Gesichtsfeld auftaucht – warum ist da keine schwarze Leere, sondern buchstäblich nichts, also auch keine Abwesenheit? Weil unser Bewußtsein sogar das Nichts eskamotieren kann. Unsere Augen bewegen sich unablässig, unser Gehirn ist dauernd damit beschäftigt, aus dem Nacheinander der Eindrücke ein Nebeneinander zu machen, ein stabiles Modell von Dingen in einem in drei Dimensionen ausgespannten Raum. Die Welt, wie sie uns wirklich entgegentritt, sieht einem Braque ähnlicher als einem Watteau. Die Verwandlung eines aufwendig konstruierten Objekts in dessen zweidimensionale Abbildung ist ein komplizierter Vorgang: Man braucht Technik, Können und Erfahrung, man darf die Dinge nicht als Dinge sehen – eben das meint Dragománs Heldin damit, daß man dumm werden müsse. »I am a camera« heißt Christopher Isherwoods berühmter Reportagenband; ein schöner Titel, aber die Wahrheit ist, daß kein Mensch eine Kamera ist, und sogar eine Kamera braucht eine Menge Linsen und komplizierte Manipulationen des Lichtwegs, damit eine scheinbar simple Abbildung entsteht und wir meinen können, die Realität wäre etwas, das sich fangen läßt wie ein Fisch im ausgeworfenen Netz.
(...)
SINN UND FORM 1/2016, S. 64-75, hier S. 64-
Brockmann, Jan
Die goldenen Umwege des Zeichners. Hanns Schimansky, S. 76
Pfütze, Hermann
Tino Sehgal. Situationen zwischen Kunst und Alltag, S. 88
Müller-Jentsch, Walther
Niederrhein bei Düsseldorf. Gedichte, S. 97
Krieger, Hans
»Das einzige weibliche Genie«. Die Dichterin Marceline Desbordes-Valmore, S. 99
Glaßer, Marianne
Eine Heimat, die sie nicht kannten. Gedichte, S. 106
Böhm, Jonathan
Lenka Reinerová oder Was bleibt?, S. 108
Kirsten, Wulf
Die Deutsche Bücherei zu Leipzig. Ein Bildungsort für Selbsthelfer, S. 114
Liebmann, Irina
Über den Geist. Dankrede im Scharbausaal der Lübecker Bibliothek, S. 125
Gülke, Peter
Frau Labes, S. 130
Lehmkuhl, Tobias
Ursuppe des Sinns. Laudatio zum Peter-Huchel-Preis auf Paulus Böhmer, S. 131
Markov, Georgi
Mit neuem Kredit auf dem Konto der Zukunft. Eine nachgelassene Betrachtung zum neuen Jahr, S. 136