
[€ 11.00] ISBN 978-3-943297-26-3
Heft 6/2015 enthält:
Zambra, Alejandro
Ferngespräch, S. 725
Morábito, Fabio
Schalte die Finsternis an. Gedichte, S. 736
González, Tomás
Glühwürmchen, S. 741
Guignery, Vanessa; Roberts, Ryan
»Was der Tod alles mit sich bringt.« Gespräch mit Julian Barnes, S. 745
Barnes, Julian
Wo Sibelius verstummte, S. 759
Koschel, Christine
Auf der Insel Aberland. Gedichte, S. 764
Schlaffer, Hannelore
Zweierlei Sprache.
Rilke, seine Frauen, seine Interpreten, S. 766
Dotzauer, Gregor
Innen leben. Abschied von einer
romantischen Idee, S. 774
1 In Peking hängen die Wolken an versmogten Tagen so tief, daß einem der Himmel bis in den Hauseingang nachkriecht. Das Firmament hockt auf der (...)
Dotzauer, Gregor
INNEN LEBEN
Abschied von einer romantischen Idee
1
In Peking hängen die Wolken an versmogten Tagen so tief, daß einem der Himmel bis in den Hauseingang nachkriecht. Das Firmament hockt auf der nächsten Laterne, und die Sonne ist vollständig pulverisiert. Die Stadt besitzt dann ein gesteigertes Fluidum. Ihre zerklüftete Silhouette zerfließt im Schwebstaub, und sobald es Abend wird, rücken die Fassaden der Wolkenkratzer schimmernd auf einen zu und entfernen sich wieder. Wenn danach die sogar bei Vollmond mondlose Nacht einsetzt, verschwimmen im Dunst die aus allen Richtungen heranwogenden Meere pulsierender Schriftzeichen, und über den Brücken der inneren Ringstraßen steigen bengalische Sumpflichter empor, die einen in unbekannte Viertel locken. In dem Augenblick, in dem man ihre Quelle endlich ausfindig gemacht zu haben glaubt, verlöschen sie und flackern woanders auf. »Go inside to greet the light«: Was James Turrells Großmutter ihrem Enkel riet, lange bevor er sich daranmachte, der Dinghaftigkeit des Lichts eine Gestalt zu geben, wie andere Künstler Ton und Lehm formen, klingt wie das Gegenteil dessen, was man in Peking tun sollte. Die Stadt leuchtet nirgendwo so sakral wie in ihrem säkularen Gepränge.
Turrell hat sich in der Quäkertradition, aus der er kommt, immer wieder auf ein inneres Licht bezogen, das für die Gotteserfahrung dieser Glaubensbewegung steht: eine Form der Versenkung, die sich von östlichen Meditationsarten dadurch unterscheidet, daß sie nicht auf Entpersönlichung aus ist. Es handelt sich vielmehr um intensives Beten im direkten Kontakt mit einem Gott, der keine weitere Versinnbildlichung braucht, weil sich der Zugang zu ihm allein über das Innere erschließt. Quäker verehren das Numinose als das Luminose. Obwohl er keine religiösen Absichten verfolgt, kann man Turrell getrost das Oberhaupt einer weltumspannenden Kirche des Lichts nennen. Roden Crater, der erloschene Vulkan in Arizona, in dessen Lavagestein er Gänge, Treppen, Tunnel und Hallen gefräst hat, die ins Licht planetarer Konstellationen führen, ist ihr zentrales Heiligtum, und jedes der rund um den Globus errichteten Skyspaces eine Filiale. Ihre Erhabenheit behalten sie auch als wahrnehmungspsychologische Observatorien.
Gäbe es nur eine einzige dieser Kapellen, wie er sie erstmals 1960 für den italienischen Grafen Giuseppe Panza di Blumo in dessen damaliger Privatvilla in Varese errichtete, wäre die Verwirrung der Dimensionen von Innen und Außen bloß eine frappierende Idee. Man betritt einen Raum, um durch eine runde, ovale oder rechteckige Öffnung in den freien Himmel zu schauen, der sich wiederum in eben diesen Raum hinabsenkt und in der Morgen- und Abenddämmerung eine Lichthaut bildet, die eine objektiv nicht vorhandene Grenze vorgaukelt. Gäbe es vier, fünf oder sechs davon, würde man sagen, daß Turrell bei allem Variationsbemühen nicht mehr viel eingefallen sei. Weil mittlerweile aber über achtzig Skyspaces existieren, haben sie einen kultischen Charakter angenommen und ziehen Scharen von Pilgern an. Turrells einziges chinesisches Skyspace liegt im Pekinger Dongcheng District. Von der Wusi Dajie, einer Hauptstraße unweit der Verbotenen Stadt, biegt man in ein Areal geschäftiger Hutongs ab, jener Wohnhöfe umschließenden Gassen, die seit Jahren in vielen Teilen der Stadt Hochhauskomplexen weichen. Auf handgeschriebenen Plakaten wird gegen drohende Abrisse protestiert – die unvermutete Pracht, die sich am Ende der Shatan Beijie, einer Sackgasse, hinter einem riesigen Eisentor verbirgt, interessiert hier niemanden. Aus den Ruinen eines buddhistischen Tempels, dessen Ursprünge bis zu einer kaiserlichen Druckerei in der Ming-Dynastie zurückreichen, die Sutras und Dekrete herstellte, ist eine museumsartige Hotelanlage entstanden, deren kostbare Ruhe mit ihrer unübersehbaren Kostspieligkeit konkurriert.
Der nüchterne weiße Raum, der Turrells Installation beherbergt, hat einen schwarz glänzenden Steinboden. Darauf verteilt liegen zwanzig Isomatten mit runden Strohkissen für Kopf und Füße. Während in anderen Skyspaces oft Sitzbänke die Mauern säumen, liegt man hier ausgestreckt auf dem Rücken und beobachtet durch die rechteckige Aussparung in der Decke, wie sich der Himmel, durchtränkt von der untergehenden Sonne, im Lauf von anderthalb Stunden in einen Schwamm verwandelt. Nachtblau scheint er die Öffnung zu verschließen, bis changierende Komplementär- und Tertiärfarben ihn unmerklich aus den umlaufenden Lichtleisten ins Tiefgrüne und Schwarze wenden, während er sich zwischendurch wie ausgepreßt ins Innere des Skyspace ergießt. Alle Konturen, die körperlichen des Betrachters eingeschlossen, lösen sich in einem einzigen Feld auf.
Der Septembertag ist für Pekinger Verhältnisse ungewöhnlich klar und blau, anfangs ziehen in großer Höhe Vogelschwärme vorüber. Doch spätestens wenn die Wolken in der Öffnung des Skyspace zu zittern beginnen wie von einem windbewegten Teich gespiegelt, gehen das Gegebene und das Geformte eine unauflösliche Liaison ein. Sie erinnert daran, daß Sinnesdaten und ihre Verarbeitung darüber entscheiden, welches Licht im Auge des Betrachters funkelt. »Farbe«, heißt es in einer Definition der Internationalen Beleuchtungskommission, »ist diejenige Gesichtsempfindung eines dem Auge des Menschen strukturlos erscheinenden Teiles des Gesichtsfeldes, durch die sich dieser Teil bei einäugiger Beobachtung mit unbewegtem Auge von einem gleichzeitig gesehenen, ebenfalls strukturlosen angrenzenden Bezirk allein unterscheiden kann.« Soviel kühlen Formsinn muß man sich angesichts derart substantieller Erlebnisse erst einmal bewahren.
James Turrell ist ein Meister der Illusion, aber gleichwohl nicht auf Verblüffung aus. Ihn beschäftigen die trügerischen Anteile jedes Sehakts, die physiologischen Mechanismen und psychologischen Deutungen, die Nachbilder und das Eigenlicht der Netzhaut. Licht, sagt Turrell, der sich in seinen öffentlichen Äußerungen so ausdauernd wiederholt wie in seinen Arbeiten, offenbart letztlich nichts, es ist die Offenbarung selbst. Wir sehen es nicht nur, wir nehmen es auch über die Haut auf. Als Lichtfresser sind wir jedoch weder für die gleißende Sonne gemacht noch für die Nacht. Wir sind Wesen der Dämmerung. Ort und Ortlosigkeit des künstlerischen Blicks überkreuzen sich dabei auf irritierende Weise. Rein topographisch befand sich Turrell nie in größerer Nähe zu buddhistischen Gedanken. Auf dem Tempelgelände wurde einst mit Sicherheit auch das Herz-Sutra gedruckt, dem zufolge Form nichts anderes ist als Leere und Leere nichts anderes als Form. Zugleich dürfte er seiner Umgebung selten fremder geblieben sein. Das Hotel läßt seine Lichtinstallation von einem Soundtrack begleiten, der den Lärm aus den benachbarten Hutongs übertönen soll, wofür sich die Restaurants und Garküchen mit einem Anflug von Essensgerüchen revanchieren, die durch die Dachluke ins Innere des Skyspace dringen.
[...]
SINN UND FORM 6/2015, S. 774-783, hier S. 774-776
Joas, Hans
Ein Christ durch Krieg und Revolution.
Alfred Döblins Erzählwerk »November 1918«, S. 784
Wie der Selbstmord erscheint uns die religiöse Konversion als individueller Akt im reinsten Sinne. Wir nehmen an, daß erschütternde existentielle (...)
Joas, Hans
EIN CHRIST DURCH KRIEG UND REVOLUTION
Alfred Döblins Erzählwerk »November 1918«
Wie der Selbstmord erscheint uns die religiöse Konversion als individueller Akt im reinsten Sinne. Wir nehmen an, daß erschütternde existentielle Erfahrungen den Ausschlag geben, wenn jemand sein Leben nicht mehr fortsetzen will oder seine tiefsten, identitätsbestimmenden Überzeugungen ändert. Gewiß können beim bloßen Übertritt zu einer anderen Glaubensgemeinschaft auch oberflächlichere Erwägungen oder Zwang eine Rolle spielen: steuerliche Vorteile etwa, die Bemühung um eine Heiratserlaubnis, politische Loyalitäten. In diesen Fällen aber zögern wir, den Begriff Konversion auf den Wechsel der Mitgliedschaft überhaupt anzuwenden. Am Fall des Selbstmords hat eine der Pionierarbeiten aus der Gründungsphase der Disziplin Soziologie eindrucksvoll demonstriert, daß auch bei höchst individuellen existentiellen Akten soziale Muster auszumachen sind. Protestanten, so behauptete in einer großen Studie 1897 der französische Begründer der Soziologie, Émile Durkheim, begingen häufiger Selbstmord als Katholiken und Juden, Unverheiratete häufiger als Verheiratete, kinderlose Ehepaare häufiger als solche mit Kindern. In Zeiten wirtschaftlicher Krise nähmen Selbstmorde zu, aber auch in Zeiten rapiden ökonomischen Aufschwungs. Revolutionen und Kriege senkten im Regelfall eher die Selbstmordhäufigkeit. Wichtig sind hier nicht diese Befunde im einzelnen, sondern ist die Einsicht, daß individuelle Akte, ohne dadurch weniger persönlich zu werden, in ihrer sozialen Verteilung doch auf Kräfte hinweisen, die sich nicht auf Individuelles zurückführen lassen. Durch die Forschung nach Durkheim haben wir zudem gelernt, daß schon in die statistische Erfassung eines Todesfalls als eines Selbstmords Definitionsprozesse eingehen, die in verschiedenen Kulturen und Milieus verschiedenen Charakter haben und die Vergleichbarkeit der Daten damit mindern.
All das gilt auch für Konversionen. Jeder einzelne Mensch, der sich von einer religiösen Gemeinschaft löst, in der er aufgewachsen ist; jeder Mensch, der vielleicht gegen den Widerstand seines Umfelds den Weg zu einer neuen Überzeugung und Gemeinschaft findet, kann dies als dramatischen Einschnitt empfinden, der sein Leben in ein Vorher und Nachher gliedert. Aber auch hier gelten soziale Muster – wie etwa der enorme Schub an Kirchenaustritten in westeuropäischen Ländern seit den 1960er Jahren zeigt, der massenhafte Übertritt zu protestantischen Gruppen in Lateinamerika und bei nordamerikanischen Hispanics, die Christianisierung in Südkorea und Teilen Chinas heute. In diesen Formulierungen durfte schon deutlich geworden sein, was ich dennoch ausdrücklich hervorheben möchte: daß »Konversion« in den Sozialwissenschaften ein wertfreier Begriff ist, also nicht das Finden höherer oder objektiver Wahrheit bezeichnet, sondern auf subjektiven Überzeugungswandel zielt. Deshalb ist der Weg etwa zum christlichen Glauben damit ebenso gemeint wie der Weg weg von ihm. Es geht auch nicht nur um religiösen Glauben, sondern um alle tiefsitzenden und weitreichenden Überzeugungssysteme. In diesem Sinne konvertieren Menschen auch zum Marxismus oder Faschismus oder islamistischen Fundamentalismus, aber natürlich auch zum Liberalismus, säkularen Humanismus oder einem leidenschaftlichen Einsatz für soziale Gleichheit oder Menschenrechte. Wie bei der Forschung zum Selbstmord hat sich auch hier als unabdingbar herausgestellt, die Konversionserzählungen als Genre anzuerkennen und nicht anzunehmen, daß jeder Mensch die Erzählform, in der er von seinem Überzeugungswandel berichtet, jeweils neu erfindet. In manchen Traditionen gibt es Mustererzählungen, die für den einzelnen bereitstehen und schon seine Erwartungen und sein Erleben präformieren. Auch die Erzählung über den Glaubensverlust, etwa in James Joyce’ »Porträt des Künstlers als junger Mann«, als dem Jesuitenschüler am sommerlichen Strand angesichts eines Mädchens, das mit geschürztem Rock ins Wasser watet, schlagartig klar wird, wovon er sich lösen will, hat erzähltechnisch die Struktur des klassischen christlichen Konversionsnarrativs. Erfahrung und Artikulation der Erfahrung sind hier im Einzelfall kaum zu entwirren.
Einige Gedanken, die mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig sind, möchte ich an einem literarischen Werk entwickeln: dem vierbändigen »Erzählwerk«, wie der Autor es nannte, »November 1918«, das wie alle Bücher Alfred Döblins, außer dem einen unsterblichen Erfolgsbuch »Berlin Alexanderplatz«, zum Leidwesen seines Verfassers und in diesem Falle mit verursacht durch eine besonders unglückliche Publikationsgeschichte nie so ganz die Aufmerksamkeit gefunden hat, die es nach meinem Urteil verdient. Das Desinteresse ist zumindest hierzulande überraschend, da es sich bei diesem Buch zu weiten Teilen ja um einen Berlin-Roman handelt. Döblin kehrte im französischen und amerikanischen Exil, wo er das Werk 1937– 43 verfaßte, imaginär zu der »Häuserwucherung « zurück, »die sich flach und düster in der sandigen Mark ausbreitete«, durchzogen von einem »armseligen Rinnsal« namens Spree, mit »schwarzen und schillernden Farben von den Abwässern, die man hineinleitete«, und dem die Häuser den Rücken zuwandten, während Schuppen und Kohlenlager die Ufer des »trüben, proletarischen Gewässers« bedeckten (Band II, 9). In der heutigen postindustriellen Stadt Berlin, in der künstliche Sandstrände und zahllose Cafés oder pseudobayerische Biergärten den Fluß begleiten und Touristen aus aller Welt und junge Leute mit viel Freizeit ihr Leben dort demonstrativ genießen, wirkt das von Döblin evozierte arme, graue, industrielle Berlin fast schon exotisch. In seiner an die historischen Ereignisse eng angelehnten Chronologie vom 10. November 1918, dem Tag nach dem Sturz und der Flucht des Kaisers, bis zum 15. Januar 1919, dem Tag der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, wird die Topographie Berlins ständig körperlich spürbar, und zwar nicht nur im historischen Zentrum, vom Polizeipräsidium am Alex bis zur Reichskanzlei in der Wilhelmstraße, auch nicht nur bis hin zum Landwehrkanal im Tiergarten, wo sich die schaurigen Szenen des Mordes an Karl und Rosa abspielen, sondern vom Friedhof der Märzgefallenen im Friedrichshain bis hinein ins bürgerliche Wilmersdorf, etwa zur Mannheimer Straße, wo man Liebknecht in der Wohnung verhaftete, in der er sich verborgen hielt, oder zum Heidelberger Platz, über den die geschlagenen Fronttruppen in Berlin einzogen, durch Straßen, die schwarz waren von Menschen, von Hochrufen begleitet und sich ihrer Niederlage und der gigantischen Verluste an Kameraden doch bewußt. Vor allem aber handelt es sich bei diesem Werk um ein Buch der Konversionen.
Damit meine ich nicht, daß es verfaßt wurde, als Döblin, der säkulare Jude, sich immer mehr dem katholischen Christentum annäherte, bis er sich schließlich am 30. November 1941 im kalifornischen Santa Monica taufen ließ. Die Zusammenhänge zwischen Autorenbiographie und innerer Logik des literarischen Werks sind nicht so simpel, als würde ein Autor von Döblins Format sein Werk einfach zum Sprachrohr einer vorgefaßten missionarischen Intention machen. Ganz unzulänglich und als Vorurteile aus dem Weg zu räumen sind auch die Vorstellungen, Döblin sei aus Schwäche, durch einen Zusammenbruch seiner Persönlichkeit, zum Christen geworden, wie man von Brecht bis Grass lesen kann, ebenso auch die Versuche, Döblin gewissermaßen der Gattung Renegatenliteratur einzugliedern, den Schriften ehemaliger revolutionärer Sozialisten, die an die Stelle ihrer politischen Utopie nun etwas anderes, z. B. ein verklärtes Jenseits stellen. Döblins »November 1918« enthält in einem seiner Stränge tatsächlich eine klassische Konversionserzählung, die des kriegstraumatisierten Offiziers und Berliner Gymnasiallehrers Friedrich Becker. Ich werde aber zu zeigen versuchen, daß Döblin auch den Krieg insgesamt ins Licht der Konversionsfragen rückt, weil er sich außer für alles Militärische, Politische und Ökonomische auch für die »psychiatrischen« Fragen der persönlichkeitsverändernden Wirkungen von Gewalterfahrung öffnet. Auch die Revolution wird neu beleuchtet, weil sie nicht nur als politisches Ereignis im Roman zum Gegenstand wird, sondern als etwas Imaginäres, als mythische Gestalt des Traums von einem neuen Menschen und einer neuen Welt. Nur durch diese Tiefe des Konversionsverständnisses wird auch der Mut nachvollziehbar, mit dem Döblin seine zweite individuelle Konversionsgeschichte in diesem Werk entfaltet, die der Rosa Luxemburg. Erst durch die Verknüpfung all dieser Stränge und weiterer entsteht eine Antwort auf die beiden Fragen, die Döblin in diesem Werk stellt und die ich durch die Doppeldeutigkeit der Präposition »durch« im Titel meines Aufsatzes ausdrücken will: Wie kann ein Mensch angesichts des Weltkriegs, dieser Bankrotterklärung des christlichen Europa, zum Christen werden, und wie kann ein Christ die Revolutionszeit als Christ durchleben? Wie hätte sich ein Christ zum Krieg und zur Revolution stellen sollen, wenn für ihn Christsein nicht konfessionelle Milieuzugehörigkeit mit entsprechendem Wahlverhalten bedeutet, sondern: das Evangelium. [...]
SINN UND FORM 6/2015, S. 784-799, hier S. 784-787
Grynberg, Henryk
Der Sieg. Mit einer Nachbemerkung
von Lothar Quinkenstein, S. 800
Dieckmann, Friedrich
Stunde Null im Erzgebirge.
Eine Kindheitserinnerung, S. 811
Ziebritzki, Henning
Vogelwerk. Gedichte, S. 827
Prammer, Theresia
Mönchsgrasmücken, Tamarisken,
Bekassinen. Der Dichter Giovanni Pascoli, S. 830
oci oci oci oci oci oci, fi fideli fideli fideli fi, ci cieriri ci ci cieriri, ci ri ciwigk cidiwigk fici fici. Oswald von (...)
Prammer, Theresia
MÖNCHSGRASMÜCKEN, TAMARISKEN, BEKASSINEN
Der Dichter Giovanni Pascoli
oci oci oci oci oci oci,
fi fideli fideli fideli fi,
ci cieriri ci ci cieriri,
ci ri ciwigk cidiwigk fici fici.
Oswald von Wolkenstein
chioccola il merlo, fischia il beccacino;
anch’io torno a cantare in mio latino.
es flötet die Amsel, die Schnepfe schlägt ein;
auch ich singe weiter in meinem Latein.
Giovanni Pascoli
Obwohl im deutschen Sprachraum bis heute kaum bekannt, war Giovanni Pascoli (1855 –1912) einer der großen Dichter des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Für Pier Paolo Pasolini, der ihm bereits in jungen Jahren ein Buch gewidmet hatte, stellte sein poetisches Denken und Wirken sogar die Grundlage der italienischen Gegenwartslyrik dar. Wie sein Lehrer, der Bologneser Universitätsprofessor Giosuè Carducci, verband Pascoli die Universitätslaufbahn mit der Berufung des Dichters. Sein Werk umfaßt Oden und Hymnen ebenso wie spirituell gefärbte Verse; die exaltierten Züge des Fin de siècle spiegeln sich darin und lassen doch Raum für das Privat-Alltägliche, Erlebte, »Nicht-zu-Erfindende« (Pascoli). Dem aulisch-rhetorischen Gestus D’Annunzios stand Pascoli trotz gegenseitiger Wertschätzung eher distanziert gegenüber; seine besten Dichtungen bleiben symbol- und bildverhaftet, mit suggestiven Ausrufen und fragmentarischen Einsprengseln direkter Rede.
Der Gegensatz zwischen urbaner, gesellschaftlicher Realität und ländlich-bäuerlicher Intimität bildet den Hintergrund seiner wichtigsten Gedichtbände »Myricae « und »Canti di Castelvecchio«. In ihnen verknüpft sich das Heimweh nach dem »Nest«, dem Hort vertrauter Räume und familiärer Zuneigungen, mit einer obsessiven und groß artigen Präzision im Hinblick auf Orte und Schauplätze, botanische und zoologische Kategorien und Begriffe.
Einen Gutteil seines Werks hat Pascoli seinem unbestrittenen Lebensthema, nämlich der individuellen und überindividuellen Erfahrungsdimension des Kindseins gewidmet. In dem vielbeachteten Essay »Das Knäblein. Poetik und Poesie« (»Il Fanciullino«) wendet er sich gegen alles Proklamatorische (das ihm in seinen patriotisch-politischen Gedichten allerdings selbst nicht fremd ist) und plädiert für die Aufwertung elementarer kindlicher Mythen und Erinnerungen. Diese erscheinen ihm universell und vermittelbar, sofern der Dichter sich nicht auf die Rolle des »Redners oder Predigers«, des Philosophen, »Historikers, Lehrers, Volkstribuns oder Demagogen, Staatsmanns oder Höflings« beschränkt, sondern seine Berufung zur Erziehung der Gefühle erkennt. Dabei steigern sich reale Erlebnisse mitunter zu wachtraumartigen Visionen. Die Ermordung des Vaters, die Pascoli mit knapp zwölf Jahren verwinden mußte, ist eines davon und findet in zahlreichen Gedichten ihren Niederschlag: Ruggero Pascoli, Verwalter des Landguts »La Torre«, fiel 1867 auf dem Heimweg von der nahen Stadt Cesena einem brutalen Anschlag zum Opfer. Die Hintergründe, ob politisches Komplott oder Begehrlichkeiten um den Posten des Vaters, wurden nie geklärt. Der Täter jedenfalls entging der Strafe; kollektives Schweigen, Banditentum und Verschleierung von Fakten hielten die Ermittlungen über Jahre auf. Die Familie mußte das Wohnhaus aufgeben und aufs Anwesen der Mutter nach San Mauro übersiedeln. Caterina Pascoli überlebte ihren Mann nur um wenige Monate, danach wurde, der Not gehorchend, auch ihr Elternhaus veräußert. Aufgrund eines Verdachts stellten die Brüder eigene Nachforschungen zur Identität des Mörders an; Morddrohungen und Repressalien waren die Folge. Weitere Todesfälle ereilten die Familie: Pascoli verlor kurz nacheinander zwei seiner Geschwister.
Die Wege der Hinterbliebenen trennten sich: Die Schwestern Ida und Maria wurden im Kloster von Sogliano am Rubikon ausgebildet, Pascoli begann seine Universitätslaufbahn und schloß sich der sozialistischen Bewegung seines Heimatlandes an. Von Schuldgefühlen geplagt, holte er die Schwestern später wieder zu sich, denen er bis zu seinem Lebensende in einer Art Schmerzensgemeinschaft verbunden blieb. Idas Heirat empfand Pascoli, der zum Wohl der Familie auf eine eigene Ehe verzichtet hatte, als Verrat. Dennoch unterstützte er sie und ihren Mann wie auch den unsteten Bruder Giacomo noch jahrelang.
Die überaus enge, einer Liebesbeziehung nicht unähnliche Bindung an die Schwestern hat Pascolis späte Jahre mehr als alles andere bestimmt und seine Exegeten zu ebenso wunderbaren wie wildwüchsigen Mutmaßungen beflügelt. (Cesare Garboli etwa prägte das merkwürdige Wort vom »lesbischen Pascoli«.) Dieser selbst interessierte sich mehr und mehr für das Unbewußte und brachte es zu beachtlichem psychologischen Tiefblick.
»Mögen sie um das alte Grab meiner jungen Mutter herum wachsen und blühen, diese herbstlichen myricae«, schreibt Pascoli im gleichnamigen, an Vergils »Bukolika« angelehnten Band. Die fein verästelten Tamarisken also werden aufgerufen, um dem Trauernden Trost zu spenden, erneuern aber auch die Trauer, indem sie symbolisch auf die Vergänglichkeit verweisen. Die wichtigsten poetischen Repräsentanten seiner Kindheitsorte sind in den »Myricae« wie den »Gesängen aus Castelvecchio« die Vögel des Apennin. Die Rufe der Nachtigallen und Buchfinken, Zeisige und Eichelhäher, Bekassinen und Mönchsgrasmücken haben es Pascoli angetan, nebst ihren Brutgewohnheiten, Flugstrecken und dem Farbenspiel ihres Gefieders. (Tierlaut und Vers sind im Italienischen übrigens ein und dasselbe Wort: verso.) Seine volksetymologischen Erkundungsgänge und Wechselgesänge von Mensch und Tier bringen eine Naturverbundenheit zum Ausdruck, die weit über eine bloße Evokation von Naturerscheinungen hinausgeht. Eine nicht selten pathetische und metaphorisch überhöhte Identifikation mit anderen Lebewesen kommt hier zum Tragen. Das belegen wiederkehrende Motive wie der Vergleich der verwaisten Familie mit einem verlassenen Schwalbennest oder das sentimentale Porträt der »grauen Stute«, die die Kutsche des Vaters zog und nach seiner Ermordung in den Zeugenstand berufen wurde, wo sie wiehernd sogar den Namen des Täters angedeutet haben soll. Eine solche Identifikation liegt schließlich auch der Analogie von dichterischer Sprache und Vogeljagd zugrunde: »In der Tat«, schreibt Pascoli, »gleicht der Schriftsteller oder Redner, der zwei Wörter für eine Idee verschwendet, dem Vogeljäger, der zwei Patronen auf ein Rotkehlchen verschießt und es dennoch nicht erwischt.« (»Anmerkung« zu den »Gesängen aus Castelvecchio«)
Wohl um frühere Versäumnisse zu kompensieren, kam es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter italienischen Kritikern zu einem regelrechten Wettstreit in der Pascoli-Auslegung. Cesare Garboli faszinierte die Mischung aus kosmischem Schwärmen und intimer Zartheit, Gian Luigi Beccaria interessierte vor allem Pascolis weitgehend auf Klangfarben, Tonwerte, Lautmalereien und Anagrammstrukturen gründende Poetik, die das Terrain der »bekannten Sprache« und die »verbindliche Tradition hoher und ›nachahmenswürdiger‹ Beispiele« hinter sich lasse – zugunsten einer noch unbekannten oder untergegangenen Sprache, »die auf dem Grunde der bekannten gesucht« werden müsse.
Auch als Verfasser neulateinischer Gedichte erlangte Pascoli eine außergewöhnliche Meisterschaft: dreizehnmal gewann er den Amsterdamer Preis für lateinische Poesie. In seinen »Gedanken zum Schulwesen« polemisiert er gegen den Vorschlag, den Griechischunterricht abzuschaffen, und kommt zu dem Schluß: »Die Sprache der Dichter ist immer eine tote Sprache«. Doch fügt er gleich hinzu: »Sonderbare Aussage: eine tote Sprache, verwendet, um dem Denken größere Lebendigkeit zu verleihen.« Hier spricht Pascoli in eigener Sache; die Werke der Klassiker sind für ihn »kleine Lämpchen, die auch im Grab weiter zu leuchten vermögen«. In der Spannung zwischen individuellem Erinnern und emotionalem Gehalt überlieferter Begriffe bereichern und erneuern sie die Sprache und ermöglichen es dem Dichter, der an sie anknüpft, in andere Rollen zu schlüpfen. So wählt Pascoli seinen Standpunkt in der Vergangenheit, um Gegenwart und Zukunft träumerisch Gestalt zu geben – eine bewährte Strategie im Umgang mit Verlusterfahrungen (Traum steht gegen Trauma).
SINN UND FORM 6/2015, S. 830-840, hier S. 830-833
Pascoli, Giovanni
Drachensteigen. Gedichte, S. 835
Hartung, Harald
Provisorische Schlüsse, S. 841
Zagajewski, Adam
Romanlektüre in der Pension »Zuflucht«.
Dankrede zum Heinrich-Mann-Preis, S. 851
Lawrence, D.H.
Apropos Lady Chatterleys Liebhaber, S. 855