
[€ 9.00] ISBN 978-3-943297-18-8
Heft 4/2014 enthält:
Knauf, Erich
Der unbekannte Zille. Mit einer Nachbemerkung von Wolfang Eckert, S. 437
In der ersten Schwarz-Weiß-Ausstellung der Berliner Sezession 1901 war Zille mit einigen seiner besten Arbeiten vertreten. Er war damals noch im (...)
Knauf, Erich
DER UNBEKANNTE ZILLE
In der ersten Schwarz-Weiß-Ausstellung der Berliner Sezession 1901 war Zille mit einigen seiner besten Arbeiten vertreten. Er war damals noch im graphischen Gewerbe beschäftigt, Kunst war für ihn kein Broterwerb. Das Honorar, das der »Simplicissimus« und die »Jugend« – die ersten Zeitschriften, die ihn erkannten und schätzten – zahlten, wurde von Zille gern mitgenommen, denn seine »außerdienstliche« Tätigkeit hatte sich bis dahin im Haushaltsplan der Familie nur als Ausgabenposten bemerkbar gemacht.
Die Ausstellung wurde sehr beachtet. Viele, die sonst kaum in eine Bilderausstellung zu bringen waren, wurden von den Zillebildern und der öffentlichen Diskussion, die um diese Blätter entstanden war, angezogen. Das Aufsehen war so groß, daß unter den Mitausstellern neidische Gruppen entstanden, die sich gegen das Eindringliche und seine Lithographenarbeiten auflehnten. Vorher war ihnen der Zille als ulkiger Kauz erschienen, dem man stundenlang zuhören konnte, wenn er beim Bier in seiner ungeschminkten Weise von der Welt der armen Leute erzählte, die den meisten ja so fremd war wie ein ferner Planet. Jetzt aber fiel ihnen plötzlich ein, daß Zille und seine Zeichnungen »nichts mit Kunst zu tun« hatten. Sie besannen sich wieder auf ihre »reinen Grundsätze«, und sie sorgten dafür, daß der entrüstete Ausspruch eines älteren Herrn, der sich mit Schaudern von den Zille-Bildern abgewandt hatte, kolportiert wurde: »Der Kerl nimmt einem ja die ganze Lebensfreude!« Es war nicht schwer, einen solchen Ausspruch zu einem geflügelten Wort zu machen, galt doch bis weit hinein in die Kreise Linksstehender die Ansicht, Kunst habe nicht das Häßliche und Kranke darzustellen, sondern das Bedürfnis nach festlichem Lichterglanz zu erfüllen!
Max Liebermann war es, der sich lebhaft für Zille eingesetzt hatte. In einem Vorwort, das er später zu einem Zille-Buch des Carl-Reissner-Verlages, Dresden, schrieb, hat Liebermann sein Interesse für die Kunst Zilles mit ausgezeichneten Worten begründet. Gescheiter als hundert Maler seiner Zeit, ein Bahnbrecher nicht nur im Formal-Ästhetischen, erkannte Liebermann in Zille den Meister, einen Meister ganz im Sinne jener großen Kunstepochen, in denen die Künstler aus dem Handwerk hervorgingen und ihr Schaffen in einer stetigen Übereinstimmung mit dem Dasein und Empfinden des Volkes steigerten – oft über sich selbst und ihren handwerklichen Horizont hinaus. »Sie sind viel mehr als ein Humorist«, schrieb Liebermann an Zille, »Sie haben Humor«. Ein Wort, das charakteristisch für Max Liebermann ist, das eben nicht nur durch geistvolle Formulierungen überrascht, sondern das auch das Wesen Heinrich Zilles mit einem sicheren Strich umreißt, ein Porträt in einem Zuge.
Auch die zwei anderen Größen der Sezession, Lovis Corinth und Max Slevogt, waren mit Zille befreundet. Edvard Munch und Strindberg, Richard Dehmel, die Bildhauer Gaul und Krauss – Dichter, Maler, Kunsthändler, es war eine lebendige Gesellschaft, in die Zille hineingeraten war. Bei den meisten kam die Berühmtheit erst später, und der Mangel an Mammon sorgte für eine gewisse Gleichheit. Wer etwas im Portemonnaie hatte, wurde zum Futtermeister. Es waren schöne kameradschaftliche Zeiten, erregende und anregende Stunden, die unwiederbringlich dahin sind. Die Epoche der motorisierten Empfindungen hat sie überfahren und totgequetscht.
Eine Erinnerung aus diesen Tagen ist erhalten geblieben, in Marmor verewigt. Der Bildhauer Krauss hat sich den Spaß geleistet, seinen Bierfreund Zille als Modell für die Büste des Edlen Wedigo von Plotho zu nehmen, und so geschah es, daß der an allerhöchster Stelle dreimal verfemte Zille einen Ehrenplatz unter den Hohenzollern und ihren treuen Bannerträgern bekam, in der marmornen Ahnengalerie der Siegesallee im Tiergarten zu Berlin.
Dieser Ulk kennzeichnet den Zillekreis von damals. Die Leute hatten, was heute so rar ist, Humor. Und Humor ist oft, eben weil die anderen so vernagelt und darauf auch noch stolz sind, gleichzusetzen mit Rebellentum.
Zille hätte nicht in diese toll gemischte Kolonne gepaßt, wenn er ein Banause gewesen wäre, der sich etwas auf diesen »Umgang« eingebildet hätte. Er kam sich wahrhaftig nicht als Künstler vor, nicht einmal als einer, der sich in dem Glanz sonnen darf, den andere verbreiten. Zille blieb Lithograph, Arbeiter.
Die dreißig besten Jahre seines Lebens brachte er bei der Lithographischen Gesellschaft zu. Tag für Tag gab er seine Arbeitskraft voll her – für eine Tätigkeit, die auch im besten Falle doch eben nur reproduktiver Natur war. Die Firma hatte erst ihre Werkstatt am Dönhoffplatz, im Zentrum Berlins, gegenüber dem alten Abgeordnetenhaus. Von seinem Fensterplatz aus konnte Zille auf das bunte Marktleben herunterblicken. Die Geflügelstände, die Blumenverkäuferinnen und die Gemüseweiber, das lebhafte Kommen und Gehen der Käuferinnen und die herumstehenden Arbeitslosen interessierten ihn mehr als die Herren Minister und Abgeordneten, die – meist in großer Aufmachung – vor dem Parlament vorfuhren und sich und andere glauben machen wollten, daß sie tatsächlich die politischen Geschicke ihres Volkes leiteten. Zille nahm diese Art von Politik nie sehr ernst. Er sah nur allzu deutlich, wohin der Karren rollte. Auch später, als neue und größere Parlamentshäuser gebaut worden waren, als das Parteiengemisch bunter und die Reden hitziger wurden, blieb Zille bei seiner ironischen Skepsis politischen Dingen gegenüber. Ob Bismarck ging oder »gegangen wurde«, ob der junge Kaiser die militärische Rüstung Deutschlands bis zur akuten Kriegsgefahr steigerte, ob die radikale oder gemäßigte Richtung in der Arbeiterbewegung zum Durchbruch kam – Zille hielt auf einen gewissen Abstand, der es ihm freilich auch ermöglichte, leidenschaftslos und auf gute Sicht gestützt, den Ereignissen bis auf den Grund zu sehen. Was ihn vor allem interessierte, waren die Ergebnisse der Politik, die Wirkung auf die Menschen, und da mußte er zu der Feststellung kommen, daß der fünfte Stand, also sein Bezirk, nicht berührt wurde, was auch geschehen mochte. Der politisch aktive Arbeiter blieb stets außerhalb von Zilles Gesichtsfeld. Zille übersah ihn, weil er sich selbst nicht zur politischen Aktivität aufschwingen konnte. Er hatte darin durchaus die Wesenszüge des deutschen Kleinbürgers erkannt, der aus der Politik ausgeschaltet war und erst drei Jahrzehnte später noch einmal den letzten Versuch machte, ein Wort in politischen Machtfragen mitzureden.
Bei der Photographischen Gesellschaft wurden besonders die Reproduktionen großer Kunstwerke hergestellt. Die Paradestücke der Gemäldegalerien kamen in verhältnismäßig originalgetreuen und billigen Wiedergaben »ins Volk«. Heute sind diese Reproduktionen natürlich längst als veraltet beiseite geschoben, aber damals verlangte die photographische Vervielfältigung eine große handwerkliche Geschicklichkeit und ein feines Gefühl für das »gewisse Etwas«, das keiner erlernen kann, wenn er es im Keime nicht bereits mitbringt. Zille konnte hier sein Können einsetzen. Die Inhaber der Photographischen Gesellschaft schätzten ihn als tüchtige Kraft. Das schloß aber nicht aus, daß sie sich über seine Beschäftigung nach Feierabend äußerten: Er hätte es doch nicht nötig, bis in die Nacht hinein noch für sich zu arbeiten, er hätte doch sein Brot. Es gefiel ihnen wohl nicht, daß einer ihrer Arbeiter mit Zeichnungen hervortrat, in Zeitschriften, deren Mitarbeiter wegen Gotteslästerung und Majestätsbeleidigung auf der Anklagebank saßen.
Zille ließ sich aber nicht abhalten, seine künstlerischen Arbeiten fortzusetzen. Er sah, wie die Inhaber der Firma Villenbesitzer wurden in Charlottenburg, wohin auch die Werkstatt verlegt wurde, durch Grundstücksspekulationen mehr verdienten als ein begabter Arbeiter. Und dann mußte er daran denken, daß die Angestellten immer noch auf die bescheidenen Eigenhäuser warteten, die ihnen versprochen worden waren. Zille erlebte die Erfüllung dieser Träume nicht mehr, er wurde gekündigt. Der Schlag traf ihn unerwartet und hart. Von seinen Zeichnungen für Witzblätter hielt er wenig. Davon konnte er nach seiner Meinung nicht leben. Würde es ihm gelingen, wieder eine Arbeitsstelle zu finden? Ein Arbeiter über Fünfundvierzig ist schon zu alt. Die jüngeren Kräfte stoßen nach, wollen auch »mal ran«, und sie haben Chancen, denn sie sind billiger. Ein Achtzigjähriger ist das ideale Aufsichtsratsmitglied, aber ein fünfzigjähriger Arbeiter gehört auf den Schuttabladeplatz.
»Zwei Tage lang lag ich auf der alten Pritsche und stierte die Stubendecke an. Was nun?«
Seiner Frau wagte er es gar nicht zu erzählen, daß er die Kündigung in der Tasche hatte, das Freibillet ins graue Nichts.
Dazu hatte er sich nun abgerackert und geplagt! Er mußte an die Arbeitslosen denken, die auf den Straßen und Plätzen herumstanden und von jedem Schutzmann schief angesehen wurden, an die Arbeitslosen, die Unter den Linden und in den Anlagen auf den Bänken nächtigten, bis sie der Frost jagte oder die »Polente« kam und die Schläfer kopfüber von den Bänken warf.
Die Gesellschaft müsse sich umstellen, hatte der Prokurist zu ihm gesagt, als er die Kündigung ausgesprochen hatte. Eine solche Umstellung fängt eben stets bei den Arbeitern an. Wie, wenn sich nun die Arbeiter einmal umstellten, was dann? Aber damit hat es noch lange Weile. Die Kollegen waren froh, daß die Kündigung nicht sie betroffen hatte. Es war ihnen unbehaglich gewesen, als der eine seinen Werkplatz verlassen mußte.
»Kann dir die Hand nicht geben, derweil ich eben lad’« – das ist die alte Geschichte. Solange sich jeder selbst der Nächste ist, wird das auch immer so sein. Und Zille konnte sich von dieser Schuld nicht freisprechen.
Wie hieß doch der Kollege, der in seiner Verzweiflung Zyankali nehmen wollte? In einem Loch von Kellerwohnung hauste er. Die Rente war zum Leben zu wenig, zum Sterben zuviel. Kopf hoch, Junge! Aber wer draußen steht, hat ja immer gut reden; hier drinnen, wo das alte Herz so einsam und wie von ferne pocht, ist jeder Mensch allein. Es gibt keine größere Einsamkeit als die Arbeitslosigkeit.
Die Hand hatte ihm der Prokurist zum Abschied geben wollen! Aber da hatte Zille seine Hände angesehen, er hatte sie der Gewohnheit folgend schon hinreichen wollen, seine Hände hatte er angeschaut, mit denen er gearbeitet hatte, seit er sie gebrauchen konnte, und dreißig Jahre davon für die Leute, die ihn jetzt aufs Pflaster setzten! Er hatte dann seine Hände auf dem Rücken verschränkt und dem Prokuristen gesagt: »Nee, sie sind dreckig«. Und der hatte sich nun sein Teil denken können. […]
SINN UND FORM 4/2014 S. 437-463, hier S. 437-440
Zagajewski, Adam
Geh durch diese Stadt in einer grauen Stunde. Gedichte, S. 464
Schock, Ralph
»Die Spuren des Lebens der Armen
verschwinden«. Ein Gespräch mit Gert Heidenreich
über »Die andere Heimat«, S. 470
RALPH SCHOCK: Ihre Erzählung »Die andere Heimat« hat eine Menge mit dem gleichnamigen Film von Edgar Reitz und Ihnen zu tun, denn Sie sind (...)
Schock, Ralph
»DIE SPUREN DES LEBENS DER ARMEN VERSCHWINDEN»
Ein Gespräch mit Gert Heidenreich über »Die andere Heimat»
RALPH SCHOCK: Ihre Erzählung »Die andere Heimat« hat eine Menge mit dem gleichnamigen Film von Edgar Reitz und Ihnen zu tun, denn Sie sind auch der Koautor des Drehbuchs. Wie kam es zu dieser Kooperation?
GERT HEIDENREICH: Edgar Reitz hatte seit vielen Jahren die Idee, sich mit der Auswanderung aus dem Hunsrück in der Mitte des 19. Jahrhunderts, vorwiegend nach Brasilien, zu beschäftigen. Zum einen, weil auch Vorfahren von ihm ausgewandert waren, deren Nachkommen noch in Südamerika leben, zum anderen, weil sich Edgars verstorbener jüngerer Bruder Guido als eine Art linguistischer Privatgelehrter mit indigenen Sprachen beschäftigt hat. 2009 fragte Edgar Reitz mich, ob ich mir vorstellen könnte, mit ihm einen solchen Film zu erarbeiten und gemeinsam das Drehbuch zu schreiben. Wir kannten uns zwar schon ein bißchen, hatten aber noch nie etwas zusammen gemacht. Ich hatte noch nie ein Spielfilm-Drehbuch geschrieben, bloß einige Theaterstücke fürs Fernsehen bearbeitet, aber das ist ja etwas ganz anderes. Und er hatte wohl aufgrund meiner Romane, von denen er einige gelesen hatte, den Eindruck, mit mir könnte es gehen. Er braucht für die Fiktionalisierung eines Stoffs, eines Materials immer einen Partner, im Gespräch entwickelt er die besten Ideen. So kam es dazu, daß er mich fragte, und ich sagte erst einmal: »Ich habe keine Ahnung, ob ich das kann.« Aber ich wolle mir gern von ihm sagen lassen, wie er sich das denke, was er schon geplant und vorbereitet habe, und dann sind wir ein paar Tage im Hunsrück spazierengegangen. Während er dabei erzählte, was für Geschichten er sich ausgedacht hatte, merkte ich, daß auch bei mir sofort Bilder und Ideen für eine Handlung entstanden. Das ging dann so hin und her. Es war sehr merkwürdig, eine Art gemeinsames Phantasieren. Danach haben wir beide gesagt: Ja, wir versuchen es.
SCHOCK: Was stand zu Beginn der Zusammenarbeit fest? Was war vorgegeben? Der Schauplatz offenbar, der Hunsrück. Kannten Sie den? Edgar Reitz sagt, durch die Region sei es für ihn ein persönlicher Stoff. War er das auch für Sie?
HEIDENREICH: Er ist dort geboren, von dort geflohen und wieder dorthin zurückgekehrt. Für mich war das eine fremde Gegend. Ich bin zwar ab und zu durch den Hunsrück gefahren, aber mit seiner Geschichte, mit den Menschen, habe ich mich eigentlich nur mittels der Filme von Edgar Reitz beschäftigt, vor allen Dingen »Heimat 1« und »Heimat 3«. Die kannte ich sehr gut. In »Heimat 2« hat mein Stiefsohn Michael Seyfried eine größere Rolle gespielt. Diese Zyklen haben mich vor allem filmisch interessiert, weil der Autorenfilmer Reitz einen ungemein genauen psychologischen Zugriff auf die Figuren hat, und das fasziniert einen als Romancier. Vieles von dem, was er über den Hunsrück Mitte des 19. Jahrhunderts recherchiert hatte, mußte er mir erst mal vermitteln. Als wir anfingen, gab es ein Treatment, in dem schon die beiden Brüder vorkamen – ein Bodenständiger und ein Träumer, der unbedingt auswandern will und sich schon fast als Indianer fühlt –, aber es gab im Grunde noch keine Handlung. Dann haben wir uns erst einmal an die Recherchen gemacht – eine große Schwierigkeit, wenn es um arme Menschen geht. Der Reichtum bleibt, die Paläste des Adels stehen noch; es gibt eine Fülle von Dokumenten, ganze Adelsregister, mitunter sogar Biographien, so daß man sich das Leben der Reichen relativ leicht erschließen kann. Es ist auch leicht, Reichtum im Film zu zeigen: Sie brauchen nur ein Schloß, ein paar Kerzenständer, ein schönes Buffet, ein paar Kostüme und Musik, und schon haben Sie einen Ball. Die Spuren des Lebens der Armen verschwinden, ihre Welt muß von Grund auf rekonstruiert werden. Deshalb ist es teuer, Armut zu drehen, und billig, Reichtum zu drehen. Auch beim Recherchieren ist der Aufwand viel größer. Das war uns von Anfang an klar, aber wir haben großes Glück gehabt.
SCHOCK: In welcher Hinsicht?
HEIDENREICH: Um das zu erklären, muß ich kurz auf die historische Situation eingehen: Die angrenzende Pfalz, wo die Lebensumstände ganz ähnlich waren, kam nach dem Ende der napoleonischen Besetzung zu Bayern, während der Hunsrück preußisch wurde. Aber die Preußen kümmerten sich so gut wie gar nicht um die Gegend. Sie machten allerlei Auflagen und verhängten drakonische Strafen für den sogenannten Waldfrevel, also wenn die armen Leute Holz holten, aber kümmerten sich nicht um ihr Leben und ihre Lage. Der bayrische König Max dagegen wollte, aus welchen Gründen auch immer, genau wissen, wie es seinen Untertanen in der Pfalz ging, und stellte zu diesem Zweck sogenannte Kantonsärzte ein. Das waren Beamte des Münchner Hofs, die in verschiedenen Regionen oder Kantonen der Pfalz lebten und jedes Jahr einen umfangreichen Fragenkatalog durcharbeiten mußten. Über fast alles wurde Buch geführt, nicht nur über Geburten und Todesfälle, sondern auch darüber, wie die Menschen lebten, wie ihre Betten aussahen, wie viele Personen darin schliefen, welche Rolle Sexualität vor und in der Ehe spielte, wie es um die Wasserversorgung, um Heilkräuter und den Aberglauben bestellt war. All diese Informationen waren jährlich abzuliefern, wofür die Ärzte umfängliche Recherchen auf sich nehmen mußten. Für sie war das schlimmer als für uns heutzutage die Steuererklärung, doch für uns ist es ein Glück, denn ihre Berichte sind erhalten. Sie liegen im Landesarchiv in Ludwigshafen und sind wegen ihrer kalligraphischen Schrift gut lesbar. Hoch lebe König Max, der es uns ermöglicht hat, diese Verhältnisse, die man im wesentlichen auf den Hunsrück übertragen kann, so genau zu studieren! Das war wirklich eine große Erleichterung.
SCHOCK: Wurden diese Berichte von der Geschichtsforschung bisher gar nicht aufgearbeitet?
HEIDENREICH: Das schon, es sind ja auch zwei oder drei Bände transkribiert und mit Anmerkungen versehen worden, und man weiß sogar, wo die Kantonsärzte geschwindelt oder es sich leichtgemacht haben. Aber wir wollten die Quellen selbst konsultieren und haben, gerade im Hinblick auf Alltagssituationen oder den Aberglauben, auch sehr davon profitiert. Dann kam irgendwann der Punkt, an dem wir die Figuren gestalten mußten, Edgar Reitz nennt das die Fiktionalisierung des Materials. Da sagte er den für mich überraschenden Satz: »Denk jetzt mal nicht ans Drehbuch, sondern tu das, was du kannst, schreib eine Erzählung.«
SCHOCK: Wann war das ungefähr? Wie lange hatten Sie sich schon darüber unterhalten?
HEIDENREICH: Das war nach sechs, sieben Wochen Arbeit. In dieser Zeit haben wir natürlich auch schon über die Figuren phantasiert. Wie das beim Schreiben so geht, ergaben sich in der Erzählung neue Konstellationen zwischen den Figuren und den Geschichten. Bevor ich anfing, habe ich vor allen Dingen Namensrecherchen betrieben. In der Prosa wie auch im Film ist es ja ungeheuer wichtig, daß die Namen zu den Figuren passen. Heutzutage gibt es im Internet die wunderbare Möglichkeit, die Häufigkeit von Vor- und Nachnamen in einer Region zu einer bestimmten Zeit festzustellen. So konnte ich Namen finden, die damals im Hunsrück gebräuchlich waren, und brauchte nur ein bißchen Intuition, um die Vor- und Nachnamen zu verkoppeln. Auf diese Weise entsteht schon etwas von dem, was wir Authentizität nennen. Wenn eine Figur einen Namen trägt, bekommt sie ein Gesicht und wenig später auch ein Schicksal. Damit habe ich begonnen und dann in drei Monaten die ganze Erzählung geschrieben – es sind bloß 130 Seiten –, und das war der Stand der Dinge, als wir mit dem Drehbuch begannen. Edgar Reitz sagte zu Recht: »Jetzt sind wir im Bereich der Fiktion, jetzt müssen wir noch einmal bei Null anfangen, denn das Drehbuch zu schreiben ist etwas völlig anderes, als die Erzählung zu schreiben.« Ich kann auch gerne darlegen, warum das so ist: Ich schreibe meine Romane und Erzählungen so, wie es meist bei zeitgenössischer Prosa der Fall ist, nämlich mit Vor- und Rückblenden, Assoziationen und Erinnerungen. Meine Erzählung »Die andere Heimat« ist im Prinzip eine komplette Rückblende, ausgehend vom Tag des Abschieds der Auswanderer, der vom Vormittag bis zum Nachmittag geschildert wird. In dieser Spanne sind sämtliche Erinnerungen, Erlebnisse und Wandlungen der Figuren enthalten. Das wollte Edgar Reitz auf keinen Fall. Er wollte keine Rückblenden. Ich habe das zuerst nicht verstanden, weil es das ja auch im Film gibt – ich habe dreizehn Jahre als Filmkritiker gearbeitet und kenne mich ganz gut aus. Aber er meinte, Rückblenden seien ein intellektuelles Stilmittel, und wir hätten es hier mit einem archaischen Stoff zu tun, mit armen Menschen, die ums Überleben kämpfen. Archaische Geschichten werden, wie man an den großen Epen der Menschheit sehen kann, immer linear erzählt. Deswegen wollte er, daß auch der Film linear erzählt. In dieser Hinsicht war die Erzählung unverfilmbar. Wir brauchten also einen Punkt, wo die Geschichte beginnen konnte, und es war klar, daß die Hauptfigur Jacob, der Träumer, schon in der ersten Szene in einer typischen Situation auftreten mußte. Deshalb beginnt der Film damit, daß der Vater, ein Feind des Lesens, erst das Buch und dann den Sohn hinausschmeißt.
[…]
SINN UND FORM, 4/2014 S. 470-479, hier S. 470-473
Stevenson, Robert Louis
Henry David Thoreau.
Sein Charakter und seine Überzeugungen, S. 480
I Thoreaus schmales eindringliches Gesicht mit der großen Nase deutet selbst in einem schlechten Holzschnitt noch auf seine geistigen und (...)
Stevenson, Robert Louis
HENRY DAVID THOREAU
Sein Charakter und seine Überzeugungen
I
Thoreaus schmales eindringliches Gesicht mit der großen Nase deutet selbst in einem schlechten Holzschnitt noch auf seine geistigen und charakterlichen Grenzen hin. Sein schier beißend scharfer Verstand, seine schier animalische Geschicklichkeit gingen nicht mit der großen, unbewußten Herzlichkeit der Welthelden einher. Er war nicht ungezwungen, nicht großzügig, nicht weltgewandt, nicht einmal freundlich; seine Freude lächelte kaum, oder das Lächeln war nicht breit genug, um zu überzeugen; in seinem Wesen gab es weder Brachen noch prähistorische Küchenabfälle, aber alles war bis zu einem gewissen Grade verfeinert und geschärft. »Er war für keinen Beruf ausgebildet«, sagte Emerson; »er heiratete nie; lebte allein, ging nicht zur Kirche, wählte nicht, weigerte sich, dem Staat Steuern zu zahlen; er aß kein Fleisch, trank keinen Wein, rauchte nie Tabak; und wiewohl Naturkenner, benutzte er weder Falle noch Gewehr. Bei Tisch gefragt, welche Speise er wünsche, erwiderte er, ›was am nächsten steht‹.« So viele negative Vorzüge geraten leicht in den Ruch von Dünkel. Aus seinen Spätwerken tilgte er die lustigen Stellen, in der Meinung, sie seien unter der Würde seiner moralischen Denkungsart; und da sehen wir den Dünkling stehen, öffentlich und offenbart. Es war, bemerkt Emerson scharfsinnig, »viel leichter« für Thoreau, nein statt ja zu sagen; und dieser Charakterzug beschreibt den Mann. Es ist nützlich, nein sagen zu können, doch das Wesen der Liebenswürdigkeit besteht sicherlich darin, ja zu sagen, wann immer es möglich ist. Einem Menschen, der sich nicht selbst verabscheut, wenn er genötigt ist, nein zu sagen, fehlt etwas. Und diesem geborenen Dissidenten fehlte viel. Er hatte geradezu erschreckend wenige Fehler; er hatte nicht genügend viele, um dem Menschlichen völlig entgegengesetzt zu sein; ob man ihn Halbgott oder Halbmensch nennt, er war gewiß keiner von uns, denn er hatte nicht das geringste Gefühl für unsere Schwächen. Die Helden der Welt haben im geräumigen Theater ihrer Naturanlagen Platz für alle positiven Eigenschaften, sogar für solche, die ehrenrührig sind. Sie können viele Leben leben; während ein Thoreau bloß eins leben kann, und auch dieses nur mit ständigem Vorbedacht.
Er war kein Asket, eher ein Epikureer der vornehmeren Art; und er hatte dieses eine große Verdienst, daß er insofern Erfolg hatte, als er glücklich war. »Ich liebe mein Schicksal zuinnerst und zuäußerst«, schrieb er einmal; und sogar, als er im Sterben lag, hier das, was er diktierte (denn offenbar war er schon zu schwach, um die Feder zu führen): »Sie fragen besonders nach meinem Befinden. Ich vermute, daß ich nicht mehr viele Monate zu leben habe, aber natürlich weiß ich darüber nichts. Ich darf sagen, daß ich das Dasein wie eh und je genieße und nichts bedauere.« Nicht jedem ist es vergönnt, die Süße seines Schicksals so klar zu bezeugen, und auch keinem ohne Mut und Klugheit; denn diese Welt ist nur ein jammervoller, unwohnlicher Ort, und dauerhaftes Glück, zumindest für den Selbstbewußten, kommt nur von innen. Nun war Thoreaus Zufriedenheit und Lebensbegeisterung sozusagen eine von ihm mit weiblicher Fürsorglichkeit gegossene und gepflegte Pflanze; denn ein Leben, das ohne Schwung und Freiheit verläuft und vor der kraftspendenden Berührung mit der Welt zurückscheut, hat leicht etwas Unmännliches, fast Memmisches. Mit einem Wort: Thoreau kniff. Er wollte nicht, daß ihm unter seinen Mitmenschen die Tugend abhanden kam, und verdrückte sich in eine Ecke, um sie für sich zu horten. Um ein paar tugendhafter Schwelgereien willen gab er alles auf. Er hatte wahrlich noble Neigungen; seine herrschende Leidenschaft war, von der Welt unentdeckt zu bleiben; und daß all seine Hochgenüsse von derselben gesunden Ordnung waren wie kalte Bäder und frühes Aufstehen. Doch der Mensch kann beim Streben nach Güte auch kalt-grausam und beim Streben nach Gesundheit sogar krankhaft sein. Ich finde jetzt nicht die Stelle, wo er seine Kaffee- und Teeabstinenz erläutert, aber ich glaube, den Inhalt hinzubekommen. Dies ist er: Er hielt es für unökonomisch und eines wahren Empiristen für unwürdig, das natürliche morgendliche Entzücken durch derart schmutzige Genüsse zu verderben; man lasse ihn nur den Sonnenaufgang sehen, und schon sei er auf die Mühen des Tages hinlänglich eingestimmt. Das mag ein guter Grund sein, sich des Tees zu enthalten; aber wenn wir feststellen, daß derselbe Mensch, aus denselben oder ähnlichen Gründen, sich beinahe all der Dinge enthält, die seine Nachbarn unschuldig und vergnügt benutzen, und dazu auch der Schwierigkeiten und Prüfungen der menschlichen Gesellschaft, erkennen wir jene hypochondrische Gesundheit, die heikler als Krankheit ist. Ein Zustand künstlicher Ertüchtigung verdient nicht unsere Achtung. Shakespeare, dürfen wir uns vorstellen, konnte seinen Tag mit einem Krug Bier beginnen und doch den Sonnenaufgang wie Thoreau genießen und diesen Genuß in weitaus besseren Versen feiern. Wer sich, um glücklich zu sein, von den Gepflogenheiten seiner Nachbarn trennen muß, ist in vielem derselbe Fall wie einer, der dazu Opium braucht. Wir aber wollen einen sehen, der kühn in die Welt hinauszieht, ein Mannestagewerk verrichtet und sich dennoch seine ursprüngliche, reine Daseinsfreude bewahrt.
Thoreaus Fähigkeiten paßten zu seiner moralischen Schüchternheit; denn es waren samt und sonders Feinfühligkeiten. Er fand sich in finsterster Nacht vermöge seines Fußtastsinns im Wald zurecht, er konnte Strecken durch Abschreiten exakt abmessen und Rauminhalte mit dem Auge schätzen. Sein Geruchssinn war so fein, daß er die Ausdünstungen der Wohnhäuser wahrnahm, die er nachts passierte; sein Gaumen war so unverbildet, daß er, gleich einem Kinde, den Geschmack von Wein als widerlich empfand – oder, da in Amerika zu Hause, vielleicht nie etwas Gutes gekostet hatte; und sein Naturwissen war so vollkommen und seltsam, daß er anhand der Pflanzen das Datum des Jahres fast auf den Tag genau bestimmen konnte. Im Umgang mit Tieren war er das Urbild von Hawthornes Donatello. Das Waldmurmeltier zog er am Schwanz aus seinem Bau; der Fuchs suchte Schutz bei ihm; in seine Weste schmiegten sich wilde Eichhörnchen, wie man gesehen haben wollte; er steckte den Arm in einen Teich und holte einen glänzenden, nach Luft schnappenden Fisch heraus, der unerschrocken auf seiner flachen Hand lag. Es gab nicht viel, was er nicht konnte. Er baute ein Haus, ein Boot, machte Bleistifte und Bücher. Er war Vermesser, Gelehrter, Naturgeschichtler. Er konnte laufen, wandern, klettern, Schlittschuh laufen, schwimmen, Boote lenken. Der geringste Anlaß genügte ihm, seine Körpertüchtigkeit hervorzukehren; und ein Fabrikant, der bloß sein geschicktes Hantieren an einem Waggonfenster sah, offerierte ihm sofort eine Stellung. »Der einzige Gewinn vielen Lebens«, bemerkt er, »ist die Fähigkeit, Unwichtiges besser zu machen.« Doch seine Sinne waren derart genau, er war in allen seinen Fasern derart lebendig, daß diese Maxime für ihn anscheinend geändert werden mußte, denn er machte das meiste mit seltener Vollendung. Und vielleicht betrachtete er sich selbst mit Wohlgefallen, als er schrieb: »Obwohl die Jungen letztlich gleichgültig werden, sind die Gesetze des Universums nicht gleichgültig, sondern stets auf der Seite des Empfindsamsten.« […]
SINN UND FORM 4/2014 S. 480-500, hier S. 480-482
Grünzweig, Dorothea
Schwimmen am Steg. Gedichte, S. 501
Winkler, Katharina
Das Dorf der blauen Frauen, S. 504
Stepanowa, Maria
Gesang unter Wasser. Gedichte, S. 518
Gülke, Peter
Schostakowitsch, S. 520
Różycki, Tomasz
Sankt Petersburg, S. 526
Henneberg, Nicole
Sankt Petersburg und Berlin.
Katharina Wagenbach-Wolff und die Friedenauer Presse, S. 532
Literarische Leidenschaften und spektakuläre Entdeckungen prägen das Leben von Katharina Wagenbach-Wolff, in deren Biographie sich das zwanzigste (...)
Henneberg, Nicole
ST. PETERSBURG UND BERLIN
Katharina Wagenbach-Wolff und die Friedenauer Presse
Literarische Leidenschaften und spektakuläre Entdeckungen prägen das Leben von Katharina Wagenbach-Wolff, in deren Biographie sich das zwanzigste Jahrhundert spiegelt: Ihre Großeltern erlebten den industriellen Aufschwung im Rußland der Jahrhundertwende, wurden nach der Oktoberrevolution enteignet und gingen nach Deutschland ins Exil – ihr Vater war damals fünfzehn Jahre alt. Sie selbst überstand den Bombenkrieg in Berlin und erfuhr später, als Buchhandels- und Verlagslehrling in Frankfurt, den Neubeginn der fünfziger Jahre. Zurück in Berlin, geriet sie mit ihrem damaligen Mann Klaus Wagenbach ins Zentrum der 68er Bewegung, lernte Ulrike Meinhof kennen und erlebte hautnah den politischen Sog der Roten-Armee-Fraktion. Sie lächelt, wenn man sie auf eine ihrer typischen Eigenschaften anspricht: ihren Eigensinn. 2014 feiert sie ihren fünfundachtzigsten Geburtstag, aber an Ruhestand denkt sie nicht. Die weitläufige, mit geerbten Antiquitäten eingerichtete Berliner Altbauwohnung in der Carmerstraße ist zugleich Sitz ihres Verlags, der Friedenauer Presse – auch diese räumliche Einheit hat, wie alles in ihrem Leben, Tradition. Es sind besondere Bücher, die hier entstehen, Gesamtkunstwerke vom Umschlag über den Druck bis zur Bindung. Schon auf den ersten Blick spürt der Leser, daß diese Bücher nicht nur schöner aussehen, sondern auch aufmerksamer gelesen werden wollen – dafür belohnen sie mit geistigen Abenteuern und echten Entdeckungen. Isaak Babels »Reiterarmee« erschien hier erstmals unzensiert, genau wie seine »Kriegstagebücher«, die damals selbst in der Sowjetunion nicht vollständig vorlagen. Außerdem widmet sich der Verlag der Pflege vieler verfemter Schriftsteller, etwa von Leonid Dobyčin, einem der wichtigsten russischen Prosaautoren des zwanzigsten Jahrhunderts.
Seit fünf Generationen hat die aus Petersburg stammende Buchhändler- und Verlegerfamilie mit Büchern zu tun; Katharina Wagenbach-Wolffs Tochter Nina kümmert sich heute im Wagenbach-Verlag um Werbung und Vertrieb, um den Bereich also, für den ihre Mutter in dem von ihr und Klaus Wagenbach 1964 gegründeten Verlag sechzehn Jahre lang zuständig war. Damals war er eine Bastion anarchistischen und radikal-sozialistischen Denkens, was den Großeltern Wolff nach der Erfahrung des bolschewistischen Terrors sicher Schauder über den Rücken laufen ließ. Sie hätten manche Irrtümer aufklären können, waren dazu aber zu höflich, und der Schwiegersohn hütete sich, mit ihnen darüber zu diskutieren.
Anfang der fünfziger Jahre lernte Katharina Wolff ihren späteren Mann in Frankfurt kennen, der damals bei ihrem Vater, Geschäftsführer des jungen Suhrkamp Verlags, in die Lehre ging. Letzterer war zunächst alles andere als glücklich über diese Begegnung. Er habe seinem Lehrherrn die Tochter geklaut, erzählt Klaus Wagenbach amüsiert: »Katia kam als wohlerzogene junge Dame aus der Schweiz und ging dann in die Berufsschule. Dort haben wir uns kennengelernt. Sie hat mich schwer beeindruckt, ich kam ja mehr von unten, mein Vater war ein Bauernkind. Ihre Eltern haben gemault, meine auch: Sie war russisch-orthodox, das war für meine katholische Mutter natürlich ein Affront.«
Der schon damals politisch hellhörige Wagenbach erkannte sofort, daß er in eine spezielle Familie mit einer schmerzlichen Geschichte geraten war, deren Mitglieder so zurückgezogen lebten, weil sie als Staatenlose in der Zeit des Nationalsozialismus nur einen Nansen-Paß besaßen, also höchst gefährdet waren. Man merkte dieser Familie die über lange Jahre ständig erfahrene Sorge an. Wie dünn das Eis wirklich war, wußte allerdings niemand: Der Großvater Wolff, Katharinas Lieblingsopa, stammte aus einer jüdischen Familie, und für den obligatorischen »Ariernachweis« waren seine Papiere gefälscht worden. Auf einem Kinderfoto sitzt die neunjährige Katharina auf einer Gartenbank neben dem lächelnden Ludwig Wolff, einem würdigen Herrn mit scharf geschnittenem Gesicht und großem Schnurrbart. Beide sind von Kopf bis Fuß weiß gekleidet – das Bild wirkt wie auf einer Datscha in der Nähe Petersburgs aufgenommen. Er nannte sich »Herr Kommerzienrat«, was auf die Berliner Bekannten großen Eindruck machte. Doch die traumatische Erfahrung der Enteignung und die Morddrohungen seiner Arbeiter hat er nie überwunden. 1917 gelang Wolffs die Flucht, nur kamen sie als Besitzlose an. Die Bolschewiki hatten an der Grenze unbemerkt den Gepäckwagen abgehängt.
Katharinas Vater, Andreas, hatte zwar auf einem Petersburger Gymnasium Deutsch gelernt, doch er tat sich schwer mit der Sprache und behielt zeitlebens seinen weichen, baltischen Akzent. In Wiesbaden, der ersten Exilstation der Familie, und dann in Leipzig absolvierte er eine Buchhändlerlehre und arbeitete anschließend zwei Jahre im Berliner S. Fischer Verlag. 1931 gründete er im ruhigen Stadtteil Friedenau, der damals noch wenig Ähnlichkeit mit dem späteren Dichterbiotop hatte, eine Buchhandlung samt Leihbücherei. Einer seiner Stammkunden, der Theaterkritiker Friedrich Luft, erinnerte sich später: »Die Vorstadt war idyllisch, zutiefst kleinbürgerlich, jedem Fortschritt abhold – und stramm deutschnational. Schwarzweißrote Fahnen hingen, wenn geflaggt wurde, von den hübschen Balkonen. Daß Kurt Tucholsky einmal für kurze Zeit in unserer Kaiserallee gewohnt hatte, konnte ich gar nicht glauben.« Der Erfolg von »Wolff’s Bücherei« beruhte auf der Ausstrahlung des versierten Buchhändlers, einer »literarischen Natur«, wie Friedrich Luft anmerkte, der sich in diesem Laden wie im Wohnzimmer eines Bücherfreundes fühlte und es zu schätzen wußte, daß man hier die verbotenen Bücher aus den Exilverlagen ausleihen konnte – noch heute sieht man im »Zauberberg« in der Bundesallee die Falltür, die ins geheime Lager im Keller führt. Eine Aura »liberaler Exotik« umgab die Familie, was Luft tief beeindruckte. Er war auch oft in der Wohnung in der Wilhelmshöher Straße zu Gast, dann wurde der Samowar angeheizt und die Gastgeberin buk Blinis.
Aus dem Nichts hatte Katharinas Urgroßvater Moritz Wolff ein Verlagsimperium geschaffen, das zuletzt siebenhundert Angestellte beschäftige und auf der Basilius-Insel Verlagshaus, Druckerei und Schriftgießerei vereinte. Erst nachmittags ging er in seine Buchhandlung am Newskij-Prospekt, der Petersburger Lebensart entsprechend, nach der man zwischen elf und zwölf Uhr frühstückte und wichtige Geschäfte nach dem Abendbrot erledigte. In seinem winzigen Arbeitskabinett trafen sich – unter den mißtrauischen Blicken der Geheimpolizei – die wichtigsten Autoren der Stadt: Gontscharow, Dostojewskij, Turgenjew und Leskow. Letzterer brachte oft junge Autoren mit und rühmte Wolff als »unübertroffenen Zaren der russischen Bücher. Seine Armee ist gestreut von Jakutsk bis Warschau, von Riga bis Taschkent, in seinen Händen hält er das Schicksal der russischen Literatur.« Von ihm muß jenes Buchhandel-Gen stammen, das die Familie seither prägt. Eine Konstellation, die in Verlagsfamilien häufig vorkommt, meint dazu Katharina Wagenbach-Wolff.
Sie wuchs, 1929 geboren, unbeschwert in Friedenau auf, besuchte eine öffentliche Schule und hatte viele Freunde. An den alljährlichen Weg zur Gestapo, um die Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern, erinnert sie sich allerdings noch genau, weil ihre Mutter immer furchtbar nervös war. Und noch einen Kummer gab es: Sie durfte nicht in den BDM, was sie unbedingt wollte, da alle ihre Freundinnen dorthin gingen. Zwar schaffte sie es, ihre Mutter in einen Laden zu schleppen, wo es BDM-Uniformen gab, aber die weigerte sich, eine zu kaufen. Eine Zeitlang ging Katharina heimlich zu den Treffen mit, aber die martialischen Lieder und pathetischen Feiern stießen sie bald ab.
Als in den letzten Kriegsjahren die Bombenangriffe auf Berlin immer bedrohlicher wurden, übersiedelte die Familie in ein winziges Fischerhäuschen in Caputh, wo der Freund Peter Suhrkamp sie oft besuchte. Er kam mit dem Fahrrad aus dem nahen Potsdam. 1944 war er schwerkrank aus dem KZ Sachsenhausen entlassen worden. Unter anderem hatte die Denunziation eines falschen Freundes, dem er Briefe an Hermann Hesse anvertraut hatte, zu seiner Verhaftung geführt. Nun saß er mit Andreas Wolff im Garten und schmiedete Verlagspläne. Doch noch war der Krieg nicht vorbei. Der Vater informierte die russischen Fremdarbeiter im Dorf über die Nachrichten der BBC und lieh ihnen russische Bücher. In den letzten Kriegstagen – die SS hatte in unmittelbarer Nähe einen großen Stützpunkt – bezog die russische Armee Stellung auf der gegenüberliegenden Seeseite. »Als die Russen kamen, fingen sie an, von Gatow aus auf das Dorf zu schießen. Da fuhr mein Vater mit einem Fremdarbeiter im Boot hinüber, ging zu den russischen Offizieren und bat sie, nicht mehr zu schießen – im Dorf seien keine SS-Leute mehr«, erzählt Katharina Wagenbach-Wolff. Davon, daß das Dorf dank der Initiative von Andreas Wolff unzerstört blieb, wollen bis heute weder die Caputher Bürger noch die dortige Heimatforschung etwas wissen – nach dem Krieg verdächtigte man den Retter sogar, russischer Spion gewesen zu sein.
In Frankfurt, wohin die Wolffs Peter Suhrkamp wegen der Papierknappheit und der schwierigen Arbeitsbedingungen in Berlin gefolgt waren, erlebte man die Euphorie und die Hoffnung der Nachkriegsjahre viel intensiver als im größtenteils zerstörten und von den Siegermächten geteilten Berlin. Katharina, die nach Kriegsende zwei Jahre in Lausanne studiert hatte und fließend Französisch sprach, begann eine Lehre bei den Frankfurter Heften. Der Verlag gehörte Eugen Kogon, dessen Buch »Der SS-Staat« wenige Jahre zuvor erschienen war. Er engagierte sich schon damals für ein geeintes Europa, war chronisch überarbeitet und entsprechend kurz angebunden. Ganz anders Alfred Andersch, der im Verlag die Reihe »Studio Frankfurt« herausgab und sich gern mit dem Lehrling unterhielt. 1953 holte er eine unbekannte Debütantin namens Ingeborg Bachmann in den Verlag, die für ihren Gedichtband: »Die gestundete Zeit« den Literaturpreis der Gruppe 47 erhielt. Diese Gedichte beeindruckten die spätere Verlegerin und spielten dreißig Jahre später eine entscheidende Rolle bei der Wiederbelebung der von ihrem Vater Andreas Wolff 1963 begründeten Friedenauer Presse. Ingeborg Bachmann sei kindlich aufgeregt gewesen und habe keine Korrekturzeichen gekannt – der Lehrling Katharina Wolff konnte ihr helfen und verstand damals, wie existentiell für einen Autor sein Buch sein kann.
Einige Jahre später verlor Klaus Wagenbach seine Lektorenstelle bei S. Fischer, weil er mit dem Briefkopf des Verlags dagegen protestiert hatte, daß ein DDR-Autor nicht zur Messe kommen durfte. Die Mauer war gerade gebaut worden, und weil Ost- und Westautoren ihn gleichermaßen interessierten, entstand der Plan, in Berlin einen Verlag zu gründen – eine Idee, die den Eltern Wolff so wenig gefiel wie die Manieren und politischen Ansichten des Schwiegersohns. Außerdem war Katharinas Vater als erfahrener Geschäftsmann besorgt, daß die junge Familie mit inzwischen drei Kindern nicht genug Geld verdienen würde.
Ein Verlag für Literatur aus Ost- und Westdeutschland mußte zwangsläufig zwischen alle politischen Fronten geraten. Als fataler Irrtum erwies sich auch die Hoffnung des jungen Verlegers, daß sich für die DDR-Intellektuellen die Lage – als eine Art Bonus für ihr Eingesperrtsein – nach dem Mauerbau entspannen würde. Wagenbach erinnert sich an Ulbrichts »furchtbare Rede« im Dezember 1965, daß die DDR ein sauberer Staat sei und keine Anarchisten dulde. »Wenn das Wort Anarchisten fällt, das weiß ich als alter Anarchist, dann müssen die Lyriker aufpassen. Denn die Lyriker sind natürlich die größten Anarchisten, die haben da nichts zu lachen. Und so war es auch.« Schnell wurde auch Wagenbach zur unerwünschten Person und bekam kein Einreisevisum mehr, also mußte seine Frau die Kontakte aufrechterhalten. Sie war oft bei Wolf Biermann in der Chausseestraße 131 zu Gast, wo mittels eines über die Grenze geschmuggelten Tonbandgeräts die Aufnahmen seiner ersten Schallplatte entstanden, die dann, weil kein westdeutsches Label einen kommunistischen Liedermacher herausbrachte, im Wagenbach-Verlag erschien. Schon der Lyrikband »Die Drahtharfe« war dort gedruckt worden, das Manuskript hatte Biermanns Mutter Emma in den Westen geschmuggelt. Doch oft mußte eben auch die Frau des Verlegers Kurier spielen, dafür band sie sich, nach einem Tip von Biermann, die Manuskripte mit Zellophanpapier auf den Bauch und hörte erst damit auf, als die Leibesvisitationen sich zu häufen begannen. In der Chausseestraße lernte sie alle wichtigen Leute kennen, von Stephan Hermlin bis zu Franz Fühmann. Im November 1976, am Tag nach der Ausbürgerung Biermanns, nahm sie an jenem Treffen in Hermlins Villa teil, bei dem die folgenreiche Protestpetition verfaßt wurde. Im Verlag gingen derweil die Meinungen darüber, was gedruckt werden sollte, immer weiter auseinander, dazu kamen grundsätzliche politische Differenzen. Der Streit wurde immer heftiger, denn es ging um die Macht, im wesentlichen also um das Programm. Die eine Fraktion wollte linksradikale und militante Schriften bis hin zu RAF-Texten, die andere eine »dokumentarische Literatur«. Unerläßliche Fähigkeiten fürs Lektorat, wie etwa Fremdsprachenkenntnisse, brachte dagegen kaum jemand mit.
Und der Alltag in der Jenaer Straße 6 war nervenaufreibend. Familie und Verlag teilten sich eine Wohnung und jeden Tag standen Genossen vor der Tür, die ganz selbstverständlich das Familienauto ausleihen, übernachten und essen wollten. Der magische Satz hieß: Du bist doch auch Genosse! In der riesigen, wilhelminischen Achtzimmerwohnung bewohnte die Sekretärin ein Zimmer, zwei waren Verlagsräume, die restlichen Zimmer teilte sich die fünfköpfige Familie. Es herrschte »ein ungeheurer Elan«, erzählt Katharina Wagenbach- Wolff, die damals über ein Jahrzehnt Kinder, Haushalt und Arbeit unter einen Hut brachte. Sie hielt eisern an bürgerlichen Ritualen fest, kochte jeden Tag und versammelte abends alle um den Tisch. Sogar Stoffservietten gab es, worüber sich Otto Schily, der langjährige Anwalt des Verlags, doch sehr wunderte: »Richtig manierlich eßt ihr hier!« Gleichzeitig entwarf sie Plakate für den Verlag, die weithin gerühmt wurden. Mit Layout und Druck hatte sie Erfahrung, während ihrer Frankfurter Lehrjahre hatte sie auch in einer Druckerei gearbeitet.
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SINN UND FORM 4/2014 S. 532-541, hier S. 532-537
Matt, Peter von
Schreiben als Akt der Forschung.
Max Frischs »Berliner Journal«, S. 542
Reinsch, Diether Roderich
Kazantzakis in Berlin, S. 547
Dieckmann, Friedrich
Ring frei! Bayreuther Tagebuch, S. 553
Hein, Christoph
Nicht mit dir und nicht ohne dich.
Uwe Johnson und die DDR, S. 558
Bierwisch, Manfred
Wovon der Autor leben soll.
Erinnerung an Uwe Johnson, S. 563
Wizisla, Erdmut
»Also noch etwas Geduld und Mut«.
Anmerkungen zu Gisèle Freund und Walter Benjamin, S. 565