
[€ 9.00] ISBN 978-3-943297-11-9
Heft 4/2013 enthält:
Braun, Volker
Wilderness, S. 453
Eörsi, István
»Lukács war bereit, sein Leben für eine Sache hinzugeben«. Gespräch mit Adelbert Reif und Ruth Renée Reif, S. 463
ADELBERT REIF, RUTH RENÉE REIF: Herr Eörsi, Sie bekannten einmal, daß Georg Lukács im intellektuellen und auch im persönlichen Sinne Ihr Leben (...)
Reif, Adelbert
Adelbert Reif, Ruth Renée Reif
»LUKÁCS WAR BEREIT, SEIN LEBEN FÜR EINE SACHE HINZUGEBEN»
Gespräch mit István Eörsi
ADELBERT REIF, RUTH RENÉE REIF: Herr Eörsi, Sie bekannten einmal, daß Georg Lukács im intellektuellen und auch im persönlichen Sinne Ihr Leben mitbestimmt habe und daß Sie wahrscheinlich bis zum Lebensende in der Auseinandersetzung mit ihm stehen würden. Wann sind Sie Georg Lukács zum ersten Mal begegnet?
ISTVÁN EÖRSI: Ich habe Lukács zunächst durch sein Buch über den historischen Roman kennengelernt. Das war 1946. Ich war damals fünfzehn Jahre alt und seine Ausführungen begeisterten mich ungemein. Bis heute bin ich davon überzeugt, daß es einen tiefen Zusammenhang gibt zwischen Weltgeschichte und Genre und daß die persönlichen Lebensprobleme der Autoren nur von der Geschichte her verständlich und entzifferbar sind. Später als Gymnasiast las ich noch eine Menge anderer Bücher von Lukács. Das waren die, die er während des Exils in der Sowjetunion geschrieben hatte, sowie Bücher und Artikel, die in den ersten Jahren nach dem Krieg in Ungarn entstanden waren, als noch – ungeachtet der sowjetischen Präsenz im Lande – eine Demokratie zu spüren war, ein Mehrparteiensystem existierte und in gewissen Grenzen Meinungsfreiheit gegeben war. Die Bücher dienten mir als geistige Wegweiser in einer Zeit politischer und gesellschaftlicher Umbrüche. So wurde ich zu einem Schüler von Lukács, noch bevor ich ihm persönlich begegnete.
REIF: Wo fand die erste Begegnung statt?
EÖRSI: Das war an der Budapester Universität. 1949 begann ich zu studieren. Lukács war Professor für Ästhetik und Kulturphilosophie, und ich schrieb mich in sein Seminar ein. Einige Monate zuvor hatte im Anschluß an den Rajk-Prozeß, einen der großen stalinistischen Schauprozesse, bei dem der Außenminister László Rajk des »Titoismus« angeklagt und zum Tode verurteilt wurde, die Lukács-Debatte stattgefunden. Es herrschte eine Atmosphäre von Furcht und Schrecken und gegen Lukács wurde eine Hetzjagd betrieben. Ihre Ursache habe ich erst viel später verstanden: Solange die aus der Kommunistischen und der Sozialdemokratischen Partei hervorgegangene Partei der Ungarischen Werktätigen die Macht noch nicht errungen hatte, brauchte sie den weltbekannten Philosophen Georg Lukács, um die Intellektuellen für sich zu gewinnen. Daher hielt sich die Parteiführung mit ihrer Kritik zurück und gestattete ihm die Veröffentlichung seiner Theorien, aus denen deutlich wurde, daß er die sowjetische Literatur nicht als die Spitze der Weltliteratur ansah. Nachdem es der Partei aber gelungen war, die Macht zu ergreifen, war ihr Lukács mit seinen ketzerischen Ansichten unangenehm. Jetzt wollte man ihn mundtot machen, weil man fürchtete, daß er Einfluß auf die Jugend ausüben könnte. Immerhin hatte sich bereits eine Anzahl Schüler um ihn geschart. Stein des Anstoßes war insbesondere seine »Partisanentheorie«, nach der ein Parteidichter – und Lukács schloß hier auch den Philosophen ein – immer Partisan sei, also einer, der sich mit der historischen Mission der Partei und ihrer strategischen Linie zwar in Einklang befinde, innerhalb dieser Einheit aber eigene Wege gehen müsse.
Lukács’ offizieller Gegner in der von der Parteiführung initiierten Debatte war der Parteiphilosoph László Rudas. Er war Direktor der Zentralen Parteischule und hatte bereits in der sowjetischen Emigration versucht, Lukács das Leben schwerzumachen. Mit einer Mischung aus Herablassung und denunziatorischem Eifer hatte er erklärt, Lukács habe keine Ahnung vom Marxismus und verleumde Lenin. Wer mit dem damaligen Sprachgebrauch der Partei vertraut ist, weiß, daß Vorwürfe dieser Art einem Todesurteil gleichkamen. Lukács übte denn auch »Selbstkritik«. Er hatte in anderen Fällen, vor allem in der Sowjetunion, gesehen, wie schnell solche Anschuldigungen zur Tragödie, das heißt zu Gefängnis, Lager oder sogar zum Tod führen konnten. Wie er mir später erzählte, hatte er nicht gewußt, daß ein geheimes Parteidekret existierte, wonach gegen niemanden, der als Kommunist im sowjetischen Exil gelebt hatte, vorgegangen werden durfte. Dieses Dekret war von Mátyás Rákosi, dem stalinistischen Führer der ungarischen Partei, erlassen worden, weil er sich damit selbst schützen wollte.
REIF: 1949 hielt immer noch die stalinistische Phase an. Wie verhielt sich Lukács nach der Debatte? War er vorsichtig oder ängstlich?
EÖRSI: Vorsichtig war er. 1952 fand noch eine weitere Debatte statt, die ebenso berühmt wurde wie die »Lukács-Debatte«: nämlich um den Schriftsteller Tibor Déry und seinen Roman »Antwort«. Ich wurde dazu eingeladen, vermutlich weil ich stalinistische Gedichte geschrieben hatte. Für mein Rákosi-Gedicht habe ich sogar einen Preis bekommen, was ich insofern wiedergutgemacht habe, als ich seitdem für nichts mehr einen Preis bekam. Bei dieser Debatte spielte der Kulturminister József Révai die Hauptrolle. Er war der Kulturpapst der Partei und sehr gefährlich, ein absoluter Inquisitorentyp und ein tödlicher Stalinist. Ursprünglich war er ein Schüler von Lukács gewesen und hatte auch derselben Landtagsfraktion angehört wie er, aber diese dann verraten. Das Verhältnis der beiden war äußerst kompliziert. In den dreißiger Jahren hatte Révai sehr gute Essays geschrieben. Nach 1945 aber, als er aus dem sowjetischen Exil nach Ungarn zurückkehrte und als Mitglied des Führungskreises der Kommunistischen Partei zu immer mehr Macht gelangte, schrieb er nichts mehr, was sich heute noch lohnen würde zu lesen.
Ich hatte die Absicht, Déry gegenüber Révai zu verteidigen, und sagte das Lukács. Ich war damals 22 Jahre alt. »Schauen Sie, machen Sie das!« erwiderte Lukács. »Aber vergessen Sie nicht, daß der Révai ein besonders kluger Mensch ist und Verdienste hat. Sie müssen Ihren Ton mit Bedacht wählen.« Er wollte mir nicht abraten. Ich glaube, er fürchtete, daß mein strahlender kommunistischer Glaube kaputtgehen würde, wenn ich nicht sprechen durfte. Als die Sitzung dann stattfand, begann ich meine Wortmeldung mit der Feststellung, daß ich mit dem Genossen Révai nicht einverstanden sei. Ich stand auf und da sah ich, wie Révais Kopf zu zittern begann. Es war schrecklich. Niemand wagte, mich auch nur anzuschauen. Ich hielt meine Rede zu Ende. Anschließend war Pause.
Ich stand völlig allein da. Nur zwei wagten es, zu mir zu kommen, Déry und Lukács. Ich hatte mich am Vortag beim Fußballspielen am Auge verletzt und trug einen Verband. Déry wollte wissen, was passiert sei. »Ein Schriftsteller sollte nicht Fußball spielen«, war seine Antwort auf meine Erklärung. Dann kam Lukács und erkundigte sich ebenfalls nach meinem Auge. »Und wie ist das Spiel ausgegangen?« fragte er, als ich ihm davon erzählte. Das war der Unterschied.
Als ich wieder allein stand, sah ich, wie Lukács meine Gedichte mit in den Saal brachte und zu Révai lief, um sie ihm zu übergeben. Er fürchtete, man werde mich nicht frei aus dem Gebäude hinausgehen lassen. Darum wollte er Révai zeigen, was für ein begabter kommunistischer Dichter ich war.
REIF: Freute es Sie, daß er Sie schützen wollte, oder waren Sie enttäuscht, daß er Ihren Mut konterkarierte und Ihre Verteidigungsrede als Ausrutscher hinstellte?
EÖRSI: Seine Sorge um mich und die Hilfsbereitschaft, mit der er meine Verhaftung zu verhindern suchte, schätzte ich sehr. Diese Pfadfindertugenden mochte ich an ihm. Aber noch im selben Jahr erlebte ich meine erste Enttäuschung. Das war am 60.Geburtstag von Rákosi, dem Generalsekretär der Partei und späteren Ministerpräsidenten. Ich hatte, wie gesagt, ein Lobgedicht auf ihn geschrieben, weil ich ihn lieben wollte. Sicher habe ich ihn nicht geliebt, aber weil ich es unbedingt wollte, suchte ich nach Argumenten. Da sah ich die Ankündigung, daß Lukács zum 60.Geburtstag von Rákosi in der sogenannten Storchburg der Universität eine Rede halten würde. Ich ging hin, um sie mir anzuhören. Aber Lukács wiederholte nur die Platitüden, die in allen Zeitungen standen. Das war meine erste kleine Enttäuschung.
Meine zweite Enttäuschung war komplizierter. Ich hatte im Juni 1953, als nach dem Tode Stalins die sowjetische Führung Rákosi zwang, das Amt des Ministerpräsidenten zugunsten von Imre Nagy aufzugeben, begonnen, Gedichte über die stalinistische Vergangenheit zu schreiben. Damals kamen die Menschen nach und nach aus den Gefängnissen und erzählten die schrecklichsten Geschichten. Es stellte sich heraus, daß Rákosi ein Massenmörder war und kein Held. Das war für mich eine unglaubliche Enttäuschung, nicht nur weil ich mich belogen fühlte, sondern auch weil ich feststellen mußte, daß ich selbst zum Mittler der Lüge geworden war. Das empfand ich als eine große Schande. Ich wurde zum Oppositionellen und kam dann sogar ins Gefängnis.
1954 schrieb ich ein Gedicht, in dem ich diese kommunistischen Führer mit den alten aristokratischen Herrschern und Kapitalisten verglich. Von der Redaktion der kommunistischen Jugendzeitung, in der ich damals arbeitete, wurde es gedruckt. Als Gedicht ist es sehr schlecht, aber inhaltlich halte ich es auch jetzt noch für richtig. Kurze Zeit nach der Veröffentlichung besuchte ich Lukács. Wir aßen zu Mittag, und beim anschließenden Kaffee sagte er zu mir: »Schauen Sie, ich habe Ihr Gedicht gelesen. Ich sage nicht, daß es keine Wahrheit enthält. Da ist eine Menge Wahrheit drin. Aber Sie dürfen die Kommunisten, auch wenn sie gemordet haben, nie mit Mitgliedern der herrschenden Klassen vergleichen. Damit schwächen Sie den Wahrheitsgehalt Ihres Gedichtes.« Auf eine solche Äußerung war ich nicht vorbereitet. Aber ich erinnere mich, ein schlechtes Gefühl gehabt zu haben. Ich fand nicht richtig, was er gesagt hatte.
REIF: Haben Sie ihm widersprochen?
EÖRSI: Damals wußte ich keine Antwort. Aber später habe ich ihn gefragt, ob man etwa zwischen humanistischen und antihumanistischen Todeslagern unterscheiden solle. Diese Frage konnte ich 1952 noch nicht formulieren. Aber als Gefühl war sie schon da. Ich habe mich damals sehr ausführlich mit Lukács befaßt und auch meine ersten Lukács-Übersetzungen angefertigt. Ich übersetzte seinen Thomas-Mann-Essay »Auf der Suche nach dem Bürger« und einige andere Sachen. Er nahm mich als Doktoranden an. Ich wollte eine Arbeit über den Lyriker Attila József schreiben. Das wurde 1955 wegen meiner oppositionellen Haltung verhindert. 1956 aber war ich wieder akzeptiert. Mit der Arbeit konnte ich dennoch nicht beginnen, denn jetzt brach die Revolution aus. Ich kam ins Gefängnis und Lukács wurde nach Rumänien verschleppt. Bis 1960 blieb ich in Haft, und zwei Jahre lang hat Lukács meiner Familie regelmäßig geholfen und meiner Frau jeden Monat Geld gegeben. Ich weiß bis heute nicht wieviel. Er konnte seine Unterstützung allerdings nicht bis zu meiner Freilassung fortsetzen. Jemand hatte es verraten. Er mußte damit aufhören, denn man ließ ihn nur unter der Bedingung aus Rumänien nach Ungarn zurückkehren, daß er nicht politisierte. Und so einem alten Fuchs wie Lukács glaubte man nicht, daß es nichts mit Politik zu tun hat, wenn er der Frau eines Verhafteten Geld gibt. Aber er hat stets seine Bereitschaft zur Hilfe signalisiert. Er war wirklich ein Lehrer.
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SINN UND FORM 4/2013, S. 463-483
Tielke, Martin
Dunkelmann und Lichtgestalt. Carl Schmitt, Johannes Popitz und der Widerstand, S. 484
Kerski, Basil
Der Essay als Raum freien Denkens. Gespräch mit Adam Zagajewski und Sebastian Kleinschmidt, S. 508
BASIL KERSKI: Gedicht und Essay sind in der polnischen Literatur diejenigen Gattungen, die am deutlichsten mit eigener Stimme sprechen. Hier fanden (...)
Kerski, Basil
Der Essay als Raum freien Denkens.
Gespräch mit Adam Zagajewski und Sebastian Kleinschmidt
BASIL KERSKI: Gedicht und Essay sind in der polnischen Literatur diejenigen Gattungen, die am deutlichsten mit eigener Stimme sprechen. Hier fanden die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ihren besonderen polnischen und zugleich universellen Ausdruck. Ein Meister beider Gattungen ist Adam Zagajewski. Sebastian Kleinschmidt fördert sie in der von ihm geleiteten Zeitschrift Sinn und Form in eindrucksvoller Weise. Gedichte und Essays aus Polen waren in den letzten beiden Jahrzehnten – vor allem dank der Übersetzungen Henryk Bereskas und Bernhard Hartmanns – in der Berliner Akademie-Zeitschrift sehr präsent. Für Zagajewski ist Sinn und Form neben dem Münchner Hanser Verlag inzwischen zur literarischen Heimat in Deutschland geworden. Herr Kleinschmidt, wo und wann sind Sie Adam Zagajewski das erste Mal begegnet?
SEBASTIAN KLEINSCHMIDT: Das muß Anfang der neunziger Jahre im Literarischen Colloquium am Wannsee gewesen sein.
KERSKI: Kannten Sie damals schon das Werk von Zagajewski?
KLEINSCHMIDT: Nein, leider nicht. Es war eine Zufallsbegegnung, aber sie mündete schon bald in eine fruchtbare Zusammenarbeit. 1994 erschienen Adams erste Gedichte in Sinn und Form und 1995, verteilt auf zwei Hefte, der umfangreiche Essay »Zwei Städte«, ein poetisch-philosophischer Versuch über die polnische Erfahrung von Heimatverlust. Nicht immer weckt ja die Begegnung mit einem Autor die sofortige Neugier auf sein Werk. In meinem Elternhaus verkehrten viele Schriftsteller, ich habe sie schon als Kind kennengelernt, und in einigen Fällen führte das sogar dazu, daß ich ihre Bücher bis heute nicht gelesen habe. Meine Begegnung mit Adam hat sofort mein geistiges Interesse an seinen Sachen geweckt.
KERSKI: Haben Sie bei Ihrer ersten Begegnung gespürt, daß Sie einer Generation angehören? Hat das zu einem Gefühl der Nähe geführt?
KLEINSCHMIDT: Wir sind vom Alter her nur drei Jahre auseinander, das fällt nicht allzu sehr ins Gewicht. Doch zunächst wurden mir eher die Unterschiede deutlich. Adam ist eben ein polnischer Intellektueller, und die polnischen Intellektuellen waren den DDR-Intellektuellen in mancher Hinsicht eine Epoche voraus. So gesehen schien mir Adam doch einer anderen Generation anzugehören.
KERSKI: Herr Zagajewski, wie haben Sie die erste Begegnung mit Sebastian Kleinschmidt erlebt? Sie, ein damals in Paris lebender, kosmopolitischer polnischer Dichter, und er, ein neugieriger Ostdeutscher, der gerade seine ersten Erfahrungen mit der freien Welt gesammelt hatte?
ADAM ZAGAJEWSKI: In Sebastian Kleinschmidt bin ich zum erstenmal jemandem aus der DDR begegnet, der gegenüber Phänomenen, die dort nicht präsent waren, eine besondere Neugier hatte. Diese edle Neugier spiegelt sich in Sinn und Form wider. Die Quelle unserer Freundschaft war nicht das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Generation. Das Gemeinsame war das Interesse an Religion und Theologie, das aber nichts mit konventioneller Religiosität zu tun hatte. Beide hielten wir ein wenig Abstand zum Zeitgeist, beide waren wir ein wenig abseits der Mode.
KERSKI: Als mir Mitte der neunziger Jahre Sinn und Form in die Hände fiel, war ich angenehm überrascht vom starken mitteleuropäischen Profil der Zeitschrift: ein Periodikum auf der Suche nach verschütteten literarischen und philosophischen Traditionen in Europa, eine Redaktion, die in alle Himmelsrichtungen schaute, nicht nur zu den westlichen Kulturmetropolen. Die Aufgeschlossenheit gegenüber den östlichen Nachbarn war eine in der damaligen deutschen Kulturlandschaft eher selten anzutreffende Haltung. Herr Kleinschmidt, wie ist es nach 1989 – gegen den damaligen Trend in Ostdeutschland – zu dieser erstaunlichen Präsenz der mittel- und osteuropäischen Literatur in Sinn und Form gekommen?
KLEINSCHMIDT: Sinn und Form ist von 1949 bis 1989 philosophisch ganz auf den ja nicht nur unehrenhaften Pfaden der sozialistischen Idee und einer marxistisch verstandenen Kultur gewandelt, freilich mit größerer innerer Freiheit, mehr Phantasie, weniger Engstirnigkeit als vergleichbare Zeitschriften in der DDR. Zum offiziellen Vokabular wurde zwar Abstand gehalten, die geistige Zugehörigkeit zum kommunistischen Gedankenkreis aber nicht in Frage gestellt. Nach Jahren einer schleichenden Erosion erlebten wir dann 1989 quasi über Nacht und mit reißender Schnelle die institutionelle Implosion des ganzen staatssozialistischen Begriffsgebäudes. Das Besondere daran war: Hier begann eine Revolution einmal nicht mit der Illusion, sondern mit der Desillusion. Als die Illusion auf dem Tiefpunkt und die Desillusion auf dem Höhepunkt war, brach der Status quo in sich zusammen. Das Scheitern der Utopie, die Niederlage der Idee setzten eine gewaltige Erfahrung frei, übrigens eine Erfahrung, die uns einen gewissen Vorsprung vor den westdeutschen Generationsgenossen eintrug, denn die hatten das alles nicht am eigenen Leibe erlebt. Auf einmal stand die Erfahrungsfülle des Ostens gegen die Erfahrungsarmut des Westens. Das veränderte nicht nur unser Denken und unsere Sprache. Wir mußten uns gänzlich neu orientieren. Einen Mentor, der uns den rechten Weg gewiesen und das Ziel gesteckt hätte, gab es nicht. So gerieten wir in eine Art philosophische Unruhe, in eine schöpferische Verfassung. Und wer in schöpferischer Verfassung ist, hat ein untrügliches Gefühl dafür, wo der Geist weht und wo nicht. Also fingen wir an zu suchen, aber es war keineswegs so, daß wir wußten, wonach wir suchten. Erst als wir fündig geworden waren, wurde uns klar, was wir gesucht hatten. Das aber, was wir fanden, war nicht das, was im Westen gerade Erkenntniskonsens war.
KERSKI: Ich frage nach Sinn und Form, um jenen Geist einzufangen, der meiner Ansicht nach auch für das essayistische Werk von Adam Zagajewski und Sebastian Kleinschmidt prägend ist. Was die Attraktivität der Zeitschrift nach 1989 ausmacht, ist ja nicht nur das sichere Gespür für herausragende Autoren und Denker, sondern auch die im Westen verschollene Neugier auf das Metaphysische und Theologische, also eine Haltung, die in den neunziger Jahren in der alten Bundesrepublik unter Intellektuellen eher verpönt war. Metaphysik, religiöse Fragen, das scheint mir eine wichtige Verbindungslinie zwischen Ihnen beiden zu sein.
KLEINSCHMIDT: Ich komme aus einem evangelischen Pfarrhaus und habe die religiöse Sphäre schon als Kind kennengelernt. Mein Vater war Domprediger in Schwerin, Linkslutheraner und bekennender Sozialist. Durch ihn konnte ich erfahren, wie bestimmte Dinge, die für die meisten getrennt waren, doch zusammengehörten. Wer von Berufs wegen mit Sinnfragen konfrontiert wird – und als Chefredakteur einer Zeitschrift, die Sinn und Form heißt, wird man damit konfrontiert –, der kann der Theologie nicht aus dem Weg gehen, denn ohne Theologie kommt man hier nicht voran, wie immer man auch zu ihr stehen mag. Man kann sogar in ein produktives Verhältnis zur Theologie gelangen, wenn man gänzlich unreligiös ist – was ich von mir gar nicht sagen würde.
ZAGAJEWSKI: Für mich sind Sinn und Form und Sebastian Kleinschmidt nicht so leicht voneinander zu trennen. Sinn und Form ist für mich ein Haus, in dem ich zwar nicht wohne, aber es ist eins der wenigen Häuser in der Welt, die ich kenne. Es gibt heute – vielleicht besonders in Deutschland, aber nicht nur in Deutschland – falsche Trennungen. Auf der einen Seite hat man das sogenannte fortschrittliche Lager und die linksliberale Meinung, mit ihrer ironischen Literatur, die überhaupt kein metaphysisches Interesse hat; und auf der anderen Seite stehen die sogenannten Rechten. Man weiß nie, was ›diese Rechten‹ denken. Sind sie nun getarnte Faschisten oder nicht? Das ist natürlich eine grobe Vereinfachung, aber sie spiegelt doch die Klischees gut wider. Sinn und Form repräsentiert meiner Ansicht nach einen Denkstil, der diese falsche Trennung zwischen dem linken, liberalen, ironischen und nicht-metaphysischen Denken auf der einen Seite und dem religiösen, metaphysischen und politisch ›verdächtigen‹ Denken auf der anderen Seite aufhebt. Sie repräsentiert quasi die Mitte. Das ist großartig. Ich sehe hier ein Denken, das auf der Suche ist, das den Geheimnissen der Welt nachgeht, das zu keiner festen Form geronnen ist, das gewillt ist, klischeehafte Vorstellungen von geistigen Haltungen, geistiger Reizbarkeit abzuschaffen.
KERSKI: Herr Kleinschmidt, eine wichtige Inspirationsquelle für Sie ist das Werk von Hans-Georg Gadamer. Eine der ersten Reisen nach dem Mauerfall führte Sie 1990 zu Gadamer nach Heidelberg. Ihr Gespräch mit ihm erschien 1991 in Sinn und Form. Kann man dieses Gespräch als programmatisch für die Aufbruchszeit Ihrer Zeitschrift nach der deutschen Vereinigung betrachten?
KLEINSCHMIDT: Adam sprach von der Mitte, um den geistigen Standort von Sinn und Form zu lokalisieren. Gadamer verkörpert für mich den Denktypus der offenen Mitte und des unkonventionellen Mittlers. Er ist ein Beispiel dafür, daß die Dialektik der mesotes, wie Aristoteles das nannte, nicht nur politisch vernünftiger, sondern auch geistig interessanter ist als die Extreme links und rechts davon. Immer gilt das nicht, aber in Gadamers Fall gilt es. In der Begegnung mit diesem außerordentlichen Mann habe ich oft genug erlebt, daß die Mitte, will sie anregend, fruchtbar und ausgleichend sein, die Berührung mit abweichenden, gegensätzlichen, ja gefährlichen Gedanken nicht scheuen darf. Dazu braucht es Souveränität, Toleranz, innere Freiheit, Liberalität und, wie an ihm zu sehen, philosophische Gelassenheit. Wenn dann auch noch Humor dazukommt, kann eigentlich nichts passieren. Sobald ich Gadamer lese, erfahre ich das Paradox der Zentrierung: mein Denken kommt in Bewegung, und ich selbst komme zur Ruhe. Ich werde in meine eigene Mitte gestoßen oder, besser, gelockt.
KERSKI: Ihre Faszination für Gadamer haben Sie in ihrem Essay »Gegenüberglück « beschrieben. Unter diesem Titel ist 2008 auch eine Sammlung Ihrer Essays und Gespräche bei Matthes & Seitz Berlin erschienen. Den Gadamer-Beitrag kann man nicht nur als Annäherung an die hermeneutische Philosophie, sondern auch an die Gattung des Essays lesen. Sie charakterisieren Gadamers Verstehenslehre als eine Philosophie der Aufmerksamkeit, des Zuhörens, der Neugier auf anderes, des wechselseitigen Lernens im Gespräch. Gadamers unvergleichliche Art, Gespräche zu führen, sein Verknüpfen von Erzählen, Reflektieren, Anspielen und Vertiefen, von Ernst und Ironie, beschreiben Sie voller Bewunderung. Alle diese Elemente könnte man auch als schöne und unerläßliche Bestandteile einer Kunst des Essays ansehen.
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SINN UND FORM 4/2013, S. 508-518
Zagajewski, Adam
Leichte Übertreibung, S. 519
Jankélévitch, Vladimir
Musik und Rhetorik, S. 530
Kleinschmidt, Sebastian
Ins Offene. Musikalität und Sakralität in den Gedichten Christian Lehnerts, S. 540
Lehnert, Christian
Ein Licht, das uns nicht kennt, S. 546
Joas, Hans
Theologie unter freiem Himmel. Wie aktuell ist Rudolf Otto?, S. 551
Meckel, Christoph
Licht und Zwielicht, S. 560
Wagner, Jan
Alles setzt Segel, S. 564
Fabre, Jean-Henri
Im Wald des Wissens. Kindheitserinnerungen, S. 569
Kühn, Johannes
Grad aufgewacht, S. 576
Seiler, Lutz
Die Insel, S. 580
Grünbein, Durs
Die Lehre der Photographie, S. 584
Becker, Jürgen
Was wir noch wissen. Journal der Augenblicke und Erinnerungen, S. 591
Die Zeit vergeht, und Jörn wird alt. Er sagt, daß er in diesen Jahren noch einen Roman schreibt, vielleicht auch zwei oder drei, und jeder Roman (...)
Becker, Jürgen
WAS WIR NOCH WISSEN
Journal der Augenblicke und Erinnerungen
Die Zeit vergeht, und Jörn wird alt. Er sagt, daß er in diesen Jahren noch einen Roman schreibt, vielleicht auch zwei oder drei, und jeder Roman besteht aus einem einzigen Satz, vielleicht auch aus zweien oder dreien.
Jetzt sitzt er auf einem Stuhl einer Bank gegenüber, die leer ist. Steht er auf und wechselt auf die Bank, sitzt er einem Stuhl gegenüber, der leer ist.
Überm Kopf ein Rauschen, wie von Flügelschlägen eines Kranichschwarms, der sich von den Wiesen am Bodden erhoben hat.
Dann wieder unterwegs auf der Straße, die hinauf ins Hügelland führt, unterwegs durch Vororte, denen man noch ansieht, daß es früher Dörfer waren, um den Stadtrand sich herumziehende Siedlungen, zwischen denen flaches Land lag mit Wäldern, Feldstücken, Bachläufen, Mühlen, Gutshöfen, Herrensitzen, alle ein paar hundert Jahre alt. Vertraute Gegenden, trotz fortwährender Veränderungen, trotz aller Vernichtung von etwas, das nur in der Erinnerung noch vorkommt. Es hat angefangen zu schneien, aber der Schnee bleibt nicht liegen.
…
Jörn Winter kennt man aus früheren Erzählungen. Er ist eine Person, die der Verfasser mit seinen eigenen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Gewohnheiten versehen hat. Dennoch ist er kein Spiegelbild. In den Vorstellungen des Verfassers hat Jörn eine eigenständige Identität. Was er denkt und sagt, was er tut und wie er sich verhält, dafür hat der Verfasser keine Muster parat. Er korrespondiert mit Jörn, und wenn es mitunter so aussieht, als äußere sich Jörn im Sinne des Verfassers, dann weiß er im voraus doch nicht, was sein Korrespondent alles so mitzuteilen hat. Natürlich gibt es ein Netz von Spuren, aus denen Jörn nicht herauskommt, die biographischen Spuren des Verfassers. Jörn weiß das und richtet sich danach, indem er sich an die Möglichkeiten hält, die seiner Existenz, einer imaginären Existenz, gegeben sind.
…
Sätze, die dir bekannt vorkommen. Gib acht. Es könnten Zitate sein, die eigenen. Wenn es Wiederholungen sind, sind es absichtliche Wiederholungen, in der Annahme, daß etwas nicht angekommen oder begriffen worden ist, daß es nicht gewirkt hat, daß es um den Rest des Ungesagten geht.
Der Schnee bleibt nicht liegen, aber es schneit weiter und weiter, und irgendwann
bleibt er liegen.
…
Einen Film sehen, in dem man sich selber auf der Wiese am Rand des Wäldchens stehen sieht und hört, was man dem Mann hinter der Kamera sagt. Jörn weiß, wie der Film zustande gekommen ist, wie er darin mitgewirkt hat als Darsteller eines Verfassers, den der Film porträtiert. Als Rezensent würde Jörn über den Film rein Professionelles sagen, und er käme dabei gut weg. Als Beteiligter wundert er sich, daß er in diese Rolle überhaupt hineingeraten ist. Er sagt, mir ist alle Öffentlichkeit so fremd geworden, daß ich darin gar nicht mehr auftreten möchte, und nun mache ich doch mit wie ein altes Zirkuspferd, das gleich angetänzelt kommt, sobald die Manege ruft. Daß er so oft im Widerspruch mit sich selbst lebt, ist für Jörn nicht neu, aber eine Konsequenz ist ihm bislang nicht eingefallen. Jörn sagt auch, daß er Leute, die stets und eindeutig auf Spur bleiben, ebenso bewundert, wie er ihnen mißtraut, wenn er sie nicht gar fürchtet.
…
Gestern abend hat ein Schulfreund angerufen. Er schlägt ein Wiedersehen vor, vielleicht mit ein paar anderen aus der Klasse. Aber nicht unten in der Stadt, wo sie alle hingezogen sind, sondern oben hinter den Hügeln, zwischen den Dörfern, wo die Schule war.
Ein paar Jahre nach dem Krieg, als ich in die Klasse kam, bald nach der Thüringer Zeit. Ein großer Haufen Bauernjungens, die in der Frühe alle noch im Stall gestanden hatten. Neue Klamotten gab es noch keine, und so saßen alle in ihren alten Jungvolkuniformen da, braune Hemden, schwarze Blousons, Überfallhosen; einer, der Älteste, hatte Reitstiefel an.
Abgebrochene Stuhlbeine, zerkratzte Tische, zerbrochene Spiegel, eingedrückte Schranktüren. Viele der Möbel hatten die Flucht nicht gut überstanden.
Lastwagen, Fuhrwerke, Güterwaggons. Zuletzt, beim Ausladen im Fabrikhof des Onkels, ging Mutters Barocktisch aus dem Leim.
Wochentags Rübenkraut, sonntags Apfelkraut.
Die Mädchen in der Klasse hatten Zöpfe. Einige drehten sie zu Schnecken oder zu einem Haarkranz.
In der Schlafkammer zwei Betten und vier Kinder.
Spät, wenn wir uns was zu erzählen hatten, schüttete die Tante noch einmal eine Kanne Kaffee auf.
Einer aus der Verwandtschaft kam aus englischer Kriegsgefangenschaft heim. Seine Haut war gelb, er hatte im Afrikakorps gekämpft. Um das Abitur nachzumachen, ging er noch mal in unsere Schule mit. Als er später von der Brücke sprang, hieß es, komisch war er schon immer, der Fritz, und jetzt, eine Art von Wüstentrauma vielleicht.
…
Wenn hier einer ich sagt, sagt Jörn, dann bin ich es.
…
Die Rückenschmerzen. Im Sommer hatte es wieder angefangen. Kaltes Meer, harter Sand; es wurde schlimmer. Nach der Operation die Wochen in der Klinik, schön gelegen zwischen Bodden und Meer. Herbststürme, Spazierwege. Die Stellen am Strand, wo wir im Sommer gelegen hatten, von der Brandung überrollt. Möwen, ohne die Flügel zu bewegen, lassen sich treiben vom Wind. Einzelne Kormorane flattern aufs Meer hinaus.
Berliner Flaksoldaten. Das wäre ein Zitat, oder eher eine Anspielung, die nicht aus dem eigenen Repertoire kommt. Wo Jörn sie hergenommen hat … er sagt, wer will, kann ja im Internet danach suchen. Das Entstehen, der Verlauf von Assoziationen folgt Signalen, die man so bewußt nicht wahrnimmt. Sicher ist, daß unterhalb des Hohen Ufers im Strandgeröll zwei Betonkolosse liegen, Reste von Geschützbunkern, die zu den Stellungen der Küstenbatterie gehörten; Ende der dreißiger Jahre sind sie auf dem Kliff angelegt worden. Jörn, als er mit Lene Anfang der neunziger Jahre zum ersten Mal aufs Fischland kam, entdeckte die von der Dünung umspülten Relikte bei seinen Erkundungen einer Gegend, die ihn Jahr für Jahr aufs neue anzieht und beschäftigt. Sicher ist auch, daß in den alten Fischerdörfern viele Berliner ein Zuhause haben, für immer, für die Ferien, fürs Wochenende. Jörn seufzt ein bißchen, wenn er sagt, lebten wir in Berlin, zum Wochenende kämen wir auch hierher. Wie alle die Freunde, die er in Käthe Miethes Haus besucht, mit denen er sich im Dünenhaus, im Baltischen Hof, bei Saatmann oder oben in der Buhne 12 trifft. Manchmal findet er in Lenes Collagen Motive aus der Gegend wieder, und einmal ist zu einem dieser Bilder ein Text entstanden mit Wörtern, die aus dem Tagebuch von Felix Hartlaub stammen, seit Kriegsende verschollen in Berlin, im September 39 in der Nähe hier bei der Flak.
Alte Leute danach fragen, ob sie aus der Kindheit noch die Häschenschule kennen. Nachdem in einer Berliner Bombennacht Wohnung und Atelier ausgebrannt waren, siedelte Fritz Koch-Gotha, der Urheber unserer Kinderfibel, endgültig über in seine Büdnerei an der Fulge. Dora Koch-Stetter, seine Frau, malte Bilder, die nicht nur besser waren … im Grunde, sagt Jörn, überragen sie alles, was die ganze Ahrenshooper Künstlerkolonie an Bilderwerk hervorgebracht hat. Aber unter den Malweibern war sie ja eine Verheiratete, und so kam sie wegen Haus und Hof, Kind und Mann nur wenig zum Malen. Jörn kommt alle paar Tage an der Fulge vorbei und bringt einen Packen Zeitungen mit. Der Enkelsohn und seine Frau haben sich einen Namen als Keramiker gemacht, und die junge Frau Klünder ist immer ganz glücklich, wenn Jörn die überregionale Presse in der Werkstatt ablädt. Zum Einwickeln taugen die großen Formate besonders gut, und so kommt es, daß sich in seiner Ferienbleibe die Zeitungsknäuel wieder häufen, wenn Jörn reihenweise Becher, Schalen, Teller und Teetassen mitgenommen hat.
Jörn versucht sich zu erinnern. Aber es gibt für ihn keine Erinnerung an Jahre und Tage, als Gesine Cresspahl, ein paar Häuser weiter, in den Ferien hier war. Wir waren ja als Flüchtlinge gekommen, sagte die alte Dame, aber das durften wir nicht laut sagen, weil es immer hieß, daß wir als Umgesiedelte gekommen waren.
Abends flattern die Kormorane, einzeln oder zu zweit, landeinwärts zurück.
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SINN UND FORM 4/2013, S. 591-602
Weichelt, Matthias
Für den, den's angeht. Zu Peter Handkes Steh- und Gehbüchern, S. 603
Man kann sich unschwer freundlichere Einladungen zur Lektüre vorstellen: »(Für den, den’s angeht)« steht über Peter Handkes erstem, die Jahre (...)
Weichelt, Matthias
Für den, den's angeht
Zu Peter Handkes Steh- und Gehbüchern
Man kann sich unschwer freundlichere Einladungen zur Lektüre vorstellen: »(Für den, den’s angeht)« steht über Peter Handkes erstem, die Jahre 1975 bis 1977 umfassenden Journal »Das Gewicht der Welt«. Und dieses Motto, heißt es 1998 in »Am Felsfenster morgens«, gelte auch für alle darauffolgenden Aufzeichnungsbücher. Wer eines davon aufschlägt, weiß also nicht, ob sich die spröde Widmung auch auf ihn bezieht, ob das Angebot, das hier gemacht wird, auch eins für ihn ist. Herausfinden kann man es nur, indem man es annimmt. Daß sogenannte »Geschäfte für den, den es angeht« ohnehin juristische Ausnahmen vom Offenkundigkeitsprinzip sind, dürfte Handke, der in den sechziger Jahren Rechtwissenschaften in Graz studierte, jedenfalls gewußt haben. Sie kommen auch dann zustande, wenn bei alltäglichen Besorgungen, beim Kauf einer Semmel oder einer Zeitung, jemand in fremdem Auftrag auftritt, einem Freund oder Nachbarn eine Besorgung abnimmt. Der Vertrag bindet nicht den, der die Ware als erster erhält, sondern den, für den sie bestimmt ist, den, den es angeht. Und der wird sich schon finden.
Um die einfachen und alltäglichen Dinge, um das Unscheinbare und Unbemerkte geht es auch im »Gewicht der Welt«. Um die ihr Sandwich kauende Verkäuferin in einem leeren Laden. Um den alten Mann im Restaurant, mit seiner Weinflasche und seinem Glas. Um den Geldschein auf dem Zahlteller und die vom Nachbartisch herüberblickende Frau. Um die nach eingetrocknetem Schneewasser riechende Skimütze des Kindes. Um das Zuziehen eines Reißverschlusses und das Röhren der Heizung im Keller. Und um die Frage, warum solch spontan festgehaltene Reportagen eines »Einzel-Bewußtseins« andere überhaupt etwas angehen sollen. Daß ihre Veröffentlichung auch als Indiskretion oder Anmaßung verstanden werden kann, war dem Autor bewußt. Entsprechende Vorwürfe suchte er mit der Versicherung zu entkräften, daß »dieses Bewußtsein (ich) auf etwas aus ist, pathetisch gesagt: sich unablässig durchdringen will«. Sich selbst zu erkennen ist hier nicht Wahlspruch der Selbstbespiegelung, sondern Maxime eines Weltzugangs. Das Ich wird zum Medium, das sich Eindrücken, Empfindungen, Erlebnissen wie einer Röntgenbestrahlung aussetzt, die sein Inneres abbildet und beschreibbar macht. Die ursprünglich als bloßes Material für größere literarische Arbeiten vorgesehenen und daraufhin ausgewählten Notate hatten sich im Zuge der Niederschrift immer mehr verselbständigt, verwandelt in zweckfreie Aufzeichnungen zweckfreier Wahrnehmungen – eine Lösung aus vorgegebenen Formen und Mustern, eine Eröffnung neuer literarischer Möglichkeiten, durch die das Sprachliche, die Sprache selbst zum Gegenstand des Schreibens wird: »Was auch immer ich erlebte, erschien in diesem ›Augenblick der Sprache‹ von jeder Privatheit befreit und allgemein.«
Eine solche Abwendung vom Privaten und Persönlichen ist nicht jedem Leser geheuer. Den Reiz veröffentlichter Tagebücher, Briefwechsel, Journale findet man gemeinhin ja gerade in den darin enthaltenen Beichten und Bußen, den endlich offenbarten Geheimnissen, den schließlich abgelegten Geständnissen. Was einer nur für sich oder nahe Freunde aufschreibt, wird doch einen unverstellten Blick auf sein Wesen, auf die versteckte Buchführung seines Lebens freigeben. Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein. Wer nach derlei Vertraulichkeiten sucht, wird in der Mehrzahl der Journaux intimes reich belohnt. Die meisten Tagebuchschreiber, notiert Carl Schmitt 1948 in seinem »Glossarium «, kämen ihm vor »wie Kinder, die an ihren Fingern saugen und an allem saugen, was sie in ihre Finger bekommen«. Unverstellt und authentisch soll die Selbstbeschäftigung sein, eine leicht zu entschlüsselnde, von kindlicher Offenherzigkeit geprägte Botschaft an die Mit- und Nachwelt. Auch der Journalist André Müller, der mit Handke mehrere lange Interviews führte, ließ sich von der inhaltlichen Komposition und literarischen Absicht des »Gewichts der Welt« nicht irritieren und glaubte, aus einzelnen Einträgen auf die Gemütsverfassung des Autors an diesem oder jenem Tag schließen zu können: »Ein anderes Mal, so schreiben Sie, waren Sie kurz davor, den verachtetsten aller Menschen um Hilfe zu bitten.« Seinen Freund Hermann Lenz mußte Handke wiederum in einem Brief beruhigen, daß nur zwei Gesten von dessen Frau um dieser Gesten willen im Buch beschrieben seien, nicht die Person selbst: »Im Journal kommt sie nicht vor – es wäre auch eine Anmaßung von mir.« Die Wahrnehmung und Schilderung solcher für sich stehenden und über sich hinausweisenden Gesten ist das Anliegen dieser mal eine halbe Seite, mal einen Satz langen Eintragungen, nicht die Protokollierung von Begegnungen und Erlebnissen. Über Freundschaften, Feindschaften und Liebesangelegenheiten erfährt man dabei fast nichts.
Über sich »persönlich« habe er ohnehin nie etwas sagen können, schreibt Handke später in »Gestern unterwegs«, er lebe von dem, was die anderen nicht von ihm wissen. Auch an den Tagebüchern Kafkas interessierten ihn nicht mehr die Klagen und Selbstbezichtigungen, »nur noch seine Beschreibungen«. Die Hinwendung zum immer achtsameren Hören und Schauen, zur sorgfältigen, manchmal auch nachträglichen Berichterstattung des Tages schlägt sich insbesondere in den auf das »Gewicht der Welt« folgenden Aufzeichnungsbüchern nieder, bei denen die Bezeichnung Journal im Titel entfällt. Was dafür aus den überallhin mitgeführten, nach Hosentaschentauglichkeit ausgewählten »Geh und Stehheften« übernommen wird, muß dem Anspruch auf Anschaulichkeit und Klarheit genügen, nicht dem auf Lebensdarstellung oder Zeitgenossenschaft. Die gefundene sprachliche Form macht die Bedeutung des Notierten aus, daher kann alles nebeneinander stehen in der »Geschichte des Bleistifts« (1976–1980), den »Phantasien der Wiederholung« (1981/1982), in »Am Felsfenster morgens« (1982–1987) und »Gestern unterwegs« (1987–1990): Lebensgedanken ("Wie ein Liebespaar entsteht: Beide müssen, zusammen, etwas meistern«) und Leseeindrücke ("Keine Bücher für mich: die mit dem unangenehmen Beben des Gebildetseins«), Beschreibungen im Straßenstaub badender Spatzen und romanischer Kirchenskulpturen, Wortfindungen ("Verb für die Schönheit: ›nötigt (zum Bleiben)‹«) und Schreibvorgaben ("Ans Schreiben gehen: Füg der Stille etwas hinzu; bring etwas heim aus der Stille«), Landschaftsschilderungen und Gedanken über Wortgenauigkeit und Begeisterung, übers Gehen und Langsamwerden, über Müdigkeit, Wachsamkeit und den Wandel der Farben. Und immer wieder aus allem hervorleuchtende Poèmes en prose, helle Augenblicke der Sprache: »Das Wange-an-Wange von Stute und Fohlen, und dann das Hals-auf-Kruppe, und dann das Flanke-an-Flanke, und dann das Kopf-unterm-Hals, und endlich das Saugen, gebückt, des schon großen Kindes unter der Mutter: was für eine Liebe; und das alles unter dem Zwetschkenbaum«.
Der all diesen Wahrnehmungen vorausgehende Impuls, ihr eigentlicher Ursprung ist das Staunen. So wie man als Kind im Märchen das Fürchten lernte, kann man hier das Staunen lernen, kann sich die Augen öffnen lassen für den Reichtum, die Fülle der Welt und ihrer Erscheinungen ("auch nur auf dem kurzen Weg zu einer Metrostation: es war eine von stürzenden Körpern durchzuckte Ideallandschaft«). Das Sichtbare ist viel mannigfaltiger, viel umfassender als das Gesehene, das Gehörte nur ein kleiner Ausschnitt des Hörbaren. Jeder Satz in diesen Wirklichkeitserforschungsbüchern ist zugleich Aufforderung und Selbstermahnung, die Bilder des Tages, die regennassen Jacken der in den Bus steigenden Arbeiter, die schmutzigen Fensterscheiben im Bahnabteil, den alten Mann auf der Parkbank und den auf dem Tisch liegenden Bleistift als etwas so nie zuvor Gesehenes, erst zu Erschauendes und damit zu Erkennendes zu entdecken. Die Kunst, so wie sie hier verstanden wird, soll vom bloßen Anschein, vom Augenschein erlösen, soll den »phantastischen Augenblick« erzeugen, den Blick von Grund auf verändern. Wer dem folgt, fängt tatsächlich wieder an zu staunen, kann durchs Staunen gesund werden. Wer das Staunen verlernt hat, sieht keine Unterschiede und auch nichts Wesentliches mehr, »hört überhaupt auf zu sehen«, registriert nur noch, ohne Sinn für das, was vor ihm, über ihm, unter ihm und auch mit ihm geschieht: »Eine der innigsten Erscheinungen ist das Dahinziehen, Treiben und Kreisen der Blätter, Halme, Sporen, Vogelfedern, Grasspitzen in den länglichen, oft bootsförmigen Feldweglacken – eine Umschreibung der Stille«. Um an solchen Wirklichkeitsbildern nicht achtlos vorüberzugehen, um nicht blind für sie zu sein oder taub für die Stille, muß man schauen, bis einem »Nüstern wachsen«, muß man die Redewendung vom »Aus dem Staunen nicht herauskommen« als mögliches Lebensmotto akzeptieren – als Voraussetzung nicht nur des Dichterischen, sondern des Menschlichen überhaupt. Der wahre Mensch sei ganz Gehör, der wahre Dichter müsse die Stille erfahren haben und sich nach ihr sehnen. Und die sinnliche Erfahrung zum Fundament seines Schreibens machen, »das Besondere, die Spielart eines jeden einzelnen Dings erforschen – etwa, wie die Blätter eines Erdbeerhains sich anfühlen an der Innenseite des Unterarms, an der darüberstreichenden Handwurzel, am sie umgreifenden Handteller …«.
In der Offenheit für die Spielart jedes einzelnen Dings finden diese Notizen ihren ganz eigenen Zugang zur Wirklichkeit, die für Handke in der »bloßen geheimnisvollen Erscheinung« liegt, ja, in der Gleichsetzung von Geheimnis und Wirklichkeit. Wer dieses Geheimnis nicht verrät, sondern sich darauf einläßt, wird, das ist das große Versprechen dieser Aufzeichnungen, etwas zurückerhalten – nicht irgend etwas, sondern das, worauf es ankommt: »Ziel des Schreibens, des Lesens, des Lebens: ein Ding, eine Steintreppe, eine Glyzinie, eine Tür, wird von mir gesehen und zeigt sich erkenntlich: das Sich-Erkenntlich-Zeigen der Dinge«. Die Dinge werden erkannt in ihrer Form, ihrer Wesensart, ihrer Eigenheit – und sie erweisen sich dafür als dankbar, da sie nur durch die Betrachtung existieren, angewiesen sind auf einen Resonanzraum, ein Gegenüber, ohne das sie bloße Schemen bleiben, Geschöpfe einer Schattenwelt. Sprache bedeutet hier Erweckung der toten Natur. So wenig Goethe sich die Farben ohne das sie wahrnehmende menschliche Auge denken wollte, so unvorstellbar erscheint es Handke, »daß während der unermeßlichen Zeiträume ohne Menschen das Branden des Meeres von niemandem gehört worden sein soll«. Ein Klang, der im Nichts verhallt, ein Konzert ohne Publikum.
Fremd bleiben muß einer solchen Weltsicht alles schon Erstarrte und Genormte, alles allzu Berühmte und Bewunderte, die pittoresken Straßenszenen und kulissenhaften Landschaften, die beworbenen Sehenswürdigkeiten und zu Tode fotografierten Kunstwerke, die sich dem offenen Zugang, der freien Sinnzuschreibung verweigern. Denn eben darin besteht für Handke die »Aufgabe der Literatur: die noch nicht vom Sinn besetzten Orte ausfindig zu machen«. Ein Fahndungsauftrag, für den sich kaum ein tauglicheres Mittel denken läßt als die dem schweifenden Blick, der gelassenen Aufmerksamkeit, der berührungsfreundlichen Handfläche oder Fußsohle sich verdankenden, aus Anschauung oder Erinnerung gewonnenen Bewußtseinsreportagen. Das sie auslösende Staunen pulsiert noch in der Hülle der Sätze, schützt sie gleichsam davor, schablonenhaft und knöchern zu werden, dem Dargestellten Raum und Freiheit zu nehmen. Gute Literatur, hat Handke einmal gesagt, komme aus dem Erleben der Dinge und der Gerechtigkeit diesem Erlebnis gegenüber, aus nichts anderem. Dafür aber muß der Vorgang des Aufnehmens und Erinnerns in die Beschreibung Eingang finden, muß das Erlebnis in den Eintragungen nachklingen, Wortstellung und Satzbau bestimmen. Ein kaum merklich vibrierender Grund, tragfähig und erschütterbar. Ein Boden, auf dem der Raum der Stille wachsen kann.
Und mit ihm der reine Gegenwartssinn, die beglückende Aufmerksamkeit für das, »was jetzt da ist (die Mancha-Disteln, hellgrau, im Wind neben den Bahngleisen)«. Das, was jetzt da ist – gewissermaßen Handkes Kurzformel für das epiphanische Aufscheinen der Wirklichkeit, das Zusammenkommen von Welt und Wahrnehmung, das nicht herbeigeführt, aber erwartet werden kann. Und zugleich Umschreibung des eigentlichen, des höchsten Lebensgefühls, des schieren In-der-Welt-Seins. Wer sich dieses Zustands bewußt wird, fügt sich ein in den Fluß der Dinge, spürt das Vorwärtsgleiten und Vorankommen, wird hineingehoben in den »Sattel der Gegenwart«. In diesem muß er sich halten, muß den Rhythmus annehmen, die Zügel anziehen und wieder lockerlassen, im Wechsel des Sich-Aussetzens und Sich-Einlassens. Was Handke sich in diesen Aufzeichnungen verbietet, eigentlich jeder Literatur verbieten will, ist das bloße Zuschauen und Beobachten, den Kommentar, das Protokoll, die voyeuristische Perspektive, die sich dem, womit sie sich beschäftigt, nicht aussetzt, die sich nicht einläßt auf das, was sie beschreibt: »Halt gegen die empörende Selbstgefälligkeit der Text- und Geschichten- und Romanhersteller immer den preisgebenden, sich preisgebenden, nicht anders könnenden, aber doch etwas könnenden und dabei doch nie nur sich bespiegelnden, sondern auch den anderen ihr Spiegelspiel ermöglichenden sogenannten ›Narziß‹ hoch!« Das einzige wirkliche Lebendigkeitsgefühl, heißt es in »Gestern unterwegs «, sei Teilnahme. Und ein Dichter kann für Handke nur sein, wer »sich auf ein Ding nach dem anderen einläßt« ("Am Felsfenster morgens«). In der Fähigkeit zur Teilnahme, in der »Kraft des Sich-Einlassens« liege die Befä-higung zum Schreiben, im immer wieder neuen Sich-Aussetzen strukturiere sich die Phantasie. Und aus der Nicht-Beobachtung erwächst das literarische Vermögen, wie angesichts eines Mitreisenden im »Gewicht der Welt«:
Das Gesicht des Mannes heute im Zug, wie es, indem ich, Beobachtungsfeindlicher, Beobachtungsloser, es ganz, ganz wegrücken ließ, mir allmählich ganz nahe kam und allmählich das allgemeine Gesicht wurde, wahnsinnig und lebendig, Mann und Frau zugleich verkörpernd, Gesicht einer Filmhandlung, deren Höhepunkt es gerade darstellte, tief und grenzenlos entrückt, während ich es entrückt betrachtete und doch gleichzeitig noch voll Mißtrauen war – und als ob der Mann das merkte, setzte er sich um und blickte in eine ganz andere Richtung (sein Gesicht war das eines großen Schauspielers gewesen, in Großaufnahme zu sehen auch in der Entfernung)
Wer diese Aufzeichnungsbücher liest, sitzt oft im Zug, in der Metro oder im Bus, manchmal auch im Flugzeug (in den Jahren von »Gestern unterwegs« hat Handke keinen festen Wohnsitz, reist durch Europa, Asien, Amerika). Vor allem aber zu Fuß ist dieser Autor unterwegs, auf Spaziergängen und Wanderungen, durch Großstädte, durch Vororte und im freien Gelände. Das Gehen bereitet den Weg zu den Dingen, setzt etwas in Gang, wird zum »Maschinisten der Seele«, zum Motor der Welterfahrung, hilft hinein in jenen »Sattel der Wirklichkeit« – und in den Tag, in die aus Dunkelheit und Nacht immer wieder entstehende, sich aus der Erstarrung lösende Welt, die ebenfalls eines Impulses, eines Auftakts bedarf, wie ein Schwungrad in Gang kommen muß: »Dieser vorbeifahrende Zug gab dem Tag seine erste große Bewegung. Die abgefallenen Blätter rochen aus dem Rinnstein. Noch war Morgenluft«. Und noch ist Zeit für das Langsamwerden, eine später verpaßte »Möglichkeit(sform)«. Noch kann man sich einlassen und einstimmen auf das, was Handke ganz unbefangen den schönen Tag nennt: »Schöne Tage, es gibt sie, sie sind nicht nur eine Redensart – die Schönheit von Himmel und Erde greift dann ein in das innerste Herz«. Dem geglückten Tag hat Handke, wie der Müdigkeit, der Jukebox und später dem Stillen Ort, auch einen seiner »Versuche« gewidmet. Was er damit meint, ist fern von aller Betulichkeit. Der schöne, der geglückte Tag ist keiner des behaglichen Müßiggangs, sondern eine Herausforderung, die angenommen und bestanden werden will, ein Kaleidoskop, dessen Farben und Muster es zu entschlüsseln gilt. Gelingt dies, werden die Formen erkennbar, benennbar, beschreibbar, bilden sich Linien, Gestalten, Existenzen. Der eigentliche Tagesanfang, schreibt Handke, vollziehe sich in diesem Werden der Formen – »das Sichzacken der Platanenblätter, die auf dem nassen Asphalt liegen – und das Übergehen der Formen auf mich, wodurch ich ersetzt und erweitert werde«. Für den Rest des Tages könne einem dann nichts mehr passieren …
Aber etwas passiert dann doch. Denn wer sich von den Formen des Tages ersetzen und erweitern lassen, wer dem Erlebten gerecht werden und es bestehen will, kann selbst nicht unverwandelt bleiben. Er muß eine Art elastischer Gegenkraft entwickeln, muß der Welt durchlässig standhalten, muß die Durchlässigkeit als »das Standhalten« begreifen. In »Gestern unterwegs« notiert Handke, sein Idealzustand vereine Freudigkeit, Stille, Durchlässigkeit und Schwäche. Und darin bestehe auch die Aufgabe von Büchern, von Gedichten, von Kunst überhaupt – dort, »wo nichts ist, Durchlässigkeit« zu schaffen, dem selbstgewissen Behaupten, Bestimmen, Beweisen entgegenzutreten, die »täglich gehörte, vor Vertrautheit nichtssagende, hilflose ›Du weißt schon, was ich meine‹-Sprache des Kommunikationszeitalters« zu ersetzen. All das traut Handke der Literatur zu. Ohnehin traut er (wie kaum ein anderer) ihr fast alles zu. Aus Stroh kann sie Gold spinnen, Leere und Stille und Schwäche in Sprache, in Schönheit verwandeln, das Nichterlebnis zum Erzählabenteuer machen. Sein großer Schatz, so Handke, das seien gerade die Ermangelungen, die ausgebliebenen Ereignisse der Kindheit – die Eintönigkeit des Tages, die ausgefüllt, die Beschränktheit des Blickfelds, die weggeträumt werden mußte. Das karge dörfliche Leben in Kärnten scheint ein guter Nährboden gewesen zu sein für das Wachsen der Phantasie, für die Erforschung der Dinge, für das weitausholende Erzählen. Und hat vielleicht schon früh die Sehnsucht geweckt nach dem, was später als fernes künstlerisches Ideal erscheint: »Das allerschönste Werk, bestehend aus Nichts, und wieder Nichts, und dem menschlichen Atem, dem Licht, den Tagen und Nächten, hat die Menschheit noch nicht geschaffen«.
In seinen Aufzeichnungsbüchern steht Handke dieses Ideal jedenfalls immer vor Augen. Und die Wege, diesem das Nichts, den Atem und das Licht enthaltenden Werk nahezukommen, sind die Wege der Einfachheit, können nur die der Einfachheit sein. Für das, was einem nahe ist, kann man keine Fremdworte verwenden, hat Martin Walser einmal gesagt. Und auch Gegenwartssinn, Durchlässigkeit und Teilnahme können nur aus Nicht-Distanz, also aus Nähe entstehen. Es sind die einfachen Worte, mit denen die Dinge beschreibbar, die einfachen Gesten, an denen Menschen und Tiere erkennbar sind. Und was sich darüber sagen läßt, lernt man aus den »Varianten des Immergleichen«. Das dabei zu Papier Gebrachte ist das Gegenteil jeder medial aufgeblasenen Kunst. Bleistift oder Kugelschreiber, Notizheft oder Schreibblock reichen aus, um die Eindrücke des Tages, das den Händen Erreichbare, den Augen Sicht-bare, den Ohren Hörbare festzuhalten. Nicht um ein möglichst artifizielles Sprachspiel geht es, sondern, wie Handke mit Blick auf Goethe sagt, um das »stille Sichaneinanderfügen des Vorhandenen«. Dann stellen sich auch die Bilder ein, die lebendigen, gültigen, Denk- und Vorstellungsvermögen erregenden, Sinne und Leidenschaften ansprechenden Bilder. In ihnen liege »der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glückseligkeit«, an ihrer Bilderfähigkeit ermesse sich, immer wieder, die Gesundheit der Seele.
Für all das muß der Leser bereit sein. Der wirkliche, sich etwas erwartende, auf etwas wartende Leser, der sich einem Buch wie einem Abenteuer aussetzt und davon gesund oder vielleicht auch krank werden will. In jedem Fall müsse das Lesen, so Handke, eine Konsequenz haben, eine Handlung nach sich ziehen. Denn das Entscheidende der Poesie sei nicht ihre Gefälligkeit, sondern ihre Dringlichkeit. Das Buchaufschlagen ist eine folgenreiche Entscheidung, ein existentieller Akt. Anders als Zeitungen, Meldungen, Nachrichten mit ihrer von vornherein gegebenen Aktualität sei »das Buch, auch bloß ein Satz, ein Absatz, eine Seite« stets etwas »zu Aktualisierendes – zu Erarbeitendes«. Erarbeiten muß man sich auch die zunächst ganz unverbunden und isoliert anmutenden, in scheinbar beliebiger Reihenfolge angeordneten Notizen dieser Journale. Nur wer sich einläßt auf ihre verborgene Dramaturgie, nur wem sich die Durchlässigkeit der Zwischenräume, das Atemholen und Miteinandersprechen der Sätze mitteilen, wird den alles verbindenden, den epischen Blick erfassen, dem »selbst der Zahnstocher zwischen den Lippen eines Passanten« erzählenswert erscheint. Ein »persönliches Epos«, belebt und getragen von Poesie, dem »gefühlten wie begriffenen Rätsel« – einem Rätsel, das auch mit dem Lesen nicht endet. Denn alles wirkt weiter, alles klingt nach. So wie man nach einer langen Wanderung noch die Bewegung des Gehens in den Beinen spürt, oder das Wogen des Meeres nach einem Tag auf See. Warum man sich auf dieses Rätsel einlassen soll, warum es einen betrifft, ist die Frage jeder Kunst. Und jeder Leser, jeder Hörer, jeder Betrachter muß seine Antwort finden. Jeder, den’s angeht.
SINN UND FORM 4/2013, S. 603-610
Rinck, Monika
Hirsche wittern. Birken imitieren Lichtmaschinen. Zur Kultur des Naturgedichts, S. 611
Mosebach, Martin
Architektur - Gedächtnis der Menschheit. Vierzig Jahre Hilmer & Sattler und Albrecht, S. 617
Kleinschmidt, Sebastian
Logbuch. Letzter Eintrag, S. 621
Wenn man das Glück hatte, fast dreiundzwanzig Jahre an der Spitze einer Zeitschrift wie »Sinn und Form« zu stehen, auf der Brücke dieses stolzen (...)
Kleinschmidt, Sebastian
LOGBUCH. LETZTER EINTRAG
Wenn man das Glück hatte, fast dreiundzwanzig Jahre an der Spitze einer Zeitschrift wie »Sinn und Form« zu stehen, auf der Brücke dieses stolzen Schiffes, um im Auftrag eines ehrwürdigen Reeders, der Berliner Akademie der Künste, dafür zu wirken, daß nicht Stürme und nicht Flauten, nicht Untiefen und nicht Klippen dem schönen Segler die Fahrt nehmen, dann geht einem in dem Moment, wo man abmustert, weil es Zeit geworden ist, daß Jüngere das Ruder übernehmen, so manches durch den Kopf. Der Wechsel der Epochen, das Schiff und seine Kapitäne, ihr nautisches Geschick, die Besatzungen, aber auch das Personal der Werften und der Reederei. Nicht zu vergessen das Entscheidende, die Schriften der Autoren, das eigentliche Frachtgut, und die unbekannten Leser, für die es bestimmt ist und die es alle zwei Monate in Empfang nehmen. All denen, die mit Herz und Verstand dafür gearbeitet und gestritten haben, daß Sinn und Form seit fünfundsechzig Jahren seetüchtig ist, sei vielmals gedankt.
Das wichtigste, was Segelschiffe brauchen, ist Wind. Doch gerade der läßt sich nicht kommandieren. Man muß ihn aufspüren. Aufmerksamkeit und Umsicht, Ausdauer und Geduld sind gefragt, variable Routen, bewegliche Rahen, stabile Takelage. Und noch einiges mehr. Der Wind – Seeleute wissen das – weht, wo er will. Es ist wie mit dem Geist. In diesem Sinne sind alle Fahrensmänner Theologen.
Die Fahrten, die Fährnisse – das ist eine lange Erzählung. Zu lang für dieses kleine Wort des Abschieds. Doch eins noch will ich sagen: Es war ein großes Abenteuer, das Abenteuer meines Lebens.
SINN UND FORM 4/2013, S. 621