
[€ 9.00] ISBN 978-3-943297-08-9
Heft 6/2012 enthält:
Steiner, George
Fragmente (leicht verkohlt), S. 725
Diese aphoristischen Fragmente kamen auf einer der verkohlten Schriftrollen zum Vorschein, die unlängst in einer vermutlich als (...)
Steiner, George
FRAGMENTE (LEICHT VERKOHLT)
Diese aphoristischen Fragmente kamen auf einer der verkohlten Schriftrollen zum Vorschein, die unlängst in einer vermutlich als Privatbibliothek genutzten Villa in Herculaneum entdeckt wurden.
Sprachliche Indizien und der Tenor der Darlegung verweisen auf das ausgehende zweite Jahrhundert nach Christus. Einige Gelehrte haben den Namen Epicharnus von Agra zur Diskussion gestellt. Doch über diesen Moralphilosophen und Rhetoriker (falls er das war) ist faktisch nichts bekannt. Zudem macht der Zustand des Papyrus die Entzifferung an einigen Stellen konjektural.
1. Wenn der Blitz spricht, sagt er Dunkelheit.
Zahlreiche Mythologien und Kosmologien schreiben dem Blitz semantische Werte zu. Blitze signalisieren. Sie verkünden und melden aufziehende Stürme. Ihre gezackten, aber grafischen Formen fordern Interpretation. Sie sind eine stumme Kalligraphie, die mitunter an islamische Buchstaben erinnert. Sie sind eine Kurzschrift, die blendend klar und zugleich rätselhaft schweigsam ist (selbst grellstes Gleißen ist geräuschlos). Am bedrohlichsten wirken sie, wenn ihnen kein Donner folgt. Wetterleuchten über einem an sich bereits zu ruhigen Meer. Der Blitz wurde als Jäger empfunden: Der Kugelblitz peitscht durchs Haus oder nagelt den Heidewanderer, den unter einem Baum Schutz suchenden Unbedachten, fest. Sind diese weißen oder blaugrünen Pfeile das mörderische Privileg von Zeus? Des vulkanischen Patriarchen auf Sinai? Hochspannungsblitzbögen lassen sich im Labor erzeugen. Der Dichter (Hölderlin) weiß, daß er, unter Lebensgefahr, versuchen kann, den Blitz mit bloßen Händen zu fangen.
Doch hierin steckt mehr. Man beachte die Unterscheidung zwischen »sprechen« und »sagen«. Äußerung garantiert nicht Signifikanz. Alle Formen und Codes, organische oder konstruierte, können Information vermitteln, können Emotion auslösen. Unsere bloße Existenz ist ein kontinuierliches Lesen der Welt, eine Entzifferungs-, eine Interpretationsübung in einer Echokammer, deren Volumen an Botschaften, an semiotischem Input unvergleichlich ist. Doch dies ist nicht unbedingt mit Verständlichkeit verbunden. Es gewährleistet mit seinem Potential und Ertrag an Paraphrase und Deutung nicht unbedingt Sinn. In diesem Aphorismus – hatte Epicharnus Heraklit gelesen, kannte er die zoroastrische Phänomenologie des signifikanten Feuers? – formuliert der Blitz. Er »macht Sinn« – eine ziemliche Glanzleistung. Wie hören wir sein Schweigen? Die unerklärte Metapher vom »inneren Ohr«, von mitteilsamer Stummheit mag zutreffend sein. Unausgesprochene Behauptungen sind nichts Geheimnisvolles. Siehe die Pausen in der Musik, die Leerräume, die für einige ganz maßgebliche moderne Gedichte oder Gemälde so wichtig sind. Dichter und Philosophen wie Keats oder Wittgenstein beteuern, das Wesentliche ihrer Intention liege im Unausgesprochenen, in »nicht gehörten Melodien« oder zwischen den Zeilen. Man denke an die Wendung »betäubendes Schweigen«. Oder an Kafkas Sirenen, deren Drohung darin besteht, daß sie nicht singen. Wie also sollen wir dieses Fragment lesen?
Die griechische Mythologie ringt von Beginn an mit dem fruchtbaren Paradox der Verneinung. Zu behaupten, daß ein Ding existiert, heißt auch zu postulieren, daß es vielleicht nicht existiert. Jede Substanz ist gepaart mit Nichtsein, mit der dunklen Seite des Mondes. Aber läßt sich Nichtsein denken oder sagen? Parmenides lanciert die westliche Metaphysik auf diese zugleich logische und ontologische, grammatische und substantielle Untersuchung. (Gibt es Dasein außerhalb der Grammatik?) Gibt es ein schwarzes Loch im Innersten des Seins? Was man nicht in einen Begriff fassen kann, kann man nicht aussprechen; was man nicht aussprechen kann, kann nicht sein. Worauf die Sophisten erwidern, daß die bloße Legitimität und Verständlichkeit der Frage den Status von »Nichts« validiert, daß Null beim Rechnen hilft (obwohl »Null« selbst ein späteres Hilfsmittel ist). Hegels Dialektik kehrt zu den Anfängen der Rationalität zurück. Das Prädikat hat Bedeutung, eben weil es uns sagt, was das Objekt nicht ist. Magritte gibt diesem Postulat ironischen Ausdruck – »Dies ist keine Pfeife«. Für Heidegger ist Nichtsein, »das Nicht«, der für die Unrast des Menschen ausschlaggebende wesentliche Abgrund und das Unheimliche an der Quelle des Denkens.
Der Blitzstrahl, sein aufgeladener Glanz zeigt sowohl ihn als auch das Dunkel drum herum. Er macht die Nacht sichtbar, obgleich das Geräusch Schweigen schildert. In totalem Sonnenschein, in mediterraner Mittagsglut, blitzt es nicht. Der Blitz ist nicht wahrnehmbar zu machen. Sein Nährboden ist die Schwärze der Sturmwolken oder der Nacht. So enthüllt er, »spricht« er Dunkelheit. Er entzündet gewissermaßen Widerstreit.
An seinen Orakel- und Symbolfunktionen haftet Ambiguität. Der Blitz kann signalisieren, kann Glück, Sieg in der bevorstehenden Schlacht verheißen. Er ist der Bote, den Zeus dem Kommandeur im Felde, dem Kapitän auf hoher See schickt. Aber er kann auch Verhängnis und den Zorn der Olympier ankündigen. Für die Mitglieder der Verschwörung gegen Cäsar ist er ein »Feuerregen«, ein erschreckendes Zeichen, daß »im Himmel innrer Krieg« ist. »Dunkelheit sagen« kann Ausdruck eines mysteriösen Omens, einer unbestimmten oder spöttischen Prophezeiung sein. Er kann ein Mißgeschick, eine Verfinsterung unserer Verhältnisse deklarieren. Was immer der Code ist, seine Dualität ist unentrinnbar. Mit Heraklit und den Dichtern weiß Epicharnus: kein Licht ohne Dunkelheit, ohne Dunkelheit kein Licht. Hätten wir Metaphysik ohne den abrupten Sonnenuntergang über Ionien und den Ansturm der Sterne?
Die Kosmogonie, Mutmaßungen über die Genese des Menschen, liefert eine weitere Dimension. Der Blitz beseelt die Urmaterie, den Töpferlehm. Er weckt die untätigen oder schlafenden Elemente zu organischer Vitalität. Siehe Frankenstein. Aber auch die Schöpfungsmodelle oder Erzählungen der modernen Biochemie. Elektrische Stürme von phantastischer Spannung und Dauer könnten den Beginn molekularer Interaktionen und Kombinationen hervorgerufen haben. Der Blitz könnte das Leben auf der Erde erzeugt haben. Es gab Laborversuche, fast erfolgreiche, diesen Prozeß zu simulieren, Magma- und Lehmklumpen, Wassertröpfchen mit ihrem entscheidenden Hydrogenium in organische Strukturen einzustrahlen.
Wozu jedoch die Enunziation des Dunkels in unserem Fragment? Weil das Dasein ein gemischter Segen ist, weil es einen tragischen Bruch mit dem Frieden der Untätigen verursacht, weil die Geschichte der Menschheit eine Geschichte unvergleichlichen Verschwendens und Leidens ist. »Das Dunkel wartet uns.« Oder ist dies eine allzu wörtliche Auslegung eines archaischen, vielleicht Stoischen Textes, einer postpaulinischen Unheilverkündigung? Die Mitternacht ist Samt von Salamis oder Kap Sounion. Blitzbögen von Landspitze bis Horizont. Jetzt erstrahlt das Dunkel, und vorm Nachwort des Donnerschlags werden die Sternbilder einzigartig beleuchtet.
2. Freundschaft Töter der Liebe.
Wir kennen die überragende Wertschätzung und Rolle der Freundschaft, philia, in der klassischen Empfindung. Freundschaft ist der Bonus des menschlichen Daseins, seine unverdiente Belohnung. Selbst dort, wo offenkundig, ist die homoerotische Veranlagung, kulturell sanktioniert, nur nebensächlich. Das Wunder liegt viel tiefer. Nichts übertrifft, »eines Freundes Freund zu sein« (Schillers jauchzende Wendung). Der Tod ist fast ein Privileg, wenn er einen Freund rettet. Umgekehrt ist der Verlust eines Freundes irreparabel (man kann wieder heiraten, ein Kind adoptieren). Drei Klagen über den gefallenen Freund prägen das Idiom der Verlassenheit in der westlichen Literatur und Empfindung: Gilgamesch betrauert Enkidu, Achilles Patroklos, David Jonathan.
Die Quelle der Freundschaft ist unergründlich. Sie kann einer vorübergehenden Gefahr entspringen und erfaßt unser Bewußtsein wie ein Sturmwind oder eine Melodie. »Weil er er war, weil ich ich war.« (Montaigne) Die tatsächlichen Umstände, die Daseinsmerkmale sind faktisch belanglos und unübertragbar: seien sie Wohlgestalt, Sozialverträglichkeit, Zweckgemeinschaft, geteilte Passionen oder Haßgefühle. Bekanntlich fordert E.M.Forster, eher das Vaterland als den Freund zu verraten. Wo Freundschaft zusammenschweißt, läßt Inkongruenz sich kompensieren. Ein Mensch, der gegen Freundschaft immun, der zufällig oder mit Absicht freundlos ist, ist ein Verbannter, ein Nachtwandler. Er kann keinen gesicherten Willkomm haben. Freundschaft gibt uns das Recht zu sagen: »Ich bin, weil du bist.« Umgekehrt dauert keine Kränkung länger und vernarbt keine Wunde schwerer als verratene Freundschaft. Einen Freund verraten zu haben oder von ihm verraten worden zu sein. Der Grund kann ein unbedachtes Wort, eine gewöhnliche Geste sein. Diejenigen, die gefoltert wurden, damit sie Namen preisgaben, reden von den stummen Stimmen der Freundschaft, die lauter sind als Agonie. Diejenigen, die zusammenbrachen und einen Freund in den Tod schickten, leben fortan auf Teilzeit. Das bezeugt der Dichter und Widerstandskämpfer René Char in seinen »Aufzeichnungen aus dem Maquis«.
Verzehrende, inbrünstige Freundschaft kann in Kindern reifen. Unerschütterliche Treue kennzeichnet die Adoleszenz. Parolen werden ausgetauscht, Geheimsprachen konstruiert, Rituale vollführt. Vertrautheiten contra mundum werden wichtiger als Familienbräuche. Die Pubertät ist Mai und Juni der Freundschaft. Herz und Verstand sind, wie das überholte Modewort sagt, »hin« vor wechselseitigem Bedürfnis, vor erwiderter Loyalität, vor symbiotischen Intimitäten, die so intensiv sind, daß sie zum Selbstmord führen können. Das Kaleidoskop der Erwachsenenfreundschaft ist mannigfaltig. Sie reicht über Ideologien, ethnische Hindernisse, lange Trennungen hinweg. Philia ist, wie Homer und Vergil wußten, unerläßlich für die aufopferungsvolle Unvernunft des Kampfes, für die Solidarität der Krieger angesichts des Todes. La Rochefoucaulds boshafte Bemerkung, wir trösteten uns leicht über das Mißgeschick von Freunden, enthält ein herbes Körnchen Wahrheit. Doch eben nur ein Körnchen. Wahre Freundschaft jubelt über den Ruhm des Freundes. Die Freundschaften der Alten haben ihre Zeit. Sie passen zu den Belohnungen der Erinnerung, den Spötteleien, die Krankheiten erträglich machen. Alte Freunde begegnen sich auf Parkbänken; sie schnüffeln in der Luft nach dem Geruch des Todes und teilen die schaurigen Bedrückungen der Leere. Derjenige, der am längsten lebt, redet mit sich selbst, so daß der Dialog weitergehen kann. Geriatrische Stationen, die Nokturnen der Altersheime, sind voll von solchem Gemurmel so wie Becketts »Letztes Band«. Sogar am Ende ist Freundschaft das Rätsel der dem (sündigen) Menschen gewährten Gnade.
Warum also ist Freundschaft »ein Töter der Liebe« (eros)?
Theologien, die Philosophien, die sich von ihnen herleiten, die Lieder, die wir summen, nach denen wir seit Welterschaffung tanzen – sie proklamieren, Liebe sei der Gipfel, die Krone, die höchste Gabe des Menschenstandes. Sie ist, vgl. Dante, der Antrieb des Kosmos. Das summa summarum, das Körper und Seele stimmt und vereint. Die Religionen schreiben uns vor, Gott zu lieben – nach seiner Liebe zu streben und ihr zu vertrauen. Dagegen ist die Vorstellung, Gott zum Freund zu haben, peinlich. Fleischliche Liebe, die alles bezwingende Aphrodite, zeugt das gesamte organische Leben. Spirituelle Liebe gewährt uns die Blicke, die vom Unsterblichen zu erhaschen uns vergönnt ist. Keine Vernunftgebote, keine Furcht, keine vorsorgliche Enthaltsamkeit, kein materielles oder soziales Hindernis – der tobende nächtliche Hellespont, der Kerker, in den Fidelio hinuntersteigen muß – ist stärker als die Liebe. Keine Logik, keine wohlbegründeten Symmetrien entzünden Liebe. Die einbeinige Bettlerin hat einen schönen jungen Geliebten. Abartige Liebe kann sich auf Leichen, auf Tiere richten. Die Inzesthemmungen sind schwach wie die Tabus, die Kinder unantastbar machen sollten. Liebe kann der Erfüllung entsagen; es gibt platonische Varianten und glühende Keuschheit, so erotisch wie jeder Verkehr. Das Geschlecht ist geradezu trivial belanglos: Liebe vereint Frau und Frau, Mann und Mann. Das Alter kann unwichtig sein: Alte Männer sind von jungen Frauen leidenschaftlich angeschwärmt worden. Umgekehrt ergattern ältere Frauen junge Geliebte. Eros erzeugt Eifersucht, die bis zum Wahnsinn geht. Wo Liebe verebbt, ist die Kälte ohnegleichen, Sumpfgas, das ins Sein einsickert. Gleichzeitiger Orgasmus (vermutlich selten) ist die Erfahrung, die der Aufhebung des Selbst, dem Eintauchen in den anderen am nächsten kommt. Sie ist Simultanübersetzung im höchsten Sinne. Zudem gibt es für die Instrumente des Erotischen keine Begrenzung: Schlimmste Qualen, freiwillige oder auferlegte, können zur Liebe ebenso dazugehören wie Kot. Da in Reichweite des Unstillbaren, hat Liebe ihre Vertrautheiten mit dem Tod. In poetischen Chiffren kann »sterben« sexuelle Erfüllung bedeuten. Eros und Thanatos sind unteilbar, sagt der Psychoanalytiker und echot Jahrtausende der Dichtung und Musik. Der Liebestod ist alt wie Sappho. Nur wenn wir lieben, schauen wir wirklich in den Spiegel und finden ein Bild, das nicht wir ist, das mehr ist als wir.
Wir fragen wieder: Wie kann Freundschaft ihr Töter sein? An dieser Stelle ist die Schriftrolle unversehrt.
Freundschaft kann als Kritik der Liebe gedeutet werden. Sie braucht nicht die anarchischen Imperative der Sinnlichkeit, die Forderungen und Qualen der Sexualität. Ihr Ursprung mag unklar sein, doch ihre Triebkräfte und Belohnungen sind die der Vernunft. Freundschaft ist eingebettet in Freiheit: Freiheit von dämonischer Besessenheit, von Hysterie und Fieber. Aber Freiheit auch in einem positiven, reichen philosophischen Sinn. Wo es Freundschaft gibt, gibt es gewählte, wohlbedachte Liberalität. Wir geben ohne notwendigen Nutzen oder die Gratifikationen, die im Erotischen inbegriffen sind. Man kann es als freiwilligen, aber zutiefst bedeutsamen Akt derer »in Freiheit« definieren. Sogar in höchster Leidenschaft enthält der Geschlechtsverkehr noch ein hartes Quentchen Mißtrauen (Ekstase läßt sich vortäuschen oder kaufen). Freundschaft kann zudem ungeheuer produktiv sein: für gesellschaftliches und politisches Handeln, wissenschaftliche Forschung, philosophische Beweisführung. Politischer Fortschritt, geistige Debatten, ästhetische Innovation sind größtenteils Gemeinschaftsarbeit. Sie stammt und zieht ihre Energien aus den Sternhaufen der individuellen Begabung, die in der Freundschaft kollidieren, kooperieren, konkurrieren. Liebesbriefe sind oft eintönig, ja kindisch. Die in Freundschaft gewechselten können die wahre Quelle und Werkstatt des Genies sein (Spinoza an Boxel, Goethe an Schiller, Coleridge an Wordsworth). Sexualität strebt nicht nach Gleichheit. Symmetrie der Wertschätzung, der Partnerschaft im Mut, des Schöpferruhms, des politischen Aufstiegs des Freundes ist für das Verhältnis wesentlich. Kurz – und das überzeugend zu formulieren ist schwierig –, Freundschaft ist in der Vernunft, im uneigennützigen Verständnis das, was leidenschaftlich ist. Was Denken zu Edelmut und das Herz intelligent macht.
In der Ehe, in jeder längeren erotischen Erfahrung, kann Freundschaft tödlich sein. Liebende sind keine Freunde. Drei unsterbliche Wörter sagen alles: odi et amo. Der Liebeskalender wird von Ekelschüben unterbrochen, von giftigem Gezänk, von jäher, manchmal unerklärlicher Langeweile und Gleichgültigkeit (Prousts intermittences). Die meisten Ehen, die meisten Affären halten kraft eines Kranzes von Versöhnungen, die nicht immer echt sind. Es ist nicht nur Traurigkeit, tristia, die auf coitum folgt. Es ist Verstörung, sogar Abneigung. Erloschene Libido hinterläßt einen bitteren Geschmack. Doch es gibt auch einen feineren, ambiguen Mechanismus. In der Ehe, in einem aus echter Liebe erwachsenen Zusammenleben kann die Zeit für die vollkommenen, selbstlosen Wunder der Freundschaft reif machen. Mit ihrem Humor, ihrer Geduld, ihrem wechselseitigen Engagement in Kreativität und Perzeption. Die manchmal durch Begierde verstrickten Eheleute reifen zur tatkräftigen Gelassenheit der Freundschaft. Wobei frühherbstliche fleischliche Bedürfnisse, physisches Verlangen, die Scharaden und Melodramen der Sexualität unwirklich, infantil (wie die Babysprache der Verzückten) werden. Leidenschaftslos wahrgenommen, wirken die Sexakrobatik, ihre Gerüche, das von ihr ausgelöste brünstige Stöhnen lachhaft, wenn nicht gar widerlich. Diese Stellungen, diese Erfüllungs-Mimikry (man frage die Frauen!). … Freundschaft braucht weder Bestechung noch »Sexspielzeug«, ein bezeichnendes Etikett, noch Vaseline. Freud hielt Sex nach fünfundvierzig für irgendwie erniedrigend.
Diese Auslöschung des Eros durch die Freundschaft, diese Metamorphose in der Ehe, verlangt Erwachsensein und Glück. Dies ist womöglich der Grund, daß Freundschaft zwischen Männern und Frauen ein privilegierter, vielleicht seltener Umstand ist, besonders in jungen Jahren. Ich kann mich irren, aber diese Modulation von eros zu philia und der gleichzeitige Rückgang von amor ist ein wichtiges Thema, das von der klassischen und der modernen Prosa ignoriert wurde. Wir haben keinen großen Roman, der zeigt, wie Liebende zu Freunden werden (obwohl George Eliot das Können dazu besaß). So gesehen kann Freundschaft tatsächlich der »Töter« der Liebe sein. Wirbelnde Flüsse sterben in der Ruhe des Meeres.
[...]
Aus dem Englischen von Heide Lipecky
SINN UND FORM 6/2012, S. 725-752
Lambrou, Thanassis
Labyrinth, S. 753
Hamburger, Maik
Mein Vater Rudolf Hamburger oder Die Abgründe des kurzen 20. Jahrhunderts, S. 758
In frühester Erinnerung steht er vor mir, sportlich gekleidet in Jacke und Knickerbocker aus englischem Tweed. Der ruhige braune Ton des (...)
Hamburger, Maik
MEIN VATER RUDOLF HAMBURGER
ODER
DIE ABGRÜNDE DES KURZEN 20. JAHRHUNDERTS
In frühester Erinnerung steht er vor mir, sportlich gekleidet in Jacke und Knickerbocker aus englischem Tweed. Der ruhige braune Ton des Pfeffer-und-Salz-Musters schien seine Persönlichkeit am besten zur Geltung zu bringen; der Stoff faßte sich weich, aber fest an, und die männlichen Schultern wirkten darin noch breiter. So kam er nachmittags von seiner Arbeitsstelle, einem Architektenbüro in Shanghai, um sich sogleich mit mir auf dem Rasen hinter dem Haus zu balgen. Heute bin ich bei nüchterner Berechnung erstaunt, wie kurz die Zeit des Zusammenseins in Wahrheit gewesen ist. Zweieinhalb Jahre in China, vier in Polen und der Schweiz, dazwischen lag schon eine Unterbrechung. Der sich dann 1939 für eine »kurze Zeit« vom Achtjährigen verabschiedete, verschwand für sechzehn Jahre. Zehn davon beschreibt er in seinem Lagerbericht. Rudolf Albert Hamburger war elf Jahre alt, als mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges das »kurze 20. Jahrhundert«, das »Zeitalter der Extreme« (Hobsbawm) einsetzte, für dessen Brüche, Abgründe und Verwerfungen sein unsteter Lebensweg geradezu modellhaft zu stehen scheint.
Als Sohn des Textilfabrikanten Max Hamburger im schlesischen Landeshut geboren, wächst Rudolf in einem kultivierten großbürgerlichen Haushalt auf, zu dessen Freundeskreis auch die Familie Gerhart Hauptmanns zählt. Das väterliche Unternehmen floriert, denn der nach Kriegsausbruch aufschießende Bedarf an Uniformstoffen sorgt für Staatsaufträge. In der Schule sitzen die Fabrikantensöhne neben den Arbeiterkindern in einer Klasse. Rudolf freundet sich mit einem proletarischen Jungen an, der gelegentlich zum Spielen in die Hamburgersche Villa eingeladen wird. Eines Tages unternimmt Rudolf einen Gegenbesuch. Seine Bestürzung ist enorm. Jahrzehnte später wird er sich in seinen autobiographischen Aufzeichnungen an die elendeWohnküche erinnern, den Lärm, die Gerüche, den barschen Ton der Mutter zu den Kindern und den neuen Blick auf seinen Freund, der in diesem Milieu seine Schularbeiten erledigt. Im GULAG wird er sich über die Umkehrung der Verhältnisse Gedanken machen, da der ehemals Privilegierte jetzt als »Politischer« zur untersten Stufe der Lagerhierarchie gehört.
Von den drei Brüdern ist Rudolf der Künstler. Er studiert Architektur in München, in Dresden und zuletzt bei Hans Poelzig in Berlin, der ihn nach dem Diplom als Meisterschüler aufnimmt. In Berlin lernt er Ursula Kuczynski kennen, Tochter des renommierten Demographen Robert René Kuczynski, das Paar heiratet 1929. Das temperamentvolle, mit ganzer Leidenschaft dem Kommunismus zugetane Mädchen wird später einmal berühmt werden als »Sonja«, die Geheimdienstagentin, die die von Klaus Fuchs besorgten Unterlagen aus der anglo-amerikanischen Atomforschung an die sowjetische Armeeaufklärung GRU übermittelte.
Der frischgebackene Architekt steckt voller Tatendrang, aber die Weltwirtschaftskrise drückt schwer auf den Markt. Bauaufträge sind rar. Durch einen glücklichen Zufall erhält er ein Angebot aus China. Auf dem Bahnweg reisen die jungen Eheleute über Sibirien nach Shanghai, wo Hamburger eine Stelle bei der Stadtverwaltung des International Settlement antritt. Sein Einstand könnte schwungvoller nicht sein: er entwirft das vierstöckige Victoria Nurses’ Home, das als ein Pionierbau der Moderne in China gilt; es folgen eine Schule, eine Müllverbrennungsanlage und – man kann seine Aufgaben nicht wählen – ein Gefängnis. Darüber hinaus erledigt er private Aufträge für Innenausstattungen. Nicht nur als Fachmann, auch durch seinen Charme, seinen Humor und sein natürliches Taktgefühl macht er sich schnell beliebt in europäischen Gesellschaftskreisen. Die auch geschäftlich nicht unwichtigen Einladungen führen zu Auseinandersetzungen mit seiner Frau, die in dem neokolonialen Spießermilieu, wie sie es sieht, nur widerwillig die nette Gattin gibt. Es kommt aber noch kategorischer: Durch die Vermittlung Richard Sorges nimmt Ursula Hamburger Verbindung zur Kommunistischen Partei Chinas auf und stellt, wenn ihr Mann arbeitet, das gemeinsame Wohnhaus für konspirative Treffs zur Verfügung. Als sie nicht umhinkann, ihn einzuweihen, ist er außer sich. Nicht nur, daß er sich hintergangen fühlt – sie hat die Familie aufs Spiel gesetzt. Für solche Aktivitäten droht auch Ausländern die Todesstrafe. Er will es ihr verbieten, vergeblich. Die Kluft zwischen ihnen reißt immer weiter auf. Ursulas Entschluß, zu einer einjährigen Ausbildung bei der GRU nach Moskau zu fahren und den Sohn bei den Großeltern in Schlesien unterzubringen, bedeutet faktisch das Ende der Ehe.
Die politische Entwicklung ist nicht geeignet, seine Stimmung zu heben. In Shanghai wüten die japanischen Invasoren, unter den ansässigen Deutschen gewinnt die nationalsozialistische Gesinnung immer mehr an Boden, die Nachrichten aus Deutschland selbst sind verheerend. Das düstere, ja bedrohliche Erscheinungsbild der westlichen Länder lenkt Hamburgers Blick in Richtung Sowjetunion als einzige glaubwürdige Alternative. Seine Ansichten radikalisieren sich, nähern sich denen seiner in der Ferne agierenden Ehefrau.
Der mittlerweile angesehene Architekt trifft eine verhängnisvolle Entscheidung. Er mag nicht mehr abseits stehen. Er will handeln. Er bewirbt sich als Agent bei eben der Organisation, für die seine Frau schon tätig ist. Die Verantwortlichen bei der GRU zögern. Sie können ihn vielleicht besser einschätzen als er sich selbst. Als er weiterhin insistiert, erhält er doch einen ersten Auftrag: seine Ehefrau – auf dem Papier ist sie es noch – mitsamt Sohn nach Polen zu begleiten, um ihre illegale Tätigkeit dort nach außen abzuschirmen. Es soll der Anschein einer heilen Familie gewahrt werden. Eine Ausbildung als Agent sei für Hamburger nicht nötig, er könne ja bei seiner Frau Kompetenz erwerben. Learning by doing: eine in dieser Branche höchst riskante Devise!
Der fünfjährige Sohn weiß von diesem Arrangement natürlich nichts; nichts davon, daß diese Jahre mit dem Vater ihm nur vergönnt sind, weil es dem sowjetischen Armeegeheimdienst gut in den Plan paßt. Für mich ist die Familie wieder beisammen. Bald kommt meine Schwester zur Welt, Tochter aus einer kurzen Verbindung mit einem deutschen Kommunisten, die mein Vater als sein Kind anerkennt und amtlich einschreiben läßt. (Es widerstrebt mir, sie Halbschwester zu nennen.) Die Wahrheit wird sie, werden wir, zwanzig Jahre später in der DDR erfahren. Das Familienleben vollzieht sich nach meiner Wahrnehmung reibungslos; ich wüßte nicht, daß es zwischen den Eltern je Streit gegeben hätte (worüber jemand mit größerer Lebenserfahrung vielleicht doch stutzig geworden wäre). Bei meiner Mutter erhielt ich den ersten Schulunterricht, erlaubte doch der häufige Wohnungswechsel nicht, mich in einer polnischen Lehranstalt einzuschulen; mit meinem Vater erschuf ich immer kühnere Bauwerke aus dem Baukasten; und mit beiden unternahm ich Skiausflüge in die Berge um Zakopane, wo wir ein märchenhaftes Holzhaus bewohnten. Heute bestürzt mich die Vorstellung, welche Gefühle mein Vater bei diesem Rollenspiel gehabt haben muß.
In der Schweiz lassen sich Rudolf und Ursula amtlich scheiden, ich bleibe fortan bei meiner Mutter. Hamburger befindet sich zudem wegen seiner jüdischen Abkunft in einer prekären Situation: sein deutscher Paß ist abgelaufen und einen neuen kann er nicht beantragen. Es bleibt ihm keine andere Wahl, als einen ihm in Genf angebotenen honduranischen Paß zu kaufen, mit dem er 1939 nach China zurückreist, um dort seine Arbeit für die GRU fortzusetzen. Unerfahren und obendrein vom Pech verfolgt, wird er in Chungking, der zeitweiligen Hauptstadt der Nationalchinesen, aufgegriffen. Ein Jahr verbringt er in Haft, erleidet Folter, hat keine Verbindung mit der Außenwelt. Sein Leben verdankt er dann wohl doch einem Quentchen Glück. Dem Bruder Otto, der zu der Zeit in Shanghai lebt, wird ein Telegramm aus Chungking zugespielt. Die im Ganovenjargon versteckte Botschaft ist nicht schwer zu entschlüsseln: »H’s Bruder als Späher ins Kittchen. Soll weggeputzt werden.« Mit H ist Otto selbst gemeint, der Bruder ist Rudolf. Otto alarmiert Rudolfs Freunde, die die Nachricht weitergeben, schließlich wird er durch diplomatische Intervention von sowjetischer Seite (so wird vermutet) aus der Haft entlassen.
Ein Jahr darauf führt ihn sein Weg als Kundschafter nach Teheran. Dort wird er, wie offenbar seine Auftraggeber auch, vom deutschen Überfall auf die Sowjetunion überrascht. Im Nu besetzen englische, russische und amerikanische Truppen das Korridorland Persien. Hamburger gelingt es, als Mitarbeiter eines Ministeriums in Teheran unterzukommen. Aufgrund einer Denunziation wird er festgenommen. Er verbringt Wochen in amerikanischer, dann englischer Haft. Sein honduranischer Paß – die Vorgesetzten bei der GRU haben es nicht einmal für nötig gehalten, ihn mit einem glaubwürdigen Dokument auszustatten – erhärtet den Verdacht auf konspirative Verwicklungen. Da er jedoch in den Verhören wenig preisgibt und kaum Beweise gegen ihn vorliegen, entläßt man ihn mit der Maßgabe, in kürzester Zeit aus Persien zu verschwinden. Was liegt näher, als in dem Land, für das er so viel riskiert hat, in seiner Sowjetunion, um Asyl zu ersuchen? Es scheint die richtige Entscheidung zu sein. Wohlbehalten erreicht Hamburger Moskau. Am dritten Tag wird er verhaftet.
[...]
SINN UND FORM 6/2012, S. 758-768
Hamburger, Rudolf
Zehn Jahre Lager. Bericht über die Inhaftierung in russischen Arbeitslagern 1943-1952, S. 769
Judt, Tony
Marxistisches Denken. Gespräch mit Timothy Snyder, S. 791
Dehnel, Jacek
Gedichte, S. 806
Gadda, Carlo Emilio
Die Villa in der Brianza, S. 810
Manea, Norman
Eine andere Genealogie, S. 819
Fuchs, Tilla
Gespräche mit Serge Klarsfeld und Henri Godard über Céline, S. 825
Morand, Paul
Zurück zu Richard Wagner?, S. 842
Wagner, Nike
Die Lehre vom Überleben. Rede auf Stéphane Hessel, S. 849
»Il n’y a que du bon à dire de lui«, es gibt nur Gutes über ihn zu sagen, meinte neulich unser französischer Botschafter Monsieur (...)
Wagner, Nike
DIE LEHRE VOM ÜBERLEBEN
Rede auf Stéphane Hessel
»Il n’y a que du bon à dire de lui«, es gibt nur Gutes über ihn zu sagen, meinte neulich unser französischer Botschafter Monsieur Gourdault-Montagne über Stéphane Hessel. Er kennt ihn lange, nicht zuletzt aus eigener dienstlicher Erfahrung – als Hessel seinem diplomatischen Corps das Theaterspielen beibrachte, um dessen Teamgeist zu stärken. Andere – wie der »Canard enchainé« – nannten ihn einen »homme debout«, und in unseren Gazetten wird er zumeist als »Vater der Empörten«, als »moralisches Gewissen seiner Nation«,
aber auch als »Glückskind« oder »glücklicher Sisyphus« apostrophiert. In diesem Sommer hatte der 93jährige einen denkwürdigen Auftritt im überfüllten Konzertsaal des Kunstfestes Weimar. »Ein greiser Herr von enormer geistiger Elastizität«, hieß es dazu in der »Süddeutschen Zeitung «, »forderte dazu auf, eine würdige Gesellschaft aufzubauen.« Standing ovations.
Stéphane Hessel ist ein berühmter Mann. Die Journalisten belagern ihn, dringen gelegentlich bis zu den Abfalltonnen im Hof seines Pariser Hauses vor, um des alten Herrn, wenn er gerade – in weißem Hemd und Krawatte – seinen Müll entsorgt, habhaft zu werden. Er ist ein tatkräftiger Mann, vornehme alte Schule, aber keineswegs zimperlich. Er ist der Journalisten »neue Lichtgestalt« seit jenem Oktober 2010, als sein schmales Pamphlet »Indignez-vous!« zum Millionen-Bestseller in Frankreich wurde, mit ähnlichem Verkaufserfolg in anderen europäischen Ländern, inzwischen in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt.
Auf wenigen Seiten wird hier eine Grundhaltung zu den politischen und gesellschaftlichen Verirrungen der Gegenwart dokumentiert und zur Empörung über einen Finanzkapitalismus aufgerufen, der die Werte der Zivilisation bedroht, ablesbar an der wachsenden und immer brutaler werdenden Kluft zwischen Arm und Reich. Aber es geht auch um die Beilegung der Konflikte im Nahen Osten, was ohne Dialog zwischen Christen und Muslimen nicht möglich ist. Mit dem gegenwärtigen Israel geht er hart ins Gericht. »Ich mag ein schlechter Jude sein, denn ich gehe nicht in die Synagoge«, so Hessel andernorts, »ich lasse mir aber von niemandem meine Kritik an der Politik Israels verbieten.« Zugleich ist er Pazifist, plädiert für kompromißlose Gewaltlosigkeit.
Bald folgte seinem ersten Manifest ein zweites Bändchen, diesmal nicht in essayistischer, sondern in Interview-Form. »Engagez-vous!« Darin engagiert er sich für die Ausgeschlossenen, die Obdachlosen und Eingewanderten, für Umweltpolitik und Entwicklungshilfe. Schon mit dem Titel weht ein Stück »existentialistischer« Vergangenheit Frankreichs herüber: Sartre, den er 1939 in Paris kennengelernt hat, läßt grüßen, aber auch der Impetus des Londoner Widerstands de Gaulles ist spürbar, ein Mann, der im Leben Hessels eine große Rolle spielte. Sich empören und sich engagieren sind zwei Seiten einer Medaille. »Die schlimmste aller Haltungen ist die Indifferenz«, so Hessel. »Zu sagen: Ich kann für nichts, ich wurschtel mich durch. Wenn ihr euch so verhaltet, verliert ihr eine der essentiellen Eigenschaften, die den Menschen ausmachen: die Fähigkeit, sich zu empören, und das Engagement, das daraus folgt.«
Gute und aufrechte Menschen gibt es überall. Sie haben bei uns den schlechten Ruf der »Gutmenschen«. Auch Empörte gibt es genug, wie wir durch unsere streitbaren »Wutbürger« wissen. Es gibt selbstverständlich auch viele Bestsellerautoren. Sogar das Alter Methusalems erreicht heute dank medizinischer Technik so mancher. Wo also liegt das besondere Verdienst des Stéphane Hessel, warum sieht die Académie de Berlin in ihm einen würdigen Kandidaten für ihren kostbaren Preis?
Zunächst: Nicht alle lieben Stéphane Hessel. Sein Engagement für die Palästinenser hat ihm eine Strafandrohung wegen »Aufrufs zum Rassenhaß« eingebracht, und auf Betreiben des Zentralrats der französischen Juden verweigerte ihm die École Normale Supérieure im Januar 2011 den Saal für einen Vortrag. Daß er sich einem Aufruf zum Boykott israelischer Waren anschloß, ist ihm verübelt worden. Vielfach wurden seine »Empörungs"-Broschüren auch aus politischer und literarischer Sicht verrissen.
Einerseits, heißt es gönnerhaft aus Frankreich: Wer würde ihn nicht mögen mit seinem entwaffnenden Lächeln, seinem ungeheuren Gedächtnis für Gedichte, seinen geschliffenen Manieren aus einer anderen Zeit, seiner Sanftheit? Andrerseits: die Broschüre, die heute seinen Weltruhm begründet, sei formal ein Machwerk, mit einer »faible plume« geschrieben und banal. Man sei erstaunt über den Mangel an Inhalt, wo doch ein Aktionsprogramm vorliegen solle oder eine Moralphilosophie. Hessel wird als politisch naiv bzw. überholt eingestuft. Empörung sei ja schön und gut, aber wir bräuchten Reflexion. Die Emotion sei eine folgenlose, also billige Form von Auflehnung und in sich verwaschen. Was soll ein Aufruf zu »allgemeiner« Empörung ohne präzise Zielformulierung, der alles in einen Topf wirft: die Empörung zugunsten der armen »Sans-Papiers« und gegen den wildgewordenen Kapitalismus ist doch nicht mit gleichem Maß zu messen wie die Empörung gegen die Nationalsozialisten! In der Tat – Hessel scheint da nicht wählerisch. »Worüber man sich empört, ist beinahe egal«, sagt er in einem Interview mit Jakob Augstein: Man könne die Umwelt schützen oder Tiere, solang man die Grundwerte verfolge: die Ökologie oder den Kampf gegen Armut und Gewalt.
Immer wieder einmal werden ihm auch »Überzeugungs-Naivität« und allzu simple, moralisierende Rhetorik angekreidet. In der Tat – es gibt so rührend einfache Sätze von Hessel wie: »Ich glaube an den Menschen.« Oder auch: »Ich baue auf die Institutionen. « Sätze, die man irgendwie nicht laut sagen kann. Zumindest fallen solche Vereinfachungen uns Deutschen schwer. »Es geht Ihnen ja ziemlich gut, den Deutschen«, gibt Hessel zu. »Aber schauen Sie, wie die Erde zerstört wird, die Wasservorräte privatisiert werden. Da muß man sich doch fragen: Was tue ich dagegen?«
Hessels Weltrettungsvorstellungen – durch Empörung und Engagement einerseits und die beharrliche Arbeit in internationalen Organisationen zugunsten einer zivilgesellschaftlichem »Weltregulierung« andrerseits – scheinen vielleicht »unterkomplex« angesichts einer an Komplexität und Undurchschaubarkeit schier erstickenden globalen Welt. Ist das das Geheimnis seines Erfolges? Daß einer mit klarer, einfacher Sprache spricht? Sicherlich wird sich dieser Sohn zweier schriftstellernder Eltern mit seinen Manifesten nicht den Nobelpreis für Literatur verdienen. Aber es geht um etwas anderes bei Stéphane Hessel, und in diesem »Anderen«, das der aufgeregte Journalismus vernachlässigt, liegt das Preis-Würdige dieses Mannes.
Wenn es so ist, daß die Académie de Berlin nach Kandidaten sucht, die eine kulturelle – oder auch politische – Mittlerrolle zwischen Frankreich und Deutschland spielen, die beide Länder gleichsam in sich aufgesogen haben, dann verkörpert Stéphane Hessel diese Forderung bis zum Wunderbaren, Wundersamen. Reale Verkörperung und symbolische Repräsentanz kommen in seiner Person zusammen, sein Fleisch und sein Blut und die Geschichte beider Länder.
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SINN UND FORM 6/2012, S. 849-855
Delius, Friedrich Christian
Peter Huchel oder Die Kunst, sich nicht zu uniformieren, S. 855