
[€ 9.00] ISBN 978-3-943297-01-0
Heft 5/2011 enthält:
Różewicz, Tadeusz
Eine Erinnerung und ein Gedicht, S. 581
Nur soviel Ich wollte Erinnerungen an den Herbst 1939 in Radomsko notieren … das Bombardement, die brennende Stadt, unsere Flucht durch Flammen (...)
Różewicz, Tadeusz
Eine Erinnerung und ein Gedicht
Nur soviel
Ich wollte Erinnerungen an den Herbst 1939 in Radomsko notieren … das Bombardement, die brennende Stadt, unsere Flucht durch Flammen und Rauch. Das Feuer ist klein und kalt. Die deutschen Bomber ziehen wie Schatten vorbei, das schrille Pfeifen der fallenden Bomben ist wie Stille. Das Ganze wirkt wie ein verschwommenes Bild, wie ein altes, zwischen Zetteln wiedergefundenes Foto. Selbst die große Angst ist klein. Die Asche der Stille, in der ich mit meinem schwarzen Kugelschreiber wie mit einem Stöckchen herumwühle. Die Lebenden und die Toten schrumpfen und verlieren sich am Horizont. Wir flüchten über Stoppel- und Kartoffelfelder in den Wald. Ich erkenne mich nicht mehr in der Million Gestalten, die sich unter dem Septemberhimmel dahinwälzen. Die Brände. Die stummen Sterne. Habe ich überhaupt noch etwas damit zu tun …? Der Faden der Erinnerung blitzt in der Sonne auf und erlischt. Deutsche Flugzeuge fliegen über die freie Flur, verschwimmen, verschwinden wie unser ganzer tragischer polnischer Krieg. Verblaßte Farben, erkaltete Gefühle. Alles ist zum Grabstein geworden … durch Wälder, über Felder und Feldwege hasten polnische Soldaten aus der aufgeriebenen 7. Division von General Gąsiorowski, in Gruppen, einzeln, ohne Waffen, ohne Uniform, ringsum die Deutschen, im Westen, im Osten, überall
ich lebe noch atme spreche
gehe in Deine Richtung
*
Heute vor 53 Jahren begann der Zweite Weltkrieg. Staatsvertreter legen aus diesem Anlaß Kränze am Grab des Unbekannten Soldaten nieder … in Warschau. Noch ein Jahrestag also. Ich wohne jetzt in Breslau und bin 71. Ja, lieber Janusz, ich bin alt. Wir haben uns 1943 zum letzten Mal gesehen. Zu Ostern. Das letzte Fest, an dem unsere Familie noch heil und ganz war: Mutter, Vater, du, Stanisław und ich. Du warst nur kurz da. Du schenktest Stasio und mir einen sehr zurückhaltenden Bericht darüber, daß du im Zirkus warst – in Berlin, daß du im Kino warst – in Wien. Nur ich wußte, was das für ein Zirkus war … Ich hatte die geheime Fähnrichschule absolviert und vergnügte mich vorerst (im Büro für Information und Propaganda) mit »Löschpapier«. Ich wartete sehnsüchtig darauf, daß in unserem AK-Bezirk die erste Partisanen-Einheit geschaffen würde … erst im August ging mein Wunsch in Erfüllung und ich wurde in »Zbigniews« – »Warszyc'« – Einheit einberufen. Am Abend vor seiner Abreise sagte mir Janusz, er wisse nicht, wann er das nächste Mal nach Hause komme. Wir sprachen über Gedichte, ich schrieb damals patriotische Lyrik über Wilna und Lemberg, die Poesie an sich hatte ich aus den Augen verloren … Janusz hatte keine Zeit mehr, Gedichte zu schreiben. Die Arbeit im Untergrund wurde immer mühsamer, komplizierter, gefährlicher. Ich merkte, daß er auf eine früher unbekannte Weise innerlich angespannt war … Als ich ihm meine Sympathie für die Linke offenbarte, die ich schon als Gymnasiast für die »Piłsudski-Linken« hegte, sah er mich eindringlich an und sagte: »Paß bloß auf! Neben der braunen Diktatur gibt es auch noch eine rote … eine ist so schlimm wie die andere … vergiß das nie … beide wollen uns vernichten …"
Vater brachte dich zum Bahnhof. Er hatte gute Papiere (alle echt), einen ganzen Stoß samt Passierschein für die Nacht. Wir scherzten, er habe zu viele Dokumente … das könne Verdacht wecken. Die deutsche Gendarmerie war mitunter launisch und ließ gar keine »Papiere« gelten, egal ob echt oder falsch. Als er zurückkam, erzählte Vater, am Bahnhof habe es von Gendarmen, Wehrmachtsoldaten, Bahn- und Selbstschutzleuten usw. nur so gewimmelt. Unterwegs hätten sie in Jasna Góra angehalten. Janusz habe lange und innig gebetet … ich ging seit 1940 nicht mehr zur Beichte und betete nicht mehr … Bei diesem letzten Treffen verabredeten wir etwas: Falls wir uns im Krieg nicht mehr sehen sollten, würden wir uns nach Kriegsende … in Paris treffen.
Paris. Was machten wir uns in Radomsko für Gedanken um Paris … Vielleicht, weil es so unbekannt und unerreichbar war wie Atlantis. Wir wollten uns am Mickiewicz-Denkmal treffen … An dem und dem Tag in dem und dem Monat um zwölf Uhr mittags … in den ersten drei Jahren nach dem Krieg wollten wir alles versuchen, um zur vereinbarten Stunde dort zu sein … wenn wir uns nicht träfen, hieße das … wir würden uns nie wiedersehen. Mein Gott, damals saßen die Deutschen in Paris. Ich erinnere mich, für unsere Generation war der Fall des fernen Paris eine persönliche Tragödie. Hitler nahm dort Paraden seiner Armee ab.
[...]
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 5/2011, S. 581-590
Zagajewski, Adam
Gedichte, S. 591
Różycki, Tomasz
Als ich zu schreiben anfing, S. 595
Krynicki, Ryszard
Gedichte, S. 600
Kirsten, Wulf
Gedichte, S. 603
Heißenbüttel, Helmut
Landschaft im Gedicht, S. 608
Kurzeck, Peter
»Wenn ich schreibe, kann mir nichts passieren.« Gespräch mit Ralph Schock, S. 624
RALPH SCHOCK: Dein Roman »Oktober und wer wir selbst sind« ist Teil eines großen Erinnerungsprojekts, an dem du seit Jahrzehnten schreibst. (...)
Kurzeck, Peter
»Wenn ich schreibe, kann mir nichts passieren«. Gespräch mit Ralph Schock
RALPH SCHOCK: Dein Roman »Oktober und wer wir selbst sind« ist Teil eines großen Erinnerungsprojekts, an dem du seit Jahrzehnten schreibst. Kannst du die Position des Romans in diesem Werk beschreiben?
PETER KURZECK: Es ist der vierte Band und eine Rückblende innerhalb des Erzählten. Die autobiographische Reihe beginnt 1984, und dann erzähle ich rückwärts den vorangegangenen Herbst und Winter. Hier geht es um den Oktober 1983, ein Herbstbuch also.
SCHOCK: Warum hast du diese Zeit, diese zwölf Monate des Jahres 1983/84, zum Zentrum des Mammutprojekts gemacht?
KURZECK: Weil ich glaube, daß man beispielhaft erzählen kann, daß es reicht, eine bestimmte Zeitspanne zu nehmen, um exemplarisch über das eigene Leben oder die Zeit an sich zu sprechen. Die Bücher vor »Übers Eis«, also vor dieser autobiographischen Reihe, spielen in verschiedenen Zeiten: »Kein Frühling« zum Beispiel in der ersten Nachkriegszeit in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, und »Keiner stirbt« im Oktober 1959. Ich habe mir vorgenommen, mein Zeitalter aufzuschreiben. Jetzt ist es noch wie eine Landkarte, die erst entsteht, oder ein Puzzle. Da und dort sind schon ein paar Flecken zu erkennen, aber es ist mühsam, sich vorzustellen, was aus dem Ganzen einmal wird. Wenn ich zäh genug weitermache und es mir gelingt, die nächsten Bücher möglichst bald zu beenden, wird man sehen, wie das zu leben anfängt, wie es sich zueinander verhält. Ich habe die nächsten zwei oder drei Bücher schon angefangen, für jedes Hunderte von Manuskriptseiten geschrieben und Hunderte von Seiten mit Notizen vorbereitet. Jetzt komme ich mir vor wie in der Nachkriegszeit, mit acht, als wir kein Geld und keine richtige Wohnung hatten, nur ein Flüchtlingszimmer, einen Gemeinschaftsdachboden und eine Gemeinschaftswaschküche, und aus den Lagern gerade erst heraus und nach Hessen gekommen waren. Wir hatten nur einen geliehenen Küchentisch und eine Küchenlampe mit einer 15-Watt-Birne. Natürlich mußte gespart werden, die wurde nur angemacht, wenn es ganz dunkel war – in der Dämmerung noch lange nicht. Wenn sie aber dann angemacht wurde, gab sie ein schönes trübgoldenes Licht und machte aus dem Raum eine Art Höhle, weil sie die Ecken nicht ausleuchtete. Es war ein Licht wie auf einem Rembrandt. Und ich sehe mich als Acht- oder Zehnjährigen abends am Küchentisch sitzen, unter der geliehenen Lampe am geliehenen Küchentisch, auch die Stühle waren nicht unsere eigenen, und ich habe ein Stück Papier vor mir. Papier war damals etwas Kostbares. Auch heute werde ich beim Schreiben nie den Gedanken los, daß es etwas Kostbares ist und daß man es bevorraten muß, damit man immer welches hat. Und ich sehe mich an diesem Tisch sitzen und mich erst mit Bleistift und dann mit Buntstiften ein Königreich malen, weil wir so arm waren … Ich bin natürlich ein König, sonst wäre die Armut ja nicht auszuhalten gewesen. Und das ist, glaube ich, so etwas wie die Vorwegnahme dessen, was ich jetzt tue, nämlich Bücher zu schreiben, die mein Zeitalter festhalten sollen.
SCHOCK: Dein Königreich wird immer differenzierter, größer, umfassender. Du bist inzwischen dazu übergegangen, Neufassungen von bereits abgeschlossenen Büchern herauszubringen, weil sie dir nicht ausführlich genug erschienen.
KURZECK: Das war eine Ausnahme. Als ich »Kein Frühling« fertigstellte, hatte ich zweihundert Seiten mehr und wußte nicht, ob sie reingehören oder nicht. Ich war so erschöpft und müde, daß ich nicht mehr in der Lage war, das zu entscheiden. Ich wollte nur, daß der Roman endlich erscheint, um diese Erschöpfung loszuwerden. Solange ein Buch nicht erschienen ist, schleppt man es mit sich herum. Die Arbeit zog sich schon über Jahre hin und nahm mich so in Anspruch, daß ich am Ende kaum mehr denken konnte. Jetzt, genau zwanzig Jahre später, haben wir das Buch in der erweiterten Fassung herausgebracht.
SCHOCK: Du hast erzählt, daß sich aus einem Nebensatz im zwölften Kapitel des »Oktober"-Romans ein neues Riesenprojekt entwickelt hat, dessen Umfang du noch gar nicht absehen kannst. Vor etwa drei Jahren habe ich dich um einen kurzen Text gebeten, und du hast gesagt: Kann ich schon machen, aber das dauert drei Jahre, weil sechshundert Seiten daraus werden.
KURZECK: Auf diese Art Wildnis habe ich nur bedingt Einfluß. Es geht mir damit wie mit der Schönheit. Ich wußte schon als Kind, ich bin ihr verfallen. Ich kann ihr nicht widerstehen, weder in Form eines Lieds noch einer Blume, weder eines Menschen noch eines Hauses, nicht mal eines Lichtflecks oder eines Baums. Dieses Hingerissensein ist auch beängstigend, weil man merkt, es ist stärker als man selbst. Man ist dem ausgeliefert. So ähnlich geht es mir auch beim Schreiben. Gleichzeitig habe ich ein ausgeprägtes Formgefühl, das diesem Wuchern entgegensteht. Das heißt, ich muß eine Kunstform daraus machen, so wie ich auch Umgangssprache, Erinnerung und freies Assoziieren einbeziehe. Ein großer Teil meiner Arbeit besteht darin, alles erst mal schnell zu Papier zu bringen. Ich schreibe oft ohne Satzzeichen und nur klein, nicht weil ich für Kleinschreibung bin, sondern weil es schneller geht. Auch Schreibfehler korrigiere ich nicht. Manchmal gelingt es mir auf diese Weise, die Arbeit von Wochen an einem Vormittag zu erledigen. Hinterher brauche ich Monate, um es in die Form zu bringen, die mich von der Arbeit erlöst. Sonst kann ich es nicht aus Händen, Kopf und Geist entlassen. Eine andere Art zu arbeiten besteht darin, daß ich zwei oder drei Sätze schreibe oder eher auswendig lerne, beim Gehen, Kaffeetrinken, bei allem was ich tue, und dann sehe, ob ich noch frisch genug bin und vielleicht noch zwei oder drei weitere Sätze hinkriege.
SCHOCK: Diese Sätze bestehen ja oft nur aus wenigen Worten. Du machst ganz kurze Sätze, oft fehlen die Verben. Die braucht man im Grunde auch gar nicht, weil du beim »Vermessen der Zeit« ein Aufzähler bist, und da stören Verben eher, weil sie einen Vorgang beschreiben. Du sammelst Begriffe wie ein Buchhalter. Wie kommt dieser fast verbfreie Stil zustande?
KURZECK: Ganz verbfrei ist er natürlich nicht, die fehlenden Verben fallen bloß besonders auf – vor allem Kritikern und Deutschlehrern. Das ist ein Ergebnis jahrzehntelanger Arbeit. Ich habe von Kind auf geschrieben, damals hatte ich mit drei Sprachen zu tun. Zunächst mit dem Dialekt meiner Eltern, die aus Böhmen waren und ein böhmisches Österreichisch sprachen, das bei meiner Mutter eher Wienerisch klang. Sie war aus dem Kurort Franzensbad, während mein Vater einen harten Böhmerwalddialekt hatte. Dann bin ich in einem Dorf in Oberhessen aufgewachsen, wo die Menschen mit Fremden nicht reden konnten und auch der Schulunterricht auf Hessisch war. Die Sprache meiner Eltern, die ich zuerst gelernt habe, ging praktisch bis zur Haustür – nicht mal das, nur bis zur Küchentür. Und dann gab es noch die Sprache der Bücher. Ich habe von Kind auf viel gelesen, und diese drei Sprachen zu vereinen ist wohl Teil meiner Arbeit. Eigentlich kann man heute nicht mehr so schreiben wie im neunzehnten Jahrhundert, obwohl das zum Teil immer noch gemacht wird. Für die meisten ist Sprache eine ziemlich hölzerne Angelegenheit, auch für viele Kollegen. Da steht dann bei direkter Rede: Anführungszeichen unten, Anführungszeichen oben, antwortete er zornig oder so. Mir ging es darum, eine Sprache zu finden, in der nicht ständig zwischen innen und außen unterschieden wird, in der man es nicht nötig hat, einen antiquierten inneren Monolog kursiv zu setzen und obendrein zu unterbrechen, sondern in einem einzigen Satz nachvollziehen kann, was jemand wahrnimmt und denkt – so wie er selbst es formulieren würde. Ich wollte der Sprache die Lebendigkeit geben, die sie im Alltag hat. Zum Beispiel wenn ich in eine Kneipe gehe oder am Bahnhof ankomme und der Bahnhof ist nicht mehr da, weil er umgebaut wird, wie jetzt gerade in Saarbrücken. Oder wie das, was ein Taxifahrer mir erzählt, während wir unterwegs sind. Ich sehe, ob er die Uhr eingeschaltet hat, aus dem Lautsprecher schnarrt die Zentrale, die Straße fängt an zu fahren, man sieht, daß am Stadtrand ein ganzes Industriegebiet umgebaut wird, daß etwas Neues entsteht. Und ich versuche das alles zusammenzubringen: die Umgangssprache des Taxifahrers, das, was sie bei mir hervorruft, was ich ihm antworte, die Erinnerung an ein anderes Gespräch, das ich vor vierzig Jahren in Stockholm geführt habe. Die Erinnerung wird man ja nicht los, für den Schriftsteller ist sie eine Art Werkzeug. Und weil man sie als Arbeitsmittel benutzt, geht man anders mit ihr um. Man weiß schon im voraus: Das wirst du irgendwann brauchen. Man richtet sein Leben so ein, daß man sich später gut erinnern kann.
[...]
SINN UND FORM 5/2011, S. 624-633
Sofsky, Wolfgang
Menschenopfer, S. 634
Schalamow, Warlam
Erzählungen aus Kolyma, S. 649
Dieckmann, Friedrich
Der Zusammenstimmer. Über Thomas Langhoff, S. 661
Wirsing, Sibylle
Heinrichs Zeughaus. Zum Abschluß der Brandenburger Kleist-Ausgabe, S. 675
Aragon, Louis
Heinrich von Kleist, S. 689
Am 21. November 1811 entdeckte das Hausmädchen beim Gasthaus »Zum Stimming«, etwa anderthalb Kilometer von Potsdam entfernt in Richtung Berlin, (...)
Aragon, Louis
Heinrich von Kleist
Am 21. November 1811 entdeckte das Hausmädchen beim Gasthaus »Zum Stimming«, etwa anderthalb Kilometer von Potsdam entfernt in Richtung Berlin, ein Paar, das sich in einem Wäldchen am Ufer des Wannsees den Kaffee hatte servieren lassen. Mann und Frau waren von Kugeln durchbohrt, aber lächelten. Es waren die Ehefrau des Schatzmeisters der Brandenburgischen Landesbrandversicherungsanstalt, Henriette Vogel, und ihr Gefährte, der vierunddreißigjährige Dichter, Dramatiker und Romancier Heinrich von Kleist.
Es handelte sich nicht um das Schlußkapitel einer unglücklichen Liebe. Zwischen beiden hatte sich kein Roman abgespielt. Der Doppelselbstmord war seit langem beschlossen, die Begründung für jeden eine andere: Sie litt an einer unheilbaren Krankheit; er verzweifelte an einem Leben, in dem literarische Mißerfolge, eine verfahrene materielle Situation und eine durch die frühromantische Werther-Mode verstärkte Neigung zur Melancholie vor dem Hintergrund der vaterländischen Misere zusammenwirkten.
Wann immer von Kleist die Rede ist, der Vorfall am Wannsee wird das Gesagte unweigerlich überschatten. So wie bei Nerval die Laterne immer präsent ist, an der er sich erhängt hat. Oder wie Chattertons Selbstmord selbst bei denen bekannt ist, die seine Verse nie gelesen haben. In Frankreich werden die patriotischen Ausfälle des Dichters gegen Napoleon und seine Armee den Fall zusätzlich belasten. Denn so sind wir nun mal: Wir können es nicht ertragen, daß man von Franzosen begangene Verbrechen auch Verbrechen nennt, und unsere Historiker, unsere Kritiker betrachten den deutschen Patriotismus als abscheulichen Nationalismus, zu jener Stunde, da unsere Vorfahren ein überfallenes Land tyrannisierten, wohingegen unser eigener aggressiver Nationalismus ihnen höchstens als natürliche Folge der natürlichen Gefühle erscheint, die Jeanne d'Arc oder die Soldaten des Jahres II der Republik beflügelten.
Dabei ist Heinrich von Kleist eine ziemlich singuläre Figur, ein bewunderungswürdiger und bemitleidenswerter Mensch, dessen unentschlossenes und widerspruchsvolles Leben aber keineswegs vorbildlich war. Er ist ein Spiegel seiner Zeit, und deren Widersprüche lassen sich an seiner Geschichte ablesen. Das Exzessive seiner Werke wird nur dann verständlich, wenn man sie in den historischen Rahmen einfügt, in dem sie entstanden sind. Man sollte die Schwankungen dieses Geistes, die Etappen seines Lebens stets vor der Kulisse jener dreißig Jahre verfolgen, die zu den leidvollsten, bewegtesten der Weltgeschichte zählen: zwischen dem alten Friedrich von Preußen und Napoleons Herrschaft über Europa, mit den von ferne lodernden Flammen der Französischen Revolution und dem Gepolter der einstürzenden Bastillen, zwischen Kant und Fichte, der philosophischen Entwicklung der deutschen Weltanschauung, der wissenschaftlichen Morgenröte des neunzehnten Jahrhunderts mit Lamarcks erstem Schlag gegen die Doktrin der Unwandelbarkeit der Arten, der französischen Invasion und dem Erwachen der Romantik.
Geboren wurde Heinrich von Kleist im Herbst 1777 in Frankfurt an der Oder, als Sohn eines brandenburgischen Offiziers, dessen adeliges Erbe unter sieben Kinder verstreut wird. Selbstverständlich ist er zum Soldatenleben bestimmt: 1792 tritt der Fünfzehnjährige unter Friedrich Wilhelm II. in die Armee ein. 1799 verläßt er sie nach sieben Dienstjahren. In dieser Zeit, in der er im Krieg gegen die Franzosen eingesetzt wird, zeigt Kleist wenig Begeisterung für den Militärstand. Unmittelbar nach der Schlacht bei Valmy schreibt er folgendes Gedicht:
Der Höhere Frieden
Wenn sich auf des Krieges Donnerwagen,
Menschen waffnen, auf der Zwietracht Ruf,
Menschen, die im Busen Herzen tragen,
Herzen, die der Gott der Liebe schuf:
Denk ich, können sie doch mir nichts rauben,
Nicht den Frieden, der sich selbst bewährt,
Nicht die Unschuld, nicht an Gott den Glauben,
Der dem Hasse, wie dem Schrecken, wehrt.
Nicht des Ahorns dunkelm Schatten wehren,
Daß er mich, im Weizenfeld, erquickt,
Und das Lied der Nachtigall nicht stören,
Die den stillen Busen mir entzückt.
Selten wurde eine Prophezeiung vom Propheten selbst so widerlegt! Von ihm, der seiner Schwester Ulrike am 25. Februar 1795 schrieb: »Gebe uns der Himmel nur Frieden, um die Zeit, die wir hier so unmoralisch töten, mit menschenfreundlicheren Taten bezahlen zu können!« Doch auch der Frieden, der im April 1795 zwischen Friedrich Wilhelm II. und der Französischen Republik in Basel unterzeichnet wurde, machte das Militärleben nicht annehmbarer für den jungen Mann, der 1798 im Entwurf eines Briefs, in dem er den König um seinen Abschied bitten wollte, schrieb: »Die größten Wunder militärischer Disziplin, die der Gegenstand des Erstaunens aller Kenner waren, wurden der Gegenstand meiner herzlichsten Verachtung; die Offiziere hielt ich für so viele Exerziermeister, die Soldaten für so viele Sklaven, und wenn das ganze Regiment seine Künste machte, schien es mir als ein lebendiges Monument der Tyrannei.«
1799 verläßt er das Heer, erfüllt vom Wunsch zu studieren, von einer glühenden Leidenschaft für die Wissenschaft. Er vertritt eine Art Stoizismus, der dem Menschen sein Glück zum Ziel setzt, dieses Glück aber von der sittlichen Leistung des Individuums abhängig macht. Er läßt sich an der Universität in Frankfurt an der Oder immatrikulieren. Er ist Theist, löst sich aber von der gängigen Religion. Zu diesem Zeitpunkt erfolgt die Verlobung mit Minchen oder Minette, Wilhelmine von Zenge, die bis zum Frühjahr 1802 hält. Eine sonderbare Verlobung übrigens, eine sonderbare Liebe, ebenso abstrakt wie die Moral des Studenten, und eher ein Ausblick auf das Leben, das Kleist sich vorstellt, als ein Ereignis dieses Lebens.
Damals ist Kleist besessen von seiner Weiterentwicklung und wissenschaftlichen Bildung, er lehnt es ab, eine Arbeit anzunehmen, sich auf einen Beruf zu beschränken. Und so erscheint ihm die Heirat mit Minette erst sehr viel später möglich, wenn er sich festgelegt, eine Stelle und die Mittel zur Gründung eines Hausstands hat. Zu diesem Zeitpunkt sieht sich unser der Armee entronnener Pazifist als »Weltbürger«. Nichts läßt den Nationalisten ahnen, der er vier Jahre später sein wird.
[...]
SINN UND FORM 5/2011, S. 689-697
Kudielka, Robert
Hommage à Claire. Hermann Pitz in Rheinsberg, S. 699
Nolte, Verena
Winterinland. Laudatio auf Dorothea Grünzweig, S. 703
Grünzweig, Dorothea
Im Dachzimmer Europas. Dankrede zum Anke-Bennholdt-Thomsen-Preis, S. 709