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Heft 3/2010 enthält:
Caillois, Roger
Katechismus und Almanach. Über Saint-Exupéry, S. 293
Als Kind hatte Saint-Exupéry offenbar eine fast religiöse Ehrfurcht vor dem Schriftstellerberuf, die er auch nie verlor. Für Kinder und schlichte (...)
Caillois, Roger
Katechismus und Almanach. Über Saint-Exupéry
Als Kind hatte Saint-Exupéry offenbar eine fast religiöse Ehrfurcht vor dem Schriftstellerberuf, die er auch nie verlor. Für Kinder und schlichte Gemüter ist Gedrucktes dasselbe wie Literatur. Es hat für sie ein Prestige, das sie später als unverdient ansehen müssen. In Inneraustralien leben Stämme, bei denen die – rein negative – Initiation darin besteht, daß den Jungen erklärt wird, es gebe weder Götter noch Geister, die seltsamen Geräusche, die sie erschreckten, könnten auch sie, zum Schrecken anderer, erzeugen, mit Instrumenten, die sie bekämen, die furchteinflößenden weißen Spukgestalten könnten auch sie beliebig herbeizitieren, indem sie sich mit Farbe bemalten, die sie bekämen, und Masken trügen, die sie selbst schnitzten. Strehlow, der die brutalen und im wahrsten Sinne des Wortes vernichtenden Initiationsreden wörtlich überliefert, schreibt, soweit ich weiß, nichts über die Gefühle der jungen Loritja (oder Aranda?), die zum Ausgleich für dieses plötzliche Vakuum die Macht erhalten, andere zu ängstigen, die ebenso naiv sind wie sie selbst noch einen Tag zuvor. Ich für mein Teil sehe fast keinen schlimmeren Grund zu verzweifeln: Das mit Furcht und Zittern Respektierte bricht zusammen, doch der Zusammenbruch führt zu einem entscheidenden Aufstieg. Man erklärt dem Novizen, daß man ihn getäuscht hat, und entschädigt ihn für dieses Wissen mit der allgemein anerkannten Befugnis, andere zu täuschen. Dieser Handel ist keine Besonderheit der inneraustralischen Savanne. In den Hauptstädten der zivilisierten Welt offeriert man dergleichen, wiewohl entschärft und abgemildert, dem angehenden Diplomaten, dem Jungmanager, dem Studienanfänger, jedem, der sich anschickt, die bedeutsame Schwelle zu überschreiten. Er blickt ins Nichts, aber erhält dafür einen kleinen Anteil an der Macht: einer Macht, die bei den Wilden auf unverhohlenem Betrug beruht, in den Gremien moderner Gesellschaften darauf, daß man die Aufgabe und die Schwierigkeiten, sie zu erfüllen, auf feine, aber unklare und kaum faßbare, doch letztlich beeindruckende Weise mystifiziert. Diese Mystifikation geht einher mit Geheimniskrämerei hinsichtlich der mit der Aufgabe verbundenen Privilegien. Solche Praktiken sind zwar schwerer zu durchschauen als Masken oder Farben, aber ebenso verlogen.
Nicht anders ergeht es dem literaturgläubigen jungen Menschen, wenn er selbst Schriftsteller wird. Bis dahin hatte er vor Büchern denselben Respekt wie vor Priestern oder Lehrern. Für Kinder, vor allem auf dem Lande, sind Bücher etwas Besonderes und fast immer von gleicher Art. Die ganze Literatur scheint ihnen verwandt mit Büchern, die sie kennen und die ihnen die Welt aufschließen, die Erfahrung der Erwachsenen vermitteln und ihnen ihre Pflichten dartun. Sie sind, wie das Abc-Buch und der Kalender, ohne Wenn und Aber gültig und auch ein bißchen magisch. Sie überbringen Gesetze, Wissen und Macht. Das gilt nicht nur für Lehrbücher. Eine unerschöpfliche Fundgrube ist der Almanach: er enthält tausend praktische Anleitungen, Bildtafeln von Saaten, Äckern, Ernten, verschiedenen Knoten, unterhaltsame Einblicke in die Physik, Porträts und Lebensläufe ausländischer Staatsoberhäupter, die wöchentlichen Himmelskarten, mit weißen Sternen in kleinen schwarzen Quadraten oben und unten auf der Seite, alle möglichen wertvollen, nützlichen oder ausgefallenen Kenntnisse, die für anhaltende Freude sorgen; eine offene Tür ins wirkliche Leben, in die unermeßliche Welt. Dazu kommt der Katechismus, durch den das Kind Glaubensartikel und Gebote lernt, formelhafte Texte, an denen auch nur ein Wort zu ändern Sünde wäre.
Ein Schriftsteller, der von Kind an diese abergläubische Ehrfurcht vor Gedrucktem erlebt oder empfunden hat, wird sie nicht ohne weiteres ablegen. Vielleicht hat gerade diese Gläubigkeit ihm Lust gemacht, Schriftsteller zu werden. Man müßte untersuchen, wie er die Realität der Literatur allmählich anerkennt und in welchem Moment der von der Hexenkunst Entzückte das Handwerk zu lernen beginnt.
Gewiß ist er oft deprimiert, wenn nicht empört, über die unglaubliche Leichtfertigkeit der Älteren, ihre Gewissenlosigkeit, ihre Erfolgssucht, ihre erbärmliche Eitelkeit. Doch bald entdeckt er voller Scham, daß sich auch bei ihm Fehler einschleichen und verfestigen, die ihn bei anderen stören. Die Gewohnheit tut das ihre, die Scham vergeht und mit ihr die Erinnerung an das einstige Feuer. Schreiben wird zum Beruf oder zum Karrieremittel. Es geht nur noch um Publizität und Auflagen, um Geld und Ehren; und bei einigen, nicht unbedingt den Lautersten, um den Beifall eines kleinen Kreises oder um den Ruf der Lauterkeit. Dies alles blieb Saint-Exupéry erspart. Er hat sich dem entzogen, und vermutlich hat ihm der Verzicht auch gar nichts ausgemacht. Womöglich ist er dem Almanach und dem Katechismus ganz selbstverständlich treu geblieben, obwohl er Katechismen verabscheute und vielleicht nie in einem Almanach geblättert hat. Doch ich spreche vom Gehalt und der Glaubwürdigkeit der Texte und von der Welt der Kindheit und der Dörfer, in der Katechismus und Almanach zwar nicht die einzigen, aber die wichtigsten Bücher waren (in Saint-Exupérys Kindheit). Mit ihnen erkundet das Kind das Heilige und das Weltliche, das Verborgene und das Sichtbare. Es entdeckt den Katalog und die manchmal überraschende (aber das ahnt es nicht) Hierarchie der Tugenden (Hoffnung) und Sünden (Schadenfreude); das System von Glaubenssätzen und Riten; die schlichten Worte der wesentlichen Mysterien; im weltlichen Bereich erlernt es den Zyklus der Jahreszeiten und der bäuerlichen Arbeiten, den Lauf der Sterne am Nachthimmel und ihre Deutung und natürlich auch Basteln, Zauberkunststücke und Knobeleien.
Meist bleibt von diesem frühen zusammengewürfelten Lehrstoff nicht viel hängen. Das Kind verliert den Glauben oder zumindest das Interesse an Offenbarungen und Mysterien. Der Erwachsene wählt einen Beruf, der Fachkenntnisse erfordert und ihn von dem bildhaften und rein zweckmäßigen, oberflächlichen Allgemeinwissen abbringt, das er im Almanach suchte. Saint-Exupéry überträgt und verlängert offenbar mehr als andere diese komplementären Bildungsgüter Katechismus und Almanach ins Erwachsenenleben und baut darauf auf: Er wird Pilot; er kann in stummer Nacht die Sprache der Sterne entziffern; er repariert Motoren, arbeitet an der Verbesserung eines Querruders, eines Landesystems, eines Geräts zur Aufzeichnung von Funkpeilungen, erwirbt Patente, stellt komplizierte Gleichungen auf, schreibt seitenweise Zahlen auf, um rein theoretische Probleme zu lösen, erfindet Kartentricks. Nebenbei verfaßt er moralische Traktate. In dieses Genre gehören alle seine Bücher, wie unterschiedlich sie auch sind: »Nachtflug«, »Die Stadt in der Wüste«, »Der Kleine Prinz«, »Wind, Sand und Sterne«, und erst recht das »Bekenntnis einer Freundschaft« oder die »Carnets«, in denen selbst bei den moralfernsten Themen der Moralist zum Vorschein kommt.
Was ich sagen will: Saint- Exupéry ist nicht zuerst ein Mann des Wortes, das zeigt schon seine Literaturauffassung. Er ist ein Mann der Tat, dem die Tat nicht genügt, weil er weiß, daß sie allein noch nichts besagt; ein Techniker, der nicht nur an den Nutzen der Technik denkt, sondern auch an ihre Gefahren; ein Kämpfer, der sich weder auf Mut noch auf Gehorsam verlassen will. Aber ein Mann der Feder ist er nicht: Sein Beruf zwingt ihn zu Sorgfalt, Härte und Umsicht; er muß sich mit seiner ganzen Person einsetzen, nicht nur mit Worten.
Die täglichen Pflichten schärfen sein Verantwortungsbewußtsein, bei anderen Autoren verkümmert es als erstes, wenn es nicht gebraucht wird. Er erlebt jeden Tag aufs neue, welche Folgen es haben kann, wenn man ein Ruder oder Funkgerät nicht überprüft oder wenn ein Maure glaubt, man sei feige oder illoyal, oder ein Untergebener, man nehme es nicht so genau, oder ein Kamerad, man denke mehr an sich als an die Mannschaft. Er erobert, er gestaltet eine neue, noch ungefestigte Zivilisationssphäre, in der das kleinste Versäumnis sich sofort auswirkt.
Für Saint-Exupéry ist die Literatur ein Zivilisationsmittel. Sie verhindert, daß Ängste und Großtaten, Niederlagen und Triumphe im Nichts verschwinden. Dergestalt erlangen sie gleichsam etwas Physisches, Strahlendes, Vorbildhaftes. Dieses ergänzt die Lehren, die man selber ziehen kann. Die Kunst des Schriftstellers macht sie zu einer einzigartigen Sentenz, einem wertvollen Kommentar, einer fruchtbaren Glosse in jenem unsichtbaren und riesigen Register, das die Erfahrungen einer Kultur enthält. Der Almanach lebt von bedeutsamen Anekdoten und bewährten Maximen, die den Katechismus ebenso prägen wie die alten chinesischen Klassiker und Geschichtsbücher. Saint-Exupéry versucht nie, den Gebildeten mit Hieroglyphen zu imponieren. Er beteiligt sich auch nicht an den Absonderlichkeiten und dem Geschwätz, den tausend Raffinessen, die nur dem Freude machen, der den ganzen Tag darüber nachsinnt, wie man Kollegen dazu bringt, eine Kunst zu bewundern, die sich ihrer selbst entfremdet hat.
Saint-Exupéry hat einen anderen, einen gefährlichen und schwierigen Beruf, der Können, Beharrlichkeit und Mut verlangt. Er arbeitet und kämpft. Am meisten Kraft kostet ihn sein Leben, nicht seine Kunst. In dieser Situation verzichtet er auf das Privileg des Dichters und Romanciers, das freie Erfinden, das man von ihm doch geradezu verlangt. Er weiß, daß in der Kunst Glaubwürdigkeit kein Verdienst ist, Aufrichtigkeit erst recht nicht, und daß man beide fingieren muß; eine Sache der Geschicklichkeit und nicht der Ehrlichkeit. Er kann nicht übersehen – er hat Beispiele vor Augen –, daß, wenn der Erzähler, ob nun Opfer oder Held, nicht sonderlich geschickt ist, die schlimmsten Prüfungen, die kühnsten Taten, die leidvollsten Triumphe stumm und leblos sind, ja gleichsam schlappe, langweilige Lügen; andererseits hat er so manches Meisterwerk gelesen von Menschen ohne Mut und Ethos, die nie gelitten, nichts erlebt und nichts gewagt haben, doch dank ihrer Phantasie bei Gewährsleuten oder in den Werken anderer fündig wurden, als ersetze ihnen die Schöpferkraft die Fähigkeit zu handeln, ja zu fühlen. Für ihre Freunde waren sie unscheinbar und mittelmäßig, und doch gaben sie einer erfundenen Geschichte Farbe, Glanz, Dichte und Klarheit. Darin besteht die grundlegende Ungerechtigkeit, die Eigengesetzlichkeit der Literatur, die wie das Dogma der Reversibilität ist.
Saint-Exupéry kennt sie. Doch er will dieses große Privileg nicht in Anspruch nehmen. Gewiß, er hat Talent und nutzt es, er arbeitet an seinem Stil, der nicht frei ist von gesuchten Begriffen und auch nicht von Rhetorik. Er hat eine besondere Gabe für starke und neue dichterische Bilder: Er verschmäht auch nicht die wunderbaren Wirkungen, die seine nüchterne, konkrete Prosa urplötzlich überstrahlen. Aber daß er solche im engeren Sinne literarischen Talente nutzt, ändert nichts an seinem eigentlichen Ehrgeiz. Für ihn sind sie bloß Werkzeuge, die ihm zur Verfügung stehen und die er bestmöglich nutzen will, weil ein kraftvoller, packender Stil seinem Anliegen mehr Leser verschafft. Das Wichtigste bleibt indes dieses Anliegen.
Er weiß sehr wohl, daß hier andere Regeln gelten, daß Begabung das Wesentliche ist und es besser ist, sie zu fördern, als für ein festes Fundament zu sorgen. Dennoch versagt er sich jedes Ausschmücken und Fabulieren und begibt sich damit der meisten Mittel, die für Schriftsteller so selbstverständlich sind, daß ihre Kunst zunichte würde, wenn man sie ihnen verböte und bloß Gedanken zuließe. Saint-Exupéry dagegen, dieser einzige oder fast einzige seiner Art, schreibt, um seine Aktivitäten zu dokumentieren. Seine Werke sind Berichte. Sie nähern sich seinen Beobachtungen und Erlebnissen immer mehr an. Entgegen dem Anschein gibt es im »Kleinen Prinzen« und der »Stadt in der Wüste« weniger Fiktives als in »Südkurier« und »Nachtflug«, wo Milieu und Figuren ausführlicher geschildert werden und ganz eigenständig sind. Schon diese frühen Werke sind eher Reportagen als Romane. Die Wirklichkeit wird darin kaum umgebildet. Noch weniger im »Kleinen Prinzen« und der »Stadt in der Wüste«, wo ein Moralexperiment knapp und sachlich beschrieben wird.
Saint-Exupéry verachtet, ja verabscheut Literatur, die nicht durch Realität gedeckt ist. Er will nichts schreiben, wofür er sich nicht mit seinem Leben verbürgen kann und das er nicht geprüft hat. So gesehen ist ihm die Welt der Literatur fremd. Er bleibt einer dieser einfachen Menschen, die ganz in der Wirklichkeit aufgehen und Produkte der Imagination höchstens als Ergänzung, nicht aber als Ersatz der Wirklichkeit ansehen.
Zur Unterhaltung gibt es Spiele: Schachprobleme, Anagramme, Kartentricks – Beschäftigungen, die in Almanachen vorkommen und die Saint-Exupéry begeisterten. Sie erfüllen ihren Zweck vorzüglich. Doch warum die Literatur auf Logogriphen beschränken? Von ihr darf man wohl mehr erwarten. Eben weil er an die Literatur glaubt, bevorzugt dieser Autor echte Anagramme, echte Logogriphen. Er verfaßt selbst welche; er widmet ihnen Freizeit und Phantasie. Er trennt die Aufgaben. Die Genres, Zuständigkeiten, Prioritäten werden bei ihm nie vermischt.
Saint-Exupéry lehnt noch ein anderes Schriftstellerprivileg ab, nämlich sich nicht an die Regeln halten zu müssen, die er dem Leser vorschreibt. Die Literatur begünstigt seit jeher auch Skrupellosigkeit und Heuchelei. Sie ermöglicht Feiglingen, Tapferkeit zu fordern, und Mutigen, die Segnungen der Angst zu loben; Geizigen, die Freigebigkeit zu preisen; Lüstlingen, die Keuschheit zu rühmen; Keuschen, die Lüsternheit zu verherrlichen und so weiter. Die Literatur dient zweifellos oft als Ausflucht oder Kompensation. Aber Saint-Exupéry macht sich nichts vor.
Er ist kein Asket, er kennt und genießt die Freuden der Sinnlichkeit. Er lebt weder maßvoll noch enthaltsam, frönt Faulheit, Wollust und Völlerei. Und denkt mit Zärtlichkeit an die Wärme und den Frieden abends im Familienkreis. Er hofft auf einen großen Preis, um alle Freuden des Lebens genießen zu können. Er hat vor dem Leben eine solche Achtung, daß er sich offenbar beherrschen muß, um nicht laut herauszuschreien, daß nichts, aber auch gar nichts die Opferung auch nur eines Menschen rechtfertige. Gleichwohl fordern seine Bücher dazu auf, Anstrengung statt Ruhe, Mühsal statt Freude, Gefahr statt Sicherheit zu wählen.
Die Menschen zum Verzicht auffordernd, betont er dennoch den Wert dessen, was sie verlieren. Er will sie nicht täuschen, er stellt sie vor die Wahl. Er macht ihnen das Glück nicht schimpflich; er beharrt auf der Heiligkeit des Lebens. Er denkt an die Piloten, die beim Aufbau einer Postlinie ums Leben kamen, an das beim Bau einer Brücke zerquetschte Gesicht eines Arbeiters. Ist eine Brücke den Tod eines Menschen wert? Oder die wenigen Stunden, um welche sich die Beförderung von ein paar Geschäfts- oder Liebesbriefen verkürzt? Das fragt er sich nicht nur einmal. Doch letzten Endes bejaht er Brücken und Postlinien. Seine Antwort hätte wohl anders gelautet, wenn das nicht sein Beruf gewesen wäre: unter Gefahren in unbekannter, lebensfeindlicher Umgebung neue Strecken zu erkunden. Dann hätte er die Antwort vielleicht bloß gedacht und nicht aufgeschrieben. Er glaubte wie gesagt an die Bedeutung der Literatur und verlangte von anderen grundsätzlich weniger als von sich selbst.
Er schreibt, um den Menschen den Sinn und die Tragweite ihres Tuns bewußtzumachen. Er sagt ihnen, was sie entzweit: man brauche ihnen nur ein Korn hinzuwerfen, und schon stritten sie. Aber auch, was sie eint: eine Aufgabe, die Zusammenarbeit erfordert. Der Koketten, die über ein verlorenes Schmuckstück weint, erklärt er, daß sie über den Tod weint, der sie von allem Schmuck trennt. Er versucht, bei jedem einen Sinn für die Moralgesetze zu wecken, die so unbeschränkt gelten wie die der Physik oder der Mechanik, nur vieldeutig, komplex, schwerer begreifbar sind als Windverhältnisse und Wetterschwankungen. Die Freiheit des Menschen macht alles unvorhersehbar. Doch gilt auch hier das ungeschriebene Gesetz, daß nichts verlorengeht und alles wiederkehrt.
Saint-Exupéry, der nicht eingestehen will, daß seine Literatur nicht so tiefgründig und nützlich wie Abc-Buch, Almanach und Katechismus ist, will dem Menschen mit seinen Büchern Kraft geben für die Prüfungen, die ihm seine Stellung als begabtes Tier auferlegt. Denn nichts hat dieses Tier dazu bestimmt, Brücken zu bauen oder Postlinien einzurichten, Bücher zu schreiben oder moralische Verpflichtungen einzugehen. Tiere brauchen keine Druckerei, keine Schrift, nicht einmal eine Sprache. Der Dschungel kann auf Logik und Moral verzichten. Doch sobald das Tier – infolge welcher unwahrscheinlichen Kausalkette? – den Instinkt überwindet und mehr als nur seine unmittelbaren Bedürfnisse befriedigen will, sind die Würfel gefallen, es beginnt ein unendliches Abenteuer, zu dem Brücken gehören, Postlinien, Kompaß, Steuern und Wehrdienst, die Inquisition, die Entdeckung Amerikas, die Eroberung Konstantinopels durch Kreuzfahrer oder Türken, Setzmaschinen, Bibliotheken, Fernsehen und schließlich Skepsis, wenn eine Kultur untergeht, die Lästereien derer, die gegen Logik und Moral sind.
Der nicht gläubige Held einer atheistischen Zeit hat nur die Werke und Fortschritte des Menschen, um sich vom Tier zu unterscheiden. Demnächst wird er sowohl den Wert der Werke als auch der Fortschritte in Frage stellen. Viele sind der Meinung, daß die Gewinne nicht die Verluste aufwiegen und die vielen Zwänge ein schlechter Tausch sind für die Unbekümmertheit. Und nicht zufällig suchen gerade die Empfindsamsten und Erfahrensten nach einer Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, die nicht vom Zivilisationsprozeß abgeleitet ist, sondern über ihn hinausgeht, ihn antizipiert und vielleicht erklärt oder rechtfertigt. Bezeichnenderweise stellt Saint-Exupéry die Definition des Menschen, die in André Malraux’ Frage steckt, ob die Freude nicht »von Anfang an vergiftet ist für das einzige Tier, das weiß, daß sie nicht dauern wird«, den Worten seines Kollegen Guillaumet gegenüber, der sich tagelang durch die verschneiten Anden kämpfte, obwohl sein Körper nur noch ausruhen und sterben wollte: »Was ich gemacht hab’, hätte kein Tier gemacht.«
Indem der Mensch sein Schicksal nicht mehr in die Hand der Götter legt, versucht er sich vom Tier zu unterscheiden. An beiden Fronten macht er denselben Versuch, aus berechtigtem Stolz und in kühner Unabhängigkeit. Er weiß, daß auf dem Olymp nur die Götter wohnten, die er sich eingebildet hat, aber er ist noch nicht soweit zuzugeben, daß sein Glaube an diese Projektionen wahrhaftig und fruchtbar war. Außerdem glaubt er sich immer noch dafür rechtfertigen zu müssen, daß er aus dem Tierreich stammt.
Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 3/2010, S. 293-299
Caillois, Roger
Gespräch mit Roger Caillois (1978), S. 300
Noll, Chaim
Die Metapher Wüste. Literatur als Annäherung an eine Landschaft, S. 309
Die Wüste gehört zu den großen Siegern unserer Tage. Und es scheint, als wäre dieser Sieg für den Menschen nichts anderes als eine Katastrophe. (...)
Noll, Chaim
Die Metapher Wüste. Literatur als Annäherung an eine Landschaft
Die Wüste gehört zu den großen Siegern unserer Tage. Und es scheint, als wäre dieser Sieg für den Menschen nichts anderes als eine Katastrophe. Unaufhaltsam expandieren Wüsten, Trockengebiete und Steppen, jedes Jahr um eine Fläche, die ungefähr dem Territorium Deutschlands entspricht. Von Desertifikation, wie Wissenschaftler den Vorgang nennen, sollen weltweit etwa anderthalb Milliarden Menschen betroffen sein: in dem Sinne, daß die Erde, auf der und von der sie leben, sich in Steppe oder Wüste verwandelt.
In den täglichen Katastrophennachrichten spielen die Heimsuchungen durch Wüste und Zu-Wüste-Werden eine geringere Rolle als Flutwellen, Überschwemmungen und Unwetter. Dabei gehen sie, global betrachtet, Hand in Hand, Dürre an einem Ort und Überwässerung an einem anderen, das Defizitäre und das Verschwenderische, als wolle die Natur uns unser Dilemma vor Augen führen, das, wozu wir nicht fähig sind, was wir trotz aller Bemühungen kaum je erreichen: vernünftigen Ausgleich. Es scheint ein globaler Vorgang zu sein, in der Natur wie in den menschlichen Gesellschaften dieser Tage: überall nehmen die Extreme zu, sowohl an Zahl wie an Stärke, überall schwindet „die Mitte“, die erträumte Domäne des Vernünftigen.
Der Zugang zum Thema Wüste erfolgt normalerweise über Kategorien der Wissenschaft: Wüste wird von der Vegetation und vom Klima her definiert, als aride oder semi-aride Zone, in der die Wasserverdunstung – zumindest den größten Teil des Jahres – den Niederschlag überwiegt. Man unterscheidet extrem trockene Kernwüsten, in denen es manchmal jahrelang nicht regnet, und semi-aride Steppen und Wüstensteppen, in denen wenigstens einige Monate im Jahr so viel Regen fällt, daß Pflanzenwachstum möglich ist.
Es gibt Wüsten und Steppen, aride oder semi-aride Zonen, die, bedingt durch Lage, Klima, ökologische Gegebenheiten, seit Menschengedenken nichts anderes gewesen sind, und es gibt andere, die erst durch menschliches Wirken dazu wurden. Zur ersten Gruppe gehören Tiefland- und Hochgebirgswüsten, das heißt große Landstriche, die von Gebirgszügen umschlossen sind, die Niederschläge und feuchte Luft von ihnen fernhalten. Passatwüsten zum Beispiel entstehen durch dominierende Ost- oder Südostwinde, etwa im Norden Afrikas. Auch Salzwüsten brauchen extreme Lage und Witterung. Dagegen können die vom Menschen verursachten Steppen- und Wüstengebiete fast überall und in fast jedem Klima entstehen. Ein frühes Beispiel dafür sind die verödeten, steppenähnlichen, baumlosen Gebiete des Imperium Romanum, in Kleinasien, im Libanon, in Griechenland oder Armenien, wo einst dichte Wälder standen, ehe die Römer sie für den Schiffbau abholzten, für die unzähligen Flotten, die das Imperium benötigte. Manche dieser Gebiete haben sich heute, zwei Jahrtausende später, immer noch nicht davon erholt. Kaum etwas ist geblieben von den legendären phönizischen Wäldern zur Zeit König Hirams (einst „der Schmuck des Libanon“, Jesaja 60,13). Auch auf den Höhenzügen Armeniens kündet, soweit das Auge reicht, karges, verkarstetes Land vom Raubbau der Römer.
Trockengebiete bedecken heute fast die Hälfte der Landfläche unseres Planeten. Der geringere Teil davon ist Wüste im extremen Sinn, das heißt in Form von Wanderdünen, Geröllhalden, Lehmflächen oder Salzkrusten ohne jede Vegetation. Der größere Teil sind Steppen und Halbwüsten, in denen noch Leben möglich ist. Nicht wenige Wüsten waren einst blühendes Land. In unseren Tagen, vor unseren Augen vollzieht sich ein gigantischer Prozeß der Degradation, des Zu-Wüste-Werdens großer Landflächen, und zwar überall in der Welt. Der erste Schritt in diese Richtung ist das allmähliche Verkümmern von landwirtschaftlicher Anbaufläche zu Steppe, Savanne, Prärie oder Grasland, also Landschafts- und Bodenformen, die sich zwar nicht mehr zum Anbau von Kulturpflanzen, aber noch zur Viehzucht eignen. Nach Angaben der Vereinten Nationen mußte während der letzten Jahrzehnte etwa ein Drittel der globalen Anbaufläche wegen Bodenerosion aufgegeben werden.
An sich ist Steppe für den Menschen bewohnbares Land. Vor allem dort, wo günstige klimatische Bedingungen hinzukommen. Bewohnbar sind auch Wüstenrandgebiete – sogar extrem trockener Wüsten –, wo große Flüsse oder Meere sich mit dem Trockenland berühren. In solchen Gebieten vollzieht sich der Übergang von der nomadischen zur seßhaften Lebensweise, und es kommt daher – über längere Zeiträume betrachtet – zur Herausbildung von Zivilisation. Hier entstanden die ersten Hochkulturen, die frühesten Schriftkulturen der Menschheit. Das alte
tische Reich entwickelte sich im Schwemmland entlang des Nils, Thomas Mann nannte es treffend „dieser vom Nil befruchtete Streifen Landes zwischen Wüste und Wüste“. Die babylonische Hochkultur, über Jahrhunderte die beherrschende der Alten Welt, bildete sich im sandigen Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris. Sie nahm ihren Anfang mit dem Bau von Kanälen zwischen den Flüssen, einem gigantischen Bewässerungsprojekt in der Wüste.
Das früheste Tontäfelchen mit Keilschrift, datiert um 3500 v.u.Z., wurde im babylonischen Kisch gefunden, einer ausgegrabenen Stadt im Zweistromland. Ägyptische Papyri mit Bilderschrift, entstanden in der Zone zwischen Nil und Wüste, reichen zurück bis ins Alte Reich zu Beginn des dritten vorchristlichen Jahrtausends. Etwa tausend Jahre später, um 1800 v.u.Z., ist nach heutigem Forschungsstand das erste Alphabet der Menschheitsgeschichte entstanden, in Kanaan, dem schmalen Küstenstreifen am Mittelmeer, der den Wüsten von Moab bis Aram vorgelagert ist. Die Entstehung der Schrift, folglich der ersten Literaturen, ist ursächlich mit dem Topos Wüste verbunden. Zum einen, weil Wüstenrandgebiete ihre Entstehungsorte waren, zum anderen, weil das Grundmotiv der Wüste, die zur Einheit gezwungene Ambivalenz extremer Gegensätze, ihre innere Spannung ausmacht. Diese Spannung ist eine frühe Metapher für die dem Leben innewohnende Gegensätzlichkeit: von Wasser und Wüste, Wachsen und Vergehen, Fülle und Mangel, Frieden und Krieg, Leben und Tod. Das auf Papyrus überlieferte Poem der ägyptischen Spätzeit „Katze und Affe“, entstanden um 1000 v.u.Z., faßt diese Ambivalenz in ein Bild:
In Ägypten gibt es keine Edelsteine,
aber die Nahrung, die den Menschen am Leben erhält,
wächst dafür wieder nicht in der Wüste.
Edelsteine sind wertvoller als Getreide,
aber essen kann man sie nicht.
Zweimal kommt hier das Wort aber vor, Zeichen eines uns Menschen, unserer Umgebung, unserem Sein innewohnenden Widerspruchs. Er wird symbolisiert durch das ungelöste Nebeneinander von Wüste und Nicht-Wüste. Dabei wird „Wüste“ mit Schätzen assoziiert, die es erst noch zu entdecken gilt, was erschwert wird durch Mangel an „Nahrung, die den Menschen am Leben erhält“. Dagegen gibt es in „Ägypten“, womit das Schwemmland entlang des Nils gemeint ist, ausreichend zu essen, aber nichts Kostbares, Neues, Aufregendes mehr zu finden. Es ist eine auch heute noch anzutreffende Konstellation: der in einer entwickelten Gesellschaft lebende, materiell gutversorgte Mensch sehnt sich nach den Herausforderungen der Wildnis. Und umgekehrt: dort Hungernde streben in die reichen Länder. Die Verse finden in der Gegenüberstellung des scheinbar Unvereinbaren ihre Harmonie. Denn beide Sehnsüchte, beide Bewegungen artikulieren sich gleichzeitig.
Auch die biblischen Psalmen, in etwa um diese Zeit, im 10. Jahrhundert v.u.Z., entstanden, thematisieren den Dualismus der Wüste. Vor allem dort, wo von David die Rede ist, der, bevor er auf den Thron kam, jahrelang als Flüchtling in der judäischen Wüste lebte. Auch in ihm findet, korrespondierend mit der Gegensätzlichkeit des landschaftlichen Hintergrundes, die Ambivalenz des menschlichen Lebens, das Auf und Ab des Daseins ein überzeugendes Symbol. Zugleich wird ein weiteres Motiv angeschlagen, das von Anfang an mit dem Thema Wüste zusammenhing: Wüste als Fluchtort, als Refugium und Ort spiritueller Erneuerung. Schon in der berühmten altägyptischen Erzählung vom Flüchtling Sinuhe aus dem Mittleren Reich, zu Beginn des zweiten Jahrtausends v.u.Z., ist es zu finden. Auch an vielen Stellen der Bibel geht es darum, von den Propheten Jeremias und Elias, über Simon Makkabäus bis hin zu Jesus, der in der Wüste seinen berühmten Dialog mit dem Satan führte.
[…]
SINN UND FORM 3/2010, S. 309-325
Manea, Norman
Fünfzig Jahre Nouvelle Revue Française in Bukarest. Die Cioran-Noica-Debatte, S. 326
Enzensberger, Hans Magnus
Gespräch mit Thomas Wild. »Ich habe vor allem Hannah Arendts Haltung bewundert, ihre Unabhängigkeit«, S. 331
Arendt, Hannah
Hannah Arendt und Hilde Domin. Briefwechsel 1960-1963, S. 340
Pavlovic, Miodrag
Gedichte, S. 356
Täubert, Klaus
Zwillingsbrüder. Herbert Schlüter und Klaus Mann, S. 359
Die Briefpartner lernten sich im März 1926 kennen: Klaus Mann war der Einladung zu einer Matinee seines Theaterstücks »Anja und Esther« im (...)
Täubert, Klaus
Zwillingsbrüder. Herbert Schlüter und Klaus Mann
Die Briefpartner lernten sich im März 1926 kennen: Klaus Mann war der Einladung zu einer Matinee seines Theaterstücks »Anja und Esther« im Berliner Lessing-Theater gefolgt und traf dort den gleichaltrigen Herbert Schlüter, der ihm, dem Autor und Darsteller eigener Befindlichkeiten – Herbert Ihering nannte sein Stück einen »szenischen Marlittroman der Homosexualität« –, bereits mit »Gedichten von den ersten Menschen« aufgefallen war. Der kurzen Begegnung nach der Aufführung, einem Sich-"Erkennen«, folgte die Einladung zu einem privaten Treffen.
An einem Märznachmittag bald danach begab sich Schlüter vom Prenzlauer Berg in die Charlottenburger Uhlandstraße. Seine ersten Prosaversuche erfuhren dort eine »geschwinde literarische Ortung« durch Klaus Mann, der in ihm eine Art Zwilling erkannt haben mochte. Das lag am Spielerischen und Preziösen einer Prosa, die von Proust und Herman Bang herkam, von Baudelaire wußte, und deren lyrische Pendants bei Rilke, dem frühen Stefan George und Hugo von Hofmannsthal zu finden waren, bei allem, »was zart war, fein, klug und ein wenig ohne Substanz«. Beide empfanden das Analoge ihrer Lebensläufe: Der Fabrikantensohn Schlüter verlor 1914 den Vater und sah das in Kriegsanleihen angelegte Vermögen dahinschwinden. Auch Klaus’ Vater, der »Großschreiber« Thomas Mann, hatte den Erlös der Tölzer Villa in Kriegsanleihen angelegt und verloren. Beiden fehlte der Schulabschluß, und natürlich hatten sie noch nicht viel von der Welt gesehen. Mann schrieb Aufsätze für Siegfried Jacobsohns Weltbühne, Schlüter veröffentlichte nach seiner Banklehre erste Gedichte in der Zeitschrift Romantik.
Klaus Mann, der 1925 mit dem Novellenband »Vor dem Leben« debütierte, war eine polarisierende Figur und erfreute sich, so Schlüter, einer »gewissen, leicht skandalösen Berühmtheit«. Schlüter merkte ironisch an, daß man es »etwas taktlos« fand, »in so jungen Jahren ein Talent zu zeigen, das befremdliche Züge formaler Virtuosität trug«. Zum Freundeskreis Manns, in den er aufgenommen wurde, gehörten W. E. Süskind und »Ricki« Hallgarten, die Kinder des Dirigenten Bruno Walter, Gretel und Lotte, Frank Wedekinds Tochter Pamela, das »Schweizerkind« Annemarie Schwarzenbach und die exzentrische »Mopsa« Sternheim.
Klaus Mann ermutigte ihn, und er protegierte ihn wohl auch. Daß sein Novellenband »Das späte Fest« 1927 bei S. Fischer erscheinen konnte, scheint ohne das Zutun Thomas und Klaus Manns kaum denkbar. Aufsätze im 8-Uhr-Abendblatt, in der Berliner und der Vossischen Zeitung belegen seine tatkräftige Unterstützung. Mit einem knapp bemessenen Vorschuß konnte Schlüter für drei Monate nach Paris reisen und erlag dem Zauber der Seine-Metropole, statt, wie der ehrwürdige Samuel Fischer ihm aufgetragen hatte, seinerseits die Stadt zu verzaubern. Berauscht von den Bals-Musette in der Rue de Lappe, den nicht endenwollenden Dancings und Diskussionen, saß er im »Jockey«, »lang, schmal, gesammelt und verschlossen«, und ließ sich in Gesellschaft von Ernst Bloch und Fränze Herzfeld von dem »merkwürdigen Buch« erzählen, das hier die Runde machte, »Der schwierige Tod« von René Crevel. Am Monatsende mußte er, oft ohne einen Sou in der Tasche, seine Armbanduhr beim Crédit Municipal hinterlegen. Rückblickend gestand er, daß er damals »für das Leben schlecht gerüstet« war.
Bei der Vorstellung einer »Anthologie jüngster Lyrik« (1927) in Herwarth Waldens Kunstsalon Der Sturm in der Potsdamer Straße begegneten sich Schlüter und Mann erneut. Das Buch, von Willi Fehse und Klaus Mann herausgegeben, enthält Arbeiten von neunzehn Autoren, darunter Schlüter, ein Geleitwort von Stefan Zweig und ein Nachwort von Klaus Mann. Der machte Schlüter mit Wolfgang Hellmert bekannt. Der als Adolf Kohn geborene Mime spielte eine zentrale Rolle in beider Leben. Er gehörte zunächst zum Ensemble der Max-Reinhardt-Bühnen und trat in den Berliner Kammerspielen mit Erika Mann auf. Klaus bewunderte den »gelernten« Bühnendarsteller und verteidigte auch nach Hellmerts frühem Tod seine eklektischen Gedichte. Beide konnten aus »profaner Genußsucht« nicht von bestimmten Pharmaka lassen und gingen in deren künstlichen Paradiesen zugrunde. Begonnen hatte das in der Berliner Kantstraße, oben in Mopsa Sternheims Apartment, wo die Besucher mit Kosten und Probieren »verführt« wurden. Schlüter, der bewußtseinserweiternde Mittel mied, nahm Hellmerts Medikamentenabhängigkeit später zum Anlaß, die Freundschaft zu beenden. Doch als sein Buch Ende 1927 herauskam, war es diesem gewidmet. Ihre erotische Beziehung erreichte im Frühsommer ihren Höhepunkt, bei einem von Klaus Mann eingefädelten Besuch im Münchner Heim seines Vaters. Hellmerts Klaus Mann gewidmete Novelle »Fall Vehme Holzdorf« war gerade erschienen, für Schlüters Erstling warb der Verlag damit, es sei das Buch eines der »heute etwa Zwanzigjährigen, dessen geistiges Werden ganz der Nachkriegszeit angehört. Was vor dem Kriege lag, entzieht sich ihrer Erfahrung, und darum gehen sie, trotz ihres manchmal erstaunlich früh entfalteten Talentes, mit zögernderer Hoffnung in die Zukunft als die Älteren«. Die drei Erzählungen wurden von zwei dem »Kreis« zugehörigen Rezensenten negativ rezensiert, von Erich Ebermayer ("Schlüter steht am Anfang seines Schaffens da, wo ein Marcel Proust am Ende«) und W. E. Süskind, der eine »unleugbare Kunst an stoffliche Nichtigkeiten verschwendet« sah. Es blieb einer späteren Generation überlassen, Schlüters »Spiel mit den Lebensaltern, den schwebenden Übergängen« und dem »Rollentausch von früher Jugend und hohem Alter« (so Albert von Schirnding zu seinem 90. Geburtstag in der Süddeutschen Zeitung) zu entdecken und zu würdigen.
1928 reiste er nach Italien, lebte einige Zeit mit dem Musikwissenschaftler und Pianisten Herbert Fleischer auf Capri, besuchte Neapel, Rom und Florenz. Er schrieb nach eigener Auskunft »eine Art ›Erziehungsroman‹ ein wenig als ›Falschmünzer‹ von Andre Gide. Ein polnischer Freund, der Schriftsteller und Übersetzer Stefan Napierski, war von dem Buch so angetan, daß er es mit einem langen Brief an Thomas Mann sandte. Und Thomas Mann antwortete positiv, fand es unrecht, (…) das Buch nicht zu bringen und erbot sich, es mit einer Empfehlung dem Transmare-Verlag zu schicken, der gerade ein Buch von Klaus Mann (…) gebracht hatte und der eher auf seine Stimme hören würde als einer der großen Verlage. Er tat es und die Folge war, daß der Transmare-Verlag sogleich ein Buch von mir brachte, – nicht das in Rede stehende, das ihm thematisch zu riskant schien, ohne es glattwegs abzulehnen«, sondern »die inzwischen fertig gewordene »Rückkehr der verlorenen Tochter"«. Das ursprünglich vorgeschlagene Manuskript sei »verlorengegangen« (Brief an Klaus Täubert vom 7.9.1976).
Thematisch zu riskant? Zu politisch? Schlüter, nichts weniger als ein homo politicus, war politischen Zwisten stets ausgewichen, revolutionären Elan durfte man von ihm nicht erwarten. Bestenfalls verstand er sich, wie er 1928 in der Neuen Rundschau über sich in der dritten Person schrieb, als literarischer Pionier »eines neuen Zeitalters damit beschäftigt, ›Brücken‹ über den ›Abgrund nach drüben zu schlagen‹, und was, horchte er seiner Frage nach, sollten ihm da ›noch Revolutionen, diese Kriege nach rückwärts?'"
In Klaus Manns »Kindernovelle«, die er 1927 besprach und ein Buch von »symptomatischer Bedeutung« nannte, erkannte er sich wieder. Allzu vertraut war ihm die »wirre Lage« einer eher unpolitischen Jugend, zu der er sich mit der Aussage bekennt, er sei »etwas sonderlich im bürgerlichen Sinne« und auch »voll großer Weltfrömmigkeit und schaudernder Ehrfurcht«. Übrigens erwähnte Schlüter diese Besprechung nicht einmal, als er mehr als ein halbes Jahrhundert später erneut, und weit ausführlicher, über die »Kindernovelle« schrieb.
In der Anthologie »Junge Deutsche Dichtung« (1930) steht seine später in »Ein Gartenfest« umbenannte Erzählung »Das Wiedersehen« neben einem Auszug aus Klaus Manns Alexander-Roman. 1932 erschien der Roman »Rückkehr der verlorenen Tochter«, den die Germania in einer Besprechung »glanzlos« nennt, während Friedrich Walter dem Verfasser im Berliner Börsen-Courier einen hohen »Grad von Selbständigkeit« bescheinigt. Hermann Hesse schreibt im Zwiebelfisch: »Wundervoll erlöst und schwerelos schweben manche Seiten dieser Dichtung«. In Velhagen und Klasings Monatsheften wird Schlüter gelobt, weil er »die Frage nach der Ursprünglichkeit seiner Arbeit nicht der Erzählung an sich« überläßt, sondern »seinen Stoff vom Stil her zu beantworten sucht«. Das Sterben der »seltsamverlorenen Tochter« sei »eine dichterische Vision von großen Gnaden« und werde »unnachahmlich von dem Dichter Schlüter geschildert«. Der Rezensent ist Hanns Johst, später Präsident der nationalsozialistischen Reichsschrifttumskammer.
Nach dem »Anschluß« des Freistaates Bayern an Hitlers »Reich« verläßt Klaus Mann am 13. März 1933 Deutschland. Einen Monat später geht auch Schlüter: »Konnte man freiwillig noch in Deutschland bleiben, wenn man sah was geschah"? (Brief an Klaus Täubert vom 28.10.1963) Was er sein erstes Exil nennt, ist lediglich ein Versuch, er sieht sich als Tourist, dem der Rückweg offen bleibt. Klaus Mann erwähnt ihn am 2. Mai 1933 zum ersten Mal in seinen Tagebüchern, dann wieder im Oktober. »Post: Schlüter«. Woraus hervorgeht, daß Teile der Korrespondenz verlorengegangen sind. Das belegt auch Schlüters Brief vom 17. Juli, mit dem das hier vorgelegte Konvolut von 29 Briefen einsetzt. zwanzig davon haben sich im Nachlaß Klaus Manns erhalten, aber nur neun bei Schlüter, alle aus der Nachkriegszeit. Einiges fiel den Berliner Bombennächten zum Opfer, die Briefe aus dem Exil und auch seine Manuskripte vernichtete er aus Sicherheitsgründen selbst. Nur zwei dünne Hefte mit Aufzeichnungen sind erhalten, von denen das chronologisch zweite die Aufschrift Italienisches Tagebuch trägt (die des ersten wurde ausradiert). Sie enthalten neben dem hier abgedruckten Text Skizzen zu einem Roman oder einer Erzählung – vieles davon durchgestrichen –, eine tabellarische Aufstellung wichtiger Daten des Kriegsverlaufs von 1939-41 sowie englische Vokabeln und Umrechnungstabellen für inches und pounds, offenbar aus Schlüters Zeit im Internierungslager. Nicht mit aufgenommen wurden einige zum Teil schwer zu entziffernde Seiten über die Reise von Brindisi nach Neapel, unmittelbar vor seiner Ankunft in Ischia.
Im einzigen erhaltenen Brief von 1933 beklagt Schlüter sein Unvermögen, über die Emigration zu schreiben, wiewohl er die Vorstellung einer »anti-hitlerischen Novelle« habe. Erst im Februar 1937 kommt er, mittlerweile ein gebeutelter Exilant, darauf zurück, will »die artistische Möglichkeit« gefunden haben, seine »stimmungshafte Überzeugung« zu formulieren. Der für ihn ganz neuartige Stoff liege auch ein bißchen auf Klaus und Heinrich Manns Linie, vor allem aber sei er »politisch ganz eindeutig, ein Bekenntnis zur Linken, zur Volksfront als den heute eigentlich bewahrenden Kräften der europäischen Civilisation«. Kaum einmal sonst hat sich Schlüter politisch so konkret geäußert.
[…]
SINN UND FORM 3/2010, S. 359-369
Mann, Klaus
Herbert Schlüter, Klaus Mann. Briefwechsel 1933-1949, S. 370
Schlüter, Herbert
Aus dem Italienischen Tagebuch, S. 404
Hartung, Harald
Poesie und Kritik. Denkbarkeiten, Dankbarkeiten. Rede zum Johann-Heinrich-Merck-Preis, S. 419
Grünbein, Durs
Dieser besondere Kreis. Dankrede zur Aufnahme in den Orden Pour le mérite, S. 422