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Heft 5/2009 enthält:
Enzensberger, Hans Magnus
Der Philosoph und der Banause, S. 581
Ryklin, Michail
Das Bewußtsein als Raum der Freiheit. Merab Mamardaschwili als philosophischer Lehrer, S. 585
Mamardaschwili, Merab
Der dritte Zustand. Rußland und das Ende des Kommunismus, S. 591
Margwelaschwili, Giwi
Philosophie in Aktion. Über Merab Mamardaschwili, S. 598
Mierau, Fritz
Koktebel - Blaues Siegel oder Erfindung einer Landschaft, S. 603
Vor vierzig Jahren überwältigte mich der Anblick einer Küstenlandschaft am Schwarzen Meer. Auf meiner russischen Reise vom Sommer 1965 hatte ich (...)
Mierau, Fritz
Koktebel - Blaues Siegel oder Erfindung einer Landschaft
Vor vierzig Jahren überwältigte mich der Anblick einer Küstenlandschaft am Schwarzen Meer. Auf meiner russischen Reise vom Sommer 1965 hatte ich den Osten der Krim erreicht: Homers Kimmererland, Kolonie von Milet, später von Genua, vor der Eroberung durch Rußland Chanat der Tataren, Hitlers geträumten »Gotengau«, heute Ferienparadies und gepriesene Weingegend der ukrainischen autonomen Republik Krim.
In einer Bucht erhob sich unmittelbar am Meer vor dem Hintergrund schroffer kahler Berge ein Steinbau mit hohen Fenstern im Stil einer frühchristlichen Basilika. Seitlich Balkons, daran Holztreppen, die bis hinauf zu einer Dachterrasse führten. Angelehnt ein paar bescheidenere niedrige Gebäude. Bänke im umliegenden Gärtchen. Zwar hoffte ich dieses Anwesen zu finden, das in Rußlands Künstlerkreisen legendären Ruhm genoß, ahnte aber nichts von seiner Gestalt. Beschreibungen kannte ich, vor allem die Ilja Ehrenburgs, dessen Memoiren ich damals übersetzte. Doch das Beieinander, das Gegeneinander von Meer, häuslich umarmtem Sakralbau und vulkanischem Fels traf mich unvorbereitet in dem Licht des südlichen Vormittags.
Neben den Quartieren der Sommerfrischler, den Holzhäusern der Weinbauern und den Kunststoffbaracken einer Stolowaja für die Verpflegung der »Wilden«, der Zeltnomaden, wirkte der Bau am Meer wie ein Relikt aus fernster Zeit und schien die Würde der alten Genueserfestung auszustrahlen, deren Ruine ich auf meinem Weg hierher passiert hatte.
Die russische Geistesgeschichte kennt den Ort als Koktebel und den Mann, der ihn berühmt machte, »fand«, gar »erfand«, als den Dichter und Maler Maximilian Woloschin. »Erfand« im alten Verstande von entdecken und ersinnen in einem, wie das Goethe begriff: »Alles, was wir Erfinden, Entdecken im höheren Sinne nennen, ist die bedeutende … Bethätigung eines originellen Wahrheitsgefühls … Es ist eine aus dem Innern ans Äußere sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen eine Gottähnlichkeit vorahnen läßt. Es ist eine Synthese von Welt und Geist.«
Von den Winden der Jahrtausende sah Woloschin sich den Bergen in einer Weise eingeschrieben, daß er im Felsvorsprung von Kok-Kaj sein Profil vorgebildet wähnte. Nach Jahren in St.Petersburg, Moskau und Paris hatte er sich lange vor dem Ersten Weltkrieg hier angesiedelt, am alten Karawanenweg von Asien nach Europa seine eigene Karawanserei bauen lassen und dabei tischlernd selbst mit Hand angelegt: Koktebel erschien ihm als der Ort, der ihm und dem er bestimmt war.
Tatsächlich ist Woloschins Leben in Koktebel einem Anschmiegen an das Wirken der Elementarkräfte verglichen worden. Ossip Mandelstam erzählt, wie ihm ein Zimmermann Woloschins Grab zeigte, das hoch in den Bergen des Karadag über dem linken Ufer der Iphigenie-Bucht liegt. Als sie Woloschins sterbliche Überreste an den Ort trugen, den der Dichter im Testament bestimmt hatte, seien alle von der weiten Rundsicht überrascht gewesen, die sich ihnen von da über Meer, Berge und Steppe eröffnete. Allein Maximilian Alexandrowitsch habe den Blick für diesen Ort besessen. »Der Zimmermann«, so Mandelstam, »trug ein Stemmeisen deutschen Fabrikats bei sich. Einmal tauchte er es in seine Nägel. Herausgezogen, war der nackte blaue Stahl berauscht von an ihm klebenden winzigen Eisenmücken.
So auch hat Maximilian Alexandrowitsch – Kustos einer wunderbaren geologischen Zufallsbildung namens Koktebel – aus freien Stücken sein ganzes Leben der Magnetisierung dieser ihm anvertrauten Bucht gewidmet.«
Der Empfang
Der Empfang im Haus am Meer war höchst zeremoniell und von feierlicher Strenge.
Wen ich treffen würde, wußte ich nicht. Es war ein Besuch auf gut Glück. Ich besaß lediglich einen Empfehlungsbrief an den achtzigjährigen Professor Iwan Pusanow, einen Biologen, intimen Kenner der Krim, seinerzeit Bekannter Woloschins, den ich in Odessa nicht erreicht hatte, was nun in Simeïs, wenige Kilometer vor Jalta, nachgeholt werden sollte, aber auch mißlungen war; in dem Schreiben wurde ich als »interessiert an Gumiljow, Woloschin und den anderen Dichtern vom Vorabend der Revolution« vorgestellt.
Nachdem ich mich in der Kunststoffbaracke an Quark, Milch, Tomaten, Gurke, Brot und Boulette mit Kartoffeln gelabt hatte, setzte ich mich draußen vor dem Haus des Dichters auf eine Bank in den Schatten der Akazien. Zu einem jungen Mädchen, Lenin-Pionierin, dem roten Halstuch nach zu urteilen. Maria Stepanowna sei nicht sehr gesund, sagte sie gleich. Gestern sei ihr nicht gut gewesen. Man müsse das Schlimmste befürchten. Sie ruhe im Augenblick noch. So erfuhr ich erst, daß Maria Stepanowna Woloschina, die zweite Frau des Dichters, lebte und wie die Jahrzehnte zuvor die Hüterin des Hauses war. Sie mußte Ende Siebzig sein. Von sich erzählte das Mädchen, sie sei zur Erholung in Koktebel und nutze die Gelegenheit, Woloschins Gedichte zu lesen und abzuschreiben. Gegen elf ging sie hinein. Ich sollte nach einer Weile folgen.
Empfangen wurde ich im Atelier, dem Raum mit den hohen Fenstern. An der Fensterfront hinter einem langen Tisch eine Frau und zwei Männer, stehend. An einem Pult die junge Verehrerin des Dichters. Erwartungsvolle Blicke: Woher kommst du, Fremdling? Wer bist du? Und was ist dein Begehr?
Ich war der erste Deutsche, der nach der Besetzung durch Hitlers Wehrmacht dort auftauchte, und vermutlich der erste Westeuropäer, der nach dem Besuch der englischen Malerin Violet Hart im Sommer 1907 das Haus des Dichters betrat. Johannes von Guenther, der Münchner Essayist und Übersetzer, ein Vertrauter und Nachdichter der russischen Symbolisten, der auch mit Woloschin verkehrt hatte, war nie hier gewesen. Im zweiten Weltkrieg hatte Maria Stepanowna das Haus vollkommen ausgeräumt und alles vergraben. Niemand von der deutschen Besatzungsmacht erfuhr etwas vom Geist und Vermächtnis des Dichters.
Offiziell hieß der Ort 1965 nicht einmal mehr krimtatarisch Koktebel – »Blaues Siegel«, was an den alten Brauch der Viehhirten erinnerte, ihre Tiere mit einem blauen Siegel zu zeichnen –, sondern Planerskoje, nach dem Wort für Segelflugzeug, Vehikel einer jüngeren Passion, die der Gunst der Winde auf ihre Weise vertraute. Die Gegend gehörte zu einem Sperrgebiet, das ich als Ausländer an sich nicht betreten durfte. Meine Touristenkarte für die Krim von 1964, die Puschkin- und Tschechowgedenkstätten pries, verschwieg den angestammten Namen des Ortes und des Gründers des Hauses. Auf den Rußland-Baedeker von 1912 in meiner Tasche war freilich Verlaß. Da hieß es: »Von Ssudak nach Feodossija, zwei Straßen. a.Küstenstraße 52 Werst, Wagen 12–15, Mallepost l 1 / 2.Rubel. Die Straße führt über Taraktasch, Kosy, Otusy und Koktebel.« Für mich galt also a.
Auf das Woher? ließ sich leicht antworten. Morgens mit einem schnellen Tragflügelboot die 80 Kilometer an der Küste entlang von Jalta nach Ssudak. Von Ssudak zu sechst im offnen Jeep durch Täler und Steppe die 40 Kilometer hierher, umweht von den Düften von Salbei, Wermut und Thymian.
Schwerer zu bestimmen war schon, wer ich sei. Philologe? Übersetzer? Eher eigentlich Liebhaber russischer Poesie mit einer Vorliebe für die geistigen Pflanzstätten in »Dichters Lande«. Ich ahnte nicht, daß ich mich in Koktebel in der mit Petersburg bedeutendsten befand.
Am schwersten fiel mir der Bescheid, woher ich denn von »Max«, wie Maria Stepanowna vertraulich sagte, überhaupt wisse. Als ich Ehrenburg nannte, der in der Pariser Zeit mit Max befreundet gewesen war, hieß es brüsk: »Von diesem Klatschmaul?!« Ehrenburg war in Koktebel verschrieen, weil er sich angeblich zu sehr mit den Geschichten von der Verspieltheit des Dichters befaßt und seine mystifikatorischen Leidenschaften hervorgehoben habe. Und auch Ehrenburgs launige Anrede Maxens als »Großer Pan« und »Papa Silen« paßte nicht ins Dichterbild von Koktebel, wo Woloschin als der Weise der russischen Moderne galt, doch nicht für trunken vom Wein, für lüstern.
Ganz unvorbereitet war ich nicht. Zwar gab es damals keine Ausgaben von Woloschin, und die sowjetische Literaturgeschichte kannte ihn höchstens am Rande. In den zwanziger Jahren hatte ihn die proletarische Literaturkritik einen Konterrevolutionär, einen »lebenden Leichnam« genannt, und in den dreißiger Jahren konnten Lektüre und Besitz seiner Gedichte Grund für die Todesstrafe sein. Erst 1962 hatte Andrej Sinjawski ein kleines Porträt über ihn für die neue Literaturenzyklopädie geschrieben.
Durch Zufall war ich kurz vor meiner Reise auf die Berliner russische Ausgabe von Woloschins Gedichtsammlung »Taubstumme Dämonen« von 1923 gestoßen. Weil sich niemand sonst dafür interessierte, hatte ich sie in der Bibliothek des »Hauses der Kultur der UdSSR« als Dauerleihgabe erhalten. Sicher war das Büchlein aus der Hinterlassenschaft des »Russischen Berlin« der zwanziger Jahre dorthin gelangt: Gedichte aus den russischen Revolutionen von 1905 und 1917/1918, Gedichte über den Terror der französischen Revolution und eine Dichtung über den Protopopen Awwakum, den geistigen Führer der russischen Altgläubigen im 17. Jahrhundert, der mehrfach verbannt und 1682 auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden war.
Den russischen Aufruhr zu fassen nimmt das Titelgedicht des Bändchens Worte aus Jesaja 42,16 und 19 auf: »Aber die Blinden will ich auf dem Wege leiten, den sie nicht wissen … Wer ist so blind, als mein Knecht? Und wer ist so taub, wie mein Bote, den ich sende? Wer ist so blind, als der Vollkommene? Und so blind, als der Knecht des Herrn?«
Die »Taubstummen Dämonen« zeichneten ein Rußland- und Revolutionsbild, das dem herrschenden in keiner Hinsicht entsprach: Im Kapitel »Rußlands Weg« die Verse »Heiliges Rußland« vom 19.November 1917 in Johannes von Guenthers Übertragung:
Du doch liebtest seit der Kindheit Zeiten
Zellen rauh in Urwaldeinsamkeiten,
Weglos über Steppen Wanderschaft,
Büßerketten, freier Weiten Atem,
Prätendenten, Diebe, Apostaten,
Nachtigallenschlag und Kerkerhaft.
Zarin sein, das war nicht dein Verlangen –
Welch ein tolles Ding war angegangen.
Raunt der Böse doch: Gib alles weg,
Gib dein Gold den Reichen und den Prachern,
Macht den Sklaven, Kraft den Widersachern,
Deine Schlüssel den Verrätern keck.
Untergabst dich Worten dreist und Trieben,
Branntest Korn und Siedelungen hin,
Hingst Verderben an die alten Zinnen,
Gingst geschmäht und bettelhaft von hinnen,
Als des letzten Sklaven Dienerin.
Ists an mir, den Stein auf dich zu werfen?
Glut aus Leidenswegen zu verwerfen?
Tief gebeugt vor dir in Schmutz und Sand,
Preis ich bloßen Fußes Spur betroffen,
Heimatloses du, verbummelt und versoffen,
Du in Christo närrisches Russenland.
Wenige Tage später, am 23.November 1917 im Kapitel »Racheengel« die Bitte für Rußland um den Frieden der Demut: »Wir haben es gelästert, zerquatscht, verhöhnt, entblößt, versoffen, ausgespuckt … feilgeboten auf der Straße: Braucht keiner Land, Republik, Freiheit und Menschenrechte? O Herr … schick Feuer, Seuche, geißle uns. Deutsche von Westen, Mongolen von Osten – schick Sklaverei von neuem und für immer, in Demut die Judas-Sünde zu büßen bis zum jüngsten Gericht.«
Den Ernst meines Interesses zu beglaubigen konnte ich noch vorbringen, daß ich die Erinnerungen der Malerin Margarita Sabaschnikowa kannte, der ersten Frau des Dichters, die Rudolf Steiners Anthroposophie gefolgt war. Ihr Buch »Die grüne Schlange« war 1954 in Stuttgart erschienen. Max, wie er auch hier heißt, beschrieb die Malerin als ein naives Gemüt von kindlicher Weichheit, das seine frühe Körperfülle leicht zu tragen wußte und mit Paris spielend zurechtkam: »Max fühlte sich überall in der Welt wie der Fisch im Wasser, wenn er nur einige paradoxe Aussprüche daraus machen konnte. Sein Gleichmut und seine Heiterkeit wirkten auf mich in all diesem Chaos beruhigend. Ich bewunderte seine Toleranz und sah in ihm eine große Reife. Wenn er eine originelle Idee gefunden oder etwas Interessantes zu berichten hatte, glich er in seiner graziösen Tapsigkeit einem jungen Bernhardiner, der mit einem Lumpen zwischen den Zähnen spielt.«
Ob ich das Buch wohl für Koktebel besorgen könnte – so die abschließende Frage. Das Examen war offenbar bestanden. Maria Stepanowna stellte mir nun die Männer zu ihrer Rechten und Linken vor. Rechts Viktor Manujlow, Philologe aus Leningrad, links ein Redakteur der russischen Zeitschrift »Prostor« aus Alma-Ata. Manujlow nehme den dichterischen Nachlaß für eine geplante Ausgabe auf, der Journalist erwäge die baldige Veröffentlichung mehrerer Gedichte Woloschins. Beiden glückte das damals nicht. Erst 1977 erschien wieder eine kleine Ausgabe in der Leningrader »Bibliothek des Dichters«. Manujlow werde mich jetzt durch das Haus führen – Maxens Arche, sein Schiff mit den vielen Kojen. Zum Abschied sei ins »Unterdeck« auf einen Tee geladen. […]
SINN UND FORM 5/2009, S. 603-608
Woloschin, Maximilian
Terror und Tanz, S. 614
Poschmann, Henri
Durch Hölle, Haß und Liebe. Louis Fürnberg 1909 - 2009, S. 620
Hein, Christoph
Gespräch mit Ralph Schock, S. 628
RAPLH SCHOCK: Vor mehr als 25 Jahren erschien Ihre Novelle »Der fremde Freund«. Sie fand große Resonanz. Wie denken Sie heute über diesen (...)
Hein, Christoph
Gespräch mit Ralph Schock
RAPLH SCHOCK: Vor mehr als 25 Jahren erschien Ihre Novelle »Der fremde Freund«. Sie fand große Resonanz. Wie denken Sie heute über diesen Text?
CHRISTOPH HEIN: Tatsächlich habe ich ihn schon 1981 geschrieben, vor 28 Jahren. Das Buch war für mich sehr wichtig, da es viel übersetzt wurde und immer wieder überraschende Reaktionen hervorrief. Beim Wiederlesen bekommt man mit, was man geschafft, was man nicht geschafft hat. Man schaut mit dem Interesse eines sehr viel älteren Kollegen auf die Arbeit dieses jungen Menschen.
SCHOCK: Sind Sie denn zufrieden mit der Arbeit des jungen Kollegen?
HEIN: Von ein paar Sachen bin ich sehr angetan und frage mich, ob ich dazu noch in der Lage wäre.
SCHOCK: Vielleicht war er in diesen Punkten weiter als der ältere Kollege?
HEIN: Er war auf jeden Fall unbeschwerter. Ich glaube, das hat mit der schönen Naivität zu tun, die man im Laufe des Lebens verliert. Ein Kind bewegt sich ja viel eleganter als ein zu Bewußtsein gekommener Erwachsener.
SCHOCK: Das sagt auch Kleist in seinem berühmten Aufsatz über das Marionettentheater. Fühlen Sie sich, um im Bild zu bleiben, denn heute eher als Marionette als früher?
HEIN: Nein, das nicht. Aber alles ist schwieriger geworden, weil man mehr Erfahrung hat. In anderen Berufen ist Erfahrung hilfreich, in meinem Beruf ist sie auch eine Erschwernis. Wenn man über jede Bewegung nachdenkt, die man in der Kindheit und Jugend mit Eleganz und Anmut einfach ausgeführt hat, wenn man sie also bewußt produziert, dann ist das eine Schwierigkeit.
SCHOCK: Kleist meinte, der gute Schauspieler müsse die Anstrengung vergessen machen, um die Anmut der Marionette wiederzuerlangen. Wenn er anfängt zu lernen und sich seines Tuns bewußt wird, verliert er seine ursprüngliche Naivität und muß sie sozusagen auf einer höheren Stufe zurückgewinnen.
HEIN: Kleist erinnert auch an die anmutige Skulptur des dornausziehenden Knaben. Er beschreibt, wie ein Freund eine ähnliche Haltung im Spiegel sah und vergeblich versuchte, sie nachzumachen.
SCHOCK: Der Knabe erleidet durch das Bewußtsein ein Lebenstrauma – wir nähern uns der Claudia Ihres Buches. »Der fremde Freund«, 1982 in der DDR erschienen, kam ein Jahr später in der Bundesrepublik unter dem Titel »Drachenblut« heraus. Die Änderung wurde nötig, weil gerade ein Buch von Klaus Harpprecht erschienen war, »Der fremde Freund: Amerika, eine innere Geschichte«. Welcher Titel gefällt Ihnen im nachhinein besser?
HEIN: Mein Titel ist nach wie vor »Der fremde Freund«. Ich glaube, er beschreibt auch die Novelle viel genauer. »Drachenblut« ist mir ein wenig zu düster, zu mythologisch belastet. Da denke ich eher an Fantasy-Literatur.
SCHOCK: Es ist natürlich eine Anspielung auf die Siegfriedsage, auf das Bad im Drachenblut und das berühmte Lindenblatt, das sich auf die Schulter des Helden legt – die verwundbare Stelle, an der Hagen von Tronje später mit der Lanze zustößt. Aber Sie haben nicht protestiert gegen diese mythologische Assoziation.
HEIN: Nein, ich fand die Titeländerung unnötig. Rein rechtlich war sie es auch, weil meine Novelle vor dem Harpprecht-Buch erschienen war. Ich wurde um einen neuen Titel gebeten, aber da ich keinen hatte, überließ ich es dem Luchterhand Verlag, einen zu finden. Diesen neuen Titel habe ich dann registriert und hingenommen. Bei den Übersetzungen haben sich einige Länder für diesen, andere für jenen Titel entschieden, also etwa »Dragonblood« oder »The Distant Lover«.
SCHOCK: Geschah das unabhängig von der Blockzugehörigkeit? Oder übernahmen beispielsweise die polnischen, russischen, rumänischen Übersetzungen den DDR-Titel?
HEIN: Das war den Verlagen freigestellt. Meist haben sie den genommen, der zu ihrer Sprache oder ihrer Kultur besser paßte.
SCHOCK: Sind denn beide Fassungen textidentisch?
HEIN: Da wurde nicht ein Komma verändert. So etwas habe ich nie akzeptiert. Texte sind für mich heilig, und zwar nicht nur die eigenen. Das hat vielleicht mit meiner Herkunft zu tun. Als Pfarrerssohn habe ich das so gelernt.
SCHOCK: Die Novelle beginnt, wenn man von dem Traum-Vorspiel absieht, auf das wir noch zu sprechen kommen, mit einer Beerdigung. Claudia, eine junge Ärztin, macht sich bereit, ihren Freund Henry Sommer zu Grabe zu tragen. Nach diesem ersten Kapitel kommen lange Rückblenden auf ihre Beziehung, auf die gescheiterte Ehe, auf Abtreibungen, auf ihre Kindheit. Dann wird die Beerdigung wieder aufgegriffen, im vorletzten Kapitel, und im letzten erfährt man, wie sich Claudia ein halbes Jahr später entwickelt hat und was mit ihr geschehen ist. Aus einer konkreten Erinnerungssituation wird so eine Art Lebensbilanz. Der Ort der Handlung ist unzweideutig die DDR: Man kann es aus Details erschließen, aus Wörtern, die Sie verwenden, aber auch aus historischen Anspielungen, etwa auf den 17. Juni. Die Zeit, 1981, ist ein bißchen schwieriger zu erschließen. Die Novelle spielte, als sie erschien, in der unmittelbaren Gegenwart. Claudia ist zu diesem Zeitpunkt vierzig, sie wurde also 1941 geboren. Das heißt, sie ist zwei, drei Jahre älter, als Sie damals waren. Auffallend ist, daß es keinen expliziten Erzählkommentar gibt. Sie schildern alles aus Claudias Perspektive. Was für eine Frau ist sie eigentlich?
HEIN: Eine Person, die ich schätze. Sie ist mir zwar fremd, aber ich kann ihre Haltung und Lebensumstände nachvollziehen. Sie hat eine gewisse Härte. Übrigens hat die Novelle einen durchgehenden Subtext: Wenn Claudia bestimmte Dinge sagt, merkt der Leser auch, was sie nicht sagt, nicht sagen will. Das ist eine Erfahrung, die wir oft sogar mit Freunden machen. Wir fragen, wie es ihnen geht, und die Antwort ist: Wunderbar! Doch an den Augen oder der Haltung oder am Ton erkennen wir, daß das nicht stimmt. Diese Art von Subtext wollte ich dem Buch einschreiben – für den Leser, der sich darauf einläßt. Wenn er es aber nicht will, muß das Ganze trotzdem funktionieren.
SCHOCK: Hat dieser Subtext mit Angst zu tun?
HEIN: Ja, und auch mit Verdrängung. Unsere Kommunikation wäre überfordert, wenn wir auf ein »Wie geht’s?« die Antwort bekämen: »Gut, daß du mich fragst! Setzen wir uns, ich muß dir erst mal eine Stunde lang alles erzählen.« Wir brauchen diese kleinen Verabredungen, damit wir eine Freundlichkeit sagen können, ohne daß uns der andere gleich mit seinem ganzen Leben konfrontiert.
SCHOCK: Welche weiteren Aspekte spielen bei dem Subtext noch eine Rolle?
HEIN: Claudia sagt, daß sie nicht darüber nachdenken will, mit wem sie zusammenlebt, und meint damit sich selbst. Sie hat Angst, das herauszubekommen, und fürchtet, daß sie dann ein Fall für die Psychiatrie würde. In dem Zusammenhang spricht sie auch von der besten aller möglichen Heilanstalten. Zu Voltaires Zeit gab es die Rede von der besten aller möglichen Welten. Geblieben und für uns erreichbar ist nur noch die beste aller möglichen Heilanstalten.
SCHOCK: Das Wort taucht noch an einer anderen Stelle auf. Als Claudia bei einem Ostseeurlaub die Touristen in ihrer Einheits-Wetterkleidung sieht, sagt sie: Die sehen aus wie aus einer Heilanstalt. Das ist wohl auf die DDR gemünzt?
HEIN: Nein, das ist auf beide deutsche Staaten gemünzt, denn dieser sogenannte Friesennerz, ein westliches Kleidungsstück, wurde damals im Westen wie im Osten gern getragen. Auf einmal sah man überall die gleiche orange, offenbar sehr praktische Strand- und Regenbekleidung.
SCHOCK: Trotzdem: Heilanstalt, Anstalt DDR, das ist schon eine naheliegende Assoziation. Dazu kommt, daß im Grunde alles, was Claudia erlebt, entweder trist oder banal oder pervers ist: das aggressive Verhalten gelangweilter Jugendlicher und noch manches andere. Was hat eigentlich die Zensur zu Ihrem DDR-Bild gesagt?
HEIN: Günther de Bruyn hat mich damals gefragt, wie ich es geschafft hätte, dieses Buch durch die Zensur zu bringen. Es war aber gar keine große Leistung meinerseits. Die hatten den Text wohl nicht so überaus mißtrauisch angeschaut. Ich war noch nicht so bekannt, und es war ein kleines Buch. Als es hieß, daß da was gestrichen werden sollte, tat ich so, als sei ich aufgeschlossen, denn ich wußte, daß sich darin eigentlich nichts streichen läßt. Es gibt keinen besonders schlimmen oder bösen Satz. Es war das Klima, der Ton der Novelle, der eine für die Zensur schwer erträgliche Stimmung beschrieb. Durch das Streichen eines einzelnen Satzes oder einer Seite ließ sich daran gar nichts ändern.
SCHOCK: Volker Braun zum Beispiel mußte 25 Jahre auf die Druckgenehmigung für ein Theaterstück warten. Man hätte auch Ihr ganzes Buch verbieten können, Gründe hätte man gefunden: Alkoholmißbrauch, Handwerker betrügen ihre Kunden, gesellschaftliche Gleichgültigkeit, Langeweile, schmutzige und verwahrloste Gegenden; ein Künstler propagiert die Anarchie und das Asoziale, lehnt also die gesellschaftliche Verantwortung des Künstlers explizit ab. In der DDR sei alles »wie im 19. Jahrhundert«. Die Lehrer sind sadistisch, die Portiers feindselig. Hinnert tritt aus Opportunismus in die Partei ein. Jedes dieser Details müßte doch eigentlich unerträglich sein für einen Zensor.
HEIN: So wie Sie das auflisten, läuft es mir auch jetzt noch kalt den Rücken runter. Offenbar hatte man eine solche Zusammenstellung nicht vorgenommen. Vielleicht lag es einfach daran, daß ich noch so jung und neu im Geschäft war, ich weiß es nicht genau. Ich hatte später bei anderen Sachen Schwierigkeiten mit der Zensur, bei Theaterstücken, wo ich auch zehn, zwölf Jahre warten mußte, und beim nächsten Roman. Nach dem aufsehenerregenden Erfolg des »Fremden Freundes« wurde er mit großem Mißtrauen betrachtet und bekam keine Druckgenehmigung. Daß er überhaupt erschien, war die Leistung des Verlegers, Elmar Faber, der ihn schließlich auf eigene Faust herausbrachte. Das ist meines Wissens das einzige Buch, jedenfalls das einzige belletristische, das ohne Druckgenehmigung, also gegen den Willen der Zensur erschienen ist.
SCHOCK: Wie ging das?
HEIN: Der Verleger erzählte mir, er habe anderthalb Jahre lang immer wieder um die Zustimmung der Zensurbehörde gebeten und sei immer abschlägig beschieden worden. Dann hatte er die Faxen dicke. Er rief in der Druckerei an und sagte, er habe die Druckgenehmigung. Dort sah man keinen Anlaß, das zu überprüfen. Und noch ehe das hohe Haus es mitbekam, nach zwei Tagen nämlich, war der Roman vergriffen. Daraufhin wurde der Verleger ins ZK ein- bestellt. Es ging um seinen Kopf, um die Frage, ob er das Haus weiter leiten dürfe. Meinen westdeutschen Verlag hatte ich gebeten, noch zu warten, weil es den Ostverlag in Schwierigkeiten gebracht hätte, wenn das Buch dort zuerst erschienen wäre. Luchterhand hat mitgemacht, obwohl es sicher schon aus ökonomischen Gründen schwierig war, ein bereits fertig gedrucktes Buch nicht auszuliefern.
SCHOCK: In einem Interview sagten Sie im Zusammenhang mit dem »Fremden Freund«, es müsse über den Stand unserer Zivilisation gesprochen werden, über die seelischen Kosten, die dieses durch die moderne Produktionsweise bestimmte Leben verursacht. Demnach wäre Claudia also der Prototyp eines Menschen, den die Verhältnisse in der DDR hervorgebracht haben. Das ist doch eigentlich auch Dynamit.
HEIN: Das ist allerdings eine nachträgliche Überlegung.
SCHOCK: Aber zu DDR-Zeiten?
HEIN: Ich kann nicht mit einer theoretischen, abstrakten Haltung an einen Text herangehen. Ausschlaggebend für diese Arbeit war der Tod eines Bekannten. Ich hatte die Geschichte zunächst aus der Sicht eines Mannes erzählt. Nach einem halben Jahr langweilte mich das. Die Hälfte des Romans war fertig. Ich habe alles weggeworfen und mich entschlossen, ihn aus der Sicht der Frau zu erzählen. Das war natürlich ein Wagnis. Der Verlag sagte gleich: So etwas ging im 18. Jahrhundert, aber heute nicht mehr! Das wußte ich ja alles, aber ich wollte es einfach mal probieren. Als ich später gefragt wurde, warum dieses Buch in ganz verschiedenen Ländern so erfolgreich war, kam mir der Gedanke, daß ich darin wahrscheinlich die Kosten unserer Zivilisation beschreibe: Die Großfamilie ist zerschlagen. Unsere Produktion braucht sie nicht mehr. Sie braucht den ständig verfügbaren Single, der von niemandem behindert wird. Der Single ist das in unserer Zivilisation bevorzugte Individuum. Vielleicht war das einer der Gründe für den internationalen Erfolg der Novelle. […]
SINN UND FORM 5/2009, S. 628-632
Weizsäcker, Viktor von
Die Lehre vom Menschen und Jean-Paul Sartre. Mit einer Vorbemerkung von Rainer-M. E. Jacobi, S. 640
Dschung-Hsi, Ma
Die Geschichte des Wolfs in den Dschung-schan-Bergen, S. 654
Zagajewski, Adam
Märtyrer und Komödianten oder Wie war die Lyrik im 20. Jahrhundert?, S. 662
Hartwig, Julia
Gedichte, S. 667
Donne, John
Elegien. Nachdichtungen von Michael Mertes, S. 672
Carey, John
Der Unbeständige. Über John Donne, S. 690
John Donne war ein Dichter neuen Typs. Seine Originalität beeindruckte die Zeitgenossen. Sie meinten, daß er das literarische Universum verändert (...)
Carey, John
Der Unbeständige. Über John Donne
John Donne war ein Dichter neuen Typs. Seine Originalität beeindruckte die Zeitgenossen. Sie meinten, daß er das literarische Universum verändert habe. Er war der »Kopernikus der Dichtung« – ein prometheischer Neuerer, der das »gelehrte Unkraut« und den verstaubten Zierrat der klassischen Mythologie ausgemerzt hatte. Kein englischer Dichter vor ihm war so avantgardistisch und keiner so intellektuell oder so schwierig. Sein Freund Ben Jonson fürchtete, Donnes Dichtung werde sich als zu dunkel erweisen, um zu überdauern. Bei seinem Tod würdigten ihn seine Bewunderer mit Metaphern von Macht und Energie. Er habe über eine »Monarchie des Geistes« geherrscht; in seinem »klaren Verstand« habe ein »schreckliches Feuer« gebrannt.
Warum war Donne so besonders? Welche Umstände in seiner Kultur drängten ihn, eine so unnachahmliche, kompromißlose und antagonistische Sprache zu entwickeln? Die Antwort darauf mag zum Teil in seiner Kindheit liegen, die von Verlust und Zurückweisung geprägt war – Bedingungen, die das Gefühl des Andersseins sicher noch verstärkten. Sein Vater starb, als Donne knapp vier Jahre alt war. Noch Jahre später erinnerte er sich der »Liebe und Fürsorge« des Vaters, und obwohl seine Mutter noch zweimal heiratete, ihm also zwei Stiefväter bescherte, fehlte ihm sein leiblicher Vater sehr. In den »Heiligen Sonetten«, die er mit fast vierzig schrieb, verbindet sich die Angst, Gott habe ihn zurückgewiesen, mit der Angst, sein verstorbener Vater würde im Himmel womöglich nicht sehen, wie er das Böse mit aller Kraft bekämpfte.
Donnes feiner Familiensinn ist von Bedeutung, denn seine Familie war katholisch, und das hieß im elisabethanischen England Verfolgung und Zurückweisung von Geburt an. Katholiken wurden mit hohen Geldstrafen belegt, ihre Häuser von Regierungskommissionären überfallen und geplündert, sie durften kein öffentliches Amt bekleiden und keinen Universitätsgrad erwerben. Wenn man sie verdächtigte, Priestern Unterkunft zu gewähren, wurden sie verhaftet und gefoltert. Verurteilte Priester und Leute, die ihnen geholfen hatten, wurden barbarisch bestraft. Sie wurden gehängt, lebendig vom Galgen geschnitten, kastriert und ausgeweidet. Die braven Londoner frohlockten beim Anblick ihrer Todesqualen. Das öffentliche Abschlachten der an der Babington-Verschwörung beteiligten jungen Katholiken, als Donne vierzehn war, wurde von Feuerwerk, Freudenfeuern und Glockenläuten begleitet.
Donne erhielt Unterricht bei katholischen Hauslehrern, da er in einer Lateinschule die Staatsreligion hätte annehmen müssen. Seine Lehrer waren, wie er berichtet, begierig, den heiligen Tod zu sterben, und nahmen ihn offenbar mit zu Hinrichtungen von Katholiken, in der Hoffnung, daß die Begeisterung für die Märtyrerkrone auch ihn anstecken würde. Er schildert, wie Katholiken in der Menge niederknieten und zu den verstümmelten Überresten der hingerichteten Priester beteten. In seiner Jugend ließ ihn der »Gedanke ans Martyrium nicht schlafen«. Das war Familientradition. Mütterlicherseits stammte er von dem Märtyrer Sir Thomas More ab, und mehrere Verwandte waren für ihren Glauben in den Tod oder ins Exil gegangen. Sein Onkel Jasper Heywood, den die Obrigkeit schließlich aufspürte, war Leiter der geheimen Jesuitenmission in England.
Der junge Donne wußte, daß Spione und Feinde ihn umgaben, und ist ihnen offenbar trotzig entgegengetreten. Das früheste erhaltene Porträt zeigt ihn als Achtzehnjährigen, modisch gekleidet, die Hand am Schwert und mit dem Motto Antes muerto que mudado (Lieber tot als geändert). Über einer spanischen Bildunterschrift zu erscheinen, nur drei Jahre nach der Armada, war ein Affront gegen den englischen Patriotismus, und das Motto bestätigt sein Festhalten am alten Glauben. Auch seine kreuzförmigen Ohrringe hätten Protestanten empört. Doch das Porträt war eine Miniatur – ein persönliches Schmuckstück, das man nur engen Freunden zeigte. Es hat etwas Herausforderndes, macht dies jedoch nicht allzu deutlich. Das entspricht einem bei Donne häufig zu beobachtenden Muster, ein Verhalten, in dem sich privates Geltungsbedürfnis mit öffentlicher Unterwürfigkeit und Anpassung verbindet.
Für Katholiken war solches Verhalten ratsam. John Donne und sein Bruder Henry wurden mit zwölf bzw. elf Jahren nach Hart Hall in Oxford geschickt, das Katholiken bevorzugten, weil das College keine Kapelle besaß und das Fernbleiben vom Gottesdienst daher weniger auffiel. Als Jurastudent an den Londoner Inns of Court scheint Donne sich dann um gesellschaftliche Akzeptanz bemüht zu haben. Er schrieb schmeichlerische Versepisteln an Freunde, und seine Wahl zum Meister der Feste in Lincoln’s Inn 1593 läßt darauf schließen, daß er allgemein beliebt war.
Doch die Satiren und Liebeselegien, die er damals zu schreiben begann, erzählen eine andere Geschichte – oder vielmehr zwei. Der durch die Elegien stolzierende Protagonist ist kein vernünftiger, freundlicher Konformist, sondern ein Außenseiter, ein Freibeuter der Gesellschaft, der den bürgerlichen Frauen und Töchtern nachstellt. Die Frauen können ihm nicht widerstehen; er beleidigt und verführt sie im selben Atemzug und entkommt mit Hilfe der für ihn Entflammten den Wachen und Spionen, die die Gesellschaft auf ihn angesetzt hat. Er ist unverhohlen käuflich – einer von ihm verführten jungen Erbin versichert er, das Schönste an ihr sei die Aussicht auf den Reichtum ihres Vaters. Wiewohl schlüpfrig, gotteslästerlich und grausam, ist er doch hinreißend intelligent und welterfahren und (das macht er deutlich) den von ihm Betrogenen kulturell überlegen.
Der Sprecher der Satiren hat keine Ähnlichkeit mit diesem geilen Marodeur. Ernst, verantwortungsvoll und moralistisch, klagt er über Laster und Korruption und entdeckt sie praktisch bei allen, außer bei sich. Niedertracht, gibt er zu verstehen, sei besonders verbreitet unter Höflingen, Staatsdienern und denen, die – im Gegensatz zu ihm – Macht und Erfolg haben.
Die Satiren und Elegien zeigen, vermittels verschiedener Masken, denselben Antagonismus, dieselbe Überlegenheit, denselben Groll. Wir dürfen keinen der Zyklen für bare Münze nehmen. Bei beiden handelt es sich in hohem Maße um Ersatzphantasien. Der forsche, weltkluge Held der Elegien war eine Fiktion, die den Studenten der Inns of Court gefallen sollte. Denn in Wahrheit waren diese jungen Männer im elisabethanischen London ziemlich hilflos. Ständig in Geldnöten und unerfahren, waren sie eine leichte Beute für Wucherer, Prostituierte und andere Ausbeuter. Durch ihre Leichtgläubigkeit und Aufschneiderei machten sie sich zum Gespött der Bürger. Donnes Elegien kamen bei seinen Kommilitonen an, weil ihre erotischen Eroberungen und vornehmen Posen die gesellschaftliche Realität umkehrten.
Auch die Hochherzigkeit von Donnes Satiren war eine Pose. Der Hof, als Zentrum der Macht, zog die Studenten der Inns of Court magnetisch an, denn nur dort boten sich ihnen angemessene Karrierechancen. Erpicht auf Einkünfte und Einfluß, aber durch ihre Jugend ausgeschlossen, gaben sie vor, die Geschäftswelt zu verachten, und daher paßte die Rolle des Satirikers für sie. Indem sie sich wie moralische Richter aufführten, schmückten sie sich mit einer Autorität, die sie im wirklichen Leben nicht besaßen.
Mit dem Hermetismus und Antagonismus seiner Elegien und Satiren reagierte der junge Katholik auf die protestantische Gemeinschaft, die ihn zum Opfer gemacht hatte. Die sexuellen Provokationen der Elegien sind vielleicht besser als eine Art sozial-religiöser Protest zu erklären, wenn man bedenkt, daß die öffentliche Kastration von Katholiken Bestandteil der terroristischen Exekutionen des Staates war, die Donne im empfänglichsten Alter miterlebt hatte.
Auch daß seine Gedichte oft dunkel waren, vertiefte den Graben zwischen ihm und der Gesellschaft und schützte sein Werk vor inferioren Geistern, aber schmeichelte der Intelligenz der wenigen Auserwählten, die er ins Vertrauen zog. Er zeigte seine Gedichte nur engen Freunden, die versprechen mußten, sie nicht zum Zwecke der Verbreitung zu kopieren. Sie zu veröffentlichen war mit seinem Gefühl einsamer Überlegenheit unvereinbar. Obendrein hielten es manche für unvornehm. Daß er sich später überreden ließ, aus finanziellen Gründen die »Jahrestagsgedichte« zu drucken, bedauerte er bald: »Der Fehler, den ich mir eingestehe, ist, daß ich mich derart erniedrigte und Verse publizierte … Offen gestanden weiß ich nicht, wie ich mich dazu überhaupt bereit fand, und verzeihe es mir nicht.«
Donnes Publikationsabneigung war eine Facette seiner Geheimhaltungsstrategie. Die Poesie gehörte zu seinem verborgenen Leben, das die Öffentlichkeit nicht sah. Wenn er in Briefen an Freunde seine Gedichte erwähnt, setzt er sie stets herab. Sie seien »schwache Geistesblitze«, »Ausdünstungen« oder »Versfetzen «. Das zeigt, wie sehr ihm daran lag, sein Dichterleben gegen die zudringlichen Forderungen der Realität abzuschirmen. Herabsetzen verhinderte Nachforschung. Durch scheinbares Abwerten schützt er seine Gedichte vor Fragen – von anderen oder von sich selbst.
Und er fürchtete, Gedichte würden sein Fortkommen behindern, die Satiren Anstoß erregen, die Elegien ihm Schande bringen. »Ich möchte sie um jeden Preis verstecken«, verrät er einem Freund. Doch die Gedichte waren nicht das größte Hindernis. Die eigentliche Barriere zwischen Donne und den bei Hofe vergebenen Vergünstigungen war sein katholischer Glaube. Wann er beschloß, ihm abzuschwören, ist nicht bekannt. Aber womöglich hat der Tod seines Bruders Henry 1593, als Donne einundzwanzig war, ihn darauf hingelenkt. Henry wurde verhaftet, weil er einen katholischen Priester beherbergt hatte. Im Kerker von Newgate, wo die Pest wütete, starb er nach wenigen Tagen. Der Priester, William Harrington, wurde gehängt, ausgeweidet und gevierteilt.
Henrys Schicksal hat Donne vielleicht vor Augen geführt, wie kurz sein Leben sein könnte, wenn er seinen katholischen Ratgebern die Treue hielt. Satire 3 von 1594 oder 1595 zeigt, daß er kein überzeugter Katholik mehr war – allerdings auch noch kein überzeugter Protestant. Die Teilnahme an zwei Schiffsexpeditionen gegen die Spanier unter dem Kommando des Earl of Essex, 1596 und 1597, sollte seinen Patriotismus unter Beweis stellen und den Argwohn gegen seine katholische Erziehung ausräumen. Das Gedicht »Der Sturm«, das auf der zweiten Reise entstand und für die Freunde in Lincoln’s Inn gedacht war, feiert vor allem »England, dem wir verdanken, was wir sind und haben«.
In Essex’ Diensten bestand für Donne wohl auch die Aussicht, nützliche Kontakte zu knüpfen, und er sorgte dafür, daß dies geschah. Auf der zweiten Reise schloß er Freundschaft mit dem jungen Thomas Egerton und wurde bald nach der Rückkehr Sekretär bei dessen Vater, dem Lordsiegelbewahrer.
Diese Entwicklung überrascht vielleicht durch die unangenehme Ähnlichkeit mit Handlungsweisen, die Donne in seinen Satiren anprangert. Das Hofieren des Sohns und Erben eines großen Anwalts in der Hoffnung auf persönlichen Vorteil erscheint in Satire 1, 21–24, als eine besonders widerliche Art von Selbsterniedrigung; und in Satire 3, 17–19, zählt die Teilnahme an Schiffsexpeditionen gegen die Spanier zu jenen unbesonnenen, tollkühnen und entsetzlich geistlosen Eskapaden, die der Satiriker Donne mißbilligte. Doch drei oder vier Jahre später tat er eben dies. Man betrachte die Satiren daher besser als komplexe Texte, die Verurteilungen zu sein scheinen, tatsächlich jedoch Übertragungen uneingestandener Wünsche und Bestrebungen sind. Ein Satiriker, bekannte Donne später, verspottet »die Dinge, die nirgendwo Gültigkeit haben als in ihm selbst«.
Seine heimliche Heirat Ende 1601 mit Ann More, der Tochter eines reichen Grundbesitzers in Surrey, war womöglich auch von Ehrgeiz motiviert. In dem Brief, in dem er ihren Vater, Sir George, davon in Kenntnis setzt, erklärt er, nicht öffentlich um Anns Hand angehalten zu haben, weil ihm klar gewesen sei, daß er durch Stand und Vermögen nicht für sie in Frage kam. Ann, Lady Egertons Nichte, lebte in York House, der Londoner Residenz der Egertons, wo auch Donne wohnte. Die heimliche Romanze, die sich vor den Augen der nichtsahnenden Familie abspielte, wirkt wie eine in die reale Welt versetzte Szene aus den Elegien – als sei es Donne ausnahmsweise nicht gelungen, Phantasie und Wirklichkeit zu trennen; oder als habe ihn sein Groll gegen das Establishment am Ende doch genötigt, diesem auch in der Realität und nicht nur in der Schattenwelt der Gedichte die Stirn zu bieten.
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Aus dem Englischen von Dora Fischer-Barnicol
SINN UND FORM 5/2009, S. 690-694
Kippenberger, Susanne
Henry James' Haus in England, S. 705
Özdamar, Emine Sevgi
Das vierzigste Zimmer. Rede zum Fontane-Preis, S. 711
Kudielka, Robert
Abschweifungen. Goltzsche zur Literatur, S. 713