
[€ 9.00]
Heft 5/2008 enthält:
Bender, Peter
Erinnern und Vergessen. Deutsche Geschichte 1945 und 1989, S. 581
Vor zwölf Jahren legte der Althistoriker Christian Meier ein Forschungsergebnis vor, das einen Glaubenssatz der Bundesrepublik in Frage stellte. (...)
Bender, Peter
Erinnern und Vergessen. Deutsche Geschichte 1945 und 1989
Vor zwölf Jahren legte der Althistoriker Christian Meier ein Forschungsergebnis vor, das einen Glaubenssatz der Bundesrepublik in Frage stellte. Allgemeine und unangefochtene Überzeugung ist: Um eine schlimme Vergangenheit zu »bewältigen«, muß man die Erinnerung an sie ständig wachhalten. Meier berichtete, nicht Erinnern, sondern Vergessen sei das Heilmittel, mit dem alle früheren Zeiten versuchten, mit einer bösen Erbschaft fertig zu werden. Der Historiker war die Weltgeschichte durchgegangen, um herauszufinden, was die Menschen früher taten, wenn sie nach Kriegen oder Bürgerkriegen Versöhnung brauchten, um wieder zusammenleben zu können. Sein Befund war erstaunlich eindeutig. Allein die Juden schworen auf Erinnerung, und das nicht erst seit Hitlers Holocaust, sondern schon seit den Zeiten des Alten Testaments. Die übrige Welt setzte seit den alten Griechen auf Vergessen: »Immer wieder wird beschlossen, vereinbart, eingeschärft, daß Vergessen sein soll, Vergessen von vielerlei Unrecht, Grausamkeit, Bösem aller Art.«
Manche Beschlüsse, die Meier anführt, beeindrucken schon durch die Kraft ihrer Worte, dahinter wird der Wille spürbar, eine Zeit des Schreckens zu beenden. So nach dem Dreißigjährigen Krieg: »Beiderseits soll das ewig vergessen und vergeben, alle Beleidigungen, Gewalttätigkeiten, Schäden und Unkosten derart gänzlich abgetan sein, daß alles in ewiger Vergessenheit begraben sei.« Normalerweise, schrieb Meier, gingen Friedensverträge einher mit »abolitio (Aufhebung), oblivio (Vergessen) oder remissio (Vergeben) des Geschehenen«.
Ganz ähnlich klingt es im Edikt von Nantes, mit dem Heinrich IV. 1598 die französischen Religionskämpfe beendete: Die Erinnerung an das Geschehene solle »ausgelöscht und eingeschläfert sein, wie wenn nichts geschehen wäre« - und das nach der Bartholomäusnacht mit Tausenden von Morden. Der König verbietet Erwähnung und Verfolgung der Untaten, untersagt Erneuerung der Erinnerung. Man solle sich zufriedengeben und friedlich zusammenleben »wie Brüder, Freunde und Mitbürger«. Wer zuwiderhandelt, sei als Friedensbrecher und Feind der öffentlichen Ordnung zu bestrafen.
Natürlich läßt sich Vergessen nicht befehlen und Erinnerung nicht verbieten. In der politischen Praxis ging es daher immer nur darum, tätige Erinnerung zu verhindern: Die Wunden nicht wieder aufreißen und die Täter, von den allerschlimmsten abgesehen, nicht verfolgen, also den Schmerz nicht verlängern und nicht Anlaß schaffen für neue Kämpfe. Auch das ließ sich meist schwer durchsetzen und war nur manchmal von Dauer - immerhin war erst einmal Ruhe geschaffen und die schlimmste Leidenschaft gebändigt. Später hatten sich die Gemüter meistens, wenn auch nicht immer, abgekühlt, und die Zeit tat das Ihre.
Was Meier als historische Erfahrung mitteilt, entspricht allgemeiner Lebenserfahrung. Schon im Alltag gilt: Wenn zwei sich nach großem Streit wieder vertragen sollen, dürfen sie nicht dauernd davon reden, was sie einander angetan haben. Auch wenn sie weder vergessen noch vergeben können, müssen sie schweigen davon, sonst gibt es keinen Neuanfang, keine Versöhnung, kein Zusammenleben. »Seid nicht nachtragend«, sagten schon unsere Mütter.
Meiers Untersuchung blieb ohne nennenswerte Resonanz. Er ist einer der bedeutendsten Historiker des Landes, wurde aber weder diskutiert noch kritisiert; niemand, soweit ich sehen kann, fragte, was seine Ergebnisse für uns Deutsche bedeuten. Zweimal im vergangenen halben Jahrhundert befanden wir uns in einer Lage, wie er sie mit vielen Beispielen beschrieb. Wir brauchten äußeren und inneren Frieden, mußten in ein normales, wo möglich gutes Verhältnis zu unseren Kriegsgegnern kommen und mit der Hinterlassenschaft zweier Fehlentwicklungen fertig werden, der nationalsozialistischen und der kommunistischen. Am schwersten wog die Last beispielloser Verbrechen. Bei der Bewältigung dieser Aufgaben taten wir das Gegenteil dessen, was frühere Zeiten empfahlen. Wir verdammten jegliches Vergessen und schwuren auf Erinnerung.
Das nationale Interesse gebot es. Mit einer nazistischen Nation, einem Volk ganz ohne Einsicht in seine Untaten und ohne Willen zur Wandlung konnte kein Land, das unter den Deutschen gelitten hatte, ein normales Verhältnis schaffen. Umgekehrt stand auch die deutsche Außenpolitik unter dem Diktat der Erinnerung, sie mußte sich bewußt bleiben, daß es nach dieser Vergangenheit nicht das gleiche war, wenn Deutsche das gleiche taten wie andere.
Aber das Erinnern der Nachkriegszeit war nicht allein politisch begründet, sondern auch moralisch. Darin lag seine historische Besonderheit. Normalerweise ziehen Staaten und Völker nur politische Konsequenzen aus einer Niederlage, sie planen einen neuen Krieg oder suchen sich eine friedliche Zukunft, aber sie tun nicht Buße. Normalerweise leugnen und verdrängen Nationen ihre Untaten, die Deutschen aber bekannten sich zu den Verbrechen, die Deutsche zwischen 1933 und 1945 begangen hatten. Zugleich suchten Historiker nach Schuldigen in der deutschen Geschichte, die das Land auf einen Sonderweg geführt und Hitlerherrschaft und -gefolgschaft ermöglicht hätten. Die Politiker schufen eine Bundesrepublik, die frei ist von Machtwahn und Nationalismus und am liebsten nur noch dem Frieden dienen und die Menschenrechte fördern möchte. All das nicht allein aus politischer Erfahrung und Vernunft, sondern aus moralischer Verpflichtung. Vor allem konnte Auschwitz nicht vergessen werden. Für die Opfer war es unmöglich und das Volk der Täter konnte sich, je weiter die Untaten und deren Dimension bekannt wurden, der Verantwortung nicht entziehen. Erinnerung wurde Pflicht.
Die kritische Erinnerung an sich selbst und die praktischen Folgerungen daraus gehören zu den unbestrittenen Leistungen der Nachkriegszeit. Sie hatten kein Vorbild und werden in dieser Konsequenz kaum Nachahmer finden. Doch sie geben keinen Anlaß für »Sündenstolz«, denn sie waren das Ergebnis einmaliger Umstände. Nur die Beispiellosigkeit der Untaten und die Totalität der Niederlage machten Selbstbesinnung und Umkehr möglich und nötig. Wir waren 1945 nicht nur militärisch und politisch, sondern vor allem moralisch geschlagen und leben seitdem mit gebrochenem Kreuz: Vor der Einsicht war der Fall und vor der Moral die Schwäche.
Das deutsche Erinnern in der Nachkriegszeit ist ein historischer Sonderfall und ändert nichts an Christian Meiers grundlegender Erkenntnis, daß es nach schwerer Zeit kein Weiterleben gibt ohne Vergessen. Auch die Deutschen brauchten nach Hitler Vergessen, ohne Beschweigen ihrer Verbrechen wären sie außenpolitisch und ohne Verdrängen innenpolitisch nicht vorangekommen. Der Krieg war kaum zu Ende, als sie für den nächsten benötigt wurden, für den kalten Krieg der Systeme. Ost wie West wollten sie benutzen, mußten sich an sie gewöhnen, sich mit ihnen verbünden und allmählich versöhnen. Sie konnten nicht vergessen, was Deutsche getan hatten, aber durften es ihnen nicht dauernd vorhalten. So redeten die Westmächte immer seltener davon und schließlich kaum noch. So unterschied Stalin rigoros zwischen Deutschen und Faschisten und befahl den Völkern seines Imperiums, in der DDR nur noch Deutsche zu kennen. Im Geist der Versöhnung schrieben die polnischen Bischöfe 1965 ihren Amtsbrüdern in der Bundesrepublik: »Versuchen wir zu vergessen ... Wir vergeben und bitten um Vergebung.« Ohne Beschweigen der Untaten war ein Neubeginn nicht möglich. Historisch neu war jedoch, daß eine Seite, die Deutschen, sich erinnern mußte, damit die andere vergessen konnte. Ein Franzose brachte es auf die Formel: »Wir können vergessen, wenn ihr nicht vergeßt.«
Auch die innere Befriedung kam nicht ohne Vergessen aus, genauer: nicht ohne Vergessen-Machen. Als sich 1948 alle vier Besatzungsmächte aus der Entnazifizierung zurückzogen, standen die deutschen Politiker in West wie Ost einem Volk gegenüber, dessen große Mehrheit sich weigerte, Schuld oder auch nur Verantwortung für Krieg und Verbrechen anzuerkennen. Ohne Volk war kein Staat zu machen, Vorsicht war geboten, Kompromisse wurden nötig. Die Entnazifizierungsmaschinerie in den Westzonen begann leerzulaufen und produzierte schließlich fast nur noch Freisprüche. Die Kompromittierten durften, soweit es irgend ging, in ihre alten oder in gleichwertige Stellungen zurückkehren. Vergessen wurde nicht angeordnet, aber ermöglicht, geduldet und stillschweigend begünstigt. Von der Nazizeit und ihren Verstrickungen redete man möglichst wenig, weil es die Ruhe und den Aufbau störte. Nur engagierte Minderheiten störten noch, die Politiker mieden das Thema, auch Rundfunk und Zeitungen konzentrierten sich auf Tagesfragen, und die Geschichtsprofessoren und -lehrer hörten am liebsten mit Bismarck auf.
Mit der Masse der kleinen Nazis verfuhren die Kommunisten der Ostzone wie die Demokraten der Westzonen. »Wir wissen«, sagte Walter Ulbricht 1946, »daß ihr Nazis wart, wir werden aber nicht weiter darüber sprechen, es kommt auf euch an, ehrlich mit uns zusammenzuarbeiten.« Später suchte die SED Entlastung noch auf andere Weise. Da sie die einst herrschenden Klassen, »Träger des Faschismus«, enteignet hatte, erklärte sie, die DDR sei von den Übeln der deutschen Geschichte gereinigt und gehöre nun zu den »Siegern der Geschichte«. Alte und neue Nazis gebe es nur noch in der Bundesrepublik. Die Ostdeutschen bekamen Ruhe vor den Irritationen der NS-Vergangenheit. Was die Faschisten verbrochen hatten, erfuhr jedes Kind schon in der Schule, aber die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hatten damit nichts zu tun. Sie durften vergessen.
Die große Selbstbesinnung der Deutschen begann erst Mitte der sechziger Jahre, als Abstand gewonnen und die Nachkriegsnot überwunden war. Erinnern wurde möglich, als Vergessen nicht mehr nötig war. Erinnern konnte man fordern, als eine Generation erwachsen wurde, die nicht mehr sich selbst prüfen mußte, sondern nur noch ihre Väter zu befragen brauchte. Das geschah konsequent, gründlich, zuweilen allzu selbstgerecht, bis beinahe nichts und niemand unbefragt blieb. Keine Gesellschaftsschicht, keine Berufsgruppe, keine Institution, Organisation oder Konfession und nicht einmal die Wehrmacht, an der die ganze Nation teilgehabt hatte, konnte sich der Prüfung auf Verstrickung oder Duldung von Verbrechen entziehen. Vertuschen, Verdrängen, Vergessen wurde schwerer, großenteils unmöglich.
In der DDR vollzog sich seit Mitte der siebziger Jahre eine ähnliche Entwicklung, jedoch sehr viel schwächer. Wachsende Zweifel am System auch bei denen, die es trugen oder billigend hinnahmen, beschädigten das schöne Bild, das die SED von der Vergangenheit malte. So klar und einfach - böse Faschisten, heroische Kommunisten - konnte es nicht gewesen sein, und warum die Ostdeutschen weniger Nazis gewesen sein sollten als die Westdeutschen, war nicht einzusehen. So fragten Junge auch in der DDR die Alten, wie es damals wirklich gewesen sei und wie sie sich verhalten hätten.
Was bleibt als Bilanz? Erinnerung an die Nazi-Verbrechen war nötig, nützlich und verdienstvoll, aber die Lehre der Geschichte, daß Vergessen sein muß, wenn das Leben weitergehen soll, blieb davon unberührt. Gilt das auch für unser zweites Problem, die Hinterlassenschaft der DDR? Anscheinend nicht, denn als es um die Sünden der SED-Herrschaft ging, gab es keine Ruhepause des Vergessens. In der DDR drängten Feinde und Opfer des Regimes sogleich auf Entlarvung und Bestrafung aller Verantwortlichen. Viele Westdeutsche wollten es beim zweiten Mal besser machen als beim ersten, also schlimme Zeiten nicht beschweigen und Schuldige nicht schonen. Vergessen erschien ganz widersinnig, konnte nur der Versuch von Übeltätern sein, unerkannt zu bleiben. Tätige Erinnerung wurde Programm.
[...]
SINN UND FORM 5/2008, S. 581-585
Kobán, Ilse
Warten darauf, daß es wieder Leben wird, S. 593
»So berühmt sind wir ja nicht, daß unsere Briefe einmal veröffentlicht werden u.wer sie sonst etwa findet, der soll ruhig daraus ersehen können, (...)
Kobán, Ilse
Warten darauf, dass es wieder Leben wird. Zum Briefwechsel Carl Ebert und Gertie Ebert
»So berühmt sind wir ja nicht, daß unsere Briefe einmal veröffentlicht werden u.wer sie sonst etwa findet, der soll ruhig daraus ersehen können, daß wir uns ganz u. vorbehaltlos mit Körper und Seele liebten, davon nichts dominierte, aber auch nichts in einer verlogenen und verbogenen Bürgermoral zurückgesetzt wurde«, schreibt Carl Ebert 1935 an seine Frau Gertie. Und ebendies wird der Leser aus den hier abgedruckten Briefen ersehen, und er wird Einblick erhalten in die Lebensumstände und existentiellen Nöte eines emigrierten deutschen Künstlers und seiner Familie nach 1933.
Unberühmt war Ebert damals indes keineswegs. Aber wem ist er heute noch ein Begriff? Es gibt eine Biographie (1999), auf englisch, von seinem Sohn Peter, Abhandlungen in Publikationen über das Darmstädter Theater, das Musiktheater der zwanziger Jahre, das Charlottenburger Opernhaus, über sein Exil in der Schweiz sowie Artikel in Programmheften, Jahrbüchern und Lexika. Das ist alles über einen Mann, der das Musiktheater des 20. Jahrhunderts maßgeblich beeinflußt hat und den Walter Felsenstein als den »Nestor all unserer Bemühungen um das Theater« würdigte. Der aber seiner Frau schrieb, sie solle die Angaben für das »Who is who?« für ihn machen: »weil es mich ankotzt, soviel über mich zu lesen und zu beglaubigen«.
Geboren wird Ebert am 22. Februar 1887 in Berlin. Seine Mutter, die irischamerikanische Musikstudentin Mary Collins, erbittet sich aus Angst vor ihrer Familie von ihrer Freundin Eileen Lawless die Erlaubnis, dem unehelichen Kind deren Namen geben zu dürfen, und verläßt Deutschland. Der Vater, Graf Anton Potulicky, damals im Auswärtigen Amt angestellt, gibt das Kind in Pflege zu seinen Pensions-Wirtsleuten Marie und Wilhelm Ebert, die ihn als Siebenjährigen adoptieren. Aus Charles Lawless wird Charles Ebert. Mit siebzehn erfährt er, daß »Onkel Anton« sein Vater ist. Seinen Vornamen deutscht er zu Beginn des ersten Weltkriegs ein. Er absolviert eine Banklehre, erhält einen Freiplatz an der Berliner Max-Reinhardt-Schule und wird als Zweiundzwanzigjähriger am Deutschen Theater engagiert. Drei Jahre später heiratet er Lucie (auch Cissy und Cess genannt) Friederike Splisgart. Die Ehe wird 1923 geschieden. Nach einem Jahr Kriegsdienst ist Ebert sieben Jahre Schauspieler in Frankfurt am Main und Mitbegründer einer Schauspielschule. Hier lernt er Gertrude Eck kennen, die er 1924 heiratet. Es folgen Engagements am Schauspielhaus Berlin, die Generalintendanz und Künstlerische Leitung für Oper und Schauspiel in Darmstadt und 1931 Intendanz und Künstlerische Leitung der Städtischen Oper Berlin. Den ersten großen Erfolg feiert er mit Verdis »Macbeth«, Bühnenbild Caspar Neher, musikalische Leitung Fritz Stiedry. Für Stiedry sind die anderthalb Jahre mit Ebert die schönste Zeit seines Lebens. Und Ebert bekennt: »Ich war immer dem Schicksal dankbar, daß ich F. St. In Berlin vorfand, als ich den gewagten Schritt von Darmstadt in die Metropolis 1931 unternahm. Ich wußte, daß ich mit meiner Zukunft spielte, als ich bei Übernahme der Berliner Intendanz darauf bestand mit Verdis Macbeth zu beginnen, und vielleicht wäre es wirklich die von vielen vorausgesagte Katastrophe geworden, wenn wir nicht ein so unglaublich glückliches Dreigespann hätten bilden können wie es die Zusammenarbeit mit F. St. und C. Neher zustandebrachte. Aus dieser Zusammenarbeit erwuchs eine so glückliche, seltene Freundschaft in geistiger und künstlerischer Beziehung, die mir jene Jahre noch heute als entscheidenden Wendepunkt in meiner Lebensarbeit bedeuten. Brecht und Weill traten noch hinzu zu helfen, daß eine wirkliche Revolution der alten Oper in Aussicht stand, und wir waren voll von den Ideen. Der Nazisturm fegte alles weg.«
Eine sehr viel längere und künstlerisch zutiefst beglückende Zusammenarbeit verbindet Ebert mit Fritz Busch. Beider Namen sind untrennbar mit dem Glyndebourne Festival und der Mozart-Interpretation verknüpft. Der Operndirektor der Sächsischen Staatstheater und Generalmusikdirektor der Sächsischen Staatskapelle gibt sein Berlin-Debüt im September 1932 in Eberts »Maskenball«-Inszenierung mit dem Bühnenbild von Caspar Neher. Im März 1933 werden nach einem von den Nazis provozierten Vorstellungskrawall in der Semperoper Busch und Generalintendant Alfred Reucker ihrer Ämter enthoben. Busch verläßt Dresden am 11. März 1933, um nie mehr zurückzukehren. Er trifft sich noch am gleichen Tag in Berlin mit Ebert, dessen Städtische Oper ebenfalls am 11.März von der SA besetzt worden war. Er erhält die Mitteilung:
„Sehr geehrter Herr Professor!
Als kommissarischer Leiter und nationalsozialistisches Aufsichtsratsmitglied der Städtische Oper A. G. enthebe ich Sie mit sofortiger Wirkung Ihres Dienstes.
Das Betreten des Hauses ist Ihnen nicht mehr gestattet.
Matschuck“
Am 13. März erhält Ebert die offizielle Entlassung durch Oberbürgermeister Heinrich Sahm, der zugleich Vorsitzender des Aufsichtsrats der Städtischen Oper A. G. ist. Am selben Tag werden er und Busch zu Hermann Göring bestellt. »Bis Ruhe eingekehrt sei«, sollen sie Urlaub nehmen. Danach werde eine »Reorganisation« des Berliner Opernwesens erfolgen. Sie lehnen ab. Aber ein Gastspiel in Argentinien, die Temporada, steht an. Die Nationalsozialistische Betriebszelle der Städtischen Oper A.G.wendet sich in einer »Entschließung « gegen ein Gastspiel der Städtischen Oper in Buenos Aires »unter der Spielleitung des Herrn Karl Ebert«. Dabei werden zum ersten Mal »Entlassungs-Gründe« genannt:
„I) Herr Karl Ebert hat durch die Mitunterzeichnung des berüchtigten Hölzbriefes, womit er sich für einen Mordbrenner einsetzte, eine politisch-bolschewistisch tendierende Haltung eingenommen.
II) Herr Karl Ebert hat ferner mit den durch ihn aufgeführten und von ihm besonders liebevoll inscenierten Jüdischen Machwerken (Bürgschaft und Schmied von Gent), weiter durch seine Holländerinscenierung sowie durch die Auswahl seiner Mitarbeiter für seine Bohème und Troubadourinscenierungen bewiesen, daß er auch künstlerisch absolut bolschewistisch tendiert.
Wir erklären als deutsche Nationalsozialisten: Ein solcher Mann darf nie mehr in führender Stellung über deutsche Künstler gesetzt werden und darf nicht als Repräsentant deutscher Kunstbelange im Auslande, vor allem nicht als Inscenator von Richard Wagners Werken zugelassen werden.
Wir richten daher an die im Zusammenhang mit dieser Angelegenheit genannten amtlichen Stellen die dringende Bitte, öffentlich abzurücken. Heil Hitler! Die Amtswalter der N. S. Betriebszelle Städtische Oper A. G.
gez. Wiedemer, Zellenobmann und Gustavus, Zellenschriftwart.“
Dagegen hat der Aufsichtsrat gegen Eberts »Reise und Regieführung bei der Deutschen Stagione in Buenos Aires keine Einwendungen«. Man weiß, daß eine Absage von Ebert und Busch das Ende der deutschen Gastspiele in Argentinien bedeuten würde.
Am 15. März 1933 wird die Leitung der Städtischen Oper abgesetzt. Rudolf Bing, der Leiter des Künstlerischen Betriebsbüros, der Komponist und Dirigent Berthold Goldschmidt in seiner Funktion als musikalischer Assistent, der Kapellmeister Fritz Stiedry und andere, darunter der Korrepetitor Kurt Sanderling, werden entlassen.
Ebert fährt zunächst nach Italien zu einem Arbeitsurlaub, den Sahm gegenüber dem Auswärtigen Amt damit begründete, daß er die »kulturpolitische Bedeutung der Berufung von Herrn Professor Ebert als Regisseur für die Festspiele in Florenz im Mai d. J. durchaus« teile. Gertie zieht mit den beiden Töchtern zu ihren Eltern nach Frankfurt am Main.
Auf Florenz folgt vom 1. Juli bis zum 10. September das Gastspiel in Buenos Aires, über das offiziell verlautbart wird: »Dank der tatkräftigen Unterstützung durch den Reichskommissar für Bühnenkunst, Hans Hinkel, ist es gelungen, ein erstklassiges deutsches Opernensemble zusammenzustellen.« Die Briefe der Eberts vermitteln ein anderes Bild. Gertie berichtet Eberts erster Frau Cess, die mit dem Dirigenten Hans Oppenheim verheiratet ist: »Carl ist soweit ganz zufrieden, nachdem er sich damit abgefunden hat, daß an irgendeine Art von schöpferischer Arbeit, von persönlichem künstlerischen Glaubensbekenntnis hier unter den gegebenen Umständen einfach nicht zu denken ist. Die Mitglieder sind nett, willig u. entgegenkommend, soweit man das von ›Prominenten‹ überhaupt erwarten kann, aber diese festgefahrene, unentrinnbare Routine der Leute – die alle ihre Partie hundertmal ›an allen großen Bühnen der Welt‹ gesungen haben! – ist Carl so schrecklich, daß sie ihn förmlich lähmt. Und dann das Problem: Wagner, für das der Regisseur in jedem einzelnen Fall nur in wochenlanger intensiver Probenarbeit einen Weg finden kann, und für das Carl wohl immer nur einen Ausweg finden wird. Hier muß er Meistersinger, Parsifal und Tristan in etwa 14 Tagen herausbringen! Lohnt es da, überhaupt erst mit ›Auffassung‹ anzufangen? […] Komisch, daß uns heute die Arbeit dort [in Florenz], unter der Carl damals stöhnte, im Vergleich zu den hiesigen Möglichkeiten in rosigstem Licht und als hochkünstlerisch in Erinnerung ist. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, es wird wieder einen Aufstieg geben, wenn wir jetzt auch eine bittere, harte Zeit durchmachen und Carl seine schöne Kraft verkaufen und verhandeln muß, damit wir leben können.«
Und in einem langen Brief an Gustav Hartung schreibt sie u.a.: »Mir hat mal jemand gesagt: ›Ein Gutes hat dieses Buenos neben vielem Unangenehmem: das Schiff, das einen wieder wegbringt!‹ Diese Charakterisierung ist zwar lieblos und ungerecht, aber ich persönlich finde was Wahres dran! Die Stadtmenschen: ein phlegmatisches, luxussüchtiges Volk, das neben tiefster Armut und elendsten Existenzen, die in Zeitungspapier gewickelt mit Säcken auf dem Kopf in dreckigen Ecken übernachten, gleichgültig nur ein Ziel kennt: möglichst viel und rasch Geld verdienen. Das Klima macht einen müde und krank, lähmt die Aktivität, wahrscheinlich wegen des hohen Feuchtigkeitsgehalts. Ich glaube, daß Klemperer nur aus Verzweiflung 52 Proben für Figaro gemacht hat. Carl und Busch kämpfen heldenmütig, kommen doch nicht von früh bis nachts aus dem Theater heraus, was bei den hiesigen Arbeitsbedingungen, bei der allgemeinen Lahmheit und Unzuverlässigkeit keine Kleinigkeit ist. Carl hat sich in sein Schicksal gefunden und seine Begriffe von ›Regie‹ in die Koffer verpackt, die wir erst in Europa wieder brauchen.«
Ebert selbst wird gegenüber Hans Oppenheim noch deutlicher: »Es kotzt mich an zu denken, daß ich nun in alle Zukunft wohlbemerkt: bestenfalls! – als Reiseregisseur herumgereicht werden soll, um ähnlich tief deprimierende Ergebnisse wie hier zu ›zeitigen‹! Aber meine finanziellen Verpflichtungen sind so groß, daß ich nach jeder sicheren Einnahme greifen muß … Hier wird die Möglichkeit erörtert, Busch und mir auch die nächstjährige deutsche Temporada zu übertragen (denn wir haben Riesenerfolge mit unseren Aufführungen, die szenisch unter-provinziell, solistisch mit wenigen Ausnahmen mittelmäßig und nur musikalisch durch Busch erstklassig und herrlich sind.) Aber auch diese Pläne ergeben noch nichts Greifbares, und so werden wir wahrscheinlich am 19. Sept. diesen Kontinent verlassen, ohne zu wissen, wo wir leben und wo ich arbeiten werde.«
Zurückgekehrt begibt sich Carl auf die »Suche nach Arbeit«. Durch Gustav Hartung – er ist als Generalintendant in Darmstadt zurückgetreten, weil er es ablehnte, »Entlassungen nach der Parteidoktrin auszusprechen und die Spielplanbildung ihr zu unterstellen« (visionär ist seine Ansprache im Schweizer Rundfunk im April 1933: »Die Zurückgeholten werden die verlassenen Arbeitsstätten als Trümmerfeld wiederfinden«), und jetzt Spielleiter in Zürich – kann Ebert am dortigen Schauspielhaus wieder in seinen »alten« Beruf. Er hofft damit die Zeit zu überbrücken, bis seine Ansprüche in Berlin reguliert sind oder er wieder als Regisseur arbeiten kann.
Gertie zieht im November 1933 mit den Kindern nach Cureglia, bei Lugano, was möglich ist, weil ihre Eltern die Schweizer Staatsbürgerschaft besitzen. Jetzt muß alles brieflich beredet werden – vom zutiefst Privaten, den alltäglichen Sorgen um Kinder, Haus, bis hin zu den beruflichen Problemen. Zwischen 25. Oktober 1933 und 5. September 1934 – dem hier in Rede stehenden Zeitraum – schreibt Gertie 55 Briefe an Carl und er 51 Briefe an sie, zudem zahlreiche Karten und Telegramme. Die Korrespondenz besteht aus über tausend, zumeist handschriftlichen Stücken.
Erschöpft und deprimiert erwägt Ebert auch eine Rückkehr nach Deutschland – worüber Busch »nur lacht« – und bittet Gertie am 2. Februar 1934, über Hinkel (durch einen Vertrauensmann) die Lage zu sondieren: »Du weißt ja, wie zwiespältig ich diese Dinge ansehe, aber vielleicht ist das wirklich ein Weg, der mir immer noch meine eigene Haltung frei gibt?!« Zugleich bittet er sie, seinen dringenden Brief an Mr. Christie nach Glyndebourne zu schicken, denn er befürchtet, die deutschen Behörden könnten weitere Engagements in Buenos Aires verhindern.
Der Kontakt mit John Christie wird über Fritz Busch hergestellt, dessen Bruder Adolf mit seinem Quartett in England gastiert. Auf seinem herrschaftlichen Landsitz in Glyndebourne hatte Christie für seine Frau, die australische Sängerin Audrey Mildmay, einen Anbau als Opernhaus errichten lassen, das er 1934 mit »Don Giovanni« und »Walküre« eröffnen will. Doch für dieses Wagnis findet sich kein Dirigent. Auch der angesprochene Busch ist skeptisch. Aber da das Teatro Colón in Buenos Aires ankündigt, die Saison 1934 aus finanziellen Gründen zu verkürzen, sagt er zu. Auf seine Empfehlung wendet sich Christie an Ebert, der jedoch die Briefe nicht beantwortet, weil er glaubt, es mit einem Phantasten (»Papa Christie und seine singing Lady«) zu tun zu haben. Mitte Februar treffen Busch und Ebert sich schließlich in Lausanne; anschließend reist Ebert nach Glyndebourne. Er und Busch einigen sich mit Christie und übernehmen die künstlerische Leitung der Glyndebourner Festspiele, die noch heute jeden Sommer stattfinden. Zur Eröffnung im Mai 1934 sind mit »Le Nozze di Figaro« und »Così fan tutte« zwölf Vorstellungen vorgesehen. Allein für den »Figaro« hat Busch vierundzwanzig Orchesterproben angesetzt! Aber man spielt vor fast leerem Haus. Christie verliert 10000 Pfund.
Gertie kümmert sich derweil von Cureglia aus auch um das Geschäftliche. Sie sammelt Kritiken, kümmert sich um Dokumente und Arbeitsmaterial; sie hält Carl auf dem laufenden über die Lebensumstände und Schicksale emigrierter oder in Deutschland gebliebener Kollegen und führt die umfangreiche Korrespondenz. Aber: »Ich fühle mich wieder ganz nebbich, arm und gehemmt – wie immer, wenn du mich allein läßt! Es bleibt doch immer eine Egmont-Klärchen Beziehung zwischen uns, der Welt gehörst Du, der am Tisch sitzt mit den Großen und zwischen den Taten rasch mal einkehrt in sein bürgerliches Nestchen Cureglia, den schnatternden geliebten Einwohnern Glanz und Licht zu bringen und an Hand der großen Dinge staunend u. lauschend sitzen wir um Dich herum und hören Deine Erzählungen! Stimmt es nicht?? Ich bin glücklich dabei; nur manchmal kommt die Besinnung, die Angst über mich: müßte er nicht eine ganz andere Frau haben?? Eine große, bedeutende, wie er selbst?? Aber dann tröste ich mich: Egmont hat Klärchen gewählt, er wird wissen, was er tut!« Sie ist dankbar für das »unendliche Wohlsein, das einem hier geschenkt wird«, aber auch deprimiert über das »Vegetieren und Warten darauf, daß es wieder Leben wird«. Es sind Sorgen um die Eltern, die noch in Deutschland sind, um »schwindende Kohlenvorräte, die nur noch zwei Tage reichen«, und immer wieder Klagen über bedrückende Geldnöte.
Nach Zwischenstopp in Cureglia reist Ebert im Sommer 1934 mit dem Zug und dann per Schiff zur zweiten Temporada, um »bei den Indianern zu schuften«. Nach seinen Erfahrungen im Vorjahr ist er skeptisch, ist doch die Inszenierung von »Così fan tutte«, »Tristan und Isolde«, »Walküre«, »Verkaufte Braut«, »Arabella« und »Fliegendem Holländer« ein kaum vorstellbares Pensum. Ihn »fröstelt in jeder Beziehung«.
In Anbetracht der unberechenbaren Postzustellung numerieren die Eheleute von jetzt an ihre Briefe. Ebert schreibt vorwiegend nachts, der Tag ist den aufreibenden Proben vorbehalten. So ist der Brief No. 17 B. A. [Buenos Aires] Montag 13. Aug. 34 nachts »nach 3 heftigen Arabella-Proben von ½ 12 vorm. bis 12° nachts mit Essenspausen« geschrieben. Die argentinischen Zeitungen berichten positiv und der »Völkische Beobachter« spricht von »einem ganz gewichtigen Erfolg für die deutsche Kunst«. Busch und Ebert werden genausowenig genannt wie der Bühnenbildner Teo Otto. Eberts Resümee dieser aufreibenden Monate ist deprimierend: Man hat keinen Pfennig sparen können. Dann geht es nach Rio de Janeiro, wo er, wieder mit Busch am Pult, die »Walküre« inszeniert. Aber Gertie kann ihn nach einigem finanziellen Jonglieren besuchen. Damit endet der erste und umfangreiche Teil der Korrespondenz, der in diesem und dem folgenden Heft abgedruckt wird.
Hier nun kurz die folgenden Stationen der Eberts. In der Schweiz bereitet sich Carl auf die zweite Glyndebourne Season 1935 vor. Es gibt Koordinationsprobleme, da er zum gleichzeitig stattfindenden Maggio Musicale Fiorentino eingeladen wurde und Neuinszenierungen für die dritte Temporada in Buenos Aires anstehen. Von der Schauspielerei in Basel fühlt er sich »aufgefressen«, denn in sieben Wochen muß er vier große Rollen spielen. Aber am 3. Dezember 1934 berichtet er Hans Oppenheim von einer Anfrage, »die Einrichtung und Organisation einer Theaterschule zu übernehmen mit dem Ziel eines völligen Neuaufbaus des gesamten Theaterwesens in dem noch auf diesem Gebiet unbeackerten, jungen Land. Das reizt mich natürlich ungeheuer, vielleicht auch deswegen, weil ich damit wieder an eine gänzlich andere Ecke der Windrose geschmissen würde! Ich habe mich verpflichtet, das Land nicht zu nennen … Ungeheuer spaßhaft ist an all diesen Anfragen und Projekten, daß ich immer mal ausgerechnet als Exponent des deutschen Theaters angesprochen werde.«
Das Land ist die Türkei, die vielen deutschen Künstlern und Wissenschaftlern Asyl gewährt. Ebert erhält von Präsident Atatürk den Auftrag, eine Theaterschule und ein Staatstheater aufzubauen. Bis 1938 ist er jeweils zwei bis drei Monate jährlich an der Schule tätig.
Der Haushalt in Cureglia hat sich inzwischen vergrößert. Im Januar 1935 wurde Michael geboren, und Gerties Eltern sind samt Auto »Maxe« übergesiedelt. Carl arbeitet wie ein »Berserker«, um Basel, Zürich, Glyndebourne, Florenz und Buenos Aires zu bewältigen. 1936 inszeniert er in Wien an der Staatsoper und am Burgtheater, im Dezember 1937 »Carmen« mit Bruno Walter am Pult, der wenig später in die USA emigriert. Diese Arbeit »sollte der Beginn einer dauernden Zusammenarbeit werden, wenn ein viertel Jahr später nicht die Nazis gekommen wären«.
Am 15.März 1938 verkündet Hitler vom Balkon der Hofburg die »Heimkehr seiner Heimat ins Deutsche Reich«. Die für diesen Tag vorgesehene Premiere von Shakespeares »Julius Cäsar« mit Werner Krauß in der Titelrolle findet vier Tage später statt. Der Name des Regisseurs Carl Ebert fehlt auf dem Theaterzettel.
Der Schauspielerin Käthe Dorsch, die seinetwegen bei Hermann Göring vorstellig geworden war, schreibt er am 6. März 1938: »[…] falls sich die betreffende Persönlichkeit noch einmal nach mir erkundigen sollte, so bitte ich Sie, zu antworten, daß die Arbeit, die ich mir in schweren Zeiten auf künstlerisch reicher Basis aufgebaut habe und mit der ich deutsche kulturelle Interessen nach besten Kräften verteidige, auf Jahre hinaus festgelegt ist.« Er kehrt in die Schweiz zurück.
Am 10. September 1938 schreibt Ebert an Busch:
„Da die Welt momentan den Atem anhält, sind andere amerikanische Projekte jetzt nicht greifbar. […] Ich bin zu müde, um noch lange über das zu reden, was uns wohl in diesen Stunden am meisten bewegt. Soeben hörte ich eine Rede von Goebbels. Die Verdrehungen, die Spiegelfechtereien, die faustdicken Lügen marschierten auf wie die Bataillone unseres Volkes, die heute in 8 Tagen vielleicht schon im Feuer stehen. Man könnte heulen, wenn nicht das dumpfe Gefühl da wäre, daß sich hier ein Schicksal erfüllt. »Wir werden handeln nach dem Gesetz, nach dem wir angetreten sind«, so schloß dieser Teufel seine Rede, und der Mißbrauch des ehrwürdigen Wortes konnte einen gruseln machen. Ich erwarte den Beginn des bewaffneten Konflikts (den man vielleicht gar nicht Krieg nennen wird) schon für die allernächsten Tage. Dann gnade Gott Europa.
Wie’s auch kommt: lebe wohl, lieber Junge, bleibt gesund und laßt von Euch hören.
Dir, Grete und den Mädels Gruß und Kuß auch von Gertie!“
Busch antwortet aus Stockholm:
„Mein lieber Carl,
vielen Dank für Deinen lieben und gescheiten Brief, den ich kurz vor der Abreise mit Eta nach Stockholm erhielt. Es fällt mir schwer, vernünftig zu antworten, wenn man jeden Augenblick den Ausbruch eines neuen Weltkriegs erwartet, der fürchterlicher wird als alles, was sich unsere Fantasie vorstellen kann. Meine Depression wird dadurch nicht geringer, daß ich diese Entwicklung der Dinge kommen sah und daß ich persönlich mit meiner Familie wahrscheinlich kaum betroffen werde. […]
Und nun, mein lieber Carl, einmal von Herzen: Gott befohlen! Ich habe nicht viele Freunde auf dieser Erde, den wenigen, wozu Ihr in erster Linie zählt, hoffe ich aber ein guter Freund zu sein. So steht mir auch Euer persönliches Schicksal immer vor Augen, und ich wünsche zunächst von ganzem Herzen, daß die Dinge nicht so schlimm kommen mögen, wie es heute den Anschein hat.
Seid alle herzlichst umarmt in alter Treue –
Dein Fritz.“
November 1938: »Ich dampfe ab nach Ankara (Ata Türk ist schwer erkrankt). Sterbende Diktatoren sind aber kein guter Aspekt für ruhige Arbeit«. Dennoch zieht er 1939 samt Familie nach Ankara, wo er das Nationaltheater mit »Madame Butterfly« eröffnet. In ihren Briefen schildert Gertie seine Arbeit, die stundenlangen Exerzitien mit den von Schauspiel und Oper völlig unbeleckten Schülern, die Schwierigkeiten mit der Sprache, aber auch seine Erfolge: »Sie scheinen den Carl zu lieben, weil man Vertrauen gefaßt hat zu seiner Sachlichkeit u. seinem Willen, nicht für sich selbst etwas erreichen zu wollen, sondern das Beste für die Türkei zu leisten.« Ebert rückblickend: »Die Arbeit in der Türkei war eigentlich meine Lieblingsarbeit […] Ich mußte wirklich sehen: Was ist der Ursprung aller Dinge? Was ist Spielen? Was ist Theater? Was ist Oper? Es hatte nie eine türkische Oper gegeben. Ich bin dankbar dafür, daß ich das tun konnte.«
1946 erfährt Carl Ebert vom Tod Gustav Hartungs, der sofort nach Kriegsende heimgekehrt war. Seine Worte über den Freund – in einem Brief an Gertie – sind ein Nachruf:
„Gustav Hartung ist in Heidelberg gestorben. Es hat mich doch sehr erschüttert, muß ich sagen. Nun hat er zwar das Ende der Schreckenszeit, aber doch nicht mehr den Wiederaufbau erlebt. Ist er vielleicht nur ein Gleichnis für uns alle? Werden wir, unsere Generation der Emigrierten nicht alle nur die ewig Hoffenden, Wartenden u. Nie-zur-Erfüllung-Kommenden sein? Ich fühlte mich plötzlich so alt u. müde, genau wie Schwartz auch u. wir saßen uns still gegenüber, zwei Männer, die vor 13 Jahren ausgezogen waren, ins Ungewisse hinein, um zu kämpfen u. später zu bauen. 13 Jahre Emigration. Das ist viel. Vielleicht zu viel. Wie fühlte ich mich noch ungebrochen u. kraftvoll vor ein paar Jahren. Dann kam das Leben u. riß an einem u. zerriß soviel an Glauben u. Kraft u.Willen, das notwendig, so bitter notwendig ist, um nicht unterzusinken. Gustav war mutig, ich bewunderte ihn im Stillen, daß er justament dort wieder anfangen wollte, wo er schon einmal den Hebel angesetzt hatte, Heidelberg. Ganz im Kleinen nur arbeiten, an einer Stelle den Karren aus dem Dreck heben, dann würde das vielleicht in der Ferne wirken. Ich sagte mir ehrlich: das kann ich nicht mehr. Aber bravo Gustav! Nun kurz vor dem ersten Spatenstich nimmt ihm der Tod die Schaufel aus der Hand. Armer armer Junge. Und ich ahne, es wird uns allen mehr oder weniger so gehen. Fremd in der Fremde geblieben, fremd der Heimat geworden. Die uns auch nicht mehr braucht, uns ›alte Kämpfer‹, uns Veteranen.
Fünf, acht Jahre früher wäre unsere geheime Sehnsucht: zurückgerufen zu werden, vielleicht noch möglich gewesen Wahrheit zu werden. … Unser Leben ist hart; wie das weniger Generationen vor uns. Grausam werden wir zerzaust. …
Ich habe Abschied von Gustav genommen, wie von einem tapferen guten Kameraden. Die Neue Züricher Zeitung schreibt ihm einen freundlich kühl-objektiven Nachruf. Er hat einen größeren in meinem Herzen, u. es schmerzt mich, daß ich das nur fühlen u. ihm nicht mehr sagen kann …
Für heute nicht mehr Liebste
Ich küsse Dich innig Carl.“
1947 kehrt Ebert mit seiner Familie in die Schweiz zurück. 1948 erhält er einen Ruf an die University of Southern California; er richtet ein Operndepartment ein, betreut in Los Angeles junge Sänger, hält Vorlesungen über Operngeschichte und inszeniert in Glyndebourne und Edinburgh. 1950 wird er zum General Director der neu gegründeten Guild Opera Company in Los Angeles gewählt und eingebürgert. Die Universität Edinburgh verleiht ihm 1953 den Dr. h. c. der Musik. Dennoch denkt er an Europa. An den Mann seiner Tochter Hidde, den Schauspieler Walter Richter, schreibt er am 4.Februar 1950:
„Bei allen Schönheiten dieses Landes, dieses Lebens und dieses Klimas, fehlt uns Europäern doch etwas, was wir mit der Muttermilch eingesogen haben und als geistigen und künstlerischen Rückhalt auf die Dauer nicht vermissen können. Ich bin ja in der glücklichen Lage, daß ich in jedem Jahr für ein paar Monate nach England in mein geliebtes Glyndebourne zurückkehre. Da weht mir dann wieder europäische Luft um die Nase, ich fühle mich zu Hause, fühle Verständnis und Anregung. Wenn ich diese berufliche Doppelexistenz nicht hätte, würde ich bei allen schönen Aufgaben hier doch irgendwie Hunger leiden. So fühlen alle, auch die Größten auf künstlerischem Gebiet, nur wollen es sich die meisten nicht eingestehen – teils weil sie keine Gelegenheit haben, in Europa zu arbeiten und teils weil sie faul und bequem werden und sich dem hiesigen Leben anpassen. Und dieses Leben ist wahrhaftig unglaublich angenehm und comfortable, besonders hier im Westen. Der kalifornische Winter ist wie ein Frühling bei Euch. Die Blumen blühen das Jahr hindurch, man geht ohne Mantel und badet oft im Pacific. So schön es ist – das würden doch niemals Reizmittel für mich sein. Dein Papsch fühlt sich zu jung und zu unternehmenslustig, um sich auf die bequeme Seite zu legen oder Kompromisse zu machen.“
Deshalb geht er 1954 dorthin, wo er »schon einmal den Hebel angesetzt hatte«, an die Städtische Oper, die nach ihrer Zerstörung im »Theater des Westens« ihr Domizil hat. Während seiner Intendanz wird der Wiederaufbau beschlossen. Das neue Haus wird am 24. September 1961 am alten Platz als Deutsche Oper Berlin mit »Don Giovanni« in der Inszenierung von Carl Ebert eröffnet, Dirigent Ferenc Fricsay. Das ist Eberts letzte Arbeit in Berlin. Der Vierundsiebzigjährige verläßt die nun auch durch eine Mauer geteilte Stadt und setzt von Pacific Palisades aus seine internationale Regietätigkeit fort.
Am 14.Mai 1980 stirbt Carl Ebert in seiner Wahlheimat Amerika.
SINN UND FORM 5/2008, S. 593-603
Ebert, Gertie
Briefwechsel 1933-1934 (I), S. 604
Herz, Dietmar
Das Anthemion und das »Streichholzthema«. Gedanken zu Peter Glotz' Leben und politischem Denken, S. 631
Hartwig, Julia
Skizzen zu Zbigniew Herbert, S. 651
Różycki, Tomasz
Über die Farben - vor und nach 1989, S. 660
Nasilowska, Anna
Polnische Literatur nach 1989, S. 667
Martini, Magda
Briefe. Vorbemerkung von Magda Martini, S. 676
Bartsch, Wilhelm
Gedichte, S. 686
Drescher, Horst
Wechsel der Zeiten, S. 689
Lovas, Ildiko
Mau-Mau am Adriastrand, S. 697
Oberender, Thomas
Wer flüstert, lügt. Laudatio auf Rolf Rothmann, S. 708
Berger, John
Eine Erinnerung, S. 715