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1/2013
Heft 1/2013 enthält:
Wajsbrot, Cécile
Über Katastrophen schreiben, S. 5»Du bittest mich, Dir das Ende meines Onkels zu schildern, damit Du es desto wahrheitsgetreuer der Nachwelt überliefern kannst. Ich danke Dir; denn (...)
LeseprobeWajsbrot, Cécile
Über Katastrophen schreiben
»Du bittest mich, Dir das Ende meines Onkels zu schildern, damit Du es desto wahrheitsgetreuer der Nachwelt überliefern kannst. Ich danke Dir; denn ich sehe, daß seinem Tod, wenn er von Dir beschrieben wird, unsterblicher Nachruhm bestimmt ist. Denn obwohl er bei der Verheerung der schönsten Landstriche, wie die Bevölkerung, wie ganze Städte, den Tod fand und wie sie durch diese denkwürdige Katastrophe gleichsam ewig leben wird und obwohl er selbst viele bleibende Werke verfaßt hat, wird die Unvergänglichkeit Deiner Schriften doch viel zu seinem Fortleben beitragen.«
So beginnt der Brief Plinius’ des Jüngeren an Tacitus, in dem er vom Tod seines Onkels Plinius des Älteren, des Autors der »Naturgeschichte«, durch den Vesuvausbruch im Jahr 79 berichtet, bei dem Pompej verschüttet wurde. Es sei, schreibt er, eine Pflicht, die näheren Umstände zu schildern. Eine Gedenkpflicht, würde man heute sagen.
Man weiß nicht genau, von wann der Brief stammt. Die Ereignisse im sechsten Buch seiner Briefe legen nahe, daß er um 106/107 unserer Zeitrechnung geschrieben wurde, also etwa dreißig Jahre nach dem Vorfall. Eine Art nachgereichtes Zeugnis.
Denn alles spricht dafür, daß der Bericht wahrhaftig ist. Tacitus hatte Plinius um den Gefallen gebeten, damit er die Vorfälle »desto wahrheitsgetreuer der Nachwelt überliefern« könne. Die nachfolgende Erzählung verbindet die Schilderung der Todesumstände von Plinius dem Älteren mit Beschreibungen des Vesuvausbruchs.
»Die Wolke erhob sich – aus welchem Berg, konnte man aus der Entfernung nicht deutlich erkennen; daß es der Vesuv war, erfuhr man erst später.« Das Zeugnis ist noch ungenau, Eindrücke werden beschrieben, aber der Name, der Echtheitsnachweis des Historikers, fehlt noch, denn wegen ihrer Nähe lassen sich zeitgeschichtliche Ereignisse nur selten namentlich benennen. »Ihre Erscheinungsform veranschaulicht wohl kein Baum besser als die Kiefer. Denn sie wuchs wie in einem sehr langen Stamm in die Höhe und breitete sich dann in mehreren Ästen aus.« Wieder kommt der Name später – und was für einer, heißt diese Art Eruption doch seither und bis heute die Plinische.
»Ich glaube, weil sie durch einen kräftigen Aufwind emporgerissen wurde und sich dann, als dieser nachließ, kraftlos oder auch unter der Last ihres eigenen Gewichts in die Breite ergoß. Bisweilen war sie weiß, bisweilen schmutzig und fleckig, je nachdem sie Erde oder Asche mitgerissen hatte.«
Beim Lesen dieser Sätze und anderer, die folgen – »schon fiel Asche auf die Schiffe, und je näher sie herankamen, desto heißer und dichter, schon Bimssteine und sogar schwarzgebrannte und durch Feuer geborstene Steine; schon bildeten sich plötzliche Untiefen, und der Strand war durch Geröll-Lawinen vom Berg unzugänglich« – kommt man nicht umhin zu denken, daß das schön ist. Alles läuft wie in einem Film ab, in Schwarzweiß und in Farbe. Meer, Asche, Erde – der Krieg der Elemente. Für uns, die wir es heute lesen, ist das fast zweitausend Jahre her, man denkt nicht mehr an die Toten vom Pompej, die auch ohne Vesuvausbruch schon lange tot wären. Der zeitliche Abstand tut seine Wirkung, macht gleichgültig, lenkt den Blick auf die Form – keiner von uns hat unmittelbar damit zu tun, kein Verwandter kam zu Tode. Doch vielleicht ertappt man sich bei heutigen Ereignissen, bei bestimmten Fotos aus Haiti nach dem Erdbeben, bei ähnlichen Gedanken. Die Bildeinstellung, die Farben – schon ist das unmittelbare Zeugnis verwischt, eine Inszenierung, ein Standpunkt werden sichtbar. Wieder ein Abstand, diesmal ein räumlicher, der analog zum zeitlichen wirkt. Wurden solche Fotos in haitianischen Zeitungen gedruckt? Die Unmittelbarkeit des Zeugnisses ist verwischt, die Reportage stellt Abstand her – nicht umsonst kann das Wort auch aufschieben, vertagen heißen.
In seinem 1766 erschienenen »Laokoon« nimmt sich Lessing vor, ausgehend von der im Rom der Renaissance wiederentdeckten antiken Laokoon-Gruppe die Grenzen von Malerei und Poesie – oder besser, Bildender Kunst und Literatur – abzustecken. Er wendet sich in erster Linie gegen Winckelmann, der wie andere vor ihm bemerkt hatte, daß Laokoons Gesicht, anders als sein Körper, nur verhaltenen Schmerz ausdrücke. Laokoon schreit nicht: Weil er den Schmerz zu bezwingen weiß, sagt Winckelmann; also aus Charakterstärke. Weil die Darstellung des Schreis sein Gesicht entstellt und ihn häßlich gemacht hätte, sagt Lessing; also aus ästhetischen, nicht aus ethischen Gründen. Die Kunst strebe nach dem Schönen, selbst wenn sie Leiden darstelle. Wäre Laokoons Schmerz realistisch dargestellt, sähe man weg. Zudem, fährt Lessing fort, müsse die Kunst der Einbildungskraft freies Spiel lassen. Der Maler Timomachus malte Medea nicht, wie sie ihre Kinder tötet, sondern kurz davor, als ihre mütterliche Liebe noch mit ihrer Eifersucht kämpft. Er malte den Konflikt, die Ambivalenz – die von größerer dramatischer Intensität sind als die nackte Tat –, und darum zittert der Betrachter des Freskos beim Gedanken an das Kommende wie der Zuschauer eines Films, wenn die Musik anschwillt und ein Drama ankündigt.
Und da eines der Themen von Lessings »Laokoon« der Unterschied zwischen Malerei und Poesie ist, verweilt er bei der Beschwörung Laokoons im Zweiten Buch von Vergils »Äneis«. Vergil schildert seinen Kampf mit den beiden Wasserschlangen, die erst seine Söhne und dann ihn angreifen. Was die Bildende Kunst gleichzeitig, in einem Bild darstellt, zeigt die Literatur als Abfolge. Der Kunst des Raumes steht die Kunst der Zeit gegenüber. »Schon haben sie zweimal seine Mitte umfaßt, zweimal um seinen Hals die schuppigen Rücken gelegt, sie erheben steil ihren Kopf und Nacken. Er sucht mit den Händen die Knoten zu lösen, seine Priesterbinden sind von Geifer und schwarzem Gift befeuchtet, und er sendet furchtbares Geschrei zum Himmel.« Die Beschreibung wirkt statisch, ist es aber eigentlich nicht. Diesen schreienden Laokoon, erklärt Lessing, haben wir schon anders gesehen, als liebenden Vater, als Patrioten, der Troja vergeblich zu verteidigen sucht. Wenn wir ihn schreien sehen, mischen sich Bilder aus seiner Vergangenheit hinein, machen ihn menschlich und uns ähnlich – statt ihn durch eine monströse Darstellung des Schmerzes zu entmenschlichen –, und er wird zum Symbol des Schicksals.
Plinius beschreibt den Vesuvausbruch nicht, weil Tacitus sich nach ihm erkundigt, sondern weil dieser die Todesumstände Plinius’ des Älteren erfahren will. Manche haben die Echtheit der Briefe in Zweifel gezogen. Da Plinius Teile seiner Korrespondenz zu Lebzeiten veröffentlichte und keine Antwortbriefe überliefert sind, überlegten sie, ob er die Briefform nicht benutzte, um fingierten Adressaten zu schreiben, realen Personen, für die sie aber nie bestimmt waren. Wenn es auch möglich und sogar wahrscheinlich ist, daß Plinius seine Briefe für die Veröffentlichung überarbeitet hat, so gibt es doch keinen Grund, an ihrer Echtheit und damit an der Bitte des Tacitus zu zweifeln. Nicht die Naturkatastrophe ist also der Auslöser des Textes, sondern ein Einzelschicksal, der Tod eines Mannes, der aus wissenschaftlicher Neugier und um andere zu retten zu lange und zu dicht an Orten blieb, die er hätte fliehen sollen. Und doch eröffnen der sechzehnte und der ergänzende zwanzigste Brief des Plinius eine lange, Jahrhunderte und Kontinente überspannende Reihe von Texten, die von geschichtlichen und Naturkatastrophen künden. Gewiß, es gab die »Ilias«, in der Homer den Trojanischen Krieg besang und Schlachten schilderte, doch dieses Epos war als Verherrlichung des Heldentums gedacht und präsentiert sich als Ursprungserzählung. Als Erzählung von Siegern. Beim Vesuvausbruch gibt es weder Sieger noch Besiegte, oder vielmehr, es gibt nur Besiegte; einige haben überlebt, andere nicht, aber jeder hat etwas verloren. Eine lange Reihe von Verlusterzählungen hebt an: angefangen mit dem Erdbeben von Lissabon, das den Philosophenstreit des 18. Jahrhunderts über die Vorsehung bestimmte, wie u. a. Voltaires Gedicht zeigt, über das Erdbeben in Chili, das Kleist zu einer Novelle anregte, und die Katastrophe von Tschernobyl, die Swetlana Alexijewitsch beschrieben hat, bis hin zu den jüngsten Texten haitianischer Schriftsteller nach dem Erdbeben 2010. Auch die Schilderung des großen Erdbebens 1905 in Japan durch den damaligen französischen Botschafter Paul Claudel wäre zu nennen. All die Science-Fiction-Romane über Verheerungen durch Natur- oder Atomkatastrophen oder rätselhafte Krankheiten, wie Jack Londons »Scharlachrote Pest«. Bücher über geschichtliche Katastrophen, wie Kenzaburo Oes »Notizen aus Hiroshima«. Oder Chaim Nachman Bialiks bedeutendes Gedicht »In der Stadt des Tötens« über die Pogrome 1903 in Kischinew. Und jene, fast hätte ich gesagt, Ur-Katastrophe, was sie chronologisch gesehen gar nicht ist, die man auf den Begriff Auschwitz bringen kann. Doch dieser Name wirft einen zu großen Schatten, verbreitet die schwarze Aura des Grauens und verdammt zum Schweigen, zu wirren, ungreifbaren, widersprüchlichen Gedanken; dafür gibt es keinen Maßstab, keinen Vergleich; Adornos aus dem Zusammenhang gerissener, tabugespickter Satz von der Unmöglichkeit, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, wo doch zur selben Zeit Paul Celan schrieb. Doch darüber wurde schon so viel gesagt, daß ich die Sache anders angehen möchte, wenn man ihr schon nicht ausweichen kann. Hat Imre Kertész nicht geschrieben, auch wenn ich nicht von Auschwitz spreche, spreche ich von Auschwitz?
1979 veröffentlicht der in Frankreich verkannte deutsche Philosoph Hans Blumenberg sein Buch »Schiffbruch mit Zuschauer«. Wegen seiner jüdischen Mutter durfte der 1920 in Lübeck Geborene und 1996 Verstorbene nicht wie vorgesehen als bester Schüler seines Abiturjahrgangs eine Rede halten und konnte später auch sein Studium nicht zu Ende führen. Von den Kommilitonen diskriminiert, fand er eine Stelle als Verkäufer und wurde 1945 in ein Arbeitslager deportiert, aus dem er fliehen konnte. Nach dem Krieg nahm er sein Studium – Philosophie, Germanistik, Klassische Philologie – wieder auf und schlug eine Universitätslaufbahn ein. In seinem reichhaltigen Werk untersucht er u.a. Metaphern und ihre metaphysischen Substrate und vermerkt deren Präsenz in der Welt. Den Schiffbruch mit Zuschauer zum Beispiel. Die westliche Philosophie, erläutert Blumenberg, betrachtet die menschliche Existenz als Überfahrt. Es wimmelt von Metaphern, die aus der Vorstellungswelt der Seefahrt schöpfen, selbst in Ländern ohne Zugang zum Meer. Sturm, Erreichen des sicheren Hafens, Schiffbruch, Insel des Friedens, Wogen … Der Philosoph betrachtet die Wirklichkeit wie ein Zuschauer, der vom Festland den Kampf eines anderen mit dem sturmgepeitschten Meer verfolgt. Aus der Beobachterposition heraus wird er zum Zeugen. Doch der Zeuge kann den Boden unter den Füßen verlieren und sich in die Lage des Schiffbrüchigen einfühlen, also selbst die Erfahrung des Schiffbruchs machen. Vielleicht ist das die Brücke zwischen Philosophie und Literatur. In dem Brief über den Vesuvausbruch und den Tod seines Onkels ist Plinius dieser Zuschauer, der dem Schiffbruch beiwohnt und ihn vom Festland aus beschreibt. Eine fingierte oder besser gesagt konstruierte Position, die der andere, der zwanzigste Brief Lügen straft. Diesmal wollte Tacitus wissen, wie Plinius selbst die Katastrophe erlebt habe. Hier nun die gleiche Szene noch einmal, mit Übereinstimmungen und Abweichungen:
»Bebt auch schaudernd das Herz mir zurück bei dieser Erinnerung …«. Der Bericht ist von Beginn an subjektiv, während der frühere im Zeichen der Objektivität stand. Wieder zeichnet sich ein steter Wechsel ab, diesmal zwischen einer diskreten Innensicht und dem Versuch zu beschreiben. Doch die Beschreibung ist viel konkreter als im ersten Brief. Hieß es in jenem: »Schon bildeten sich plötzliche Untiefen, und der Strand war durch Geröll-Lawinen vom Berg unzugänglich«, so heißt es nun: »Außerdem sahen wir, daß sich das Meer in sich selbst zurückzog und durch das Erdbeben gleichsam zurückgedrängt wurde: jedenfalls hatte sich die Küstenlinie weiter vorgeschoben und hielt viele Meerestiere auf dem trockenen Sand fest. Auf der anderen Seite eine schwarze, grauenerregende Wolke, von züngelnden und aufschießenden Streifen feuriger Lohen durchzuckt, die in langen Flammenerscheinungen aufriß: Blitzen waren sie ähnlich, nur größer.« Eine Erregung kommt zum Vorschein, die im ersten Brief fehlte. Ängste, auf die nur angespielt wurde (die »verstörte Menschenmenge«), werden nun ausführlich beschrieben. »Die einen suchten mit ihren Stimmen die Eltern, andere ihre Kinder, andere ihre Ehefrauen und suchten sie an der Stimme zu erkennen; diese klagten über ihr eigenes, jene über das Schicksal ihrer Angehörigen; da waren welche, die in ihrer Todesangst den Tod erflehten; viele hoben die Hände zu den Göttern, andere meinten, es gäbe schon nirgends irgendwelche Götter mehr und dies sei die ewige und letzte Nacht für die Welt.« Hinter den dargestellten Verhaltensweisen erscheint die universelle Angst, das Signum der Katastrophe. Der Erzähler ist davon nicht frei und kann es auch nicht sein, sonst hätte sein Zeugnis keinen Sinn. Der wesentliche Unterschied zum ersten Brief besteht im Gebrauch zweier grammatischer Personen, der Ersten Person Singular und der Ersten Person Plural; denn obgleich sich Plinius schon im ersten Brief kurz ins Spiel brachte, berichtete er überwiegend in der Dritten Person. Die Grenze zwischen äußerem und innerem Erleben verschwimmt. Alles erscheint aus einer einheitlichen und subjektiven Perspektive, der Erzähler wird mal zur Stimme seines eigenen Bewußtseins, mal zum Sprecher eines Kollektivs.
1807 erscheint Kleists Novelle »Das Erdbeben in Chili«, deren Handlung verwickelt ist. Eine junge Frau, Josephe, hat mit ihrem Hauslehrer Jeronimo einen Fehltritt begangen, wird ins Kloster geschickt und kommt ausgerechnet bei einer Prozession der Novizinnen nieder. Sie wird zum Tod verurteilt, er muß ins Gefängnis. Es kommt der Tag ihrer Hinrichtung, an dem Jeronimo sein Leben selbst beenden will. »Eben stand er (…) an einem Wandpfeiler und befestigte den Strick, der ihn dieser jammervollen Welt entreißen sollte, an eine Eisenklammer, die an dem Gesimse derselben eingefugt war; als plötzlich der größte Teil der Stadt, mit einem Gekrache, als ob das Firmament einstürzte, versank, und alles, was Leben atmete, unter seinen Trümmern begrub.« Es ist das Erdbeben in Chili. Jeronimo kann auf wundersame Weise fliehen und will nur eines wissen: Ist die Hinrichtung erfolgt? Er durchstreift die verwüstete Stadt auf der Suche nach Josephe, nach einer Antwort. »Hier stürzte noch ein Haus zusammen, und jagte ihn, die Trümmer weit umherschleudernd, in eine Nebenstraße; hier leckte die Flamme schon, in Dampfwolken blitzend, aus allen Giebeln, und trieb ihn schreckenvoll in eine andere; hier wälzte sich, aus seinem Gestade gehoben, der Mapochofluß auf ihn heran, und riß ihn brüllend in eine dritte. Hier lag ein Haufen Erschlagener, hier ächzte noch eine Stimme unter dem Schutte.«
Worin besteht der Unterschied zwischen dieser Beschreibung des Verderbens und der von Plinius? Auch hier ist der Standpunkt konstruiert, aber nicht als der einer realen Person, sondern einer literarischen Figur. Die Zutaten, um es salopp zu sagen, sind fast dieselben: einstürzende Mauern, ein über die Ufer tretender Fluß, Flammen und Rauchwolken, doch derjenige, dem sich dieses Bild der Verwüstung bietet, ist Jeronimo, ein Gespenst, das soeben dem Tod entgangen ist, während alles um ihn stirbt. Diese besondere und paradoxe Situation rechtfertigt die Beschreibung und verleiht ihr Nachdruck. Die geschilderte Katastrophe ist Teil einer Geschichte, die vorher begann und danach weitergeht, so daß der Leser empathisch reagieren kann. Doch obwohl der Titel, die Namen und die Jahreszahl 1647 auf das Erdbeben in Chili verweisen, gab es in Santiago seinerzeit weder Flammen noch Überschwemmung. Das beschriebene Erdbeben ähnelt vielmehr dem von Lissabon 1755, das für Kleist näher lag. Wie bei den von Freud beschriebenen Mechanismen des Traums kommt es zu Verdichtung und Verdrängung, Merkmale des weit spektakuläreren Erdbebens von Lissabon werden in die Atmosphäre von Santiago im siebzehnten Jahrhundert verpflanzt, um das gewünschte dramatische Zusammentreffen von Naturkatastrophe und religiöser Unterdrückung und Intoleranz zu bewerkstelligen.
Nach stundenlangem Umherirren entdeckt Jeronimo Josephe an einer Quelle. Sie ist mit ihrem Kind dem brennenden Kloster entkommen. Die Geliebten finden sich wieder, »im Tale, und Seligkeit, als ob es das Tal von Eden gewesen wäre«. Es folgt eine idyllische Zeit, eine Art ursprüngliches Leben fern der Welt – ein verlorenes und wiedergefundenes Paradies – mit Don Fernando, dem Sohn des Gouverneurs der Stadt und seiner Familie. Zwar sind die Anzeichen der Katastrophe gegenwärtig – Kleist expliziert Gerüchte über das in der Stadt ausgebrochene Chaos sowie über Plünderungen und Exekutionen –, die Menschen werden körperlich und seelisch geprüft, doch in dieser vertrauten begünstigten Gesellschaft walten Zuneigung und Großmut. Dachten sie zunächst daran, nach Spanien ins Exil zu gehen, so wollen Jeronimo und Josephe nun den Vizekönig um Vergebung bitten. Eine Messe soll gefeiert werden, und die Liebenden nehmen teil in der Hoffnung, diese zu erlangen. In der Predigt werden die Schrecken des Jüngsten Gerichts heraufbeschworen, die Katastrophe wird als Strafe für die Sittenverderbnis der Stadt gedeutet. Der Chorherr erwähnt bei dieser Gelegenheit »umständlich des Frevels (…), der in dem Klostergarten der Karmeliterinnen verübt worden war« und zur Verurteilung der Liebenden führte. Die Angeklagten versuchen zu fliehen, nach verschiedenen Wendungen wähnt man sie schon in Sicherheit, da werden Josephe und Jeronimo nacheinander von der aufgebrachten Menge erschlagen. Wozu also die erste Rettung? Die verhinderte Hinrichtung? Der Aufschub? Erzählerisch ist der Schluß gerechtfertigt, denn der Aufbau ist dreiteilig: Hinrichtung – Rettung – Hinrichtung. Das Vorbild, die Tragödie, kennt die Unausweichlichkeit des Schicksals: Was immer geschieht, niemand entgeht seinem Los. Etymologisch bedeutet Katastrophe Umwälzung, Umsturz, und bezeichnet die letzte Episode einer Tragödie, den letzten Akt, die Lösung des Konflikts. Im ersten Buch seiner »Charaktere« (»Von den Schöpfungen des Geistes«) definiert La Bruyère die Tragödie wie folgt: »Die echte tragische Dichtung beengt uns das Herz von Anfang an, läßt uns in ihrem Verlauf kaum die Zeit, zu atmen und wieder zu uns zu kommen; oder sie gibt uns einen Augenblick frei, nur um uns in neue Abgründe und neue Beängstigungen zu stürzen. Sie führt uns durch Mitleid zum Schrecken oder umgekehrt durch Schrecken zum Mitleid; reißt uns durch Tränen, durch Schluchzen, durch Ungewißheit, durch Hoffnung und Furcht, Überraschung und Grauen bis zur Katastrophe.«
Somit enthält Kleists kurze Novelle alle Facetten des Begriffs Katastrophe. Sie ist seine zu Literatur gewordene etymologische Bedeutung. Dazu kommt der heute übliche Gebrauch des Worts im individuellen wie im kollektiven Sinn. Genau hier, wo sich die Hauptstraße des Kollektiven und der Pfad des Individuellen kreuzen, ist der Raum, der Ort des Erzählens. Wäre die Katastrophe allumfassend, gäbe es keinen Bericht davon. Damit er zustande kommt, braucht es einen Überlebenden, den Schreiber, und eine Gemeinschaft von Überlebenden oder Verschonten, an die er sich wendet.
Zwei Jahre nach »Robinson Crusoe« erscheint 1722 ein Buch von Daniel Defoe mit dem ebenso schlichten wie trügerischen Titel »Tagebuch des Pestjahrs «. 1665/ 66 raffte die Pest in sechs Monaten 40000 Londoner dahin. Das Ausmaß solcher Epidemien ist schwer vorstellbar. Zwischen 1348 und 1352 starben in Europa 24 Millionen Menschen an der Pest, ein Viertel der Bevölkerung. Weitere Epidemien folgten, bis man Anfang des 19. Jahrhunderts den Krankheitsüberträger – nicht die Ratte, wie man geglaubt hatte, sondern den Rattenfloh – und auch den Impfstoff fand. Doch die Jahrhunderte der Angst, mit Höhepunkten, mehr oder weniger großflächigen Pandemien, hatten sich so tief ins kollektive Gedächtnis eingesenkt, daß manche literarischen Katastrophenbücher sie mehr oder weniger explizit zum Vorbild nahmen, wie Jack Londons »Rote Pest« (1915) oder Matthew Phipps Shiels »Purpurne Wolke« (1901), die beide von der völligen Verwüstung der Erde handeln. Bei Jack London haben nur wenige in einem vom Rest der Welt abgeschnittenen Amerika überlebt, bei Shiel nur zwei in England (seltsamerweise stammen die Überlebenden stets aus dem Heimatland des Autors). Werke, die man als Science-fiction bezeichnen könnte und in deren Mittelpunkt jedesmal der unerläßliche überlebende Erzähler steht, oder Werke mit politischer Intention, in denen die Pest – wie in Camus’ Roman – als Metapher für ein diktatorisches Regime steht, wurden Faschismus und Nazismus doch oft »braune Pest« genannt. Um zu begreifen, wie tief die Furcht vor Epidemien und Pandemien noch heute sitzt, braucht man sich nur die Angst zu vergegenwärtigen, die im Herbst 2009 um sich griff, als eine Welt, die rationaler und aufgeklärter als das Mittelalter oder das siebzehnte Jahrhundert sein will, mit dem Eintreffen des H1N1-Virus rechnete. Defoe war fünf, als die Pest in London wütete, und er wurde zweifellos durch die Grabesstimmung und durch Erzählungen geprägt, die er gehört haben muß. Wie sind seine Familie und er selbst davongekommen? Man weiß es nicht. Aber ist es Zufall, daß sein berühmter »Robinson Crusoe« die Geschichte eines Überlebenden ist? Gewiß, eine wahre Begebenheit hat ihn dazu angeregt, doch unabhängig von der Geschichte jenes schottischen Seemanns, der vier Jahre nach seinem Schiffbruch auf einem öden Eiland aufgefunden wurde, hatte Defoe die existentielle Situation des Überlebenden selbst erfahren, und sie bestimmte seine Sicht der Welt. Im »Tagebuch des Pestjahrs« ist der wie üblich in der ersten Person erzählende überlebende Zeuge ein Londoner Kaufmann. Das Gerücht läuft um, ein Sperrgürtel solle um die Stadt gelegt werden, und der Erzähler fragt sich, ob er aufs Land gehen oder bleiben soll. Widrige Umstände, in denen er ein Zeichen der Vorsehung sieht, halten ihn fest, und für sein Bleiben erhält er das implizite Versprechen, verschont zu werden. Auf gut Glück in der Bibel blätternd, stößt er auf den 91. Psalm: »Es wird dir kein Übel begegnen, und keine Plage wird zu deiner Hütte sich nahen.«
Der Erzähler ist geblieben, um Zeugnis abzulegen. Er schreibt auf, was er wahrnimmt: die Angst der Menschen, die Schreie, die man in den verlassenen Straßen hört – »eine ganze Familie war in furchtbarer Aufregung, und ich konnte hören, wie Frauen und Kinder wie außer sich durch die Zimmer liefen« –, das Lesen der Zeichen, das Erscheinen eines Kometen, die Orakel und Weissagungen der Astrologen, Bestattungen. Der Bericht wechselt ab mit Totenlisten aus Kirchenbüchern, Einzelheiten über die ergriffenen Gegenmaßnahmen – Verbot öffentlicher Darbietungen und Bankette, Ahndung von Trunkenheit, Entfernung von Unrat – und moralischen oder philosophischen Betrachtungen. Der Erzähler vermerkt, daß der nach Oxford geflüchtete Hof verschont wurde, und fügt hinzu: »Ich kann freilich nicht sagen, daß ich bei ihnen je große Anzeichen von Dankbarkeit dafür bemerkt hätte, und kaum etwas von einer Sinnesänderung, obgleich es nicht ausblieb, daß man ihnen nachsagte, (…) ihre schreienden Laster könnten für das Hereinbrechen dieses furchtbaren Strafgerichts über die ganze Nation verantwortlich gemacht werden.« Zudem sind Ratschläge eingestreut, ja sogar Tadel für die Art und Weise, wie die Krise von der Obrigkeit gehandhabt wurde. Wie Kleist mit dem Erdbeben in Chili eigentlich das von Lissabon meint, kann nämlich auch die eine Pest für die andere stehen. Als Defoe 1720 sein Tagebuch beginnt, bricht in Marseille die Pest aus, und man fürchtet ihre Ausbreitung bis London. Das schärft den Sinn fürs Überleben. Da ihn die Vorsehung 1665 verschont hat, kann der Kaufmann durch sein Zeugnis dazu beitragen, daß die gleichen Ursachen nicht wieder zu den gleichen Wirkungen führen. Oft verbinden die Zeugen, die Überlebenden, mit ihrem Bericht eine Vorstellung von Nützlichkeit – Zeugnis ablegen, damit sich die Katastrophe nicht wiederholen möge. Mag sie zunächst als Rechtfertigung des Zeugnisses, des Verfassens dieser oder jener Schrift erscheinen, so ist sie doch – auf untergründige, verborgene Weise – auch Rechtfertigung des Überlebens, der Existenz des Autors, der so die Schuld zu leben, wo doch alle anderen starben, kompensiert und seinem Überleben einen Sinn gibt. Das Zeugnis weitet sich auf alles aus, was der Überlebende tut und schreibt, es geht in seine Person ein.
»Tagebuch des Pestjahrs« – der Titel läßt auf einen Zeugenbericht schließen, während das abgekartete Spiel mit einem erwachsenen Erzähler, der Kaufmann ist, und einem Autor, der nie Kaufmann war und zum Zeitpunkt des Geschehens fünf ist, auf einen Roman hindeutet. Tatsächlich wurde das Buch als Fiktion aufgefaßt: »Dieser Bericht ist sehr wohl ein Roman, obgleich er für ein historisches Dokument gehalten wurde«, schreibt Joseph Aynard im Vorwort zu seiner Übersetzung von 1943 (übrigens ein merkwürdiges Erscheinungsjahr für dieses Buch). Dagegen schreibt Henri Mollaret, Professor am Institut Pasteur, einem biomedizinischen Forschungszentrum, in seinem Vorwort zur Folio- Ausgabe: »Nichts ist erfunden an dem Bericht Defoes, dessen ›Tagebuch‹ sicherlich die umfassendste, genaueste Beschreibung der Pest darstellt.« Um vorläufig abzuschließen, möchte ich noch einmal auf Plinius’ ersten Brief zurückkommen, der so endet: »Als einziges will ich noch beifügen, daß ich alles, was ich selbst erlebt oder gehört habe, unter dem unmittelbaren Eindruck aufgezeichnet habe, wenn man die Ereignisse am treuesten erzählt. Du wirst das Wichtigste herausziehen, denn es ist nicht dasselbe, ob man einen Brief oder eine Geschichte schreibt, ob man einem Freund oder ob man für die Nachwelt schreibt.« Mit Geschichte ist ein Geschichtsbuch und kein fiktionales Werk gemeint; und die Nachwelt ist eine Extrapolation des Übersetzers, denn im lateinischen Text steht omnibus, womit das Schreiben an einen Freund dem für die Allgemeinheit, und das Private dem Öffentlichen, gegenübergestellt wird.
Doch das Schicksal – oder die Geschichte – hat Sinn für Ironie. Tacitus’ Bericht vom Vesuvausbruch und vom Tod Plinius’ des Älteren hätte in seine »Historien « der Jahre 69 bis 96 Eingang finden sollen. Die überlieferten Bücher hören aber 70 auf. Wie gingen sie verloren? Wurden sie überhaupt geschrieben? Wie ist der Rest auf uns gekommen? So viele Fragen ohne Antwort. Die Nachwelt erfuhr die Einzelheiten des Vesuvausbruchs letztlich nicht durch den öffentlichen Bericht des Tacitus, sondern über den privaten des Plinius.
Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 1/2013, S. 5-14
Anderson, Perry
Vom Fortschritt zur Katastrophe. Über den historischen Roman, S. 15Setz, Clemens J.
Dem Chaos abgerungene Zusammenhänge. Über Art Spiegelman, S. 30Kalka, Joachim
Die bösen Ärzte. Eine Montage, S. 43Wissen Sie nicht, was die erste Pflicht des Mediziners ist?
Die erste Pflicht ist es, um Verzeihung zu bitten.
Ingmar Bergman, »Wilde (...)LeseprobeKalka, Joachim
Die bösen Ärzte Eine Montage
Wissen Sie nicht, was die erste Pflicht des Mediziners ist?
Die erste Pflicht ist es, um Verzeihung zu bitten.
Ingmar Bergman, »Wilde Erdbeeren"Auch damals ihr, ein junger Mann,
Ihr gingt in jedes Krankenhaus,
Gar manche Leiche trug man fort,
Ihr aber kamt gesund heraus.
Goethe, »Faust I, Vor dem Tor"Von keinem anderen Berufsstand erwarten wir, wenn es darauf ankommt, so viel wie von den Ärzten. Unsere Hoffnungen heften sich, sind wir einmal aus der bewußtlosen Routine unseres unauffällig funktionierenden Organismus herausgerissen und stehen – liegen! – krank oder verwundet da, flehend und fordernd an die ärztliche Kunst. Da der Arzt diese Hoffnungen oft nur begrenzt erfüllen kann, wird er uns gelegentlich zur verhaßten, in schwarzen Farben gemalten Figur. Die Vernunft sagt uns, daß es Krisen und Katastrophen des Körpers gibt, bei denen ärztliche Kunst nichts oder nur sehr wenig vermag. Gut, aber sagt sie uns nicht auch, daß die Medizingeschichte selbst beweist, wie viele Pfuscher, Ignoranten und Sadisten es unter den Ärzten gibt? Das gilt für jeden Beruf, sagt die Vernunft, deren Stimme, wie Freud bemerkt hat, leise ist. Wir aber sehen, sind wir angstvoll mißgelaunt, lieber »den Arzt« schlechthin als höchst unzuverlässige Gestalt. Dies geschieht in wechselnden Graden mit allen Berufen, von der Witzblattkomik des Installateurs, der für den Wasserrohrbruch immer erst nächste Woche Zeit hat, bis zur schneidenden Justizsatire bei Daumier oder Karl Kraus. Kein Berufsstand aber scheint das Mißtrauen so anzuziehen wie die Ärzte. Eine Wurzel dieses Mißtrauens liegt in der Neigung der Patienten, die Möglichkeiten des Arztes zu überschätzen und dann enttäuscht zu sein.
Lange blieb der Medizin nicht viel anderes übrig, als die Unzulänglichkeit und Kärglichkeit ihrer Mittel durch Spekulation und Pittoreskes zu ergänzen – mit Begründungen, die (wie der heute noch den Nashörnern verhängnisvolle Analogieglaube) Hoffnungen auf eine geheime Ordnung der Welt zum Ausdruck brachten. Eine barock ausziselierte Vignette derartigen Aberglaubens entsteht, als der Held in Herzmanovsky-Orlandos »Gaulschreck im Rosennetz« (1928) bei einer hexenartigen Hebamme einen Liebestrank bestellt. Die Alte setzt ihm umständlich die Schwierigkeit des Unternehmens auseinander: »auch müsse man den Koth einer unschuldigen, weißen Taube dazutun. Der verfaulte Zahn einer Kindsmörderin, sowie ein Loth getrocknetes Krokodilshirn seien als Beigabe sehr zu empfehlen, letzteres wäre aber selten, – ob er vielleicht wo eins wüßte? Früher hätten die ‚Venedigermanderln’ einen schwunghaften Handel damit getrieben, aber heute … die verfluchte neiche Apothekerordnung …« So führt ein Strang der Medizingeschichte direkt zurück in die Hexenküche; ein anderer in die Jahrmarktsbude. Auch hinter dem marktschreierischen Scharlatanswesen steckt die Suggestion des Dämonischen. Noch eine Schausammlung wie die des Josephinums in Wien mit ihren Wachspräparaten scheint den Besucher in eine Sphäre zurückzuversetzen, wo die ärztliche Wissenschaft in den Zauberkreis des Gruselkabinetts gerät. Bis in die Nachkriegszeit verhießen Jahrmarktszelte Einblicke in die Geheimnisse des menschlichen Leibes – eine schäbig-mysteriöse Inszenierung, wo sich für den halbwüchsigen Besucher die Angst vor Krankheit und Tod mit der sexuellen Ignoranz legierte, wo die Innereien des Menschen ausgebreitet und nebenbei die Stadien der Syphilis erläutert wurden. Werfen wir einen Blick in jene merkwürdige Kuriositätenbude, die ("Zündet der Ägypter nicht schon die Flammen rings um das Zelt an?«) in einer Erzählung von Gustav Meyrink aufragt. Sie liefert Ernst Bloch im Abschnitt »Südsee in Jahrmarkt und Zirkus« des »Prinzip Hoffnung« einen Kardinalbeleg für dämonischen Exotismus in der Jahrmarktswelt. Der Ursprung der monströsen Ausstellung in Meyrinks »Das Wachsfigurenkabinett« (1918) ist in den Aktivitäten eines geheimnisvoll-skrupellosen Mediziners zu suchen, des Persers Mohammed Darascheh-Koh. Dieser diabolische Arzt, der in einer anderen Geschichte Körperteile seines angeblich verstorbenen Feindes als dekorative – auf geheimnisvolle Weise lebendige – Gebrauchsgegenstände in seiner Wohnung angebracht hat ("Das Präparat«), gehört zu einer Reihe von unheimlichen Medizinern, denen man in Meyrinks Sammlung »Des deutschen Spießers Wunderhorn«, dieser Enzyklopädie des Décadence-Horrors, begegnen kann: Dr. Cinderella, Dr. Kassekanari … Es ist interessant, daß Meyrink, für den die aufgeblasene Wichtigtuerei der medizinischen Wissenschaft zu den bevorzugten Gegenständen seiner satirischen Konstruktionen gehört (mit Gestalten wie »Sanitätsrat Mauldrescher«), andererseits dem Mediziner diabolische, schrankenlose Macht attestiert. Hier verspottet er ihn als anmaßenden Ignoranten, zehn Seiten später zeigt er ihn uns flüsternd als grausamen Übermenschen. Meyrink hat in seinen satirischen Erzählungen des öfteren den Arzt als Inkarnation der »aufgeklärten« Stupidität abgebildet ("Der heiße Soldat«, »Blamol«, »Die schwarze Kugel« usw.), doch das Revers dieser Verachtung ist die abergläubische Scheu, die sich in Schreckensgeschichten wie »Die Pflanzen des Dr. Cinderella« oder »Der Albino« ausprägt. So haben wir bei ein und demselben Autor nebeneinander den Arzt als albernen Ignoranten und allwissenden Dämon.
Das gehört auch zusammen. Der fast magische Hochschätzung der medizinischen Möglichkeiten, die den Patienten immer wieder Unmögliches vom Arzt erhoffen (oder befürchten) läßt, entspricht eine sardonische Verspottung der Medizin, mit der man diese entgelten läßt, daß sie den Menschen eben doch nicht unsterblich machen und häufig nicht einmal die Krankheiten (seine Mängel als Naturwesen) beheben kann. Die Satire auf die Ärzte, die vom siebzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert eine reiche eigene Tradition bildet, konzentriert sich auf die dem Arzt nur allzu bewußte Mangelhaftigkeit seiner Möglichkeiten. Ihre zentrale Figur ist der jegliche Unsicherheit aggressiv überspielende Quacksalber, der medizinische Scharlatan, der Gaukler, der vor keiner Versprechung zurückschrickt und – wie im hübschen Couplet des Doktor Eisenbart – machen kann, »daß die Lahmen sehen, / und auch die Blinden wieder gehen«. Hier spiegelt sich die lange Periode, in welcher der Arzt zwar schon ein Beruf mit alter Tradition, das ärztliche Wissen und Vermögen jedoch, gemessen an den heutigen Mitteln, noch äußerst gering war. Der Arzt dieser vergangenen Epoche, der – wie auf zahllosen Bildern, oder als kleine Groteskschnitzerei im Chorgestühl der Oude Kerk zu Amsterdam – das Beschauglas für den Urin (in der katholischen Ikonographie das Requisit, an dem man die heiligen Ärzte Cosmas und Damian erkennt) ernst gegen das Licht hält, übt eine genuine diagnostische Praxis, doch eben diese zeigt die Beschränktheit seiner Möglichkeiten. Das schmale Repertoire der alten Medizin privilegiert, sofern sie nicht gleich zum scharfen Messer und zum glühenden Eisen greift, die ebenfalls recht brachialen Möglichkeiten des Aderlasses und der Purgierung. Es ist ein hübsches Detail, daß der vergiftete und von den ignoranten Medizinern der Garnison bedrängte römische Beamte in »Asterix bei den Schweizern« vor dem Eintreffen des weisen gallischen Druiden sich nichts besseres weiß, als die ihn umdrängenden, streitenden, tobenden Ärzte zu bitten, sie möchten dem Asklepios für seine Genesung einen Hahn opfern: um sie endlich loszuwerden.
Im Städel hängt ein Bild, das Anlaß für ein Gedicht von Wilhelm Busch wurde ("Sahst du das wunderbare Bild von Brouwer?...« in »Kritik des Herzens«). »Die Operation am Rücken« zeigt einen Eingriff, den ein Landarzt oder Bader in einer Wirtsstube vornimmt; das verzerrte Gesicht des Patienten, der im weißen, halb herabgestreiften Hemd auf der Bank sitzt, und die gelassenen Physiognomien des Arztes und der assistierenden alten Frau – diese drei Gesichter, in ein Dreieck gesetzt, sind das eigentliche Sujet. »Ein kühler Doktor öffnet einem Manne / Die Schwäre hinten im Genick; / Daneben steht ein Weib mit einer Kanne, / Vertieft in dieses Mißgeschick.« Busch nimmt die Bildbetrachtung zum Anlaß für eine jener Verallgemeinerungen, die oft nur platt sind, hier aber seltsam plausibel: »Ja, alter Freund, wir haben unsre Schwäre / Meist hinten. Und voll Seelenruh / Drückt sie ein andrer auf. Es rinnt die Zähre, / Und fremde Leute sehen zu.« Mit schöner Beiläufigkeit nimmt Busch die metaphysische Soziologie des zwanzigsten Jahrhunderts mit ihrem Zentralbegriff des »Anderen« vorweg. Bilder von Arztbesuchen gehören in der niederländischen Malerei des siebzehnten Jahrhunderts immer zum Genre, entweder wie hier zum niedrigen, wo ein robustes Handwerk mit grotesk-komischen Zügen geschildert wird, oder zum eleganten. In letzterem erweist sich der Arzt entweder als überflüssig (wie bei den zahllosen Varianten – mindestens achtzehn allein bei Jan Steen – des Topos von der melancholischen Liebeskranken, welcher ärztlich nicht zu helfen ist), oder aber er denkt mit ernster Miene über seine Diagnose nach: eine Nachdenklichkeit, die fast schon Ratlosigkeit bezeichnet. Zeitlose Themen, wenigstens eins aber scheint überwunden: Die theatralisch-liebenswürdige Gebärde des Jahrmarkts-Zahnausreißers auf Genre-Gemälden (etwa von Rombouts, wie in Gent, Münster oder im Prado) ist Geschichte – ein Auftritt mit einer gewissen Suggestion jovialer Eleganz (der Bewegung) und geschmeidiger Ansprache an das Publikum, der immer noch beklemmend wirken kann. Alle, die am Gedanken des »Fortschrittlichen« ganz und gar verzweifeln wollen, mögen nur ein kleines Stück in die Historie zurückgehen, etwa bis zur Zahnarzt-Episode in Wilhelm Buschs »Balduin Bählamm«, um im Kontrast zu unserer örtlich betäubbaren Gegenwart zu erleben, daß es den Fortschritt tatsächlich gibt.
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SINN UND FORM 1/2013, S. 43-46
Grünbein, Durs
Fischwaren, S. 62Meddeb, Abdelwahab
Diamanten, S. 74Bleutge, Nico
Das Dunkel darüber. Drei Gedichte, S. 82Fumaroli, Marc
Die Fee Elektrizität und ihre Optik, S. 84Elektrizität hatte zu Napoleons Zeit eine ähnliche Bedeutung wie das Christentum unter Tiberius. Allmählich zeichnete sich ab, daß diese (...)
LeseprobeFumaroli, Marc
Die Fee Elektrizität und ihre Optik
Elektrizität hatte zu Napoleons Zeit eine ähnliche Bedeutung wie das Christentum unter Tiberius. Allmählich zeichnete sich ab, daß diese allgemeine Innervation der Welt folgenschwerer sein und das künftige Leben tiefgreifender beeinflussen würde als alle politischen Ereignisse von Ampère bis heute.
Paul Valéry
Die Nachfahren Talbots, Daguerres und der Brüder Lumière, diese glücklichen Zwerge auf den Schultern großer Entdecker, sehen sich als Erben und Privatiers der jüngst durch das Internet noch verstärkten und beschleunigten Bilderfluten: Wir fahren die reiche Ernte der Saaten unserer Urgroßväter ein, der Erfinder, ersten Konsumenten und Multiplikatoren der von Herschel als Lichtmalerei, Photographie, bezeichneten Technik (in Abgrenzung von der Schattenmalerei, der Skiagraphie antiker Künstler). Damals ging es bloß um Dunkelkammern, in denen sich die Wirkung von Tageslicht auf lichtempfindliche Glasplatten zeigte. Das Kino und erst recht Fernsehen, Computer- und Digitaltechnik konnten nur durch die Verfügbarkeit von Elektrizität aufkommen. Die Welt, die sie uns zeigen, unsere Lebenswelt, ist auf Elektrizität angewiesen und wird im wesentlichen von Lampen, Scheinwerfern und Blitzlichtern erhellt. Eine moderne Apokalypse begänne mit einem allgemeinen Stromausfall. Unser Auge, unsere Sinne, unser Dasein haben sich an künstliches Licht, an seine künstliche Wärme gewöhnt, und wir leben in einem elektrischen Kokon alltäglicher Science-Fiction, die den alten Planeten und sein Licht ersetzt. Die gesamte Prähistorie dieser sekundären Welt und die ihr entstammenden, unter anderer Sonne entstandenen Relikte rühren von einem unvorstellbar archaischen Universum, einer langen Höhlenzeit, deren ursprüngliche Beleuchtung sich allein der »Blick aus der Ferne« phantasievoller Ethnologen und Archäologen noch vorzustellen vermag. Damit dieser Blick dem Kameraauge und unserer elektrischen Optik zuzumuten ist, muß man uns mit technologischen Kniffen darüber hinwegtäuschen, daß die Vergangenheit, jede Vergangenheit, die der Künstler wie die ihrer Kunden, sich bei Tag und bei Nacht unter anderen Lichtverhältnissen abspielte als unser Leben. Der Maler schlechthin, der Schöpfer, der in der Genesis die erhabenen Worte »Fiat lux« aussprach, diese »Sonne der Geister«, wie der Heilige Augustinus ihn nennt, tut sich verständlicherweise schwer, in der von elektrischen Zauberern geschaffenen Kunstwelt der Bequemlichkeit, des Komforts und der Antriebsloigkeit präsent zu bleiben.
Bis ins späte 19. Jahrhundert gingen die Künstler davon aus, die Rezeption ihrer religiösen und weltlichen Bilder erfolge bei Tageslicht – ihrem Gegenstand und zugleich Verbündeten – selbst wenn sie es in ihren Ateliers oder mit Hilfe einer camera obscura einfingen. Das Sonnenlicht, mit dem das Bewußtsein von Morgen und Abend einherging, fand nachts eine Fortsetzung in Form eines anderen natürlichen Lichts, des lebendigen und magischen Scheins brennender Kerzen, Wachsfackeln und Öllampen. Eine ganze Gruppe abendländischer Maler von Luca Cambiaso bis Caravaggio, ter Borch und de la Tour benutzte die öl- oder wachsbrennende Flamme als spirituelles Motiv, das sich von der umgebenden Dunkelheit absetzt, oder gar als Symbol der Gnade, die sich ihren Weg durch die undurchdringliche und dunkle Materie bahnt. Als Erbe einer bis ins alte Ägypten reichenden Tradition verfaßt Swift noch Anfang des 18. Jahrhunderts eine Hommage an die Bienen, die er trotz ihres unscheinbaren Äußeren als Quellen natürlicher Inspiration und Energie darstellt und mit den Musen vergleicht, mit denen wir heute fälschlicherweise unsere Elektrizitätswerke vergleichen würden. Sammelten Swifts Bienen nicht Nektar und Pollen, das Kostbarste, was die Menschen vom Himmel empfingen, die nahrhafte Süße des Honigs und das wohltuende Licht des Wachses? Das Tageslicht mit seinen zahllosen Abstufungen und schillernden Nuancen stand stets für die Gegenwart des Göttlichen in der wahrnehmbaren Welt. Der unsichtbare und unvorstellbare Gott der Bibel offenbart sich hinter dem Schleier der Meteorologie. Und Cézanne empfing seine Besucher mit der Losung der Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts: »Sortons au soleil!« (Gehen wir hinaus in die Sonne!) Ahnte Richard Wagner als erster die Verbannung des Auges ins Kunstlicht, die zu beheben fortan die unlösbare Aufgabe der Kunst sein würde? In der »Geburt der Tragödie« läßt Nietzsche ihn sagen, die Zivilisation (im Sinne Buffalo Bills) werde von der Musik aufgehoben »wie der Lampenschein vom Tageslicht«. Er wußte noch nicht, daß Fernwärme das Holzfeuer und seine tanzenden Flammen verdrängen würde, denen etwas vom brennenden Dornbusch innewohnt, vor dem Moses bedeutet wurde, seine Sandalen auszuziehen. Die stillen Kräfte des Traums und der Phantasie, wachgerufen vom Lodern und Knistern des Holzes, diesem unerschöpflichen, sich ständig erneuernden Schauspiel, wichen dem zapping am Bildschirm, der den offenen Kamin heute ersetzt.
Wir sind derart auf mit Kunstlicht geschaffene und beleuchtete Bilder konditioniert, daß wir Glaswände in Museen und Ausstellungen oft verhängen und Fenster vor dem Sonnenlicht verschließen, um die alten und modernen Bilder mit grellen Scheinwerfern zu beleuchten. Wir tun so, als wüßten wir nicht, daß die Restaurateure hinter den Kulissen alles versuchen, um die alten Bilder wie ihre bei Scheinwerferlicht angefertigten Reproduktionen aussehen zu lassen. Das elektrische Licht ist für uns zur Norm geworden. Das natürliche Licht ist die Ausnahme, die wir unbewußt der Norm angleichen. Jean Baudrillard konnte schreiben, die Städte und Landschaften der Vereinigten Staaten seien riesige, im Studio gebaute Simulakren, die nur auf Scheinwerfer und Kameras warteten. Die Bemerkung ist geistreich, doch wäre es unangebracht, sie nur auf die Vereinigten Staaten zu beziehen. Sie zeigt die Gewöhnung des modernen Auges an die Fotografie, die den Unterschied zwischen der »Amerikanischen Nacht« des Studios und dem hellen Tag selbst nicht wahrzunehmen oder wiederzugeben vermag, die uns in eine für Scheinwerfer und Kameras prädestinierte und präkonditionierte Welt einschließt. Wir haben das elektrische Auge verinnerlicht, das alles, was es erfaßt, irrealisiert und im gleichen Licht vereinnahmt und nivelliert, abstrakt wie ein Objektiv. Es ist ein wissenschaftliches, klinisches Auge, geeignet für Operationssaal, Labor, Fabrik, Gefängnis. Man mußte den Dimmer erfinden, um die spektrale Wahrheit, welche diese Art des Blicks festzuhalten berufen ist, zu verschleiern und zu modulieren, wie das Farbfilter und Photoshop tun. Bei Kunstlicht ist Fleisch nur noch Materie, sind Werke des Geistes und der Hände nur noch Tand. Die nächtliche Neonbeleuchtung von Bussen und U-Bahnen verwandelt deren Abteile in ebensoviele danteske Höllenkreise und mobile Leichenhallen, an denen sich heutige Fotografen delektieren, als passe dieses morbide Aussehen der Lebewesen am besten zu den Linsen ihrer Kameras, die unser natürliches Auge ersetzen.
Das beste uns bleibende Zeugnis des Tageslichts, gewissermaßen sein Museum (sofern man die Bilder in ihrem eigenen Licht ausstellt), sind die unglaublichen Pleinairgemälde der Impressionisten. Man könnte meinen, sie hätten sich, von jenem ahnungsvollen Furor getrieben, der noch Cézanne, Seurat und den Landschaftsmaler Balthus beherrschte, beeilt und angestrengt, in ihren Bildern gerade noch rechtzeitig die Wunder und Geheimnisse einer im Tageslicht wahrgenommenen Welt einzufangen und festzuhalten, ehe der Vorhang fiel und das menschliche Auge umschwenkte, die Natur bei Tag und bei Nacht dem Kunstlicht, dem fotografischen Blick, der Imagination des Kinos angepaßt wurde. Dank dieser letzten, ihrer Rolle bewußten Zeugen können wir noch die Schönheit der Dinge entdecken und schätzen, wenn wir beim Spaziergehen auf sie stoßen, ein klarer Bach, ein Wäldchen, ein kleiner Garten, eine Wiese. Betroffen von der Erinnerung an das, was die Freilichtmaler uns gezeigt haben, sehen wir plötzlich wie sie, wie früher. Diese Offenbarung kommt selten allein: Sobald wir sehen, was uns sonst verborgen ist, bemerken unsere lärmverstopften Ohren, geruchsentwöhnten Nasen und styroporbetäubten Hände auch Vogelzwitschern, Insektengesumm, Glockenschläge in der Ferne, den Gesang der Welt.
Just als die »Fée Electricité«, wie man den Strom in Frankreich gerne nennt, ihre unverzichtbaren und unleugbaren Annehmlichkeiten zu bereiten begann, machten die europäischen Landschaftsmaler dieses Wunder kurz vor seinem Verschwinden noch einmal sichtbar, das jeder, ob arm oder reich, für selbstverständlich gehalten und unbewußt genossen hatte, die festliche Gastfreundschaft der Engel des Tags und der Nacht, die nach den Wesen und Dingen der Welt schmeckt, eine alltägliche Theophanie. Die durch künstliche Beleuchtung geschaffene sekundäre Welt ist bei weitem nicht so egalitär. Hier, unter den Spots, ein Übermaß an Helligkeit, dort Düsternis unter der einzigen nackten Glühbirne, die Picasso in »Guernica« zum Symbol von Weltende und namenlosem Grauen gemacht hat. Es ist auch nicht verwunderlich, daß Monets Werk mehr als jedes andere den Zorn von Bilderstürmern und die Verehrung der nostalgischen Menge auf sich gezogen hat. »Aktionisten«, die impressionistische Bilder zerstechen, ziehen als gute Logiker die letzte Konsequenz aus einer »zeitgenössischen Kunst«, die nicht duldet, daß man abseits von Neonlicht und Kathodenbad lebt. Die Fee Elektrizität kennt nur ein Fest: geblendet von Blitzlichtern und Sunlights, belagert von Schwärmen von Paparazzi mit Menschenleibern und Köpfen aus schwarzem Metall; Stadt, Land und Feld will sie nur gefilmt zur Kenntnis nehmen; im »Zeitgenössischen« hat sie endlich die Kunst gefunden, die sie brauchte, nämlich eine Großkonsumentin von Kilowattstunden, die ohne Schalter nichts ist.
Aus dem Französischen von Andreas Jandl
SINN UND FORM 1/2013, S. 84-87
Krautter, Philippe-Emmanuel
Im vollen Bewußtsein der Gefahren. Gespräch mit Marc Fumaroli, S. 88Fermor, Patrick Leigh
Paradox im Himalaya, S. 99Schmölders, Claudia
Spinnstubengeschichten. Zweihundert Jahre Grimms Märchen, S. 108Kommerell, Max
Märchen und Märchendichtung. Notizen. Mit einer Vorbemerkung von Matthias Weichelt, S. 118Meiners, Eibe
Märchen, S. 121Maar, Michael
Lieblingsstellen. Streifzug durch Martin Mosebachs Romane, S. 127Es ist Nicholson Baker, den ich mir bei meinem Streifzug als Cicerone denke. MeinLieblingsbuch von ihm trägt den wortspielerischen Titel »U and (...)
LeseprobeMaar, Michael
LIEBLINGSSTELLEN Streifzug durch Martin Mosebachs Romane
Es ist Nicholson Baker, den ich mir bei meinem Streifzug als Cicerone denke. MeinLieblingsbuch von ihm trägt den wortspielerischen Titel »U and I«. Das »U« steht für John Updike, dem Baker in diesem Roman-Essay eine sehr persönliche Hommage macht, eine Hommage mit dem Blick des Anfängers – er hatte gerade seine ersten beiden Bücher veröffentlicht – auf den bewunderten und ein wenig beneideten Altmeister. Bakers Prinzip ist es, daß er sich nicht nur verbietet, Stellen in Updikes Werk nachzuschlagen, sondern sich auch vornimmt, nur auf seine Erinnerung zu hören. Das Prinzip hat etwas für sich. Literatur lebt ja fast ausschließlich von dem, was der Leser, wenn er das Buch zugeschlagen hat, davon in Erinnerung behält. Je stärker der Eindruck ist, den es gemacht hat, desto länger bleibt es in Erinnerung. Die Fähigkeit eines Buches, sich tintenfischgleich mit Tentakeln und Saugnäpfen im Gedächtnis des Lesers festzusetzen, ist noch kein hinreichender Beweis für literarische Qualität – man kann sich auch lebhaft an besonders grauenhafte Stellen in besonders miserablen Büchern erinnern; aber es ist eine notwendige Bedingung dafür. Was keinesfalls heißt, daß man sich wörtlich an Textstellen erinnern muß, ganz im Gegenteil. Es genügt auch die Erinnerung an eine bestimmte Atmosphäre oder an eine Plot-Pointe oder an einen Gefühlsmoment oder an einen bestimmten Geruch …
Wie etwa an den strengen Geruch von Fledermauskot in dem kleinen indischen Kabinett, in dem der Protagonist von Martin Mosebachs Roman »Das Beben« ein kurzes und heftiges Renkontre mit einer Restauratorin hat. Oder an den Geruch von abgestandenem Blumenwasser – oder eigentlich wohl des Katzenklos – in der leeren Wohnung, in der derselbe Held eine Nacht lang auf seine flatterhafte Geliebte Manon wartet. Die Atmosphäre dieser Szene hat sich bei mir besonders festgesaugt. Was passiert in ihr? Schlechterdings nichts. Die Geliebte kommt und kommt nicht, und die Zeit wird dem Helden lang. (Ich verwende das Wort Held im saloppen, nicht im strengen Lewitscharoffschen Sinn.) Er wartet, und es geschieht nichts, außer daß es allmählich dunkel wird und die Straßenlaternen ihr weißes Licht durch die Schlitze der Jalousie werfen und eine Katze aufs Fensterbrett springt. Einmal hat der Held das Gefühl, Manon sei doch schon in der Wohnung und erwarte ihn im Schlafzimmer. Liegt sie nicht unter der Daunendecke im Bett? Ihr Körper scheint sich unter dem Plumeau abzuzeichnen, doch als er ihre Füße berühren will, hat sie sich in Luft aufgelöst.
Eine ganze Nacht verbringt der Held auf dem Sofa in der heißen Wohnung, erst die Morgenstunden verschaffen ihm etwas Kühlung. Was die Geliebte später als Entschuldigung für ihr Ausbleiben vorbringt, daran kann er sich kaum noch erinnern: entweder eine sterbende Tante, die besucht werden mußte, oder der Verlust ihrer Handtasche samt Telefon. Es ist ihm auch nicht wichtig, denn im Grunde hat er die unbequeme Nacht auf dem Sofa in vollen Zügen genossen.
Und der Leser tut es ihm darin gleich. Das Hypnotische dieser Szene liegt darin, daß der Autor die Zeit verrinnen läßt, die reine Zeit, die ebenso wie die Geliebte nicht faßbar ist und dennoch rätselhaft präsent. Man sieht gewissermaßen die Sandkörnchen, wie sie durchs Stundenglas rieseln.
Was wären andere Lieblingsstellen, die man nicht nachschlagen muß, weil sie sich fest im Gedächtnis angedockt haben? Sie sehen, ich bin hier in etwas gerutscht, das man in Anlehnung an Baker »M&M« nennen könnte. »M&M« auch insofern, als ich wie in »U and I« mit dem Blick des blutigen Debütanten, der gerade seinen ersten Roman veröffentlicht hat, das Werk des bewunderten Meisters vor allem technischhandwerklich betrachten möchte, immer mit der Frage im Hinterkopf: Wie schafft der Hund das nur? Wie schafft er es zum Beispiel, in der Warte-Szene dieses Gefühl der langsam verrinnenden Zeit zu erzeugen? Um das in seiner Filigran-Technik zu zeigen, müßte man die Passage nun doch genau auseinandernehmen. Ich möchte hier aber weiter dem Ruf meiner Lieblingsstellen folgen – und dabei wie Baker der Versuchung widerstehen, sie nachzuschlagen.
Meine frühesten Erinnerungen gehen auf das FAZ-Magazin zurück. Dort schrieb der mir unbekannte Martin Mosebach Kolumnen oder kurze Pastiches über italienische Redensarten, illustriert mit jeweils einer Anekdote, über die ich fast Tränen lachen mußte. In einer kam ein Elektriker vor, der irgend etwas auf einem Dach zu reparieren hatte, eine Antenne vermutlich; es war ungeheuer komisch, auch wenn ich sonst nichts mehr davon weiß. Wer war dieser Autor? Das nächste, was ich von ihm las, war die voluptuöse Beschreibung eines großen Feinschmecker-Gelages, aus der ich erfuhr, daß die Franzosen den Bordeaux nur für die Engländer produzierten und für sich selbst den Burgunder behielten. Der letzte, mich damals etwas frivol anmutende Satz – man las damals noch viel von der Sahel-Zone – lautete: »Manche freuen sich schon auf den Whiskey«.
Voluptuöse Beschreibungen sind bei Mosebach fast ein Erkennungszeichen. Mitunter gibt es, wenn es etwa verfallene indische Paläste betrifft, geradezu Orgien der Beschreibungskunst, einer Kunst, die sich durch das Aufgebot aller möglichen Akribie eben jenem Verfall entgegenzustemmen scheint. Was schon im Verschwinden begriffen ist, soll wenigstens noch einmal in der Schrift fixiert werden. In der Erinnerung bleibt von diesen Orgien nur, daß es welche waren, die Details verlieren sich. Was damit zu tun zu haben könnte, daß sie dem Unbelebten gelten, dem wir nicht die gleiche Aufmerksamkeit schenken mögen wie dem Lebendigen. Jedenfalls spricht die Erinnerung deutlicher, wenn es nicht um Stein, sondern um Fleisch und Blut geht.
Es müssen dabei gar nicht Menschen sein. Niemand, der Mosebachs letzten Roman »Was davor geschah« gelesen hat, wird die musikalische Introduktion vergessen, die uns, eigentlich zum ersten Mal richtig und umfassend, den Gesang einer Nachtigall beschreibt. Es ist ein kleines poème en prose, das er dieser Nachtigall und ihrer sich zu unerhörten Höhen steigernden Arie abgewinnt; eine Beschreibung, die zu dem Schluß gelangt: wer einmal eine solche Nachtigall gehört hat, der kann nur davon abraten, dieses Wort leichtfertig in ein Gedicht aufzunehmen, denn es brächte den schwankenden lyrischen Kahn zum Kentern. Das Pendant zu dieser Nachtigall ist der Kakadu, dem eine ebenso eindringliche Beschreibung gilt, wie er sich in seinem Putzritual aufplustert und dann wieder in Starre verfällt; auch das eine große Miniatur, die kein Leser des Buches vergessen wird.
Mosebachs Kunst der Beschreibung widmet sich auffällig oft der Tierwelt, das ist sein Tribut ans Lebendige, an die Schöpfung, wenn man so will, in der das Einzelwesen nicht weniger wichtig oder wertvoll ist, nur weil es zufällig nicht sprechen kann. Außer der Nachtigall und dem Kakadu, der übrigens der einzige in dem Buch ist, der den kompletten Überblick über das Geschehen bewahrt, gibt es in »Was davor geschah« auch noch eine Katze, die aus der Wohnung flieht und in der Stadt herumstreunt. Der Erzähler versetzt sich in diese freiheitsliebende Katze so sehr hinein, als wäre er in einem früheren Leben selbst eine gewesen; wie auch der Held des Romans »Das Beben « Macht über eine Katze hat und sie mit seinen Blicken hypnotisieren kann. Die verwilderte Katze in »Was davor geschah« wird am Ende halb-symbolisch von einem Auto überfahren; in ihrer letzten Minute bewegt sie noch langsam ihre Pfoten in der Luft, als übe sie eine neue Art der Fortbewegung im Körperlosen … auch das eine der Miniaturszenen, die dem Tier eine metaphysische Würde verleihen. In seinem neuen, noch im Entstehen begriffenen Roman wird der Erzähler in China in einem Restaurant genötigt, eine frisch gefangene Schildkröte, die man ihm zuvor noch unter die Augen hält, zu verzehren. Es ist eine Sünde, die er sich nicht verzeihen kann und die ihn bei einem späteren Besuch auf dem Balkan dazu animiert, eine Schildkröte, die er zufällig in einem Teppichladen entdeckt, freizukaufen und in die Natur zu entlassen.
Es ist nun nicht so, um noch eine Sekunde bei den Tieren zu bleiben, daß alle Mosebachschen Figuren gefühlsduselig wären. Der ziemlich unsympathische und um so interessantere Hans-Jörg in »Was davor geschah «, der ständig zurückgesetzte Sohn eines Weizsäckerhaften Übervaters, genießt es in dessen italienischem Feriendomizil sehr, daß er vom Bett aus das Massaker betrachten kann, das eine Honiggirlande unter den Fliegen anrichtet. Ja, denn auch Insekten haben es verdient, daß man sich erzählerisch um sie bemüht. Eine der eindringlichsten Passagen des Romans »Eine lange Nacht« schildert uns auf zwei oder drei Seiten, wie eine Ameisenkönigin in einem offenen Kamin versucht, ihr Volk vor den hochzüngelnden Flämmchen zu retten und wie sie am Ende, als die Glut sich in den Holzscheiten immer weiterfrißt, einen heroischen Selbstmord begeht, indem sie sich in das Feuer stürzt. Wer unbedingt will, kann all das auch symbolisch lesen, aber ich finde, das ist gar nicht nötig; die Ameise hat genausoviel poetisches Eigengewicht wie etwa die berühmte Kuh aus dem »Beben«, die im Flughafen einen Pappkarton zermahlt – meiner Ansicht nach enthielt er Druckerpapier. Dieser Kuh allerdings gibt Mosebach tatsächlich ein symbolisches Doppelleben, indem er sich vorstellt, wie sie durch nichts als ihre kauende Real-Präsenz jede deutsche Talkshow sprengen würde; eine Passage, die dem Publikum immer besonders gefiel, der ich aber die Kaminszene vorziehe.
Was uns all diese Miniaturen zeigen, kleine hängende Gärten über dem epischen Strom der Erzählung, ist eine der bemerkenswertesten Fähigkeiten dieses Autors. Mosebach macht aus Kleinem etwas Großes. Jeder hat schon Ameisen, Katzen, Schildkröten oder sogar Kakadus betrachtet oder beobachtet, aber eben nicht mit dieser Versenkung, Hingabe, Konzentration und Geduld. Mosebachs Qualität ist diese erzählerische Geduld. Natürlich muß er das, was er so genau beobachtet, dann noch in die, wie es bei Proust heißt, Ringe eines schönen Stils einschließen; denn ohne sprachlichen Reiz hilft alles Beobachtete nicht und wird die Genauigkeit zur Pedanterie. Das ist Mosebachs geringstes Problem; seine Sprache ist ein farbiges Fest, in dem man sich keine Minute langweilt, perfekt rhythmisiert und entgegen allen Vorurteilen so uneitel und ungespreizt wie nur möglich, ganz nah beim Gesprochenen, hochmusikalisch, bilderreich und die Funken des Komischen noch aus dem unscheinbarsten Kiesel schlagend.
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SINN UND FORM 1/2013, S. 127-134
Haas, Eberhard Theodor
Hundert Jahre »Totem und Tabu«, S. 134Cziesla, Wolfgang
Zaunwinde und Geiß, S. 137
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2/2013
Heft 2/2013 enthält:
Wagner, Nike
Wagner feiern?, S. 149Dieckmann, Friedrich
Wagner und kein Ende, S. 157Lepenies, Wolf
Royaldemokratie und Gründercharisma. Peter Wapnewski und das Wissenschaftskolleg, S. 166Lange, I. M.
Mein Freund Walter Benjamin. Mit einer Vorbemerkung von Erdmut Wizisla, S. 175Vorbemerkung Immer wieder tauchen unbekannte Quellen zu Walter Benjamin auf. In den letzten zehn Jahren gehörten Briefe aus der (...)
LeseprobeLange, I. M.
MEIN FREUND WALTER BENJAMIN
Vorbemerkung
Immer wieder tauchen unbekannte Quellen zu Walter Benjamin auf. In den letzten zehn Jahren gehörten Briefe aus der Promotionszeit in Bern dazu, eine Postkarte an Ernst Bloch, Aufzeichnungen zum Spracherwerb seines Sohnes Stefan, ein umfangreiches Konvolut mit Notizen, Exzerpten und Briefentwürfen aus dem Pariser Exil, die unter Zeitungsausschnitten im Moskauer Sonderarchiv verborgen waren, und manches mehr. Die meisten Entdeckungen verdanken sich der Arbeit an der neuen kritischen Gesamtausgabe und werden dort auch zugänglich gemacht, was nicht heißt, daß ihr Erkenntniswert sich in Philologischem erschöpfte. Im jüngst erschienenen Band »Kritiken und Rezensionen« finden sich mehr als zweihundert Seiten bislang ungedruckter Entwürfe und Fassungen von Besprechungen. Die Dokumentation der Kontexte befreit Benjamins Rezensententätigkeit vom Vorurteil der Brotarbeit und macht sie als eines der Zentren seines Werks begreifbar. Die bevorstehende Edition des Werkkomplexes »Berliner Chronik"/"Berliner Kindheit« rückt die Gedächtnisarbeit, die Benjamin mit seinen Kindheitserinnerungen verfolgte, in ein völlig neues Licht, weil erstmals die Konstruktion des Ganzen zu sehen ist.
Neue Zeugnisse zur Biographie des Schriftstellers sind indes nicht gerade zu erwarten. Es scheint, als sei das, was Freunde und Zeitgenossen über Benjamin erzählen wollten, von diesen selbst publiziert oder mittlerweile annähernd lückenlos aus Nachlässen zutage gefördert worden. Mit beträchtlichem Gewinn: die Erinnerungen an Benjamin halten sein Bild lebendig. Allen voran Gershom Scholems »Geschichte einer Freundschaft « (1975), die große, aus der Sicht des Jerusalemer Freundes geschriebene Biographie, dazu in den sechziger Jahren für den Rundfunk aufgenommene Erzählungen von Ernst Bloch, Theodor W.Adorno, Max Rychner und Jean Selz, ferner Berichte und Erinnerungen von Asja Lacis, Hannah Arendt, Bernard von Brentano, Charlotte Wolff, Gisèle Freund, Adrienne Monnier, Max Aron, Hans Sahl und Lisa Fittko, um nur die wichtigsten zu nennen.
Es mag verblüffen, daß mit dem Text von I.M. Lange Unbekanntes jetzt von einem DDR-Literaturkritiker kommt, einem Mann, der sich gegenseitiger Wertschätzung, ja Freundschaft mit Benjamin rühmt, obwohl sein Name im Benjamin-Zusammenhang bisher nur eine Randnotiz war. Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Erinnerten sind jedoch rasch zu zerstreuen. Lange weiß aus erster Hand zu erzählen. Sein Blick auf Benjamin ist ungeachtet seiner politischen Borniertheit direkt und unverfälscht.
Johann (Hans) Friedrich Lange, der sich Johann Melchior Lange, I.M. Lange, kurz: I.M.L., nannte, wurde 1891, ein Jahr vor Benjamin, in Berlin geboren. Sein Vater war Goldschmied und handelte mit Immobilien; »man gehörte zum mittleren Bürgertum«, beschrieb der Sohn seine Herkunft, die ihm offenbar Freiheiten gab. I.M. Lange brach die Schule ab und begann eine Ausbildung: zunächst an der Königlichen Bauschule in Dresden, sodann als Volontär einer Potsdamer Buchhandlung, schließlich als Verlagskaufmann. Er machte 1911 in Wismar die Bekanntschaft von Georg Heym und 1914 die von Franz Pfemfert, der 1916 in seiner Zeitschrift »Aktion« unter dem Pseudonym HALA ein expressionistisches Gedicht des mittlerweile im Kriegsdienst stehenden und als Feldbuchhändler eingesetzten Lange publizierte. Bis in die frühen zwanziger Jahre hatte er engeren Kontakt zu Carl Zuckmayer, der in seinen Lebenserinnerungen »Als wär’s ein Stück von mir« erzählte, daß Lange »ganz in der Geisteshaltung der russischen Vorkriegs-Anarchisten« lebte. Ihren Schriften war Lange 1914 in der Königlichen Bibliothek, Unter den Linden, begegnet, wo er in der Musikabteilung volontierte. Zuckmayer hatte Lange als Verkäufer in einer Feldbuchhandlung kennengelernt und war durch ihn auf Bakunin, Alexander Herzen, Kropotkin und Stirner aufmerksam geworden. In dem verschmuddelten Lädchen des hageren Buchhändlers hätten neben vaterländischen Romanen »sämtliche revolutionär gestimmte Broschüren und Zeitschriften dieser Tage« gelegen. Unter den Versen des Freundes gab es Zuckmayer zufolge »manche von merkwürdiger Schönheit«. Lange lebte längere Zeit in Heidelberg und Westfalen, später wieder in Berlin, er arbeitete als Antiquar und Bibliothekar. 1927 erschien sein Gedichtband »Frank und Sebastian«. Zwei Jahre später trat Lange in die KPD ein. Er lehrte am Bauhaus in Dessau und in der Marxistischen Arbeiterschule (MASCH), schrieb unter dem Kürzel iml für die »Rote Fahne« und war Lektor und Korrektor bei Publikationen der Münzenberg-Verlage. In Dessau lernte er 1930 die Bauhausschülerin Annemarie Wimmer kennen, das Paar heiratete 1938; Annemarie Lange schrieb später vielfach aufgelegte kulturhistorische Berlin-Bücher. Während des Krieges war I.M. Lange als Hilfsbibliothekar und Hilfsarbeiter tätig. In der DDR machte er spät noch Karriere im Verlag Volk und Wissen, wo er politisch für die gesamte Schulbuchproduktion verantwortlich war, in der SED-Parteihochschule und am Zentralinstitut für Bibliothekswesen. Er promovierte noch als Sechzigjähriger mit einer Arbeit über die gesellschaftlichen Beziehungen in Fontanes Romanen, gab eine Dokumentation zeitgenössischer Quellen zur Revolution von 1848 heraus, die erste Fontane-Ausgabe bei Aufbau, Bücher von Heine, Hauff und Alexis, er verfaßte Monographien und Kommentare zu Leibniz, Fallada und Thomas Mann, Aufsätze und Rezensionen. 1970 wurde er zum Professor ernannt. I.M. Lange starb 1972 in Berlin.
Den hier erstmals veröffentlichten Auszug aus Langes Memoiren und die Daten zur Biographie des Verfassers stellte Hartmut Pätzke zur Verfügung, dem an dieser Stelle herzlich für den Hinweis auf den teilweise handgeschriebenen Text sowie dessen Transkription und Kollation gedankt sei. Das Manuskript entstand in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, Korrekturvermerke verweisen auf das Jahr 1963. Es umfaßt 500 Seiten und liegt heute in Langes Nachlaß, den die Handschriftenabteilung der Berliner Staatsbibliothek aufbewahrt. Lediglich ein Auszug, der Erinnerungen an die Novemberrevolution enthielt, war 1958 in der »Neuen Deutschen Literatur« veröffentlicht worden. Lange war enttäuscht, daß sein Lebensbericht offenbar nicht auf das von ihm erhoffte Interesse stieß. Der für unseren Abdruck gewählte Titel geht auf einen hier nicht gedruckten Satz aus Langes Manuskript zurück, wo es heißt: »ich denke an meinen lieben Freund Walter Benjamin, der in diesem Bericht erst später auftreten wird«. An einer anderen Stelle spricht er von Freunden, die ihn in Heidelberg besuchten, und schreibt, Benjamin sei ihm immer der »werteste« gewesen.
Die Bekanntschaft begann in den frühen zwanziger Jahren, als Benjamin in Heidelberg lebte, Baudelaire übersetzte und eine Zeitschrift mit dem Titel »Angelus novus« herausgeben wollte. Nach Langes Angaben gab es auch in Berlin in den späten zwanziger und vermutlich in den frühen dreißiger Jahren noch Begegnungen. Der einzige unmittelbare Niederschlag der Begegnung bei Benjamin ist dessen Nachfrage in einem Brief an seinen Verleger Richard Weißbach vom 4. September 1923: »Von Lange höre ich nichts. Wissen Sie etwas von ihm?« 1928 besprach Lange Benjamins bei Rowohlt erschienene Bücher »Einbahnstraße« und »Ursprung des deutschen Trauerspiels « in der »Weltbühne«. Die »Einbahnstraße« rühmte er als »Hauptverkehrsader neuern Denkens«, das Buch begründe eine Essayistik, »die in kürzester Weise den Extrakt ihres Stoffes lückenlos darbietet«.
Langes Erinnerungen sind nicht ohne Irrtümer chronologischer und sachlicher Natur: So hat Benjamin erst während des Ersten Weltkrieges Zugang zur Heidelberger Intelligenz gefunden. Der frühe Hölderlin-Aufsatz ist nicht in einer der Jugendschriften vor dem Krieg gedruckt worden. Benjamin publizierte in der Zeitschrift »Der Anfang«, die nicht von Ernst Joël geleitet wurde, nicht aber in dessen »Aufbruch«. Benjamin und Scholem studierten nicht in Zürich, sondern in Bern. Nicht Jonas Fränkel, sondern Richard Herbertz war Benjamins Doktorvater, seine Dissertation widmete sich nicht dem »Problem«, sondern dem »Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik«, als Habilitationsschrift reichte er selbstverständlich nicht nur die Einleitung seiner Studie »Ursprung des deutschen Trauerspiels« ein, der Moskau-Aufsatz erschien in Bubers Zeitschrift »Die Kreatur«, nicht in der »Sammlung« usw. Es würde zu weit führen, hier weitere Fehler zu korrigieren. All das ist für Lange nicht entscheidend gewesen. Er verfaßte seine Memoiren aus dem Gedächtnis, war sich bei der Namensschreibung und bei manchem Detail nicht sicher und hielt es auch nicht für nötig, sich darüber Gewißheit zu verschaffen – etwa durch Anfrage bei Gershom Scholem, der, als Lange sich an ihn erinnerte, in Jerusalem lebte.
Es kann uns auch nicht um Langes eigenwillige, teils aberwitzige Wertungen gehen – etwa die literarhistorische, Benjamin sei einer der Propagandisten des Expressionismus, oder die charakterliche, Benjamin sei ein »vor lauter Schüchternheit leicht boshaft werdender Mensch« gewesen. Achtet man jedoch auf unbekannte Sachinformationen und Nebentöne, wird man diese Abschnitte aus Langes Memoiren nicht ohne Gewinn lesen. Wie es Benjamin gelang, vom Kriegsdienst befreit zu werden, ist in zahlreichen, teils einander widersprechenden Anekdoten überliefert. In den ersten Augusttagen 1914 will er sich – »keinen Funken Kriegsbegeisterung im Herzen« – mit Freunden aus der Jugendbewegung freiwillig gestellt haben, um unter Gleichgesinnten bleiben zu können. Nach dem Tod seines Freundes Fritz Heinle suchte Benjamin phantasiereich nach Auswegen. Ihm, Bloch, Scholem und vielen anderen half die Flucht in die Schweiz, und dennoch hatte Benjamin immer wieder vor den Musterungsbehörden zu erscheinen. Scholem wußte, daß es Benjamin gelungen war, sich als »Zitterer« zu präsentieren, und so wurde er vom Militärdienst freigestellt. Diese Version berührt sich mit den erst kürzlich zugänglich gewordenen Erinnerungen von Rudolph E.Morris, einem Kommilitonen, der Benjamin vor einer Musterung getroffen und von ihm erfahren haben will, daß er so viel starken Kaffee getrunken hätte, daß die Einberufungsbehörde ihn wegen erhöhter Herzfrequenz zurückgestellt habe. Langes Version kennen wir von Scholem, dem Benjamins Ehefrau Dora anvertraut hatte, daß sie durch Hypnose ischiasähnliche Symptome bei ihm hervorrufen konnte, wobei erst Langes Bericht deutlich macht, daß die Ischiassymptome, über die Benjamin noch monatelang klagte, nicht simuliert waren.
Lange kannte Benjamins Arbeiten: nicht nur die zur Zeit des Umgangs mit ihm zugänglichen wie die Dissertation, den Essay »Goethes Wahlverwandtschaften«, die Bücher »Einbahnstraße« und »Ursprung des deutschen Trauerspiels«, die Aufsätze in der »Literarischen Welt«, sondern auch spätere. Prominentes Beispiel sind die Thesen »Über den Begriff der Geschichte«, auf die Lange mit dem Satz hinweist, Benjamin habe Paul Klees »Angelus novus« sogar eine eigene Abhandlung gewidmet (mit dem Titel »Kriegszug« meint Lange Klees Tuschezeichnung »Die Vorführung des Wunders« von 1916, die Benjamin 1920 von Dora zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte). Offenbar war Langes Begegnung mit Benjamin so intensiv gewesen, daß er sich noch nach Jahren an diesen Büchermenschen genau erinnern konnte, an seine Denk- und Schreibweise, seine Art, Gedichte zu sprechen, seine Erfahrungen in Moskau. Manchem ist nachzugehen – etwa der Erwähnung von Alfred Seidel und Karl Hildebrand Silomon, deren Namen im Umkreis Benjamins unbekannt sind, oder dem Hinweis auf die frühe Lektüre der Marx-Schrift »Zur Judenfrage«; sie ist wahrscheinlich, weil 1923 ein Auszug in der »Roten Fahne« für Diskussionen gesorgt hatte (in den Passagenaufzeichnungen zitiert Benjamin die Schrift nach der ersten Marx-Engels-Gesamtausgabe von 1927). Aus dem Abstand von fast vier Jahrzehnten betonte Lange jedoch das Trennende und Fremde. Näher an den Geist Benjamins heranzutreten verbot das ideologische Rüstzeug, das Lange sich auf seinem Weg durch die kommunistischen Institutionen erworben hatte. Er beschreibt Benjamin als einen am Rande der Gesellschaft stehenden Einzelgänger, als einen, der, wie es in einer hier nicht abgedruckten Passage heißt, zu den Kindern gehörte, bei denen der Aufenthalt in einem Landerziehungsheim ein »Trauma der Hochempfindlichkeit« hervorgerufen habe. Seine alte Bewunderung für den Freund gestand Lange nur unter Zögern ein, weil Benjamin in den fünfziger und frühen sechziger Jahren im Umkreis der DDR-Volksbildung kein unverdächtiger Gewährsmann war. So kommt es zu einer ambivalenten Haltung: Lange, der von Benjamin ohne Frage beeindruckt war, hält ihn jetzt auf Distanz. Man hat den Eindruck, der Memoirenschreiber müsse seiner eben erst eingestandenen Bewunderung unverzüglich Einhalt gebieten.
Dafür eignet sich am besten der Gestus des Tadels: Benjamin merkte nicht, »worauf es hinauslief«, er verstand kaum, »was da in Wahrheit vorging«, Menschen wie dieser würden »vor unserer Zeit nicht ganz bestehen«, sie könnten, »was wir wollen, gar nicht begreifen«. Das ist schon etwas heftiger als die in Nachworten zu sogenannten bürgerlichen Texten üblichen Beschwörungsformeln, mit denen Lange Benjamin ebenfalls bedachte: »Er blieb immer ein bürgerlicher Intellektueller, der sich kaum der klassenmäßigen Beschränktheit seines Denkens bewußt war, vielleicht auch, weil er mit dem, was er gelernt und sich erarbeitet hatte, einfach nicht weiter kommen konnte.« Zu Zurechtweisungen dieser Art paßt eine Rüge von Heinrich Mann, der 1934 Benjamins Essay »Der Autor als Produzent« als Ausdruck der »Patzigkeit der kommunistischen Literaten« empfand. Das mag gegenüber Benjamin ungerechtfertigt gewesen sein, für Lange hätte es gestimmt.
Bezeichnend ist ein Fauxpas am Ende des Textes. Lange führt den Bruch der Freundschaft mit Benjamin auf eine Zeit zurück, »in der es sich zu entscheiden galt«. Vielleicht meinte er damit gar nicht die Frage, ob man 1933 in Deutschland bleiben oder ins Exil gehen sollte, auch wenn der anschließende Satz genau das nahelegt: »Und das folgte dann auch bald, Benjamin ging nach Paris.« Beklemmend wird es da, wo Lange dem von den Nazis in den Freitod getriebenen jüdischen Intellektuellen nachsagt, Menschen wie Benjamin würden »höchstens ›zu Besuch‹ einmal bei uns einkehren und niemals ganz seßhaft werden können: einfach, weil ihnen die Möglichkeit, seßhaft zu werden, längst abhanden gekommen ist«. Das war in einem makabren Sinne wahr, Benjamins Besuch würde fortan ausbleiben. Und es mildert die Sache nur wenig, daß Lange derlei wohl eher gedankenlos notierte und dabei zugleich großmütig einräumte, solche Menschen würden »uns niemals feindlich gegenüberstehen«.
Erdmut Wizisla
SINN UND FORM 2/2013, S. 175-179Vitzthum, Wolfgang Graf
»Schon eure zahl ist frevel«. Stefan George und die Demokratie, S. 189Mosebach, Martin
Stefan Georges Religion, S. 199Schlaffer, Heinz
Das Panorama der Irrtümer. Zu Flauberts »Versuchung des heiligen Antonius«, S. 212Nádas, Péter
»Wir versuchen, mit dem Chaos zu leben«. Gespräch mit Jörg Magenau, S. 219Koepsell, Kornelia
Bei den Schalmeken. Gedichte, S. 233Maugham, William Somerset
Betrachtungen über ein gewisses Buch. Kants »Kritik der Urteilskraft«, S. 237I. Pünktlich um fünf vor fünf wurde Professor Kant von seinem Diener Lampe geweckt, und um fünf setzte er sich, angetan mit Pantoffeln, (...)
LeseprobeMaugham, William Somerset
BETRACHTUNGEN ÜBER EIN GEWISSES BUCH Kants »Kritik der Urteilskraft»
I.
Pünktlich um fünf vor fünf wurde Professor Kant von seinem Diener Lampe geweckt, und um fünf setzte er sich, angetan mit Pantoffeln, Morgenrock und Nachtmütze, über welcher er seinen Dreispitz trug, in sein Studierzimmer zum Frühstück. Dies bestand aus einer Tasse dünnen Tees und einer Tabakspfeife. Die folgenden zwei Stunden beschäftigte er sich mit der Vorlesung, die er an diesem Morgen halten würde. Dann kleidete er sich an. Der Hörsaal befand sich im Erdgeschoß seines Hauses. Er las von sieben bis neun, und seine Vorlesungen waren so beliebt, daß jemand, der einen guten Platz ergattern wollte, schon um halb sieben dort sein mußte. Kant, der hinter einem kleinen Pult saß, sprach im Plauderton, mit leiser Stimme und beinahe ohne unterstreichende Gesten, doch lockerte er seinen Vortrag durch Humor und zahlreiche Erläuterungen auf. Seine Absicht lag darin, die Studenten das Selbstdenken zu lehren, und er schätzte es gar nicht, wenn sie voller Eifer mit ihren Federkielen jedes seiner Worte zu Papier brachten. »Meine Herren, kratzen Sie nicht so herum«, sagte er einmal, »ich bin kein Prophet.«
Er hatte die Angewohnheit, den Blick auf einen Studenten in seiner Nähe zu heften und aus dessen Miene zu schließen, ob dieser das Gesagte verstanden hatte oder nicht. Aber schon eine Kleinigkeit vermochte ihn zu verwirren. Einmal verlor er den Faden seiner Rede, weil am Rock eines seiner Studenten ein Knopf fehlte, und ein anderes Mal, als ein müder junger Mann fortwährend gähnte, hielt er inne und sagte: »Wenn man schon nicht umhinkann zu gähnen, so würden es die guten Sitten zumindest erfordern, die Hand vor den Mund zu halten.«
Um neun Uhr kehrte Kant in sein Zimmer zurück, zog wiederum Morgenrock, Nachtmütze, Dreispitz und Pantoffeln an und arbeitete bis exakt Viertel vor eins. Dann rief er nach unten zu seiner Köchin, teilte ihr die Zeit mit und ging wieder in sein Studierzimmer, um die Gäste zu empfangen, die er zum Mittagstisch erwartete. Er konnte es nicht ertragen, allein zu essen. Und es ist überliefert, daß er, als er einmal niemanden hatte, der ihm Gesellschaft hätte leisten können, seinem Diener auftrug, auf die Straße zu gehen und den Erstbesten mitzubringen, den er finden konnte. Von seiner Köchin wie von seinen Gästen erwartete er, daß sie pünktlich waren. Er hatte die Angewohnheit, diese stets an dem Tag einzuladen, an dem er sie empfangen wollte, damit sie nicht in Versuchung gerieten, eine früher getroffene Verabredung abzusagen, um mit ihm speisen zu können. Und obwohl ein gewisser Professor Kraus eine Zeitlang jeden Tag außer sonntags mit ihm zu Mittag speiste, versäumte er es niemals, ihm jeden Morgen eine Einladung zu schicken.
Sobald die Gäste versammelt waren, wies Kant seinen Diener an, das Essen aufzutragen, während er selbst losging, um die Silberlöffel zu holen, die er zusammen mit seinem Geld in einem Schreibpult im Empfangsraum verschlossen hielt. Die Gesellschaft nahm im Speisezimmer Platz, und mit den Worten: »Nun, meine Herren!« legte Kant los. Die Mahlzeit war reichhaltig. Sie war die einzige, die er am Tag zu sich nahm, und bestand aus Suppe, getrockneten Hülsenfrüchten, Fisch und Braten und zum Abschluß Käse und Früchten der Saison. Vor jedem Gast stand je eine Halbliterflasche roten und weißen Weins, so daß jeder trinken konnte, was er wollte.
Kant liebte das Gespräch, zog es allerdings vor, allein zu sprechen, und zeigte sich rasch ungehalten, wenn er unterbrochen wurde. Seine Konversation war jedoch so anregend, daß niemand es ihm übelnahm, wenn er es an sich riß. In einem seiner Bücher schrieb er: »Wenn ein unerfahrener junger Mann eine Gesellschaft betritt (insbesondere, wenn Damen anwesend sind), die in ihrem Glanz seine Erwartungen übertrifft, gerät er leicht in Verlegenheit, sobald er zu sprechen beginnt. Nun wäre es unschicklich, wenn er mit einem Thema beginnen würde, über das die Zeitungen berichten, weil niemand einsehen wird, was ihn darüber zu sprechen bewog. Da er aber gerade von der Straße kam, ist das schlechte Wetter die beste Einleitung zu einem Gespräch.«
Obwohl an seiner eigenen Tafel niemals Damen anwesend waren, machte Kant es sich zur Regel, mit diesem bequemen Gegenstand zu beginnen. Dann wandte er sich den Tagesnachrichten aus dem In- und Ausland zu, danach ging er über zu Reiseerzählungen und den Eigenarten fremder Völker, wie Literatur und Nahrungsmittel. Zum Schluß erzählte er humorvolle Geschichten, von denen er einen reichhaltigen Bestand besaß und die er ungewöhnlich gut zu erzählen wußte, damit, wie er sagte, »die Mahlzeit mit Gelächter enden möge«, was die Verdauung fördern sollte. Er hielt sich gern lange beim Essen auf, so daß die Gäste sich erst spät vom Tisch erhoben. Nachdem sie gegangen waren, legte er sich nicht etwa nieder, da er anderenfalls sofort eingeschlafen wäre. Dies erlaubte er sich nicht, weil er der Ansicht war, man solle sich nur wenig Schlaf gönnen, um Zeit zu sparen und so das Leben zu verlängern. Er brach zu seinem Nachmittagsspaziergang auf.
Er war ein kleiner Mann, kaum ein Meter fünfzig groß, mit einer schmalen Brust und einer schiefen Schulter. Er hatte eine Hakennase, aber feine Augenbrauen und eine frische Gesichtsfarbe. Seine Augen waren klein, aber blau, lebhaft und durchdringend. Seine Kleidung war erlesen. Er trug eine kleine blonde Perücke, eine schwarze Krawatte und ein Hemd mit Rüschen an Hals und Ärmeln, Rock, Hose und Weste aus feinstem Tuch, graue Seidensocken und Schuhe mit Silberschnallen. Unter dem Arm trug er seinen Dreispitz und in der Hand einen Stock mit Goldknauf. Er ging jeden Tag, ob bei Regen oder Sonnenschein, genau eine Stunde spazieren. Wenn jedoch das Wetter scheußlich war, lief sein Diener mit einem großen Regenschirm hinter ihm her. Nur bei einer Gelegenheit verzichtete er auf seinen Gang: Als er Rousseaus »Émile« bekam, blieb er, unfähig, sich davon zu lösen, volle drei Tage lang im Haus. Kant ging sehr langsam, weil er annahm, daß Schwitzen für ihn schädlich sei, und immer allein, weil er sich angewöhnt hatte, durch die Nase zu atmen – in dem Glauben, dadurch eine Erkältung vermeiden zu können. Hätte er einen Begleiter gehabt, dann hätte die Höflichkeit ihn zum Sprechen genötigt und er wäre gezwungen gewesen, durch den Mund zu atmen. Er nahm stets den gleichen Weg die Lindenallee entlang, die er – laut Heine – achtmal auf- und ablief. Er brach immer genau zur gleichen Stunde von zu Hause auf, so daß die Einwohner der Stadt ihre Uhren danach stellen konnten. Wenn er nach Hause zurückkam, ging er wieder in sein Studierzimmer und las und schrieb Briefe bis zum Einbruch der Dämmerung. Dann hatte er die Angewohnheit, seinen Blick auf den Turm der benachbarten Kirche zu heften und dabei über die Probleme nachzudenken, die ihn just zu dieser Zeit beschäftigten. Damit verknüpft sich eine Geschichte: Eines Abends geschah es, daß er den Turm nicht mehr sehen konnte, weil zwei Pappeln so hoch gewachsen waren, daß sie diesen verdeckten. Das erzürnte ihn über die Maßen, doch glücklicherweise erklärten die Besitzer der Pappeln sich bereit, deren Spitzen abschneiden zu lassen, so daß er weiter in aller Bequemlichkeit nachdenken konnte. Um Viertel vor zehn unterbrach er sein zähes Arbeiten und um zehn lag er warm eingepackt in seinem Bett.
Eines Tages jedoch, irgendwann zwischen Mitte und Ende Juli des Jahres 1789, als Kant zu seinem Nachmittagsspaziergang aus dem Haus trat, wandte er sich nicht zur Lindenallee, sondern in eine andere Richtung. Die Einwohner von Königsberg waren verblüfft und riefen sich zu, daß irgend etwas von welterschütternder Bedeutung geschehen sein mußte. Sie hatten recht: Er hatte soeben die Nachricht erhalten, daß am 14. Juli der Pariser Mob die Bastille erstürmt und die Gefangenen befreit hatte. Das war der Beginn der Französischen Revolution.
Kant stammte aus sehr bescheidenenVerhältnissen. SeinVater, ein Gurtmacher, war ein Mann von erhabenem Charakter und seine Mutter eine tiefreligiöse Frau. Er sagte über sie: »Sie gaben mir eine Ausbildung, die aus moralischer Sicht nicht besser hätte sein können und wegen der ich, immer wenn ich an sie zurückdenke, die dankbarsten Gefühle hege.« Er hätte noch weiter gehen und sagen können, daß der strenge Pietismus seiner Mutter keinen geringen Einfluß auf das philosophische System hatte, das er später entwickelte. Mit acht ging er zur Schule und mit sechzehn trat er in die Universität zu Königsberg ein. Da war seine Mutter bereits tot. Sein Vater war zu arm, um ihn mit mehr als Kost und Logis auszustatten. Die sechs Jahre, die er an der Universität verbrachte, überstand er mit Hilfe seines Onkels, eines Schuhmachers, indem er Schüler nahm und – erstaunlich genug – indem er einiges Geld durch seine Begabung für Billard und Kartenspiel erwarb. Als sein Vater starb, war Kant zweiundzwanzig, und sein Zuhause löste sich auf. Von den elf Kindern, die Frau Kant ihrem Mann geboren hatte, blieben fünf am Leben: der eigentliche Gegenstand dieses Berichts, ein viel jüngerer Bruder und drei Mädchen. Die Mädchen wurden Hausangestellte, und zwei von ihnen heirateten später jemanden aus ihrem Stand. Um den Jungen kümmerte sich sein Onkel, der Schuhmacher. Und Kant, der mit seiner Bewerbung um eine Assistentenstelle an der örtlichen Schule gescheitert war, trat eine Reihe von Anstellungen als Hauslehrer bei den Familien des Landadels an. Indem er in einer vornehmeren Gesellschaft verkehrte als in derjenigen, in die er hineingeboren und in der er aufgewachsen war, erwarb er sich die guten Umgangsformen, für die man ihn später bewunderte. Auf diese Weise verbrachte er neun Jahre. Als er dann seinen akademischen Abschluß erworben hatte, begann seine Karriere als Dozent in Königsberg. Er lebte zur Miete in Herbergen und nahm seine Mahlzeiten in Gasthäusern ein, die er nach der Wahrscheinlichkeit auswählte, dort angenehme Gesellschaft anzutreffen. Aber er war heikel. In einer seiner Herbergen wurde er in seinen Meditationen durch das Krähen eines Hahns gestört, und obwohl er versuchte, ihn zu kaufen, wollte der Besitzer diesen nicht hergeben, weshalb er woanders hinziehen mußte. Ein Gasthaus verließ er, weil ein anderer Gast ihn durch seine Reden langweilte, und ein weiteres, weil man dort von ihm erwartete, daß er über seine Lehren disputieren solle, wozu er nun wirklich keine Lust hatte. Erst nach vielen Jahren war er wohlhabend genug, um sich ein eigenes Haus und einen Diener, der sich um ihn kümmerte, leisten zu können. Das Haus war sparsam möbliert, und das einzige Bild darin war ein Porträt von Rousseau, das ihm ein Freund geschenkt hatte. Die Wände waren weiß getüncht, wurden im Laufe der Jahre jedoch so von Rauch und Ruß geschwärzt, daß man seinen Namen hineinschreiben konnte. Als jedoch ein Besucher einmal versuchte, dergleichen zu tun, wies ihn Kant sanft zurecht. »Mein Freund, warum störst du den alten Ruß?« fragte er. »Ist nicht ein solcher Wandbehang, der von selbst entsteht, besser als einer, den man sich erwerben muß?«
Obgleich er achtzig Jahre alt wurde, entfernte er sich nie weiter als hundert Kilometer von seiner Geburtsstadt. Er litt unter häufigen Unpäßlichkeiten und war selten frei von Schmerzen, aber durch seine Willenskraft war er imstande, die Aufmerksamkeit von seinen Empfindungen abzulenken, als ob sie ihn gar nichts angingen. Gewöhnlich meinte er, daß man wissen sollte, wie man sich seinem Körper anpaßt. Er hatte ein heiteres Naturell, war allen gegenüber liebenswürdig und bescheiden, aber pedantisch. Er erwartete, daß man ihm die gleiche Achtung zollte, wie er es anderen gegenüber tat. Wenn also bestimmte Leute begierig waren, ihn aufgrund seiner Berühmtheit zu treffen, und ein gemeinsamer Bekannter das zu arrangieren versuchte, indem er ihn zu sich nach Hause einlud, weigerte er sich zu kommen, wenn diese ihm nicht zuvor einen Höflichkeitsbesuch abstatteten – wie berühmt sie selber auch immer sein mochten.
[...]
Aus dem Englischen von Simone Stölzel
SINN UND FORM 2/2013, S. 237-259
Ferentschik, Klaus
Miniaturen aus Kalininberg & Königsgrad, S. 260Jansen, Elmar
»Seelenverwandtschaft, eine bleibende«. Ein etwas anderer Blick auf das Barlach-Theater und die Suhrkamp-Kultur, S. 267»Immer noch leichter Nebel – eigentlich gar nicht unsympathisch, … es kann mehr dahinter stecken als man denkt, kann anders kommen als (...)
LeseprobeJansen, Elmar
»SEELENVERWANDTSCHAFT, EINE BLEIBENDE» Ein etwas anderer Blick auf das Barlach-Theater und die Suhrkamp-Kultur
»Immer noch leichter Nebel – eigentlich gar nicht unsympathisch, … es kann mehr dahinter stecken als man denkt, kann anders kommen als ausgemacht ist …« So beginnt Barlachs »Blauer Boll« – als schwebendes Verfahren. Bei der Berliner Erstaufführung 1930 unter Jürgen Fehling am Gendarmenmarkt betrat mit diesen Worten Heinrich George die Szene. 1981 erarbeitete Frank-Patrick Steckel mit Wolf Redl die Rolle für die Schaubühne. Vorfassungen des Dramas, die ich im gleichen Jahr bekannt gemacht hatte, konnten einbezogen werden.
Den Boll hatte Barlach zunächst Baal genannt; Umrisse der gleichnamigen, gleichfalls »religiöser Delikte« überführten Brecht-Gestalt rückten in die Nähe und wurden doch auf Distanz gehalten. Steckel und sein Dramaturg Wolfgang Wiens legten ein 180seitiges Meditationsbuch zum Läuterungsprozeß des Lebemannes vor. 1985 hatte der Boll dann mit Kurt Böwe Premiere am Deutschen Theater. Auch hier wieder der niederdeutsche Marktplatz mit hochaufragendem Turm, von dem Boll in seiner Qual sich herabstürzen will, bis ihm – »Gewalt, himmelwärts ist am Werk« – im letzten Akt bessere Aussichten zuteil werden.
Kurt Pinthus hatte 1930 Fehlings Inszenierung Qualitätsmerkmale eines Reißers zugesprochen. Auch der überhaupt erste Barlach in der Schumannstraße erwies sich als zugkräftig; ihm war ein bisher bei solch schwierigen Stücken nicht gekannter, lang anhaltender Erfolg beschieden. Gastspiele in Köln, Kiel, Duisburg, Wuppertal schlossen sich an. 1988 folgten am gleichen Ort und mit nahezu gleichem Personal »Die echten Sedemunds« (Regie wiederum Rolf Winkelgrund), noch im selben Jahr herübergebeten zum Thalia-Theater Hamburg. Eine regelrechte Barlach-Welle begleitete die Aufbruchstimmung vor und nach den Wendejahren: Günter Krämer inszenierte den »Armen Vetter« in Bremen und Köln, Michael Gruner in Hamburg und Stuttgart; Wolf Redl wagte sich in Bochum an die Regie des »Toten Tags« und der junge Thomas Bischoff polarisierte am Mecklenburgischen Landestheater Parchim die Gemüter mit der selten aufgeführten, in den Jahren des heraufziehenden Nationalsozialismus entstandenen »Guten Zeit«. Hans Lietzau – schon in den 1950er Jahren am Berliner Schillertheater einer der produktivsten Barlach-Regisseure – inszenierte 1991 an den Münchner Kammerspielen einen so herausragenden »Boll«, daß er zum 29. Berliner Theatertreffen eingeladen wurde. Das Goethe-Institut London sah sich veranlaßt, alle diese deutsch-deutschen Erstaunlichkeiten in einer Barlach-Tagung aufzuarbeiten (Elmar Jansen: Verflucht deutsch, FAZ, 8. Januar 1992). J.M. Ritchie stellte seine Übersetzung des »Squire Blue Boll« zur Diskussion, gedruckt in den von ihm mitherausgegebenen »Seven Expressionist Plays. Kokoschka to Barlach«.
Zwanzig Jahre später ein anderes Barlach-Theater. Schrille Pfiffe, Krakeel, gelegentlich untermalt von milderen Einlassungen. Das Bühneninteresse am »Boll« scheint dagegen auf dem Tiefpunkt. Doch halt: Rumort es da nicht an einem stillen Ort? Es hört sich an wie die herunterrasselnde Kette eines Rettungsankers. Peter Handke, unterwegs zu immer neuen Erfahrungen in der Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt, erzählt einen eigentlich »Unerzählbaren Alptraum« (Die Zeit 52/2012). Gegen Ende dieser neuerlichen Publikumsbeschimpfung kommt ihm ein erlösender Gedanke: den »Boll« in Sprachen zu übertragen, in denen er bisher nicht vorliegt.
Etwa in den Jahren, als sein »Kaspar« – auch der von Wolf Redl verkörpert – in Frankfurt herauskam, hat Handke den »Boll« gesehen. Wann, wo und mit wem, das weiß er nicht mehr genau. Aber da er den Namen des Regisseurs nennt, läßt es sich präzise rekonstruieren: Es war der nach Fehling entscheidende Triumph des Stücks unter Hans Bauer mit Hans Dieter Zeidler, erstmals am 7. April 1967, Landestheater Darmstadt. Ein »tiefsinniges Mysterium« begegnete Peter Handke dort; sehr »zum Unglück« sei das Werk heute »vergessen«. Handke empfand damals »Seelenverwandtschaft, eine bleibende«; »nie mehr« habe er seitdem »so stille, träumerische und, gerade im Abstand voneinander so aufeinander bezogene, nein eingestimmte Menschen« gesehen. Der hohe Ton scheint anzudeuten, daß es ihm ernst ist. Auch die Kritik (Georg Hensel, Günther Rühle) fällte seinerzeit über Barlach, Bauer und Zeidler enthusiastische Urteile.
Handke will an »Erzadern« rühren, er will den Boll in eine französische Fassung transponieren, vielleicht auch in eine slawische Sprache (Le Boll Bleu; Modri Boll). Je größer die Wut, mit der er zu Werke geht und seinen Boll in eine andere Welt hinüberhorchen läßt, desto mehr käme das dem Furor des Stückes zugute. Suhrkamp sollte sich das Angebot nicht entgehen lassen.
Bereits der Verlagsgründer – er wußte noch nichts von der vielberedeten »suhrkamp culture« – hatte sich dereinst die ehrwürdigsten Verdienste um Barlach erworben. Aus den zur Verramschung bestimmten Buchbeständen des zwangsweise aufgelösten jüdischen Verlags Paul Cassirer rettete Peter Suhrkamp 1936 elf Barlach-Titel, darunter den »Blauen Boll«.
Auf Barlachs Gedächtsnismale sind schon vor 1933 Anschläge von rechts verübt worden. Die ihm nach Hindenburgs Tod von Freunden dringend angeratene Mitunterzeichnung einer Stellungnahme zur Zusammenlegung des Reichskanzler- und des Reichspräsidentenamtes sollte ihm eine Atempause verschaffen, aber die Diffamierungen nahmen unvermindert ihren Fortgang. Barlach verfluchte nachträglich dieses einzige Zugeständnis gegenüber dem Regime; ein sarkastisch gezeichnetes »Bild des derzeitigen Staatsoberhauptes im Rahmen des vor kurzem allverehrten Vorgängers« verleibte er seinem Romanmanuskript »Der gestohlene Mond« ein.
Noch vor der Aktion gegen die »entartete Kunst« – nach neuesten Forschungen konfiszierte man über 600 seiner in Museen befindlichen Werke – wurde ein von Barlachs Jugendfreund Reinhard Piper liebevoll konzipierter Band mit Zeichnungen beschlagnahmt. Da man Barlach aber, von der Herkunft her, keine Spur mißliebigen Blutes in den Adern nachweisen konnte, war sein literarisches Werk zwar unerwünscht (Aufführungen wurden abgesetzt), aber nicht von vornherein zu verbieten.
Auf diesem schmalen Grat hat sich Peter Suhrkamp furchtlos bewegt; er veröffentlichte über den Tatbestand der Übernahme Barlachs in den Verlag 1936 eine Annonce und hielt die elf Buchausgaben in seiner Backlist vorrätig. Wiederholt hat er Barlach gebeten, ihm auch neue Werke zu übergeben, hat ihn, zusammen mit Gottfried Bermann-Fischer, in Güstrow persönlich aufgesucht. In der von ihm redigierten »Neuen Rundschau« druckte Suhrkamp 1934 ein Prosastück »Der Güstrower Dom«, versehen mit der Widmung »Für Ernst Barlach« – ein scheinbar winziger Versuch, für den Verfolgten, dem man in Güstrow die Fensterscheiben einschlug, etwas zu tun. Verfasser des kleinen Denkbildes war Barlachs Freund und späterer Nachlaßverwalter Friedrich Schult. Schult publizierte solche auf Herkunft, Landschaft und Alltagsleben bezogene Prosa ohne Blut-und-Boden-Töne sowohl in der Frankfurter Zeitung als auch in Anton Kippenbergs »Inselschiff «. Suhrkamp muß diese Arbeiten fast so geschätzt haben wie die Miniaturen Walter Benjamins, den er ab 1950 verlegte.
[...]
SINN UND FORM 2/2013, S. 267-271
Klein, Georg
Niedersachse auf Zeit. Dankrede zur Verleihung des Niedersächsischen Staatspreises 2012, S. 272Kadivar, Pedro
Landschaften des Exils, S. 274
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3/2013
Heft 3/2013 enthält:
Kertész, Imre
Tagebuch 2001-2003, S. 293Ritter, Henning
Freundschaft, S. 315Meckel, Christoph
Naftali Bezem, der Maler, S. 325Als ich Naftali Bezem zum erstenmal besuchte, hatte er neun oder zehn Jahre in Basel verbracht, in kaum nachvollziehbarer Weise wie in Verbannung (...)
LeseprobeMeckel, Christoph
Naftali Bezem, der Maler
Als ich Naftali Bezem zum erstenmal besuchte, hatte er neun oder zehn Jahre in Basel verbracht, in kaum nachvollziehbarer Weise wie in Verbannung allein, private Isolation, die keinen politischen Anlaß, keine künstlerische Notwendigkeit zu erkennen gab. Er arbeitete und wohnte in einem Backsteinkomplex voller Werkräume, Ateliers und Büros, nicht weit von der Rheinpromenade auf der Kleinseite Basels. Sein Studio und Privatraum war grau vom Nordlicht und Durcheinander der Dinge. Er hatte immer Zeit, war immer allein, gedrungene Gestalt, schwer beweglich, prallbäuchig, leicht schwankend auf krummen Beinen, Sancho Pansa ohne Maultier und Don Quichote, vogeläugig, scharf blickend, in charmanter und heftiger Weise gesprächig, sein Lachen war Spott und Gelächter, leise, halblaut, laut, und war ein Auslachen, krähende, krächzende Ironie. Naftali, der Kurzgewachsene, schien sich zu amüsieren, wenn großen Männern, prachtvollen Gestalten ein Pech passierte, wer in den Dreck flog, bekam seinen Frohsinn zu spüren. Es geschah ohne Bösartigkeit, es war sein Spiel, bescheidene Gerechtigkeit, die Naftali für sich beanspruchte, durchtriebene Unschuld eines Bucklicht Männleins, in Gestalt eines schwerbeladenen alten Juden.
Es war Asher Reich, der mich auf Durchreise aus der Innerschweiz anrief und in rauhem, jiddisch-anarchischem Straßendeutsch beschwor: Besuch ihn, besuch ihn! Er kennt dich! Und ich: Wie kann er mich kennen, ich kenne ihn nicht. Und Asher: Hat er was gesagt von Moèl – kennst du nicht Moèl? Ich schrieb an den unbekannten Naftali Bezem nach Basel, schickte eine Radierung des Zyklus Moèl, der 1959 veröffentlicht worden war, und erhielt von ihm daraufhin eine Monographie seiner Malerei und eingelegt eine Lithographie mit den Zeilen: »Lieber Christoph, Danke für Deinen Moèl und den beigefügten Brief. Ich freue mich auf Dein Besuch, alles Gute, Dein Naftali der Dich immer gesucht hat.« Ein paar Tage später fuhr ich zu ihm nach Basel.
Badischer Bahnhof – neben den dunklen, alten Bahnhofshallen Paris – Gare du Nord, Gare d’Austerlitz, Gare de Lyon – die mir von Kind an vertraute, persönliche Station Europas. Durch den Badischen Bahnhof her und hin war mir Zukunft, Hoffnung, Freundschaft entgegengekommen wie nirgends sonst, hier konnte ich Deutschland verlassen, wann immer ich wollte, und mit ganz anderen Leuten sorglos sein. Asher Reich hatte mitgeteilt, daß DIE KUNST VON NAFTALI bedeutend in Israel sei und die offenbar bekannteste weltweit seit Gründung des Staates. Sie dekorierte die Eingangshalle des Präsidentenpalastes in Jerusalem und als Metallrelief – mit der Allegorie des judaischen Löwen – den Vorraum von Yad Vashem.
*
Wenn ich einen halben oder ganzen Tag bei ihm in Basel gewesen war, fuhren wir am Abend mit der Tram zum Badischen Bahnhof, Naftali begleitete mich durch lange, hallende Gänge, an nicht mehr besetzten Zoll- und Kontrollkiosken vorbei auf den Bahnsteig und wartete mit mir in einem Cafeteria-Container auf meinen Zug. Seine kleine, massive Gestalt blieb winkend im Zwielicht der Halle zurück, sein Gesicht schien von Ernst verschlossen, er lächelte nicht.
Bahnhöfe machten auf ihn einen starken Eindruck. Ungewißheit schien ihn zu befallen, die eigene Neugier befremdete ihn, er sprach halblaut, verstummte, hielt sich mit kurzen Schritten an meiner Seite, und ich verspürte in ihm Befürchtung und Zweifel. Etwas Nichtgeheures hinderte ihn, sich allein in Bahnhöfen aufzuhalten.
Ich holte ihn mit dem Wagen in Basel ab, brachte ihn durch das Markgräflerland auf Nebenstraßen nach Freiburg, zeigte ihm Orte und Häuser, die ich kannte, brachte ihn an den Abenden zum Zug nach Basel, besorgte sein Ticket – er selbst schien außerstande, ein Ticket zu kaufen –, blieb auf dem Bahnsteig zurück und winkte, wie er in Basel zurückblieb und winkte. Spät in der Nacht wurde telefoniert und mit Genugtuung festgestellt, daß er ohne Probleme durch den Badischen Bahnhof und danach mit der Tram und zu Fuß nach Hause gekommen war.
Als ich ihn einmal bitten mußte, allein mit dem ICE nach Freiburg zu fahren, löste die Bitte in ihm Erschrecken aus. Wie einem angstvollen, kopfscheuen Kind mußten ihm in endlosen Telefonaten die Unsicherheit und die Furcht genommen werden. Mit dem ausgesuchten ICE kam er nicht an. Er hatte sich auf einen falschen Bahnsteig verirrt und war in einem REGIONALEXPRESS von einer kleinen Station zur nächsten, zwei ungewiß endlose Stunden nach Freiburg getuckert worden. Unglücklicher, erleichterter Naftali, entgeisterte Augen. Es waren wohl nicht nur die Bahnhöfe und die Züge. Um sich in Deutschland orientieren zu können, brauchte er, schien mir, die Gegenwart eines Menschen, der ihm vorausging in einer Schneise.
*
Sulzburg, eine kleine, einstmals christlich-jüdische Landstadt in den Vorbergen des südlichen Schwarzwalds. Ich wollte ihm den Jüdischen Friedhof zeigen, wir fuhren im Wagen hin. Er liegt in alt vorgeschriebener Entfernung vom Ort an einem Berghang im Mischwald, ein starker Bergbach strömt vorbei. Vor dem Friedhofstor wurde ein Campingplatz eingerichtet. Man durchquert ihn zu Fuß, um in den Friedhof zu kommen.
Entlang einer steilen Treppe aus schiefen Steinen, auf mehreren Terrassen vergrast und verfallen im Zwielicht, steigt der Grabsteingarten – einstmals ein Totenpark – hoch in den Wald und verliert sich unter bemoosten Bäumen. Die Schriften der ältesten Gräber sind nicht zu entziffern, die Steine grün und schwarz von Moder, versinken in Erde und Laub. Es gibt keine Steine mehr auf den Böden des Friedhofs, sie liegen in Haufen und einzeln auf den Gräbern. Stimmen der Vögel, wenn das Camping außer Betrieb ist, tiefe Ruhe. Eine neue Stele in der Nähe des Eingangs trägt die Inschrift: »Den Opfern der Judenverfolgung von 1933–1945 gewidmet und dem Gedenken der Juden von Sulzburg und Staufen, die schutzlos preisgegeben den Tod für ihren Glauben erlitten.« (1970)
Hier wurden Mitte der dreißiger Jahre die letzten Toten der Jüdischen Gemeinde beerdigt. Aus Sulzburg stammte Gustav Weil, ein Jude, der das Gegenteil eines Juden sein wollte, Arabisch lernte, in Kairo lebte und als erster die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht vollständig ins Deutsche übersetzte. Das Leben der Juden, die mit den Christen gemeinsame Arbeit – der Wein, das Vieh, das Holz und ein Bergwerk – wurden rabiat und schnell zerschlagen, die Juden nach Gurs deportiert.
Ich sagte: – die den Tod für ihren Glauben erlitten und das Camping vorm Friedhof, das ist deutsche Kultur.
Naftalis Lachen war unfroh, doch schien dieser Satz ihn kaum zu erreichen. Wann warst du zum letztenmal auf einem Jüdischen Friedhof? Er gab keine Antwort, stieg schnell, ohne Vorsicht die steilen, schiefen Stufen hinauf, verschwand im Halbdunkel zwischen Gräbern und Sträuchern, kam dann langsamer, doch ohne Vorsicht die Stufen wieder herunter, stand zwischen Gräbern und starrte mich an, als wüßte ich nichts von diesem Ort. DAS IST DOCH, WOHER ICH KOMME! Ein geflüsterter Ruf, ein Schrei.
Naftali, der gern im Auto lachende, rücksichtslos schwadronierende Ausflügler war während der Weiterfahrt still. Monate später sagte er: ich kann den Ort nicht vergessen.
*
In seiner Wohnung in Basel sah ich Fotografien seiner Frau Hannah an der Wand, andere nahm er aus Büchern, Mappen und Kästen, die er, am Tisch sitzend, mit der ausgestreckten Hand erreichen konnte. Hannah war eine große, schöne, sportlich trainierte Frau. Er hatte als Lehrer für Kunst und junger Dozent auf Zypern und in Tel Aviv mit ihr zusammengearbeitet. Sie war eine Tochter russischer Immigranten der ersten Generation von Einwanderern. Er selbst sah sich als EINEN DER LETZTEN, DIE DORT – in Europa – GEBOREN UND NACH EREZ ISRAEL GEKOMMEN WAREN. Nach der Geburt ihres zweiten Sohns wurde PARKINSON bei ihr diagnostiziert. Naftali brachte sie nach Deutschland, in ein Klinikum in Freiburg. Eine Operation, die nicht wiederholt werden konnte, rettete ihr Dasein für zehn Jahre.
In einer kleinen Buchhandlung in der Salzstraße in Freiburg entdeckte Naftali die Bildergeschichte des Moèl, die ich 1958 gezeichnet, 1959 veröffentlicht hatte. Er kaufte das Buch, nahm es überall hin mit, nach Israel, nach Paris und zuletzt nach Basel. Er liebte Moèl und den Fisch und brauchte sie. Bei meinem ersten Besuch zeigte er mir das alte Exemplar voll von Flecken und Eselsohren.
BEHOLD! I DO NOT GIVE LECTURES, OR
A LITTLE CHARITY: WHEN I GIVE,
I GIVE MYSELF.
(Walt Whitman)
»Dies ist die Geschichte von Moèl und seinem Fisch, sie ist in der Bildersprache geschrieben. Vor Zeiten ging es Moèl gut, er lebte angenehm. Aber das Angenehme brachte ihm nichts ein, das Unbekannte lockte aufzubrechen. Da machte sich Moèl an sein Leben schwarzen Glücks.
Seine Tage sind nicht gezählt, und er besitzt nichts außer seinem Fisch; er ist weder arm noch reich und steht in niemandes Dienst. Es geht ihm besser als dem Bauern Sancho Pansa, der sich bitter beklagt, daß er das von Don Quichote versprochene Königreich nie bekommen hat, denn Moèl ist nie etwas versprochen worden, nicht einmal ein verwilderter Rübenacker. Daher wird Moèl nichts fordern oder erwarten, aber alles erobern und sich anverwandeln, was er an Welt und ihren wechselnden Bildern findet. Er wird durch die Länder und Labyrinthe, Bestürzungen und Niederlagen, Tollheiten und Schwänke bis an die großen Seen der Träume kommen. Er wird Licht und Schatten queren und ein König heimlich gesicherter Schätze sein, für die man keine Häuser baut, und er wird reich sein in dem Bemühen, ohne Fesseln zu leben.
Unterwegs hat Moèl manchen Freund gefunden. Er lacht, wenn der eine von ihnen in einer Bretterbude überm Abgrund balanciert und sein Stöckchen schwenkt. Er erinnert sich auch, mit manchem unentbehrlichen Taugenichts auf derselben Landstraße getippelt zu sein. Er hat mit dem, der die Welt entsetzlich fand und sich dafür bedankte, ein paar Zwischenblicke des Einverständnisses ausgetauscht. Er ist dem, der sein Gauklergewand zerfetzte, an den Ecken zugiger Boulevards begegnet. Und einmal hat er einen Mann das Lied von der Freundlichkeit der Welt singen hören; das hat Moèl nicht mehr vergessen können.
Hellwach schlafwandelt Moèl von einem Land in das andere. Was er erlebt ist unwirklich, aber wahr. Er füllt, was er leer findet, und leert das Volle. Er erfährt, daß weder sein Schatten, sein Fisch noch sein Traum, weder sein Schuh noch seine schöne Magelone wirklich ihm gehören, und er richtet sich darauf ein. Er nimmt sein Leben in die Hand und geht brüderlich mit ihm um. Er liebt es und tut alles, um es instand zu halten. Er schuldet ihm nichts, das hofft er.
Man wird ihn foltern, erniedrigen und um jegliche Würde bringen. Man wird ihn das Fürchten lehren. Zorn, Erschöpfung und Grimasse, das Große Gelächter und der letzte Schmerz werden ihn treffen. Aber man wird ihn nicht vernichten können. Moèl, geschunden, zerschlagen und betäubt, wird von neuem zu leben anfangen.«
Naftalis Fisch ist Gegenstand der Malerei, Geschwistergeschöpf des Moèl, jüdisches Lebewesen und Symbol, das über die Kraft der Verwandlung verfügt. Er kann als Luftgestalt erscheinen, als Flucht- und Flugtier, befrachtet mit Zauberzeug und Kram des Lebens. Er hat eine Zunge und schreit.
[...]
SINN UND FORM 3/2013, S. 325-329
Sacks, Oliver
Erinnerung, sprich, S. 341Grethlein, Jonas
Von Platon zu Avatar. Ästhetische Erfahrung, antik und modern, S. 351Bürger, Peter
»Heillos nach außen gekehrt«. Rilkes mimetisches Erleben, S. 362Hofmann, Werner
Meine Wege zu Cassirer. Eine Skizze, S. 371Glaßer, Marianne
Die Farben der Wörter, S. 380Thill, Hans
Gedichte, S. 384Böhme, Thomas
In den Freihäfen des Schlafs. Gedichte, S. 388Schmidgall, Renate
Gedichte, S. 393Drawert, Kurt
Diktatur der Sprache. Sprache der Diktatur. Elf Versuche zu Victor Klemperer, S. 395Frahm, Thomas
»Ein guter Mann, leider gehört er nicht zu uns«. Georgi Markovs Exilreportagen über Bulgarien, S. 406Am 15. Juni 1969 setzte sich Georgi Markov, erfolgreicher Autor von Romanen, Novellen, Erzählungen, Drehbüchern und Theaterstücken – nicht zu (...)
LeseprobeFrahm, Thomas
»Ein guter Mann, leider gehört er nicht zu uns« Georgi Markovs Exilreportagen über Bulgarien
Am 15. Juni 1969 setzte sich Georgi Markov, erfolgreicher Autor von Romanen, Novellen, Erzählungen, Drehbüchern und Theaterstücken – nicht zu verwechseln mit dem russischen Romancier Georgi Mokejewitsch Markow –, nach der abgebrochenen Vorpremiere seiner Komödie »Ich war Er« ans Steuer seines BMW 1800 und verließ auf Anraten Stefan Tsanevs die bulgarische Hauptstadt Sofia in Richtung der jugoslawischen Grenze. Tsanev, selbst Dramatiker, war Mitglied des künstlerischen Beirats, der über Annahme oder Ablehnung des Stücks zu entscheiden hatte. Er befürchtete Schlimmes von den Genossen in der Kommission und empfahl seinem Freund, Bulgarien für eine Weile zu verlassen, bis sich die Aufregung gelegt hätte. Markov beschloß, die Gelegenheit für einen seit langem geplanten Besuch bei seinem jüngeren Bruder Nikola zu nutzen, dem er dank seiner Privilegien als Mitglied des Bulgarischen Schriftstellerverbands bei der Ausreise nach Italien hatte helfen können. Nun fuhr er also selbst in die Emigration. Er ahnte nicht, daß er seine Heimat nie wiedersehen würde. Und auch nicht, daß er mit seinen vierzig Jahren keine zehn Jahre mehr zu leben hatte.
Bei dem handverlesenen Publikum war die geschlossene Vorstellung im Satirischen Theater Sofia ein voller Erfolg gewesen. Doch so unbändig man im Parkett über die Dummheit und Kriecherei des Helden gelacht hatte, der sich wegen seiner beflissenen Parteitreue vor Säuberungen sicher wähnte, so unbändig war die Wut der Funktionäre auf den Rängen. Schließlich hatten sie die Aufführung gestoppt.
Für Georgi Markov war es nicht die erste Erfahrung dieser Art. Der wegen seines Gespürs für Themen der Zeit von den Sozialisten umworbene Autor war damit beauftragt worden, zum 25. Jahrestag der kommunistischen Machtergreifung mit zwei älteren, in Bulgarien berühmten Kollegen ein Stück zu schreiben, um die Rolle der bulgarischen Partisanen propagandistisch ins rechte Licht zu setzen. Die Machthaber versuchten damals mit allen Mitteln, der patriotisch gesinnten Bevölkerung klarzumachen, daß der »Sieg über den Faschismus« 1944 nicht durch den Einmarsch der Roten Armee erzwungen, sondern maßgeblich vom eigenen Volk erkämpft worden sei. Die Autoren erhielten sogar Zugang zu geheimen Parteiarchiven. Markovs Kollegen wurde die Sache bald zu heikel; sie traten von dem Auftrag zurück. Er selbst hingegen, der bodenständige Idealist, eingeschworen auf die Wahrheit, die erfahrungsgemäß immer vom Ideal abwich, ging ein halbes Jahr lang täglich ins Archiv und vertiefte sich in Vernehmungsprotokolle. Die Partisanen waren oft im Gefängnis gewesen und gefoltert worden, weil Bulgarien im Frühjahr 1941 Hitlers Dreimächtepakt beigetreten war und letztlich den Weisungen aus Berlin zu folgen hatte. Doch die Männer, deren Aussagen Markov zu lesen bekam, waren meist naive Habenichtse, Draufgänger, Abenteurer, Verbrecher. Was also tun, um nicht selbst den Kopf in die Schlinge zu legen?
Markov beschloß, sich jeder Deutung zu enthalten und sein Stück »Kommunisten « fast ganz aus Zitaten zu montieren, eine Technik, mit der er auch aus westlicher Sicht auf der Höhe der Zeit war. Doch den hohen Genossen gefiel das ganz und gar nicht, so daß sie das bereits inszenierte Stück vom Spielplan nahmen.
Ohne den Prager Frühling, an dessen Niederschlagung im August 1968 sich Bulgarien mit der Entsendung von Wachtruppen beteiligt hatte, wäre man vielleicht weniger empfindlich gewesen. Doch der Aufstand der Tschechen und Slowaken unter Dubček war allen noch im Gedächtnis, und in den oberen Etagen der Macht regierte die Angst. Das Beben in Prag hatte in den Satellitenstaaten der Sowjetunion unerwartet starke Druckwellen ausgelöst, auch im angeblich moskauhörigen Bulgarien. Der Westen pflegte die Shivkov-Regierung mit der Bevölkerung gleichzusetzen, doch davon konnte, wie sich seit der Öffnung der Staatsarchive 2007 gezeigt hat, keine Rede sein. Auch in Bulgarien gab es aufmüpfige Intellektuelle und Bürger mit Zivilcourage, die die Kommunisten daran erinnerten, daß sie mit der Unterzeichnung des Pariser Friedensvertrags am 10. Februar 1947 auch die Menschenrechte anerkannt hatten, und der Führung mit regimekritischen Aktionen das Leben schwermachten. Die im Gefolge der Entstalinisierung gelockerten Zügel wurden wieder angezogen, die Zensur verschärft, die Staatssicherheit, vor allem die Politische Polizei, massiv aufgerüstet. Eine Komödie über die Unterdrückungsmechanismen der Partei konnte man nun wirklich nicht gebrauchen.
Rückblickend ist man erstaunt, wie viele »Fehlversuche« man Markov durchgehen ließ, ehe Shivkov geseufzt haben soll: »Ein guter Mann, leider gehört er nicht zu uns.« Man kann sagen, daß sein ganzer Erfolg auf einem Mißverständnis beruhte. Gegen den Kommunismus an sich hatte er nichts, wohl aber dagegen, wie diese Idee von einer machtgierigen Clique instrumentalisiert und zur eigenen Bereicherung benutzt wurde. Markov war nicht auf herkömmlichem Wege Schriftsteller geworden, sondern hatte nach dem Abitur Chemie studiert und anschließend als Chemieingenieur gearbeitet. Seine Entscheidung für die Literatur hatte aber wohl nicht nur mit seinem Interesse an den Künsten zu tun, sondern auch mit der 1948 diagnostizierten Tuberkulose, einer Armutsfolgeerkrankung, die im erst von der Wehrmacht, dann von der Roten Armee heimgesuchten und schließlich von Reparationen gebeutelten Bulgarien grassierte. Markovs Odyssee durch Sanatorien dauerte mit Unterbrechungen fünfzehn Jahre; viel Zeit nicht nur zum Lesen und zu ersten Schreibversuchen, sondern auch, um von anderen Kranken unzählige Geschichten zu hören und ihre Liebe zum Leben und zur Wahrheit kennenzulernen. 1958 wurde er, der mittlerweile Berufsschullehrer am Keramischen Polytechnikum war, mit 29 frühpensioniert. Seither legte Markov eine geradezu beängstigende literarische und publizistische Produktivität an den Tag.
Schon sein erster Roman »Das Dach« (1959) über den Ausbau des später in Stomana umbenannten Metallurgiekombinats Lenin in Pernik westlich von Sofia behandelte die Kluft zwischen Propaganda und Wirklichkeit. Markov schilderte nicht die heroischen Leistungen eines Volkes, das für den Sozialismus über sich hinauswuchs, sondern den (tatsächlich geschehenen) Einsturz des unsachgemäß erbauten Dachs der neuen Produktionshalle. In der Volksrepublik Bulgarien bestimmten nämlich nicht Fachleute, was und wie gebaut wurde, sondern Parteileute, die die jeweilige Parteilinie notfalls auch gegen jede produktionsökonomische Vernunft durchsetzten. Markovs Roman wurde kurz vor der Auslieferung zurückgezogen und eingestampft. Erst 2007 gab ihn der Siela-Verlag in Sofia neu heraus.
Wie groß der Bedarf an politisch glaubwürdigen Schriftstellern war und wie sehr insbesondere Todor Shivkov bereit war, sie zu hofieren, zeigte sich daran, daß Markovs nächster Roman »Männer« vom Bulgarischen Schriftstellerverband 1962 zum »Roman des Jahres« gekürt wurde. Zudem erhielt er für seine Schilderung dreier Männer, die vom Wehrdienst zurückkehren und sich mit gesellschaftlichen Unzulänglichkeiten und Zwängen herumschlagen, die Vollmitgliedschaft im Verband, während andere selbst auf den sogenannten Kandidatenstatus oft jahrelang warten mußten. Markov hatte zeigen wollen, wie fatal sich die von den Parteikommunisten geweckte Doppelmoral auswirkte, weil sich keiner mehr für seine Arbeit verantwortlich fühlte; die Partei aber fand in dem Roman den Beweis, daß nicht das System den Menschen verderbe, sondern der Mensch noch nicht reif für das System sei! Mit anderen Worten: Mißstände waren für sie nicht strukturell, sondern individuell bedingt und rechtfertigten daher die Mittel, welche die Partei zur Erziehung des neuen, sozialistischen Menschen für angezeigt hielt.
Was die Mitgliedschaft im Bulgarischen Schriftstellerverband bedeutete, kann man sich heute kaum mehr vorstellen; es ging erheblich über das in den Verbänden der sozialistischen Bruderländer Übliche hinaus. Zu den Privilegien gehörte die Möglichkeit, einen Reisepaß zu erwerben, wodurch es Markov überhaupt erst möglich wurde, Bulgarien 1969 zu verlassen. Zudem wurde dem Autor eine Festanstellung als Redakteur garantiert. Markov erhielt eine Halbtagsstelle beim Verlag Narodna Mladezh (Volksjugend), die aber wie eine Vollzeitstelle bezahlt wurde. Für Buchprojekte konnte man eine halbjährige, durch ein Stipendium zusätzlich geförderte Auszeit beantragen und sich in die Ferienheime des Schriftstellerverbandes in den Bergen oder am Schwarzen Meer zurückziehen, wo man für eher symbolische Beiträge in Vollpension lebte. In Sofia wurde Verbandsmitgliedern selbst während der größten Wohnungsnot (infolge der Bombardierung durch die Alliierten 1944 und des starken Zuzugs vom Land) eine standesgemäße Wohnung zugeteilt. Ein Privat-Pkw, auf den Normalbürger oft mehr als zehn Jahre warten mußten, sofern sie das Geld zusammensparen konnten, war kein Problem, und im Verbandsrestaurant gab es Dinge zu essen und zu trinken, von denen das Proletariat bestenfalls träumen konnte. Die Finanzierung des Verbands erfolgte nicht nur durch staatliche Zuwendungen, sondern auch dadurch, daß vom Ladenpreis jedes in Bulgarien verkauften Buches zwei Prozent abgezogen wurden, ganz gleich, ob dieses von einem bulgarischen oder von einem ausländischen Autor, einem Verbandsmitglied oder einem »freien« Schriftsteller stammte.
Doch das vielleicht größte Privileg bestand darin, daß der Beitritt selbst als Universitätsabschluß gewertet wurde, so daß man sich für höhere Aufgaben in der staatlichen Verwaltung bewerben oder Universitätsdozent werden konnte. Der Bulgarische Schriftstellerverband war also keine gewerkschaftsähnliche Interessenvereinigung wie der deutsche VS und auch kein einfacher Berufsverband, sondern ein unmittelbar dem Politbüro unterstellter staatlicher Arbeitgeber mit Behördenstatus, vergleichbar mit einer Fakultät an einer staatlichen Hochschule oder einem Ministerium.
Markovs Freude am Erfolg, an Begegnungen mit Vertretern des Zentralkomitees, des Politbüros, mit Stasi-Mitarbeitern und anderen einflußreichen Vertretern der Nomenklatura ist schlecht zu verstehen, wenn man sein früheres Leben nicht berücksichtigt, das alles andere als den Aufstieg in die höchsten Kreise verhieß. Geboren wurde Georgi Ivanov Markov am 1. März 1929 in Knyazhevo, einem kleinen Vorort (heute Stadtteil) von Sofia, der sich an das Witoscha- und das Ljulingebirge schmiegt. Sein Vater war Feldwebel, ein strenger und unnachsichtiger Patriarch. Sein Vetter Ljuben Markov erzählte dem bulgarischen Filmemacher und Produzenten Alexander Donev 2011 eine Anekdote aus der Kindheit des Autors: »Georgi hatte schon als Kind einen starken Hang zu Büchern. Ich kann davon erzählen, wie sein Vater eines Morgens um fünf aufstand und Georgi in der Küche beim Lesen ertappte. Aber wie: Die Glühbirnen waren damals schwach, und so hatte Georgi einen Stuhl auf den Tisch gestellt, um gleich unter der Lampe zu sein. Er hatte die ganze Nacht nicht im Bett gelegen. Sein Vater fragte: ›Warum lebst und schläfst du nicht wie normale Leute?‹ Dann nahm er Georgis sämtliche Bücher und warf sie in den Ofen!«
Doch Vorwürfe oder gar Spuren eines Traumas sucht man in den erhaltenen Briefen Markovs an die Eltern vergeblich. Er beugte sich dem Wunsch des Vaters, er möge einen praxisnahen Beruf erlernen, und wäre vielleicht auch dabeigeblieben, hätte die Tuberkulose ihn nicht aus der Bahn geworfen.
[...]
SINN UND FORM 3/2013, S. 406-410
Markov, Georgi
Zwei Erzählreportagen, S. 415Aleksić, Dragan
Claudio Magris in Bela Crkva, S. 428Es ist leicht Claudio Magris, Professor für deutschsprachige Literatur an der Universität Triest und Verfasser mehrerer Essays und Romane, (...)
LeseprobeAleksić, Dragan
Claudio Magris in Bela Crkva
Es ist leicht
Claudio Magris, Professor für deutschsprachige Literatur an der Universität Triest und Verfasser mehrerer Essays und Romane, verbrachte auf der Suche nach Material für sein Donau-Buch vier Tage in Bela Crkva.
Zusammen mit ihm kam in die Stadt, in der sie geboren war, in der sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, viermal verheiratet und viermal verwitwet war (zwei ihrer Ehemänner hatte sie geliebt, die anderen beiden geduldig ertragen, Kinder hatte sie keine), die achtzigjährige Frau Anka, seit Jahrzehnten wohnhaft in Triest. Magris nannte sie Großmutter Anka und behandelte sie mit Sympathie und großem Respekt.
Diese feine, resolute und noch rüstige alte Dame, Tochter des reichen Kaufmanns Milan Vuković, der aus Liebe zu Ungarn seinen Namen Vukovics schrieb, erzählte Professor Magris (sie sprach ihn mit »lieber Claudio« und »lieber Professor« an) und mir ("junger Herr«) von den alten Zeiten in Bela Crkva. Sie tat es vor- und nachmittags von Donnerstag bis Sonntag, während wir durch die Stadt schlenderten und Sehenswürdigkeiten besichtigten. Professor Magris und ich hörten dabei aufmerksam zu und notierten alles eifrig. Nach dem Abendessen kommentierten wir beide bis spät in die laue Nacht im Garten des Restaurants »Klub« Großmutter Ankas Geschichten und tauschten unsere Eindrücke aus. Wir fragten uns, wer von uns beiden und in welcher Form aus ihnen »Literatur« machen würde.
Dem
Einmal saßen wir auf der Terrasse des Restaurants »Park« zwischen der Post und der Bank. Ich las die Zeitung und blickte hin und wieder zu dem in seiner Frühlingspracht schönen Park und zum Musikpavillon in seiner Mitte. Professor Magris bemerkte, er habe in Ungarn und Österreich viele solche Pavillons gesehen. Mit kleinen Buchstaben schrieb er eine Ansichtskarte an seine Frau:
Liebe Marisa,
ich schreibe Dir aus Bela Crkva, der Stadt, die auch Fehertemplom und Biserica Alba heißt und früher auch noch Weißkirchen genannt wurde. Von diesem »Früher« erzählt uns sehr schön Großmutter Anka. Sie ist ganz der Vergangenheit zugewandt (für sie hieß dieses Restaurant, in dem ich gerade an Dich denke, »Café Stadt Wien«). Ich hingegen bin ganz Dir zugewandt. Der junge Schriftsteller, mit dem mich Großmutter Anka bekannt gemacht hat ("damit er mir Gesellschaft leistet«), ist ein aufmerksamer Zuhörer und mir ein guter Führer. Mehrmals hat er mich zum nahegelegenen Dorf Stara Palanka gebracht, wo die Donau die größte Breite auf ihrem ganzen Lauf aufweist. Dort münden der Donau-Theiß-Kanal und ein Fluß mit dem schönen Namen Nera in sie. Dort befindet sich das Dreiländereck Banat–Serbien–Rumänien. An der Stelle weht ein schwerer Wind, schwer wie Schmerz.
Viele Küsse für Dich, Francesco und Paolo.
Euer Claudio
Etwas
Während eines Spaziergangs am Vormittag zeigte uns Großmutter Anka ein orangenfarbenes Haus, in dem Lazar Lungu gewohnt hatte, der größte Schweinehändler des Unteren Banats. Er wollte sie heiraten. »Willst du dein Leben mit Schweinen verbringen, Anka?« fragte ihr Vater sie. »Geld bedeutet viel, sehr viel, aber nicht alles. Such dir einen jungen Mann aus, der dir gefällt, und ich kauf ihn dir.«
In einer Nachbarstraße stand ein großes grünes Haus, in dem Rechtsanwalt Cimer mit seiner Frau gelebt hatte. Sie war die Geliebte von (Großmutter Anka zählt nachdenklich an den Fingern ab) Doktor Putnik, Rechtsanwalt Rajkov, Apotheker Schlezer, Oberst Nemet …
In einem ockerfarbenen Haus mit drei gewöhnlichen und zwei Erkerfenstern lebte früher der alte Tipovajler, Gemeinderatsmitglied und häufiger Gast in Oma Ankas Haus. – »Ein feiner Herr«, sagt sie. 1914, gleich nach dem Ausbruch des Kriegs mit Serbien, kamen eines Nachts führende Deutsche aus Bela Crkva zusammen, um über die Beseitigung der angesehensten Serben zu beratschlagen, die man daran erkennen konnte, daß an ihrer Haustür ein zum Johannestag geflochtener Kranz aus Nelken und gelben Blumen hing. Der Vorschlag fand schnell die Zustimmung der Mehrheit, dann aber ergriff der alte Tipovajler, bekannt für seinen gesunden Menschenverstand, das Wort. Auch er sei dafür und finde die Idee gut, sagte er, wies aber darauf hin, daß Bela Crkva nahe der serbischen Grenze liege. Im Falle, daß das serbische Heer die Stadt im Sturm erobere, müsse man damit rechnen, daß die dort lebenden Deutschen zur Vergeltung liquidiert würden. Daraufhin löste sich die nächtliche Versammlung friedlich auf.
Hinzuzufügen
Ich führte Professor Magris zu den Drei Kreuzen, damit er von dort Bela Crkva, die blauen Karpaten in der Ferne und den schmalen Silberstreifen auf der Donau sah; zu der russischen, der rumänischen, der evangelischen, der katholischen und der orthodoxen Kirche; zum katholischen Friedhof, wo ich ihm die Grüfte der italienischen Familien Testeroni, Gaudencio, Duranti, Morone zeigte, die man im letzten und vorletzten Jahrhundert aus Triest nach Bela Crkva geholt hatte, um die Seidenproduktion voranzutreiben.
Wir suchten das Grab der Dichterin Maria Eugenia delle Grazie auf, der traurigen und einsamen Nachtigall der »kleinen weißen Stadt« im Banat. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besang diese zurückgezogene und neurotische, zur völligen und beinahe pathologischen Einsamkeit verurteilte Lyrikerin ihre kleine Heimat, den Eisenbahner, der den Namen der Station in verschiedenen Sprachen ausrief, die Konditorei »Turoczi«, für die sie in ihrer Kindheit schwärmte, den mürrischen Herrn Bosić, Inhaber der Gemischtwarenhandlung »Der schwarze Hund«, Frau Radulović, eine bildschöne Serbin, die bei ihren Kutschfahrten durch den Ort allgemeine Bewunderung hervorrief, die berittenen Hajduken, die auf dem Berg begrabenen Janitscharen, die Eisdecke auf der Donau, die zu Frühlingsanfang Risse bekam.
Großmutter Anka zeigte uns das orientalisch anmutende Mausoleum von Präsident Popescu, die prachtvolle Gruft des steinreichen Boboroni, der Müttern Geld gab, damit er deren Töchter entjungfern durfte, und der mit 23 Messerstichen getötet wurde, sowie die Kapelle, die der Apotheker Schmitz jeden Abend aufsuchte, um seiner dort beigesetzten Frau von Ereignissen des Tages zu berichten und sie um Rat zu fragen.
Was
Šešerko war sehr reich, seine Villa stand am Hauptplatz, dort, wo sich der Palast des Präsidenten Popescu mit seiner prachtvollen Kuppel, der Pavillon des ungarischen Garnisonskommandeurs, der Offiziersklub und das Realgymnasium, eines der besten im Königreich Ungarn, befanden. In dieser Villa lebte in einem zimmergroßen Käfig ein Papagei, der singen konnte. Wenn Kinder ihn auf Deutsch baten, etwas zu sagen, schlug er das ebenfalls in deutscher Sprache mit schwäbischem Akzent zunächst ab, lenkte aber am Ende ein und sang auf Ungarisch ein Stück aus der »Csárdásfürstin«. Wenn man ihn um eine Zugabe bat, weigerte er sich zunächst, wieder auf Deutsch, um dann dieselbe Arie auf Ungarisch zu wiederholen. Wenn man ihn jedoch zum dritten Mal aufforderte, wurde er ungehalten und antwortete mit dem Götz-Zitat.
Bereits
An einem Nachmittag führte ich Magris in das nahegelegene Dorf Grebenac, wo Vasko Popa geboren wurde. Wir spazierten auf bunten und staubigen Straßen und unterhielten uns über Popas Poesie, über seine Beschwörung barbarischer Winter und uralter Wölfe.
Am Ausgang des Dorfes, hinter dem Hügel Ćitaće, an der Drum mare genannten Straße aßen wir süße weiße und schwarze Maulbeeren von alten, hohlen Bäumen (aus der Zeit, als jedes Haus zehn Maulbeerbäume pflanzen mußte, damit die Nahrung für Seidenraupen gesichert war, als an Straßenrändern nur Maulbeerbäume wuchsen, als das Banat voller Maulbeergärten war, als man die Saat dazu aus Italien und Japan importierte).
Später saßen wir auf dem steilen Ufer des Kanals unter zitternden Espen und betrachteten das schlammige Wasser, das träge in die Donau mündete, und die darin schwimmenden Gänse, deren Hälse grün, blau, rot waren. Unter dem ständigen, unschuldigen, schnellen Flüstern der hellgrünen Blätter trug ich dem Professor das Gedicht über das Banat von Miloš Crnjanski vor.
Erfunden wurde
Drei Monate, nachdem Claudio Magris und Großmutter Anka Bela Crkva verlassen hatten, schickte ich dem Professor einige Erzählungen, zu denen mich Großmutter Ankas Geschichten inspiriert hatten.
Im Frühjahr des nächsten Jahres traf aus Triest ein Päckchen ein. Darin ein Füllfederhalter von Großmutter Anka und folgender Text: »Lieber junger Mann, ich schicke Ihnen diesen über fünf Jahrzehnte alten Füllfederhalter, auf daß Sie mit ihm noch viele schöne Erzählungen schreiben mögen. Da Sie Linkshänder sind, schreiben Sie langsam und warten geduldig, bis die Tinte getrocknet ist. Sie werden bestimmt alles notieren, was Ihnen nachts im Traum zugeflüstert wird.«
Darin war auch das Buch »Donau« von Claudio Magris. Am Ende der langen und herzlichen Widmung stand: Facile est inventis addere.
Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann
SINN UND FORM 3/2013, S. 428-431
Magris, Claudio
Von der Manie zur Utopie. Zur Eröffnung der Eventi Letterari Monte Verità, S. 433Fritz, Thomas
Kafka im Kino. Michael Hanekes »Das Schloß« im Literaturhaus Leipzig, S. 436
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4/2013
Heft 4/2013 enthält:
Braun, Volker
Wilderness, S. 453Eörsi, István
»Lukács war bereit, sein Leben für eine Sache hinzugeben«. Gespräch mit Adelbert Reif und Ruth Renée Reif, S. 463ADELBERT REIF, RUTH RENÉE REIF: Herr Eörsi, Sie bekannten einmal, daß Georg Lukács im intellektuellen und auch im persönlichen Sinne Ihr Leben (...)
LeseprobeReif, Adelbert
Adelbert Reif, Ruth Renée Reif »LUKÁCS WAR BEREIT, SEIN LEBEN FÜR EINE SACHE HINZUGEBEN» Gespräch mit István Eörsi
ADELBERT REIF, RUTH RENÉE REIF: Herr Eörsi, Sie bekannten einmal, daß Georg Lukács im intellektuellen und auch im persönlichen Sinne Ihr Leben mitbestimmt habe und daß Sie wahrscheinlich bis zum Lebensende in der Auseinandersetzung mit ihm stehen würden. Wann sind Sie Georg Lukács zum ersten Mal begegnet?
ISTVÁN EÖRSI: Ich habe Lukács zunächst durch sein Buch über den historischen Roman kennengelernt. Das war 1946. Ich war damals fünfzehn Jahre alt und seine Ausführungen begeisterten mich ungemein. Bis heute bin ich davon überzeugt, daß es einen tiefen Zusammenhang gibt zwischen Weltgeschichte und Genre und daß die persönlichen Lebensprobleme der Autoren nur von der Geschichte her verständlich und entzifferbar sind. Später als Gymnasiast las ich noch eine Menge anderer Bücher von Lukács. Das waren die, die er während des Exils in der Sowjetunion geschrieben hatte, sowie Bücher und Artikel, die in den ersten Jahren nach dem Krieg in Ungarn entstanden waren, als noch – ungeachtet der sowjetischen Präsenz im Lande – eine Demokratie zu spüren war, ein Mehrparteiensystem existierte und in gewissen Grenzen Meinungsfreiheit gegeben war. Die Bücher dienten mir als geistige Wegweiser in einer Zeit politischer und gesellschaftlicher Umbrüche. So wurde ich zu einem Schüler von Lukács, noch bevor ich ihm persönlich begegnete.
REIF: Wo fand die erste Begegnung statt?
EÖRSI: Das war an der Budapester Universität. 1949 begann ich zu studieren. Lukács war Professor für Ästhetik und Kulturphilosophie, und ich schrieb mich in sein Seminar ein. Einige Monate zuvor hatte im Anschluß an den Rajk-Prozeß, einen der großen stalinistischen Schauprozesse, bei dem der Außenminister László Rajk des »Titoismus« angeklagt und zum Tode verurteilt wurde, die Lukács-Debatte stattgefunden. Es herrschte eine Atmosphäre von Furcht und Schrecken und gegen Lukács wurde eine Hetzjagd betrieben. Ihre Ursache habe ich erst viel später verstanden: Solange die aus der Kommunistischen und der Sozialdemokratischen Partei hervorgegangene Partei der Ungarischen Werktätigen die Macht noch nicht errungen hatte, brauchte sie den weltbekannten Philosophen Georg Lukács, um die Intellektuellen für sich zu gewinnen. Daher hielt sich die Parteiführung mit ihrer Kritik zurück und gestattete ihm die Veröffentlichung seiner Theorien, aus denen deutlich wurde, daß er die sowjetische Literatur nicht als die Spitze der Weltliteratur ansah. Nachdem es der Partei aber gelungen war, die Macht zu ergreifen, war ihr Lukács mit seinen ketzerischen Ansichten unangenehm. Jetzt wollte man ihn mundtot machen, weil man fürchtete, daß er Einfluß auf die Jugend ausüben könnte. Immerhin hatte sich bereits eine Anzahl Schüler um ihn geschart. Stein des Anstoßes war insbesondere seine »Partisanentheorie«, nach der ein Parteidichter – und Lukács schloß hier auch den Philosophen ein – immer Partisan sei, also einer, der sich mit der historischen Mission der Partei und ihrer strategischen Linie zwar in Einklang befinde, innerhalb dieser Einheit aber eigene Wege gehen müsse.
Lukács’ offizieller Gegner in der von der Parteiführung initiierten Debatte war der Parteiphilosoph László Rudas. Er war Direktor der Zentralen Parteischule und hatte bereits in der sowjetischen Emigration versucht, Lukács das Leben schwerzumachen. Mit einer Mischung aus Herablassung und denunziatorischem Eifer hatte er erklärt, Lukács habe keine Ahnung vom Marxismus und verleumde Lenin. Wer mit dem damaligen Sprachgebrauch der Partei vertraut ist, weiß, daß Vorwürfe dieser Art einem Todesurteil gleichkamen. Lukács übte denn auch »Selbstkritik«. Er hatte in anderen Fällen, vor allem in der Sowjetunion, gesehen, wie schnell solche Anschuldigungen zur Tragödie, das heißt zu Gefängnis, Lager oder sogar zum Tod führen konnten. Wie er mir später erzählte, hatte er nicht gewußt, daß ein geheimes Parteidekret existierte, wonach gegen niemanden, der als Kommunist im sowjetischen Exil gelebt hatte, vorgegangen werden durfte. Dieses Dekret war von Mátyás Rákosi, dem stalinistischen Führer der ungarischen Partei, erlassen worden, weil er sich damit selbst schützen wollte.
REIF: 1949 hielt immer noch die stalinistische Phase an. Wie verhielt sich Lukács nach der Debatte? War er vorsichtig oder ängstlich?
EÖRSI: Vorsichtig war er. 1952 fand noch eine weitere Debatte statt, die ebenso berühmt wurde wie die »Lukács-Debatte«: nämlich um den Schriftsteller Tibor Déry und seinen Roman »Antwort«. Ich wurde dazu eingeladen, vermutlich weil ich stalinistische Gedichte geschrieben hatte. Für mein Rákosi-Gedicht habe ich sogar einen Preis bekommen, was ich insofern wiedergutgemacht habe, als ich seitdem für nichts mehr einen Preis bekam. Bei dieser Debatte spielte der Kulturminister József Révai die Hauptrolle. Er war der Kulturpapst der Partei und sehr gefährlich, ein absoluter Inquisitorentyp und ein tödlicher Stalinist. Ursprünglich war er ein Schüler von Lukács gewesen und hatte auch derselben Landtagsfraktion angehört wie er, aber diese dann verraten. Das Verhältnis der beiden war äußerst kompliziert. In den dreißiger Jahren hatte Révai sehr gute Essays geschrieben. Nach 1945 aber, als er aus dem sowjetischen Exil nach Ungarn zurückkehrte und als Mitglied des Führungskreises der Kommunistischen Partei zu immer mehr Macht gelangte, schrieb er nichts mehr, was sich heute noch lohnen würde zu lesen.
Ich hatte die Absicht, Déry gegenüber Révai zu verteidigen, und sagte das Lukács. Ich war damals 22 Jahre alt. »Schauen Sie, machen Sie das!« erwiderte Lukács. »Aber vergessen Sie nicht, daß der Révai ein besonders kluger Mensch ist und Verdienste hat. Sie müssen Ihren Ton mit Bedacht wählen.« Er wollte mir nicht abraten. Ich glaube, er fürchtete, daß mein strahlender kommunistischer Glaube kaputtgehen würde, wenn ich nicht sprechen durfte. Als die Sitzung dann stattfand, begann ich meine Wortmeldung mit der Feststellung, daß ich mit dem Genossen Révai nicht einverstanden sei. Ich stand auf und da sah ich, wie Révais Kopf zu zittern begann. Es war schrecklich. Niemand wagte, mich auch nur anzuschauen. Ich hielt meine Rede zu Ende. Anschließend war Pause.
Ich stand völlig allein da. Nur zwei wagten es, zu mir zu kommen, Déry und Lukács. Ich hatte mich am Vortag beim Fußballspielen am Auge verletzt und trug einen Verband. Déry wollte wissen, was passiert sei. »Ein Schriftsteller sollte nicht Fußball spielen«, war seine Antwort auf meine Erklärung. Dann kam Lukács und erkundigte sich ebenfalls nach meinem Auge. »Und wie ist das Spiel ausgegangen?« fragte er, als ich ihm davon erzählte. Das war der Unterschied.
Als ich wieder allein stand, sah ich, wie Lukács meine Gedichte mit in den Saal brachte und zu Révai lief, um sie ihm zu übergeben. Er fürchtete, man werde mich nicht frei aus dem Gebäude hinausgehen lassen. Darum wollte er Révai zeigen, was für ein begabter kommunistischer Dichter ich war.
REIF: Freute es Sie, daß er Sie schützen wollte, oder waren Sie enttäuscht, daß er Ihren Mut konterkarierte und Ihre Verteidigungsrede als Ausrutscher hinstellte?
EÖRSI: Seine Sorge um mich und die Hilfsbereitschaft, mit der er meine Verhaftung zu verhindern suchte, schätzte ich sehr. Diese Pfadfindertugenden mochte ich an ihm. Aber noch im selben Jahr erlebte ich meine erste Enttäuschung. Das war am 60.Geburtstag von Rákosi, dem Generalsekretär der Partei und späteren Ministerpräsidenten. Ich hatte, wie gesagt, ein Lobgedicht auf ihn geschrieben, weil ich ihn lieben wollte. Sicher habe ich ihn nicht geliebt, aber weil ich es unbedingt wollte, suchte ich nach Argumenten. Da sah ich die Ankündigung, daß Lukács zum 60.Geburtstag von Rákosi in der sogenannten Storchburg der Universität eine Rede halten würde. Ich ging hin, um sie mir anzuhören. Aber Lukács wiederholte nur die Platitüden, die in allen Zeitungen standen. Das war meine erste kleine Enttäuschung.
Meine zweite Enttäuschung war komplizierter. Ich hatte im Juni 1953, als nach dem Tode Stalins die sowjetische Führung Rákosi zwang, das Amt des Ministerpräsidenten zugunsten von Imre Nagy aufzugeben, begonnen, Gedichte über die stalinistische Vergangenheit zu schreiben. Damals kamen die Menschen nach und nach aus den Gefängnissen und erzählten die schrecklichsten Geschichten. Es stellte sich heraus, daß Rákosi ein Massenmörder war und kein Held. Das war für mich eine unglaubliche Enttäuschung, nicht nur weil ich mich belogen fühlte, sondern auch weil ich feststellen mußte, daß ich selbst zum Mittler der Lüge geworden war. Das empfand ich als eine große Schande. Ich wurde zum Oppositionellen und kam dann sogar ins Gefängnis.
1954 schrieb ich ein Gedicht, in dem ich diese kommunistischen Führer mit den alten aristokratischen Herrschern und Kapitalisten verglich. Von der Redaktion der kommunistischen Jugendzeitung, in der ich damals arbeitete, wurde es gedruckt. Als Gedicht ist es sehr schlecht, aber inhaltlich halte ich es auch jetzt noch für richtig. Kurze Zeit nach der Veröffentlichung besuchte ich Lukács. Wir aßen zu Mittag, und beim anschließenden Kaffee sagte er zu mir: »Schauen Sie, ich habe Ihr Gedicht gelesen. Ich sage nicht, daß es keine Wahrheit enthält. Da ist eine Menge Wahrheit drin. Aber Sie dürfen die Kommunisten, auch wenn sie gemordet haben, nie mit Mitgliedern der herrschenden Klassen vergleichen. Damit schwächen Sie den Wahrheitsgehalt Ihres Gedichtes.« Auf eine solche Äußerung war ich nicht vorbereitet. Aber ich erinnere mich, ein schlechtes Gefühl gehabt zu haben. Ich fand nicht richtig, was er gesagt hatte.
REIF: Haben Sie ihm widersprochen?
EÖRSI: Damals wußte ich keine Antwort. Aber später habe ich ihn gefragt, ob man etwa zwischen humanistischen und antihumanistischen Todeslagern unterscheiden solle. Diese Frage konnte ich 1952 noch nicht formulieren. Aber als Gefühl war sie schon da. Ich habe mich damals sehr ausführlich mit Lukács befaßt und auch meine ersten Lukács-Übersetzungen angefertigt. Ich übersetzte seinen Thomas-Mann-Essay »Auf der Suche nach dem Bürger« und einige andere Sachen. Er nahm mich als Doktoranden an. Ich wollte eine Arbeit über den Lyriker Attila József schreiben. Das wurde 1955 wegen meiner oppositionellen Haltung verhindert. 1956 aber war ich wieder akzeptiert. Mit der Arbeit konnte ich dennoch nicht beginnen, denn jetzt brach die Revolution aus. Ich kam ins Gefängnis und Lukács wurde nach Rumänien verschleppt. Bis 1960 blieb ich in Haft, und zwei Jahre lang hat Lukács meiner Familie regelmäßig geholfen und meiner Frau jeden Monat Geld gegeben. Ich weiß bis heute nicht wieviel. Er konnte seine Unterstützung allerdings nicht bis zu meiner Freilassung fortsetzen. Jemand hatte es verraten. Er mußte damit aufhören, denn man ließ ihn nur unter der Bedingung aus Rumänien nach Ungarn zurückkehren, daß er nicht politisierte. Und so einem alten Fuchs wie Lukács glaubte man nicht, daß es nichts mit Politik zu tun hat, wenn er der Frau eines Verhafteten Geld gibt. Aber er hat stets seine Bereitschaft zur Hilfe signalisiert. Er war wirklich ein Lehrer.
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SINN UND FORM 4/2013, S. 463-483
Tielke, Martin
Dunkelmann und Lichtgestalt. Carl Schmitt, Johannes Popitz und der Widerstand, S. 484Kerski, Basil
Der Essay als Raum freien Denkens. Gespräch mit Adam Zagajewski und Sebastian Kleinschmidt, S. 508BASIL KERSKI: Gedicht und Essay sind in der polnischen Literatur diejenigen Gattungen, die am deutlichsten mit eigener Stimme sprechen. Hier fanden (...)
LeseprobeKerski, Basil
Der Essay als Raum freien Denkens. Gespräch mit Adam Zagajewski und Sebastian Kleinschmidt
BASIL KERSKI: Gedicht und Essay sind in der polnischen Literatur diejenigen Gattungen, die am deutlichsten mit eigener Stimme sprechen. Hier fanden die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ihren besonderen polnischen und zugleich universellen Ausdruck. Ein Meister beider Gattungen ist Adam Zagajewski. Sebastian Kleinschmidt fördert sie in der von ihm geleiteten Zeitschrift Sinn und Form in eindrucksvoller Weise. Gedichte und Essays aus Polen waren in den letzten beiden Jahrzehnten – vor allem dank der Übersetzungen Henryk Bereskas und Bernhard Hartmanns – in der Berliner Akademie-Zeitschrift sehr präsent. Für Zagajewski ist Sinn und Form neben dem Münchner Hanser Verlag inzwischen zur literarischen Heimat in Deutschland geworden. Herr Kleinschmidt, wo und wann sind Sie Adam Zagajewski das erste Mal begegnet?
SEBASTIAN KLEINSCHMIDT: Das muß Anfang der neunziger Jahre im Literarischen Colloquium am Wannsee gewesen sein.
KERSKI: Kannten Sie damals schon das Werk von Zagajewski?
KLEINSCHMIDT: Nein, leider nicht. Es war eine Zufallsbegegnung, aber sie mündete schon bald in eine fruchtbare Zusammenarbeit. 1994 erschienen Adams erste Gedichte in Sinn und Form und 1995, verteilt auf zwei Hefte, der umfangreiche Essay »Zwei Städte«, ein poetisch-philosophischer Versuch über die polnische Erfahrung von Heimatverlust. Nicht immer weckt ja die Begegnung mit einem Autor die sofortige Neugier auf sein Werk. In meinem Elternhaus verkehrten viele Schriftsteller, ich habe sie schon als Kind kennengelernt, und in einigen Fällen führte das sogar dazu, daß ich ihre Bücher bis heute nicht gelesen habe. Meine Begegnung mit Adam hat sofort mein geistiges Interesse an seinen Sachen geweckt.
KERSKI: Haben Sie bei Ihrer ersten Begegnung gespürt, daß Sie einer Generation angehören? Hat das zu einem Gefühl der Nähe geführt?
KLEINSCHMIDT: Wir sind vom Alter her nur drei Jahre auseinander, das fällt nicht allzu sehr ins Gewicht. Doch zunächst wurden mir eher die Unterschiede deutlich. Adam ist eben ein polnischer Intellektueller, und die polnischen Intellektuellen waren den DDR-Intellektuellen in mancher Hinsicht eine Epoche voraus. So gesehen schien mir Adam doch einer anderen Generation anzugehören.
KERSKI: Herr Zagajewski, wie haben Sie die erste Begegnung mit Sebastian Kleinschmidt erlebt? Sie, ein damals in Paris lebender, kosmopolitischer polnischer Dichter, und er, ein neugieriger Ostdeutscher, der gerade seine ersten Erfahrungen mit der freien Welt gesammelt hatte?
ADAM ZAGAJEWSKI: In Sebastian Kleinschmidt bin ich zum erstenmal jemandem aus der DDR begegnet, der gegenüber Phänomenen, die dort nicht präsent waren, eine besondere Neugier hatte. Diese edle Neugier spiegelt sich in Sinn und Form wider. Die Quelle unserer Freundschaft war nicht das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Generation. Das Gemeinsame war das Interesse an Religion und Theologie, das aber nichts mit konventioneller Religiosität zu tun hatte. Beide hielten wir ein wenig Abstand zum Zeitgeist, beide waren wir ein wenig abseits der Mode.
KERSKI: Als mir Mitte der neunziger Jahre Sinn und Form in die Hände fiel, war ich angenehm überrascht vom starken mitteleuropäischen Profil der Zeitschrift: ein Periodikum auf der Suche nach verschütteten literarischen und philosophischen Traditionen in Europa, eine Redaktion, die in alle Himmelsrichtungen schaute, nicht nur zu den westlichen Kulturmetropolen. Die Aufgeschlossenheit gegenüber den östlichen Nachbarn war eine in der damaligen deutschen Kulturlandschaft eher selten anzutreffende Haltung. Herr Kleinschmidt, wie ist es nach 1989 – gegen den damaligen Trend in Ostdeutschland – zu dieser erstaunlichen Präsenz der mittel- und osteuropäischen Literatur in Sinn und Form gekommen?
KLEINSCHMIDT: Sinn und Form ist von 1949 bis 1989 philosophisch ganz auf den ja nicht nur unehrenhaften Pfaden der sozialistischen Idee und einer marxistisch verstandenen Kultur gewandelt, freilich mit größerer innerer Freiheit, mehr Phantasie, weniger Engstirnigkeit als vergleichbare Zeitschriften in der DDR. Zum offiziellen Vokabular wurde zwar Abstand gehalten, die geistige Zugehörigkeit zum kommunistischen Gedankenkreis aber nicht in Frage gestellt. Nach Jahren einer schleichenden Erosion erlebten wir dann 1989 quasi über Nacht und mit reißender Schnelle die institutionelle Implosion des ganzen staatssozialistischen Begriffsgebäudes. Das Besondere daran war: Hier begann eine Revolution einmal nicht mit der Illusion, sondern mit der Desillusion. Als die Illusion auf dem Tiefpunkt und die Desillusion auf dem Höhepunkt war, brach der Status quo in sich zusammen. Das Scheitern der Utopie, die Niederlage der Idee setzten eine gewaltige Erfahrung frei, übrigens eine Erfahrung, die uns einen gewissen Vorsprung vor den westdeutschen Generationsgenossen eintrug, denn die hatten das alles nicht am eigenen Leibe erlebt. Auf einmal stand die Erfahrungsfülle des Ostens gegen die Erfahrungsarmut des Westens. Das veränderte nicht nur unser Denken und unsere Sprache. Wir mußten uns gänzlich neu orientieren. Einen Mentor, der uns den rechten Weg gewiesen und das Ziel gesteckt hätte, gab es nicht. So gerieten wir in eine Art philosophische Unruhe, in eine schöpferische Verfassung. Und wer in schöpferischer Verfassung ist, hat ein untrügliches Gefühl dafür, wo der Geist weht und wo nicht. Also fingen wir an zu suchen, aber es war keineswegs so, daß wir wußten, wonach wir suchten. Erst als wir fündig geworden waren, wurde uns klar, was wir gesucht hatten. Das aber, was wir fanden, war nicht das, was im Westen gerade Erkenntniskonsens war.
KERSKI: Ich frage nach Sinn und Form, um jenen Geist einzufangen, der meiner Ansicht nach auch für das essayistische Werk von Adam Zagajewski und Sebastian Kleinschmidt prägend ist. Was die Attraktivität der Zeitschrift nach 1989 ausmacht, ist ja nicht nur das sichere Gespür für herausragende Autoren und Denker, sondern auch die im Westen verschollene Neugier auf das Metaphysische und Theologische, also eine Haltung, die in den neunziger Jahren in der alten Bundesrepublik unter Intellektuellen eher verpönt war. Metaphysik, religiöse Fragen, das scheint mir eine wichtige Verbindungslinie zwischen Ihnen beiden zu sein.
KLEINSCHMIDT: Ich komme aus einem evangelischen Pfarrhaus und habe die religiöse Sphäre schon als Kind kennengelernt. Mein Vater war Domprediger in Schwerin, Linkslutheraner und bekennender Sozialist. Durch ihn konnte ich erfahren, wie bestimmte Dinge, die für die meisten getrennt waren, doch zusammengehörten. Wer von Berufs wegen mit Sinnfragen konfrontiert wird – und als Chefredakteur einer Zeitschrift, die Sinn und Form heißt, wird man damit konfrontiert –, der kann der Theologie nicht aus dem Weg gehen, denn ohne Theologie kommt man hier nicht voran, wie immer man auch zu ihr stehen mag. Man kann sogar in ein produktives Verhältnis zur Theologie gelangen, wenn man gänzlich unreligiös ist – was ich von mir gar nicht sagen würde.
ZAGAJEWSKI: Für mich sind Sinn und Form und Sebastian Kleinschmidt nicht so leicht voneinander zu trennen. Sinn und Form ist für mich ein Haus, in dem ich zwar nicht wohne, aber es ist eins der wenigen Häuser in der Welt, die ich kenne. Es gibt heute – vielleicht besonders in Deutschland, aber nicht nur in Deutschland – falsche Trennungen. Auf der einen Seite hat man das sogenannte fortschrittliche Lager und die linksliberale Meinung, mit ihrer ironischen Literatur, die überhaupt kein metaphysisches Interesse hat; und auf der anderen Seite stehen die sogenannten Rechten. Man weiß nie, was ›diese Rechten‹ denken. Sind sie nun getarnte Faschisten oder nicht? Das ist natürlich eine grobe Vereinfachung, aber sie spiegelt doch die Klischees gut wider. Sinn und Form repräsentiert meiner Ansicht nach einen Denkstil, der diese falsche Trennung zwischen dem linken, liberalen, ironischen und nicht-metaphysischen Denken auf der einen Seite und dem religiösen, metaphysischen und politisch ›verdächtigen‹ Denken auf der anderen Seite aufhebt. Sie repräsentiert quasi die Mitte. Das ist großartig. Ich sehe hier ein Denken, das auf der Suche ist, das den Geheimnissen der Welt nachgeht, das zu keiner festen Form geronnen ist, das gewillt ist, klischeehafte Vorstellungen von geistigen Haltungen, geistiger Reizbarkeit abzuschaffen.
KERSKI: Herr Kleinschmidt, eine wichtige Inspirationsquelle für Sie ist das Werk von Hans-Georg Gadamer. Eine der ersten Reisen nach dem Mauerfall führte Sie 1990 zu Gadamer nach Heidelberg. Ihr Gespräch mit ihm erschien 1991 in Sinn und Form. Kann man dieses Gespräch als programmatisch für die Aufbruchszeit Ihrer Zeitschrift nach der deutschen Vereinigung betrachten?
KLEINSCHMIDT: Adam sprach von der Mitte, um den geistigen Standort von Sinn und Form zu lokalisieren. Gadamer verkörpert für mich den Denktypus der offenen Mitte und des unkonventionellen Mittlers. Er ist ein Beispiel dafür, daß die Dialektik der mesotes, wie Aristoteles das nannte, nicht nur politisch vernünftiger, sondern auch geistig interessanter ist als die Extreme links und rechts davon. Immer gilt das nicht, aber in Gadamers Fall gilt es. In der Begegnung mit diesem außerordentlichen Mann habe ich oft genug erlebt, daß die Mitte, will sie anregend, fruchtbar und ausgleichend sein, die Berührung mit abweichenden, gegensätzlichen, ja gefährlichen Gedanken nicht scheuen darf. Dazu braucht es Souveränität, Toleranz, innere Freiheit, Liberalität und, wie an ihm zu sehen, philosophische Gelassenheit. Wenn dann auch noch Humor dazukommt, kann eigentlich nichts passieren. Sobald ich Gadamer lese, erfahre ich das Paradox der Zentrierung: mein Denken kommt in Bewegung, und ich selbst komme zur Ruhe. Ich werde in meine eigene Mitte gestoßen oder, besser, gelockt.
KERSKI: Ihre Faszination für Gadamer haben Sie in ihrem Essay »Gegenüberglück « beschrieben. Unter diesem Titel ist 2008 auch eine Sammlung Ihrer Essays und Gespräche bei Matthes & Seitz Berlin erschienen. Den Gadamer-Beitrag kann man nicht nur als Annäherung an die hermeneutische Philosophie, sondern auch an die Gattung des Essays lesen. Sie charakterisieren Gadamers Verstehenslehre als eine Philosophie der Aufmerksamkeit, des Zuhörens, der Neugier auf anderes, des wechselseitigen Lernens im Gespräch. Gadamers unvergleichliche Art, Gespräche zu führen, sein Verknüpfen von Erzählen, Reflektieren, Anspielen und Vertiefen, von Ernst und Ironie, beschreiben Sie voller Bewunderung. Alle diese Elemente könnte man auch als schöne und unerläßliche Bestandteile einer Kunst des Essays ansehen.
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SINN UND FORM 4/2013, S. 508-518
Zagajewski, Adam
Leichte Übertreibung, S. 519Jankélévitch, Vladimir
Musik und Rhetorik, S. 530Kleinschmidt, Sebastian
Ins Offene. Musikalität und Sakralität in den Gedichten Christian Lehnerts, S. 540Lehnert, Christian
Ein Licht, das uns nicht kennt, S. 546Joas, Hans
Theologie unter freiem Himmel. Wie aktuell ist Rudolf Otto?, S. 551Meckel, Christoph
Licht und Zwielicht, S. 560Wagner, Jan
Alles setzt Segel, S. 564Fabre, Jean-Henri
Im Wald des Wissens. Kindheitserinnerungen, S. 569Kühn, Johannes
Grad aufgewacht, S. 576Seiler, Lutz
Die Insel, S. 580Grünbein, Durs
Die Lehre der Photographie, S. 584Becker, Jürgen
Was wir noch wissen. Journal der Augenblicke und Erinnerungen, S. 591Die Zeit vergeht, und Jörn wird alt. Er sagt, daß er in diesen Jahren noch einen Roman schreibt, vielleicht auch zwei oder drei, und jeder Roman (...)
LeseprobeBecker, Jürgen
WAS WIR NOCH WISSEN Journal der Augenblicke und Erinnerungen
Die Zeit vergeht, und Jörn wird alt. Er sagt, daß er in diesen Jahren noch einen Roman schreibt, vielleicht auch zwei oder drei, und jeder Roman besteht aus einem einzigen Satz, vielleicht auch aus zweien oder dreien.
Jetzt sitzt er auf einem Stuhl einer Bank gegenüber, die leer ist. Steht er auf und wechselt auf die Bank, sitzt er einem Stuhl gegenüber, der leer ist.
Überm Kopf ein Rauschen, wie von Flügelschlägen eines Kranichschwarms, der sich von den Wiesen am Bodden erhoben hat.
Dann wieder unterwegs auf der Straße, die hinauf ins Hügelland führt, unterwegs durch Vororte, denen man noch ansieht, daß es früher Dörfer waren, um den Stadtrand sich herumziehende Siedlungen, zwischen denen flaches Land lag mit Wäldern, Feldstücken, Bachläufen, Mühlen, Gutshöfen, Herrensitzen, alle ein paar hundert Jahre alt. Vertraute Gegenden, trotz fortwährender Veränderungen, trotz aller Vernichtung von etwas, das nur in der Erinnerung noch vorkommt. Es hat angefangen zu schneien, aber der Schnee bleibt nicht liegen.
…
Jörn Winter kennt man aus früheren Erzählungen. Er ist eine Person, die der Verfasser mit seinen eigenen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Gewohnheiten versehen hat. Dennoch ist er kein Spiegelbild. In den Vorstellungen des Verfassers hat Jörn eine eigenständige Identität. Was er denkt und sagt, was er tut und wie er sich verhält, dafür hat der Verfasser keine Muster parat. Er korrespondiert mit Jörn, und wenn es mitunter so aussieht, als äußere sich Jörn im Sinne des Verfassers, dann weiß er im voraus doch nicht, was sein Korrespondent alles so mitzuteilen hat. Natürlich gibt es ein Netz von Spuren, aus denen Jörn nicht herauskommt, die biographischen Spuren des Verfassers. Jörn weiß das und richtet sich danach, indem er sich an die Möglichkeiten hält, die seiner Existenz, einer imaginären Existenz, gegeben sind.
…
Sätze, die dir bekannt vorkommen. Gib acht. Es könnten Zitate sein, die eigenen. Wenn es Wiederholungen sind, sind es absichtliche Wiederholungen, in der Annahme, daß etwas nicht angekommen oder begriffen worden ist, daß es nicht gewirkt hat, daß es um den Rest des Ungesagten geht.
Der Schnee bleibt nicht liegen, aber es schneit weiter und weiter, und irgendwann
bleibt er liegen.
…
Einen Film sehen, in dem man sich selber auf der Wiese am Rand des Wäldchens stehen sieht und hört, was man dem Mann hinter der Kamera sagt. Jörn weiß, wie der Film zustande gekommen ist, wie er darin mitgewirkt hat als Darsteller eines Verfassers, den der Film porträtiert. Als Rezensent würde Jörn über den Film rein Professionelles sagen, und er käme dabei gut weg. Als Beteiligter wundert er sich, daß er in diese Rolle überhaupt hineingeraten ist. Er sagt, mir ist alle Öffentlichkeit so fremd geworden, daß ich darin gar nicht mehr auftreten möchte, und nun mache ich doch mit wie ein altes Zirkuspferd, das gleich angetänzelt kommt, sobald die Manege ruft. Daß er so oft im Widerspruch mit sich selbst lebt, ist für Jörn nicht neu, aber eine Konsequenz ist ihm bislang nicht eingefallen. Jörn sagt auch, daß er Leute, die stets und eindeutig auf Spur bleiben, ebenso bewundert, wie er ihnen mißtraut, wenn er sie nicht gar fürchtet.
…
Gestern abend hat ein Schulfreund angerufen. Er schlägt ein Wiedersehen vor, vielleicht mit ein paar anderen aus der Klasse. Aber nicht unten in der Stadt, wo sie alle hingezogen sind, sondern oben hinter den Hügeln, zwischen den Dörfern, wo die Schule war.
Ein paar Jahre nach dem Krieg, als ich in die Klasse kam, bald nach der Thüringer Zeit. Ein großer Haufen Bauernjungens, die in der Frühe alle noch im Stall gestanden hatten. Neue Klamotten gab es noch keine, und so saßen alle in ihren alten Jungvolkuniformen da, braune Hemden, schwarze Blousons, Überfallhosen; einer, der Älteste, hatte Reitstiefel an.
Abgebrochene Stuhlbeine, zerkratzte Tische, zerbrochene Spiegel, eingedrückte Schranktüren. Viele der Möbel hatten die Flucht nicht gut überstanden.
Lastwagen, Fuhrwerke, Güterwaggons. Zuletzt, beim Ausladen im Fabrikhof des Onkels, ging Mutters Barocktisch aus dem Leim.
Wochentags Rübenkraut, sonntags Apfelkraut.
Die Mädchen in der Klasse hatten Zöpfe. Einige drehten sie zu Schnecken oder zu einem Haarkranz.
In der Schlafkammer zwei Betten und vier Kinder.
Spät, wenn wir uns was zu erzählen hatten, schüttete die Tante noch einmal eine Kanne Kaffee auf.
Einer aus der Verwandtschaft kam aus englischer Kriegsgefangenschaft heim. Seine Haut war gelb, er hatte im Afrikakorps gekämpft. Um das Abitur nachzumachen, ging er noch mal in unsere Schule mit. Als er später von der Brücke sprang, hieß es, komisch war er schon immer, der Fritz, und jetzt, eine Art von Wüstentrauma vielleicht.
…
Wenn hier einer ich sagt, sagt Jörn, dann bin ich es.
…
Die Rückenschmerzen. Im Sommer hatte es wieder angefangen. Kaltes Meer, harter Sand; es wurde schlimmer. Nach der Operation die Wochen in der Klinik, schön gelegen zwischen Bodden und Meer. Herbststürme, Spazierwege. Die Stellen am Strand, wo wir im Sommer gelegen hatten, von der Brandung überrollt. Möwen, ohne die Flügel zu bewegen, lassen sich treiben vom Wind. Einzelne Kormorane flattern aufs Meer hinaus.
Berliner Flaksoldaten. Das wäre ein Zitat, oder eher eine Anspielung, die nicht aus dem eigenen Repertoire kommt. Wo Jörn sie hergenommen hat … er sagt, wer will, kann ja im Internet danach suchen. Das Entstehen, der Verlauf von Assoziationen folgt Signalen, die man so bewußt nicht wahrnimmt. Sicher ist, daß unterhalb des Hohen Ufers im Strandgeröll zwei Betonkolosse liegen, Reste von Geschützbunkern, die zu den Stellungen der Küstenbatterie gehörten; Ende der dreißiger Jahre sind sie auf dem Kliff angelegt worden. Jörn, als er mit Lene Anfang der neunziger Jahre zum ersten Mal aufs Fischland kam, entdeckte die von der Dünung umspülten Relikte bei seinen Erkundungen einer Gegend, die ihn Jahr für Jahr aufs neue anzieht und beschäftigt. Sicher ist auch, daß in den alten Fischerdörfern viele Berliner ein Zuhause haben, für immer, für die Ferien, fürs Wochenende. Jörn seufzt ein bißchen, wenn er sagt, lebten wir in Berlin, zum Wochenende kämen wir auch hierher. Wie alle die Freunde, die er in Käthe Miethes Haus besucht, mit denen er sich im Dünenhaus, im Baltischen Hof, bei Saatmann oder oben in der Buhne 12 trifft. Manchmal findet er in Lenes Collagen Motive aus der Gegend wieder, und einmal ist zu einem dieser Bilder ein Text entstanden mit Wörtern, die aus dem Tagebuch von Felix Hartlaub stammen, seit Kriegsende verschollen in Berlin, im September 39 in der Nähe hier bei der Flak.
Alte Leute danach fragen, ob sie aus der Kindheit noch die Häschenschule kennen. Nachdem in einer Berliner Bombennacht Wohnung und Atelier ausgebrannt waren, siedelte Fritz Koch-Gotha, der Urheber unserer Kinderfibel, endgültig über in seine Büdnerei an der Fulge. Dora Koch-Stetter, seine Frau, malte Bilder, die nicht nur besser waren … im Grunde, sagt Jörn, überragen sie alles, was die ganze Ahrenshooper Künstlerkolonie an Bilderwerk hervorgebracht hat. Aber unter den Malweibern war sie ja eine Verheiratete, und so kam sie wegen Haus und Hof, Kind und Mann nur wenig zum Malen. Jörn kommt alle paar Tage an der Fulge vorbei und bringt einen Packen Zeitungen mit. Der Enkelsohn und seine Frau haben sich einen Namen als Keramiker gemacht, und die junge Frau Klünder ist immer ganz glücklich, wenn Jörn die überregionale Presse in der Werkstatt ablädt. Zum Einwickeln taugen die großen Formate besonders gut, und so kommt es, daß sich in seiner Ferienbleibe die Zeitungsknäuel wieder häufen, wenn Jörn reihenweise Becher, Schalen, Teller und Teetassen mitgenommen hat.
Jörn versucht sich zu erinnern. Aber es gibt für ihn keine Erinnerung an Jahre und Tage, als Gesine Cresspahl, ein paar Häuser weiter, in den Ferien hier war. Wir waren ja als Flüchtlinge gekommen, sagte die alte Dame, aber das durften wir nicht laut sagen, weil es immer hieß, daß wir als Umgesiedelte gekommen waren.
Abends flattern die Kormorane, einzeln oder zu zweit, landeinwärts zurück.
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SINN UND FORM 4/2013, S. 591-602
Weichelt, Matthias
Für den, den's angeht. Zu Peter Handkes Steh- und Gehbüchern, S. 603Man kann sich unschwer freundlichere Einladungen zur Lektüre vorstellen: »(Für den, den’s angeht)« steht über Peter Handkes erstem, die Jahre (...)
LeseprobeWeichelt, Matthias
Für den, den's angeht Zu Peter Handkes Steh- und Gehbüchern
Man kann sich unschwer freundlichere Einladungen zur Lektüre vorstellen: »(Für den, den’s angeht)« steht über Peter Handkes erstem, die Jahre 1975 bis 1977 umfassenden Journal »Das Gewicht der Welt«. Und dieses Motto, heißt es 1998 in »Am Felsfenster morgens«, gelte auch für alle darauffolgenden Aufzeichnungsbücher. Wer eines davon aufschlägt, weiß also nicht, ob sich die spröde Widmung auch auf ihn bezieht, ob das Angebot, das hier gemacht wird, auch eins für ihn ist. Herausfinden kann man es nur, indem man es annimmt. Daß sogenannte »Geschäfte für den, den es angeht« ohnehin juristische Ausnahmen vom Offenkundigkeitsprinzip sind, dürfte Handke, der in den sechziger Jahren Rechtwissenschaften in Graz studierte, jedenfalls gewußt haben. Sie kommen auch dann zustande, wenn bei alltäglichen Besorgungen, beim Kauf einer Semmel oder einer Zeitung, jemand in fremdem Auftrag auftritt, einem Freund oder Nachbarn eine Besorgung abnimmt. Der Vertrag bindet nicht den, der die Ware als erster erhält, sondern den, für den sie bestimmt ist, den, den es angeht. Und der wird sich schon finden.
Um die einfachen und alltäglichen Dinge, um das Unscheinbare und Unbemerkte geht es auch im »Gewicht der Welt«. Um die ihr Sandwich kauende Verkäuferin in einem leeren Laden. Um den alten Mann im Restaurant, mit seiner Weinflasche und seinem Glas. Um den Geldschein auf dem Zahlteller und die vom Nachbartisch herüberblickende Frau. Um die nach eingetrocknetem Schneewasser riechende Skimütze des Kindes. Um das Zuziehen eines Reißverschlusses und das Röhren der Heizung im Keller. Und um die Frage, warum solch spontan festgehaltene Reportagen eines »Einzel-Bewußtseins« andere überhaupt etwas angehen sollen. Daß ihre Veröffentlichung auch als Indiskretion oder Anmaßung verstanden werden kann, war dem Autor bewußt. Entsprechende Vorwürfe suchte er mit der Versicherung zu entkräften, daß »dieses Bewußtsein (ich) auf etwas aus ist, pathetisch gesagt: sich unablässig durchdringen will«. Sich selbst zu erkennen ist hier nicht Wahlspruch der Selbstbespiegelung, sondern Maxime eines Weltzugangs. Das Ich wird zum Medium, das sich Eindrücken, Empfindungen, Erlebnissen wie einer Röntgenbestrahlung aussetzt, die sein Inneres abbildet und beschreibbar macht. Die ursprünglich als bloßes Material für größere literarische Arbeiten vorgesehenen und daraufhin ausgewählten Notate hatten sich im Zuge der Niederschrift immer mehr verselbständigt, verwandelt in zweckfreie Aufzeichnungen zweckfreier Wahrnehmungen – eine Lösung aus vorgegebenen Formen und Mustern, eine Eröffnung neuer literarischer Möglichkeiten, durch die das Sprachliche, die Sprache selbst zum Gegenstand des Schreibens wird: »Was auch immer ich erlebte, erschien in diesem ›Augenblick der Sprache‹ von jeder Privatheit befreit und allgemein.«
Eine solche Abwendung vom Privaten und Persönlichen ist nicht jedem Leser geheuer. Den Reiz veröffentlichter Tagebücher, Briefwechsel, Journale findet man gemeinhin ja gerade in den darin enthaltenen Beichten und Bußen, den endlich offenbarten Geheimnissen, den schließlich abgelegten Geständnissen. Was einer nur für sich oder nahe Freunde aufschreibt, wird doch einen unverstellten Blick auf sein Wesen, auf die versteckte Buchführung seines Lebens freigeben. Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein. Wer nach derlei Vertraulichkeiten sucht, wird in der Mehrzahl der Journaux intimes reich belohnt. Die meisten Tagebuchschreiber, notiert Carl Schmitt 1948 in seinem »Glossarium «, kämen ihm vor »wie Kinder, die an ihren Fingern saugen und an allem saugen, was sie in ihre Finger bekommen«. Unverstellt und authentisch soll die Selbstbeschäftigung sein, eine leicht zu entschlüsselnde, von kindlicher Offenherzigkeit geprägte Botschaft an die Mit- und Nachwelt. Auch der Journalist André Müller, der mit Handke mehrere lange Interviews führte, ließ sich von der inhaltlichen Komposition und literarischen Absicht des »Gewichts der Welt« nicht irritieren und glaubte, aus einzelnen Einträgen auf die Gemütsverfassung des Autors an diesem oder jenem Tag schließen zu können: »Ein anderes Mal, so schreiben Sie, waren Sie kurz davor, den verachtetsten aller Menschen um Hilfe zu bitten.« Seinen Freund Hermann Lenz mußte Handke wiederum in einem Brief beruhigen, daß nur zwei Gesten von dessen Frau um dieser Gesten willen im Buch beschrieben seien, nicht die Person selbst: »Im Journal kommt sie nicht vor – es wäre auch eine Anmaßung von mir.« Die Wahrnehmung und Schilderung solcher für sich stehenden und über sich hinausweisenden Gesten ist das Anliegen dieser mal eine halbe Seite, mal einen Satz langen Eintragungen, nicht die Protokollierung von Begegnungen und Erlebnissen. Über Freundschaften, Feindschaften und Liebesangelegenheiten erfährt man dabei fast nichts.
Über sich »persönlich« habe er ohnehin nie etwas sagen können, schreibt Handke später in »Gestern unterwegs«, er lebe von dem, was die anderen nicht von ihm wissen. Auch an den Tagebüchern Kafkas interessierten ihn nicht mehr die Klagen und Selbstbezichtigungen, »nur noch seine Beschreibungen«. Die Hinwendung zum immer achtsameren Hören und Schauen, zur sorgfältigen, manchmal auch nachträglichen Berichterstattung des Tages schlägt sich insbesondere in den auf das »Gewicht der Welt« folgenden Aufzeichnungsbüchern nieder, bei denen die Bezeichnung Journal im Titel entfällt. Was dafür aus den überallhin mitgeführten, nach Hosentaschentauglichkeit ausgewählten »Geh und Stehheften« übernommen wird, muß dem Anspruch auf Anschaulichkeit und Klarheit genügen, nicht dem auf Lebensdarstellung oder Zeitgenossenschaft. Die gefundene sprachliche Form macht die Bedeutung des Notierten aus, daher kann alles nebeneinander stehen in der »Geschichte des Bleistifts« (1976–1980), den »Phantasien der Wiederholung« (1981/1982), in »Am Felsfenster morgens« (1982–1987) und »Gestern unterwegs« (1987–1990): Lebensgedanken ("Wie ein Liebespaar entsteht: Beide müssen, zusammen, etwas meistern«) und Leseeindrücke ("Keine Bücher für mich: die mit dem unangenehmen Beben des Gebildetseins«), Beschreibungen im Straßenstaub badender Spatzen und romanischer Kirchenskulpturen, Wortfindungen ("Verb für die Schönheit: ›nötigt (zum Bleiben)‹«) und Schreibvorgaben ("Ans Schreiben gehen: Füg der Stille etwas hinzu; bring etwas heim aus der Stille«), Landschaftsschilderungen und Gedanken über Wortgenauigkeit und Begeisterung, übers Gehen und Langsamwerden, über Müdigkeit, Wachsamkeit und den Wandel der Farben. Und immer wieder aus allem hervorleuchtende Poèmes en prose, helle Augenblicke der Sprache: »Das Wange-an-Wange von Stute und Fohlen, und dann das Hals-auf-Kruppe, und dann das Flanke-an-Flanke, und dann das Kopf-unterm-Hals, und endlich das Saugen, gebückt, des schon großen Kindes unter der Mutter: was für eine Liebe; und das alles unter dem Zwetschkenbaum«.
Der all diesen Wahrnehmungen vorausgehende Impuls, ihr eigentlicher Ursprung ist das Staunen. So wie man als Kind im Märchen das Fürchten lernte, kann man hier das Staunen lernen, kann sich die Augen öffnen lassen für den Reichtum, die Fülle der Welt und ihrer Erscheinungen ("auch nur auf dem kurzen Weg zu einer Metrostation: es war eine von stürzenden Körpern durchzuckte Ideallandschaft«). Das Sichtbare ist viel mannigfaltiger, viel umfassender als das Gesehene, das Gehörte nur ein kleiner Ausschnitt des Hörbaren. Jeder Satz in diesen Wirklichkeitserforschungsbüchern ist zugleich Aufforderung und Selbstermahnung, die Bilder des Tages, die regennassen Jacken der in den Bus steigenden Arbeiter, die schmutzigen Fensterscheiben im Bahnabteil, den alten Mann auf der Parkbank und den auf dem Tisch liegenden Bleistift als etwas so nie zuvor Gesehenes, erst zu Erschauendes und damit zu Erkennendes zu entdecken. Die Kunst, so wie sie hier verstanden wird, soll vom bloßen Anschein, vom Augenschein erlösen, soll den »phantastischen Augenblick« erzeugen, den Blick von Grund auf verändern. Wer dem folgt, fängt tatsächlich wieder an zu staunen, kann durchs Staunen gesund werden. Wer das Staunen verlernt hat, sieht keine Unterschiede und auch nichts Wesentliches mehr, »hört überhaupt auf zu sehen«, registriert nur noch, ohne Sinn für das, was vor ihm, über ihm, unter ihm und auch mit ihm geschieht: »Eine der innigsten Erscheinungen ist das Dahinziehen, Treiben und Kreisen der Blätter, Halme, Sporen, Vogelfedern, Grasspitzen in den länglichen, oft bootsförmigen Feldweglacken – eine Umschreibung der Stille«. Um an solchen Wirklichkeitsbildern nicht achtlos vorüberzugehen, um nicht blind für sie zu sein oder taub für die Stille, muß man schauen, bis einem »Nüstern wachsen«, muß man die Redewendung vom »Aus dem Staunen nicht herauskommen« als mögliches Lebensmotto akzeptieren – als Voraussetzung nicht nur des Dichterischen, sondern des Menschlichen überhaupt. Der wahre Mensch sei ganz Gehör, der wahre Dichter müsse die Stille erfahren haben und sich nach ihr sehnen. Und die sinnliche Erfahrung zum Fundament seines Schreibens machen, »das Besondere, die Spielart eines jeden einzelnen Dings erforschen – etwa, wie die Blätter eines Erdbeerhains sich anfühlen an der Innenseite des Unterarms, an der darüberstreichenden Handwurzel, am sie umgreifenden Handteller …«.
In der Offenheit für die Spielart jedes einzelnen Dings finden diese Notizen ihren ganz eigenen Zugang zur Wirklichkeit, die für Handke in der »bloßen geheimnisvollen Erscheinung« liegt, ja, in der Gleichsetzung von Geheimnis und Wirklichkeit. Wer dieses Geheimnis nicht verrät, sondern sich darauf einläßt, wird, das ist das große Versprechen dieser Aufzeichnungen, etwas zurückerhalten – nicht irgend etwas, sondern das, worauf es ankommt: »Ziel des Schreibens, des Lesens, des Lebens: ein Ding, eine Steintreppe, eine Glyzinie, eine Tür, wird von mir gesehen und zeigt sich erkenntlich: das Sich-Erkenntlich-Zeigen der Dinge«. Die Dinge werden erkannt in ihrer Form, ihrer Wesensart, ihrer Eigenheit – und sie erweisen sich dafür als dankbar, da sie nur durch die Betrachtung existieren, angewiesen sind auf einen Resonanzraum, ein Gegenüber, ohne das sie bloße Schemen bleiben, Geschöpfe einer Schattenwelt. Sprache bedeutet hier Erweckung der toten Natur. So wenig Goethe sich die Farben ohne das sie wahrnehmende menschliche Auge denken wollte, so unvorstellbar erscheint es Handke, »daß während der unermeßlichen Zeiträume ohne Menschen das Branden des Meeres von niemandem gehört worden sein soll«. Ein Klang, der im Nichts verhallt, ein Konzert ohne Publikum.
Fremd bleiben muß einer solchen Weltsicht alles schon Erstarrte und Genormte, alles allzu Berühmte und Bewunderte, die pittoresken Straßenszenen und kulissenhaften Landschaften, die beworbenen Sehenswürdigkeiten und zu Tode fotografierten Kunstwerke, die sich dem offenen Zugang, der freien Sinnzuschreibung verweigern. Denn eben darin besteht für Handke die »Aufgabe der Literatur: die noch nicht vom Sinn besetzten Orte ausfindig zu machen«. Ein Fahndungsauftrag, für den sich kaum ein tauglicheres Mittel denken läßt als die dem schweifenden Blick, der gelassenen Aufmerksamkeit, der berührungsfreundlichen Handfläche oder Fußsohle sich verdankenden, aus Anschauung oder Erinnerung gewonnenen Bewußtseinsreportagen. Das sie auslösende Staunen pulsiert noch in der Hülle der Sätze, schützt sie gleichsam davor, schablonenhaft und knöchern zu werden, dem Dargestellten Raum und Freiheit zu nehmen. Gute Literatur, hat Handke einmal gesagt, komme aus dem Erleben der Dinge und der Gerechtigkeit diesem Erlebnis gegenüber, aus nichts anderem. Dafür aber muß der Vorgang des Aufnehmens und Erinnerns in die Beschreibung Eingang finden, muß das Erlebnis in den Eintragungen nachklingen, Wortstellung und Satzbau bestimmen. Ein kaum merklich vibrierender Grund, tragfähig und erschütterbar. Ein Boden, auf dem der Raum der Stille wachsen kann.
Und mit ihm der reine Gegenwartssinn, die beglückende Aufmerksamkeit für das, »was jetzt da ist (die Mancha-Disteln, hellgrau, im Wind neben den Bahngleisen)«. Das, was jetzt da ist – gewissermaßen Handkes Kurzformel für das epiphanische Aufscheinen der Wirklichkeit, das Zusammenkommen von Welt und Wahrnehmung, das nicht herbeigeführt, aber erwartet werden kann. Und zugleich Umschreibung des eigentlichen, des höchsten Lebensgefühls, des schieren In-der-Welt-Seins. Wer sich dieses Zustands bewußt wird, fügt sich ein in den Fluß der Dinge, spürt das Vorwärtsgleiten und Vorankommen, wird hineingehoben in den »Sattel der Gegenwart«. In diesem muß er sich halten, muß den Rhythmus annehmen, die Zügel anziehen und wieder lockerlassen, im Wechsel des Sich-Aussetzens und Sich-Einlassens. Was Handke sich in diesen Aufzeichnungen verbietet, eigentlich jeder Literatur verbieten will, ist das bloße Zuschauen und Beobachten, den Kommentar, das Protokoll, die voyeuristische Perspektive, die sich dem, womit sie sich beschäftigt, nicht aussetzt, die sich nicht einläßt auf das, was sie beschreibt: »Halt gegen die empörende Selbstgefälligkeit der Text- und Geschichten- und Romanhersteller immer den preisgebenden, sich preisgebenden, nicht anders könnenden, aber doch etwas könnenden und dabei doch nie nur sich bespiegelnden, sondern auch den anderen ihr Spiegelspiel ermöglichenden sogenannten ›Narziß‹ hoch!« Das einzige wirkliche Lebendigkeitsgefühl, heißt es in »Gestern unterwegs «, sei Teilnahme. Und ein Dichter kann für Handke nur sein, wer »sich auf ein Ding nach dem anderen einläßt« ("Am Felsfenster morgens«). In der Fähigkeit zur Teilnahme, in der »Kraft des Sich-Einlassens« liege die Befä-higung zum Schreiben, im immer wieder neuen Sich-Aussetzen strukturiere sich die Phantasie. Und aus der Nicht-Beobachtung erwächst das literarische Vermögen, wie angesichts eines Mitreisenden im »Gewicht der Welt«:
Das Gesicht des Mannes heute im Zug, wie es, indem ich, Beobachtungsfeindlicher, Beobachtungsloser, es ganz, ganz wegrücken ließ, mir allmählich ganz nahe kam und allmählich das allgemeine Gesicht wurde, wahnsinnig und lebendig, Mann und Frau zugleich verkörpernd, Gesicht einer Filmhandlung, deren Höhepunkt es gerade darstellte, tief und grenzenlos entrückt, während ich es entrückt betrachtete und doch gleichzeitig noch voll Mißtrauen war – und als ob der Mann das merkte, setzte er sich um und blickte in eine ganz andere Richtung (sein Gesicht war das eines großen Schauspielers gewesen, in Großaufnahme zu sehen auch in der Entfernung)
Wer diese Aufzeichnungsbücher liest, sitzt oft im Zug, in der Metro oder im Bus, manchmal auch im Flugzeug (in den Jahren von »Gestern unterwegs« hat Handke keinen festen Wohnsitz, reist durch Europa, Asien, Amerika). Vor allem aber zu Fuß ist dieser Autor unterwegs, auf Spaziergängen und Wanderungen, durch Großstädte, durch Vororte und im freien Gelände. Das Gehen bereitet den Weg zu den Dingen, setzt etwas in Gang, wird zum »Maschinisten der Seele«, zum Motor der Welterfahrung, hilft hinein in jenen »Sattel der Wirklichkeit« – und in den Tag, in die aus Dunkelheit und Nacht immer wieder entstehende, sich aus der Erstarrung lösende Welt, die ebenfalls eines Impulses, eines Auftakts bedarf, wie ein Schwungrad in Gang kommen muß: »Dieser vorbeifahrende Zug gab dem Tag seine erste große Bewegung. Die abgefallenen Blätter rochen aus dem Rinnstein. Noch war Morgenluft«. Und noch ist Zeit für das Langsamwerden, eine später verpaßte »Möglichkeit(sform)«. Noch kann man sich einlassen und einstimmen auf das, was Handke ganz unbefangen den schönen Tag nennt: »Schöne Tage, es gibt sie, sie sind nicht nur eine Redensart – die Schönheit von Himmel und Erde greift dann ein in das innerste Herz«. Dem geglückten Tag hat Handke, wie der Müdigkeit, der Jukebox und später dem Stillen Ort, auch einen seiner »Versuche« gewidmet. Was er damit meint, ist fern von aller Betulichkeit. Der schöne, der geglückte Tag ist keiner des behaglichen Müßiggangs, sondern eine Herausforderung, die angenommen und bestanden werden will, ein Kaleidoskop, dessen Farben und Muster es zu entschlüsseln gilt. Gelingt dies, werden die Formen erkennbar, benennbar, beschreibbar, bilden sich Linien, Gestalten, Existenzen. Der eigentliche Tagesanfang, schreibt Handke, vollziehe sich in diesem Werden der Formen – »das Sichzacken der Platanenblätter, die auf dem nassen Asphalt liegen – und das Übergehen der Formen auf mich, wodurch ich ersetzt und erweitert werde«. Für den Rest des Tages könne einem dann nichts mehr passieren …
Aber etwas passiert dann doch. Denn wer sich von den Formen des Tages ersetzen und erweitern lassen, wer dem Erlebten gerecht werden und es bestehen will, kann selbst nicht unverwandelt bleiben. Er muß eine Art elastischer Gegenkraft entwickeln, muß der Welt durchlässig standhalten, muß die Durchlässigkeit als »das Standhalten« begreifen. In »Gestern unterwegs« notiert Handke, sein Idealzustand vereine Freudigkeit, Stille, Durchlässigkeit und Schwäche. Und darin bestehe auch die Aufgabe von Büchern, von Gedichten, von Kunst überhaupt – dort, »wo nichts ist, Durchlässigkeit« zu schaffen, dem selbstgewissen Behaupten, Bestimmen, Beweisen entgegenzutreten, die »täglich gehörte, vor Vertrautheit nichtssagende, hilflose ›Du weißt schon, was ich meine‹-Sprache des Kommunikationszeitalters« zu ersetzen. All das traut Handke der Literatur zu. Ohnehin traut er (wie kaum ein anderer) ihr fast alles zu. Aus Stroh kann sie Gold spinnen, Leere und Stille und Schwäche in Sprache, in Schönheit verwandeln, das Nichterlebnis zum Erzählabenteuer machen. Sein großer Schatz, so Handke, das seien gerade die Ermangelungen, die ausgebliebenen Ereignisse der Kindheit – die Eintönigkeit des Tages, die ausgefüllt, die Beschränktheit des Blickfelds, die weggeträumt werden mußte. Das karge dörfliche Leben in Kärnten scheint ein guter Nährboden gewesen zu sein für das Wachsen der Phantasie, für die Erforschung der Dinge, für das weitausholende Erzählen. Und hat vielleicht schon früh die Sehnsucht geweckt nach dem, was später als fernes künstlerisches Ideal erscheint: »Das allerschönste Werk, bestehend aus Nichts, und wieder Nichts, und dem menschlichen Atem, dem Licht, den Tagen und Nächten, hat die Menschheit noch nicht geschaffen«.
In seinen Aufzeichnungsbüchern steht Handke dieses Ideal jedenfalls immer vor Augen. Und die Wege, diesem das Nichts, den Atem und das Licht enthaltenden Werk nahezukommen, sind die Wege der Einfachheit, können nur die der Einfachheit sein. Für das, was einem nahe ist, kann man keine Fremdworte verwenden, hat Martin Walser einmal gesagt. Und auch Gegenwartssinn, Durchlässigkeit und Teilnahme können nur aus Nicht-Distanz, also aus Nähe entstehen. Es sind die einfachen Worte, mit denen die Dinge beschreibbar, die einfachen Gesten, an denen Menschen und Tiere erkennbar sind. Und was sich darüber sagen läßt, lernt man aus den »Varianten des Immergleichen«. Das dabei zu Papier Gebrachte ist das Gegenteil jeder medial aufgeblasenen Kunst. Bleistift oder Kugelschreiber, Notizheft oder Schreibblock reichen aus, um die Eindrücke des Tages, das den Händen Erreichbare, den Augen Sicht-bare, den Ohren Hörbare festzuhalten. Nicht um ein möglichst artifizielles Sprachspiel geht es, sondern, wie Handke mit Blick auf Goethe sagt, um das »stille Sichaneinanderfügen des Vorhandenen«. Dann stellen sich auch die Bilder ein, die lebendigen, gültigen, Denk- und Vorstellungsvermögen erregenden, Sinne und Leidenschaften ansprechenden Bilder. In ihnen liege »der ganze Schatz menschlicher Erkenntnis und Glückseligkeit«, an ihrer Bilderfähigkeit ermesse sich, immer wieder, die Gesundheit der Seele.
Für all das muß der Leser bereit sein. Der wirkliche, sich etwas erwartende, auf etwas wartende Leser, der sich einem Buch wie einem Abenteuer aussetzt und davon gesund oder vielleicht auch krank werden will. In jedem Fall müsse das Lesen, so Handke, eine Konsequenz haben, eine Handlung nach sich ziehen. Denn das Entscheidende der Poesie sei nicht ihre Gefälligkeit, sondern ihre Dringlichkeit. Das Buchaufschlagen ist eine folgenreiche Entscheidung, ein existentieller Akt. Anders als Zeitungen, Meldungen, Nachrichten mit ihrer von vornherein gegebenen Aktualität sei »das Buch, auch bloß ein Satz, ein Absatz, eine Seite« stets etwas »zu Aktualisierendes – zu Erarbeitendes«. Erarbeiten muß man sich auch die zunächst ganz unverbunden und isoliert anmutenden, in scheinbar beliebiger Reihenfolge angeordneten Notizen dieser Journale. Nur wer sich einläßt auf ihre verborgene Dramaturgie, nur wem sich die Durchlässigkeit der Zwischenräume, das Atemholen und Miteinandersprechen der Sätze mitteilen, wird den alles verbindenden, den epischen Blick erfassen, dem »selbst der Zahnstocher zwischen den Lippen eines Passanten« erzählenswert erscheint. Ein »persönliches Epos«, belebt und getragen von Poesie, dem »gefühlten wie begriffenen Rätsel« – einem Rätsel, das auch mit dem Lesen nicht endet. Denn alles wirkt weiter, alles klingt nach. So wie man nach einer langen Wanderung noch die Bewegung des Gehens in den Beinen spürt, oder das Wogen des Meeres nach einem Tag auf See. Warum man sich auf dieses Rätsel einlassen soll, warum es einen betrifft, ist die Frage jeder Kunst. Und jeder Leser, jeder Hörer, jeder Betrachter muß seine Antwort finden. Jeder, den’s angeht.
SINN UND FORM 4/2013, S. 603-610
Rinck, Monika
Hirsche wittern. Birken imitieren Lichtmaschinen. Zur Kultur des Naturgedichts, S. 611Mosebach, Martin
Architektur - Gedächtnis der Menschheit. Vierzig Jahre Hilmer & Sattler und Albrecht, S. 617Kleinschmidt, Sebastian
Logbuch. Letzter Eintrag, S. 621Wenn man das Glück hatte, fast dreiundzwanzig Jahre an der Spitze einer Zeitschrift wie »Sinn und Form« zu stehen, auf der Brücke dieses stolzen (...)
LeseprobeKleinschmidt, Sebastian
LOGBUCH. LETZTER EINTRAG
Wenn man das Glück hatte, fast dreiundzwanzig Jahre an der Spitze einer Zeitschrift wie »Sinn und Form« zu stehen, auf der Brücke dieses stolzen Schiffes, um im Auftrag eines ehrwürdigen Reeders, der Berliner Akademie der Künste, dafür zu wirken, daß nicht Stürme und nicht Flauten, nicht Untiefen und nicht Klippen dem schönen Segler die Fahrt nehmen, dann geht einem in dem Moment, wo man abmustert, weil es Zeit geworden ist, daß Jüngere das Ruder übernehmen, so manches durch den Kopf. Der Wechsel der Epochen, das Schiff und seine Kapitäne, ihr nautisches Geschick, die Besatzungen, aber auch das Personal der Werften und der Reederei. Nicht zu vergessen das Entscheidende, die Schriften der Autoren, das eigentliche Frachtgut, und die unbekannten Leser, für die es bestimmt ist und die es alle zwei Monate in Empfang nehmen. All denen, die mit Herz und Verstand dafür gearbeitet und gestritten haben, daß Sinn und Form seit fünfundsechzig Jahren seetüchtig ist, sei vielmals gedankt.
Das wichtigste, was Segelschiffe brauchen, ist Wind. Doch gerade der läßt sich nicht kommandieren. Man muß ihn aufspüren. Aufmerksamkeit und Umsicht, Ausdauer und Geduld sind gefragt, variable Routen, bewegliche Rahen, stabile Takelage. Und noch einiges mehr. Der Wind – Seeleute wissen das – weht, wo er will. Es ist wie mit dem Geist. In diesem Sinne sind alle Fahrensmänner Theologen.
Die Fahrten, die Fährnisse – das ist eine lange Erzählung. Zu lang für dieses kleine Wort des Abschieds. Doch eins noch will ich sagen: Es war ein großes Abenteuer, das Abenteuer meines Lebens.
SINN UND FORM 4/2013, S. 621
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5/2013
Heft 5/2013 enthält:
Hyvernaud, Georges
Anonymität, S. 629Schoch, Julia
Literatur als Rache. Vom Auftauchen und Verschwinden des Georges Hyvernaud, S. 636I Die Aufmerksamkeit, die einem Schriftsteller zuteil wird, ist nicht nur von seinem literarischen Können abhängig. In beträchtlichem Maße (...)
LeseprobeSchoch, Julia
LITERATUR ALS RACHE Vom Auftauchen und Verschwinden des Georges Hyvernaud
I
Die Aufmerksamkeit, die einem Schriftsteller zuteil wird, ist nicht nur von seinem literarischen Können abhängig. In beträchtlichem Maße scheint es gerade auf außerliterarische Talente anzukommen. Kraft und Durchhaltevermögen, Dickhäutigkeit gegenüber Kritik, die Fähigkeit, sich vorzudrängeln und zugleich geschmeidig zu bleiben, sowie eine gewisse Selbstüberhebung sind allesamt gute Voraussetzungen, um sich im Literaturbetrieb gleich welcher Zeit zu etablieren und vor allem dauerhaft dort zu halten.
Im Fall Georges Hyvernauds (1902–1983) erscheint es besonders fatal, daß er keine dieser Eigenschaften besaß. Zumindest ist man geneigt, das Vergessen, dem seine Bücher jahrzehntelang anheimfielen, auf dieses außerliterarische Manko zu schieben. Welch himmelweiter Gegensatz zwischen dem Autor in Person und seinen Texten! Man stelle sich einen zurückhaltenden, beinahe linkischen Menschen vor, der in der Öffentlichkeit das Wort ergreifen will, dann aber, übermannt von Selbstzweifeln und spontaner Ernüchterung, von seinem Vorhaben absieht und still heimgeht. Zu Hause übermannt ihn Ärger über sein Versagen, und vor lauter Wut über diese ihm nur allzu bekannte Ohnmacht beginnt er wie rasend zu schreiben. (Der Furor, das Gewaltsame im Schreiben der Lebensmurmler, der Stammler, wäre eine eigene Analyse wert.) Nein, Georges Hyvernaud war sicherlich keine jener beeindruckenden Gestalten, die man in Intellektuellen gern verkörpert sieht. Aber wollte er das überhaupt sein, eine Instanz? Seine Hellsichtigkeit und sein Mißtrauen ließen ihn hinter solchen Rollen (hinter allen Rollen!) zeitlebens falsche Posen, selbstverpaßte Etiketten wittern. Diese angeklebte Würde war ihm nicht nur peinlich, sie wurde auch sein Thema. Stets hat Hyvernaud an der Entlarvung und Enttarnung des Menschen gearbeitet, um zu zeigen, was diesen wirklich ausmacht: das Mittelmaß. Eine Durchschnittlichkeit in Gestalt und Gehalt, die sich durch falsches Heldentum oder philosophische Programme immerfort aufzuwerten versucht. Und das in sämtlichen sozialen Schichten. Bei einer bleibt er allerdings besonders häufig hängen, den sogenannten kleinen Leuten mit ihrem vermeintlichen kleinen Glück. Als Sohn einer Näherin und eines Schlossers ist Hyvernaud mit der kleinbürgerlichen Welt vertraut, und das heißt ganz konkret: beengte Wohnungen, Belästigung durch Geräusche und Gerüche, Armseligkeit nicht nur in materiellen Dingen, sondern auch im Denken. Die Menschen, von denen er erzählt, haben keinen Durchblick, begehren nicht auf, fügen sich dem sogenannten Schicksal. Immer wieder tauchen in seinen Büchern die Erkennungszeichen solcher Leben auf, Bügelbrett und Vogelkäfig, Kaktus und Spülstein, der Gasmann und das gute Geschirr, Sonntagsanzüge und Sonntagsbraten, alles Elemente einer Welt, die keine Höhenflüge zuläßt. Sein Schreiben: auch eine Rache an diesen Verhältnissen. Für Hyvernaud halten sie einen auf ewig gefangen, gerade unter widrigen Umständen. Gerade unter Extrembedingungen, scheint er sagen zu wollen, wird der Mensch, was er immer schon war – und auf keinen Fall ein Held.
II
Extrembedingungen. Müßig darüber nachzudenken, was andere Erlebnisse und Erfahrungen aus ihm gemacht hätten. Für Georges Hyvernaud waren es fünf Jahre, die nicht nur sein Schreiben in Gang setzten, sondern auch seine Sicht auf den Menschen besiegelten: 1939 wird er, damals Lehrer in Rouen, zur Armee eingezogen, gerät im Mai 1940 bei Lille in deutsche Gefangenschaft und kommt in ein Lager in der Nähe von Arnswalde in Pommern (heute: Choszczno). Befreit wird er erst im April 1945, aus einem Lager im westfälischen Soest, wohin die vor den Russen und Amerikanern flüchtenden Deutschen die übriggebliebenen Gefangenen getrieben hatten. Mit acht engbeschriebenen Oktavheften und ein paar losen Blättern in der Jackentasche gelangt er nach Paris, wo er bis zu seinem Tod bleibt. »Später werden die Historiker drüber schreiben, über dieses unförmige Abenteuer, in dem wir versackt sind. In den Büchern werden kurze, klare Sätze stehen: ›Die Deutschen machten auf ihrem Feldzug gegen Frankreich zwei Millionen Gefangene …‹ Es wird Landkarten geben, mit Pfeilen und Kreisen, um zu erklären, wie das Ganze abgelaufen ist.« So knapp kommentiert der Erzähler in Hyvernauds erstem Buch »Haut und Knochen« (1949) das Erlebte.
Auch wenn sein erster veröffentlichter Roman unter dem Eindruck der Gefangenschaft entsteht, wäre es falsch zu glauben, Hyvernauds Menschenbild sei im Lager geprägt worden. Nein, Krieg und Lager haben es nur mehr bestätigt. Jean-Paul Sartre schrieb später über seine Zeit als Kriegsgefangener (die freilich sehr viel kürzer war), er sei im Lager glücklich gewesen: Nicht mehr individuell sein Heil suchen zu müssen, sondern als austauschbares Teilchen am Abenteuer Kollektiv teilzunehmen, gab seinem Leben eine völlig neue, wunderbare Wendung. Der Beginn seines Engagements war gesetzt. Hyvernauds Erfahrungen waren andere.
Ein Mann kommt nach fünf Jahren aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause. Er trifft auf die alte Welt: Verwandte, seine Ehefrau, ehemalige Freunde – sie haben eine Flasche Wein für ihn bereitgestellt, eine Torte gebacken. Man plaudert, lacht, bittet um Geschichten. Was er denn so erlebt, wie er sich so durchgeschlagen habe, kommt die Frage aus der Runde. Naiv, drollig und ignorant, und der Mann antwortet brav. Äußerlich scheint der Ich-Erzähler in »Haut und Knochen« problemlos an die Unschuld der Vorkriegszeit anzuknüpfen. In Wahrheit aber rückt er von allem ab. In Wahrheit, das heißt in seinem Innern, wo mit Furor eine Stimme zu sprechen beginnt. Eine Stimme, die alles, was der Mann jetzt, im Frieden, sieht und hört, aufs Unerbittlichste mit dem abgleicht, was er gerade erlebt hat. Bei seiner Mobilmachung 1940 war Hyvernaud kein ahnungslos in den Krieg taumelnder Gymnasiast mehr. Er gehörte einer Generation an, die zwischen zwei Weltkriegen ihr Leben entwerfen mußte: Beim ersten waren sie zu jung, beim zweiten schon zu erwachsen, um ihn noch in unschuldiger Verwirrung zu erleben. Auch die Mitgefangenen, die als Figuren in seinen Büchern wiederkehren, sind keine jungen Männer mehr. Wie Hyvernaud, der nach der École Normale Supérieure 1924 in die Lehrerausbildung geht, 1936 heiratet und ein Jahr später Vater einer Tochter wird, lassen sie alle ein Leben mit Familie und Beruf zurück. Diese »vom Krieg zusammengetrommelte Generation« ist Hyvernauds erstes Beobachtungsobjekt. Zum genauen, erbarmungslosen Hinsehen zwingt ihn auch das ständige Eingeschlossensein in der Menge. Vielleicht der größte Fluch für einen, der denkt und schreibt: nie allein sein. Das Bedrängtwerden durch die anderen pariert er in seinen Büchern mit schneidendem Urteil über sie. Aus ihren Unterhaltungen – sie kreisen meist um Zeitungsmeldungen, Schnulzenrefrains, Anekdoten Handlungsreisender – kann er nichts als »die Offenbarung ihrer inneren Armut« heraushören. Ob Krieg oder Frieden, der Mensch bleibt sich gleich. Es ist klar, daß aus dieser Sicht kein wohltemperierter, hübsch gefertigter Realismus erwachsen kann. Statt dessen ein Geflecht von Szenen und Bildern, so wiedergegeben, wie sie sich der Seele eingeprägt haben. Erinnerungen und Wahrnehmungen, die ungeschützt über- und nebeneinanderliegen. Die Freizeit – so nennt es Hyvernaud – der Gefangenen, das Absitzen des Krieges, das Warten, die Latrinen, die Toten im Russenlager nebenan, die Macken der Mitgefangenen, der Wahnsinn, der menschliche Verfall um ihn herum. Doch darf man sich nicht täuschen: Hyvernauds Bücher sind keine Zeitzeugenberichte, keine Erinnerungsliteratur. Die Erinnerung dient dazu, die Gegenwart zu beschreiben, nicht umgekehrt. Denn da ist die Wiederbegegnung mit all den Gespenstern in den Straßen von Paris, als der Krieg vorbei ist …
III
Im Dezember 1946 erscheint ein Kapitel aus »Haut und Knochen« in der von Sartre soeben gegründeten Zeitschrift »Les Temps Modernes«. Es heißt sogar, Sartre habe Hyvernaud die Mitarbeit angeboten. Der jedoch lehnt ab, vielleicht, um seine Unabhängigkeit zu wahren. Wußte er, der nie ein Parteibuch besaß, aber seit 1935 Mitglied des »Comité de Vigilance des intellectuels antifascistes« war, daß es in einer Zeit, in der einander widersprechende Ideologien jegliches Denken zu Parolen und Leitsätzen zusammenstauchten, kein freies Sprechen geben konnte? Daß er hätte Kompromisse schließen müssen? Wer eine solche Entscheidung trifft, geht das Risiko ein, nicht gehört zu werden. Oder erst viel später.
Fest steht: Als der Roman 1949 bei den Éditions du Scorpion herauskommt, findet er kaum Anerkennung. Immerhin, es werden 3000 Exemplare verkauft, es gibt hier und da Besprechungen, doch der Autor ist schnell wieder vergessen. Mag sein, daß der kleine Pariser Verlag nicht die glücklichste Wahl war, um eine breitere Leserschaft zu erreichen. In erster Linie aber stand das Buch im Widerspruch zu allem, was der politisch-literarische Betrieb der Nachkriegszeit in Frankreich erwartete. Von ehemaligen Kriegsgefangenen akzeptierte man erbauliche, realistisch erzählte Fluchtgeschichten, allenfalls noch Anekdoten aus dem harten Lagerleben. Hyvernauds Erzählung von Verfall und Zerrüttung aber wirkte gänzlich unheldisch. Sie widersprach dem Widerstandsund Befreiungsmythos der Franzosen. Keine Ideen, keine Vorschläge für Politik und Gesellschaft, über die man hätte diskutieren können.
[…]
SINN UND FORM 5/2013, S. 636-642
Herbert, Zbigniew
Ein Fels der im Meere wächst und nicht benannt werden will. Gedichte, S. 643Tabucchi, Antonio
Meine Straßenbahnfahrt durch das 20. Jahrhundert, S. 647González, Tomás
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diese Geschichte, die aus dem wenigen entstand, das ich weiß oder erinnere, und dem unendlich vielen, das ich nicht weiß (...)LeseprobeGonzález, Tomás
Reise an die Küste
Für Don Gabriel
diese Geschichte, die aus dem wenigen entstand, das ich weiß oder erinnere, und dem unendlich vielen, das ich nicht weiß oder vergessen habe.»Übermorgen ist der dritte«, sagte die Mutter.
»Schon wieder November«, erwiderte Emma. »Das Jahr ist wie im Flug vergangen.«
Am nächsten Tag räumten Mutter und Tochter das Bett und die anderen Möbel aus dem Zimmer, von dem man auf die Mangobäume und die Gartenmauer dahinter schaute, und stellten zwei Reihen Stühle auf – so wurde es zum Eisenbahnwagen. Aus dem Wohnzimmer entfernten sie allen Zierrat und hängten die Bilder ab – der Wartesaal. Den Schreibtisch rückten sie in den Gang; er sollte als Fahrkartenschalter, als Theke und außerdem als Ablage für die schwarzen Papptafeln dienen, auf denen mit weißer Kreide die einzelnen Stationen geschrieben standen. Die hatten sie nach ihrer Erfahrung mit der ersten Reise angefertigt und in der richtigen Reihenfolge bereitgelegt, um nicht wieder durcheinanderzukommen. In La Dorada mußte man in den Expreso del Sol umsteigen.
»Ich werde Käsestückchen in Bananenblättern verkaufen«, sagte Emma.
Sie war das jüngste der acht Kinder und wohnte als einzige noch bei den Eltern. Während der alljährlichen Reise ihres Vaters an die Küste mußte sie verschiedene Rollen spielen, und für jede hatte sie die passenden Kostüme und Requisiten zur Hand: Käseverkäuferin, Gebäckverkäuferin, Verkäufer von bunten, auf einen Pfahl gespießten Lutschern, auf einer Bahnhofsbank eingenickte Frau, Polizist mit Schlagstock und angeklebtem Schnurrbart, alleinreisender junger Mann, der Aguardiente aus der Flasche trinkt, und viele andere.
»Und Karamelkekse bitte«, sagte Jesusita.
Am Abend packte Don Rafael seine Sachen, und sie achtete darauf, daß alles komplett war. Das letzte Mal hatte er acht Unterhosen eingepackt, aber keine Socken. Er würde von allem zwei Paar brauchen für die zwei Tage, die sie bei seiner Familie in Barranquilla zu Besuch sein wollten.
Im vergangenen Jahr hatte Don Rafaels Mutter, die fünf Jahre zuvor mit 95 und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte gestorben war – zu viele Kräfte und zu besitzergreifend, fanden manche ihrer Enkel –, ihren Sohn noch ungestümer als sonst zum Bleiben gedrängt, denn eine so lange Reise lohne sich nicht für einen so kurzen Besuch. Als sie ihn schon beinahe überredet, ja, fast genötigt hatte, war Jesusita gezwungen einzugreifen – obwohl es ihr unheimlich war und sie sich allein auf ihre Intuition verlassen mußte, denn sie konnte nicht wissen, was ihre Schwiegermutter sagte, sie hörte ja nur, was Don Rafael antwortete. Aber sie machte es sehr gut und erreichte schließlich, daß Don Rafael zurückkehren durfte.
Jesusita und Don Rafael waren zeitig am Bahnhof, kauften ihre Fahrkarten und setzten sich in den Wartesaal.
»Hoffentlich hat er nicht wieder Verspätung«, sagte sie und schaute auf die Bahnhofsuhr.
»Wir sind früh dran«, sagte Don Rafael.
»Ja, nicht wahr?« sagte Jesusita rasch, glücklich darüber, daß er zum ersten Mal seit Monaten wieder sprach.
Emma, in den Kleidern der Verkäuferin des Bahnhofskiosks, reichte ihrem Vater zwei Kaffee und vier Karamelkekse über den zur Theke gewordenen Schreibtisch. Trotz der Hitze ergriff Don Rafael die Tasse mit beiden Händen, als wolle er sich wärmen, und schlürfte geräuschlos. Jesusita hatte ihm einen Wollpullover eingepackt, denn nachts wurde ihm schnell kalt, sogar im warmen Klima von Honda.
»Man kann ihn schon hören«, sagte Don Rafael nach einer Weile.
Sie schaute auf die Uhr. Nur zwanzig Minuten Verspätung. Letztes Jahr war es fast eine Stunde gewesen, wegen eines Erdrutschs am Alto de la Mona, und um ein Haar hätten sie den Anschlußzug in La Dorada verpaßt. Jesusita liebte das Reisen, und besonders diese Reise, die 25 bis 35 Stunden dauern konnte und auf der man so viel erlebte. Sie genoß den Duft der Pflanzen, der durchs Waggonfenster hereinkam, den Wind und sogar den Dieselgeruch der Lokomotive. »Ja. Ich kann ihn auch hören.«
Die erste dieser Reisen lag vier Jahre zurück. Don Rafael hatte nach und nach das Gedächtnis und die Fähigkeit, die Dinge zusammenzuhalten, verloren und lebte schon seit langer Zeit in einem Zustand, in dem er nichts mehr tat und kaum noch redete. Eines Abends sah Jesusita, wie er seinen Koffer aus der obersten Ablage des Wandschranks holte und zu packen begann.
»Willst du verreisen?« fragte sie ihn, und er sagte, ja, und forderte sie auf, ebenfalls zu packen, denn sie müßten nach Barranquilla fahren. Seine Mutter habe Geburtstag, und die ganze Familie würde zur Feier kommen. Jesusita wußte sofort, woran sie war, und brauchte nicht erst zu fragen, wie er zu reisen gedachte, denn Don Rafael war seit seiner Zeit als Vertreter für Singer-Nähmaschinen – bevor er sich in Honda niederließ, Jesusita kennenlernte und die Eisenwarenhandlung aufmachte – ein großer Freund der Eisenbahn.
»Deine Mutter lebt nicht mehr, Rafael, und den Zug haben sie abgeschafft«, erinnerte sie ihn, doch er packte schweigend weiter.
Jesusita überlegte einen Moment, wie sie damit fertigwerden sollte.
»Alles klar«, sagte sie. »Fahren wir!«
Weil damals niemand vorbereitet war, gab es Probleme mit den Sitzplätzen, mit den Namen der Stationen, bei der Versorgung mit Reiseproviant, und obendrein machte ihnen die Hitze zu schaffen. Trotzdem war die Reise für Jesusita ein unvergeßliches Erlebnis. Danach lernten sie, die Dinge besser zu organisieren, und die Fahrt an die Küste wurde für alle zu einem Vergnügen, auch wenn sie so lange dauerte und es jedes Jahr am Ende ihres Besuchs unweigerlich zu einem häßlichen Zusammenstoß zwischen Jesusita und ihrer aufdringlichen Schwiegermutter kam.
Sie erreichten La Dorada. Emma rannte am einfahrenden Zug entlang und bot Weintrauben und Ananasscheiben feil. Sie machte ihre Sache so gut, daß der Eindruck entstand, sie würde nicht allein rennen, sondern mit einer ganzen Schar von Kindern und Jugendlichen, die etwas zu verkaufen hatten. Jesusita und Don Rafael verließen den Zug und bahnten sich durch das Chaos der Verkäufer einen Weg zu den Toiletten. Danach stiegen sie in den Expreso del Sol, der gerade eingetroffen war und den Verkäufern zufolge in zehn Minuten weiterfahren sollte.
Nachdem sie das Gepäck verstaut und ihre Plätze eingenommen hatten, reckte Jesusita, nach Luft schnappend, den Kopf aus dem Wagenfenster, um zu sehen, wo Emma blieb. Die Hitze war so groß geworden, daß der Fächer, mit dem sie sich Kühlung zuwedelte, nicht mehr ausreichte. Wie immer, wurden aus den zehn Minuten fünfzehn, dann zwanzig und schließlich dreißig, bis sich der Zug endlich in Bewegung setzte und die Ventilatoren für frische Luft sorgten. »Man kann den Fluß riechen«, sagte Don Rafael.
Vom leichten Schaukeln der Eisenbahn eingelullt, nickten sie nach La Dorada ein. Als sie aufwachten, fuhr der Zug gerade durch Caño Alegre, einen Ort, der keinen richtigen Bahnhof hatte, sondern nur einen Bahnsteig, an dem der Expreso del Sol nicht hielt. Jesusita hatte die Augen wegen des Fahrtwinds halb geschlossen und sog den Geruch der Pflanzen und des Gestrüpps entlang der Gleise ein. Die ersten fünf Stunden waren im Nu vergangen. Aus dem Proviantkorb nahm sie Sandwiches, die sie am Abend vorbereitet hatte, in Dreiecke geschnitten und ohne Rinde, belegt mit Ei, Wurst, Tomaten, Salatblättern und Mayonnaise. Aus einer Thermoskanne, die auch im Korb war, schenkte sie kalte Limonade ein.
er Tag erreichte seinen strahlenden Höhepunkt. Don Rafael sah, wie die Rinder auf den Weiden, über die die Eisenbahnstrecke führte, den Schatten der Ceibas suchten, während die Reiher ihnen die Zecken aus der Haut pickten oder einfach nur auf ihren Rücken standen, als gehöre ihnen die Welt. Das Geländer einer Eisenbrücke flog am Wagenfenster vorbei, und unten, am Ufer eines kleinen Flusses, kniete eine Frau, die Wäsche auf einen Stein schlug und zu ihnen aufsah. Weder Don Rafael noch Jesusita kamen dazu, Emma zuzuwinken, denn der Blick aus dem Wagenfenster wurde durch ein vorbeisausendes Gestrüpp verdeckt. Dann ging es wieder über ausgedehnte Weideflächen mit Viehherden.
Don Rafael beobachtete leicht amüsiert seine Frau, die sich seit einiger Zeit mit halbgeschlossenen Augenlidern dem Fahrtwind hingab. Er konnte einem solchen Vergnügen nichts abgewinnen, er fand eher an handfesten Dingen Gefallen, an einem stabilen Weidezaun etwa oder einer majestätischen Hochspannungsleitung. Bis zu der Zeit, als er sich nicht mehr zurechtfand, hatte Don Rafael in seiner Eisenwarenhandlung gearbeitet, und deshalb zog ihn alles an, was aus Metall war, kleine Dinge wie das Räderwerk einer Armbanduhr oder monumentale Werke wie Eisenbrücken und das Gleisgelände in La Dorada. Sein Bruder Jaime saß jetzt neben ihm und erzählte von früher, als sie zum Angeln an die Ciénaga Grande gefahren waren. Wo war er eigentlich zugestiegen?
»Jaime arbeitet in Nare«, sagte Don Rafael.
Jesusita fand es nicht nötig zu berichtigen – denn Don Rafael hätte es sofort wieder vergessen –, daß Jaime in der Tat viele Jahre in der Zementfabrik von Nare gearbeitet hatte, aber seit mehr als zehn Jahren pensioniert war und jetzt in Barranquilla lebte. Falls man das leben nennen konnte, denn er litt an einem schweren Emphysem.
»Ah, ist er wieder dort?« sagte sie. »Wo ihm die Stelle doch gar nicht zugesagt hat.«
Don Rafael schaute aus dem Zugfenster und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt.
»Da, die Kuppel der Kirche von Puerto Nare.«
»Kannst du sie sehen?«
»Auf der Kirchturmuhr ist es jetzt eins.«
Jesusita machte sich nicht die Mühe, auf ihre eigene Uhr zu schauen. Es war ein Uhr.
Dann schlief Don Rafael ein. Sein Kinn war auf die Brust gesunken, und eine schlaffe graue Haarsträhne hing ihm in die Stirn. Jesusita stand auf, um mit Emma zu reden, die mit aufgestützten Ellbogen am Küchentisch saß und Kaffee trank. Emma hatte mit Flor telefoniert, ihrer ältesten Schwester, die in Armero wohnte und am Abend kommen wollte, um ihr bei der Reise zu helfen. Mit den anderen Geschwistern konnte man nur ab und zu rechnen, oder in Notfällen, denn sie hatten ihre Arbeit und Familien mit kleinen Kindern. Aber alle verfolgten den Verlauf der Reise, und wenn sie kurz vorbeikamen, brachten sie Emma Sachen zum Verkaufen mit – Backwaren, Würstchen oder eiskalte Hafermilch – und warfen einen Blick in den Eisenbahnwagen.
Kurz vor Puerto Berrío fing es an, in Strömen zu regnen. Emma war auf dem Bahnhof und bot, in ein Regencape gehüllt, Ananasscheiben, Weintrauben und Mandarinen aus ihrem Obstkorb an. Der Regen hatte die meisten anderen Verkäufer vertrieben, sie waren zur Gartenmauer geflüchtet, unter die Mangobäume.
»Wann fahren wir endlich weiter?« fragte Jesusita und wedelte sich mit ihrem Jungmädchenfächer – rote Rosen auf weißem Grund – etwas Luft zu. Emma hatte die Ventilatoren ausgeschaltet.
»Ich geh aufs Klo und erkundige mich unterwegs«, sagte Don Rafael. Kurz darauf hörte Jesusita die Spülung im oberen Stockwerk und wie er die Treppe herunterkam und mit Leuten sprach, wahrscheinlich mit anderen Reisenden oder mit jemandem vom Zugpersonal. Dann kam er in den Waggon zurück. »Es ist nicht voll, aber es sind eine Menge Leute da«, berichtete er, als wenn er, um das herauszufinden, seinen Platz verlassen hätte.
Für die zweite Reise hatte Emma aus Pappe die lebensgroßen Umrisse von zehn Personen ausgeschnitten, die sie mal als Reisende, mal als Verkäufer oder Streckenarbeiter einsetzte. Sie bewahrte sie mit der Weihnachtsbeleuchtung in einer Abstellkammer auf und holte sie jedes Jahr Anfang November wieder heraus. Im Augenblick waren sie Verkäufer und Verkäuferinnen, denen der Regen die Hosenbeine und Röcke naßgespritzt hatte. Neben dem Reigen der Hosen und Röcke sah Don Rafael die Körbe mit Maismehlkrapfen und Tamales, mit Käse und Guavengelee, mit gekochten Hühnern, die gelb und fettglänzend – für seinen Geschmack alles andere als appetitlich – ihre Keulen zum Himmel streckten.
Don Rafael aß immer sehr wenig. Seine Frau und seine Kinder sorgten sich um seine Gesundheit und forderten ihn bei Tisch ständig auf, sich mehr zu nehmen. Er trug Tropenhemden, hellblaue oder hellgelbe, fast weiße, immer makellos gebügelt, und seine schlanke Gestalt und seine vornehme Art zu sprechen flößten jedermann Respekt ein. In diese Würde und Eleganz hatte sich Jesusita vor mehr als fünfzig Jahren verliebt, als sie in Honda in die Ober schule ging. Und das war Don Rafael noch immer: ein stattlicher karibischer Gentleman, auch wenn sein Gedächtnis zerrüttet war.
Eine Stunde hinter Puerto Berrío hielt der Zug erneut. Der Regen hatte aufge hört, und die Sonne brachte die nassen Weideflächen zum Glitzern. »Wahrscheinlich arbeiten sie an den Gleisen«, sagte Jesusita, die ihren Mann kannte. Denn Don Rafael sagte dann, was er bei dieser Gelegenheit auf jeder Reise sagte, nämlich, daß nur ein Schwarzer fähig sei, bei dieser Sonnenglut die Schienen geradezubiegen. Dem stimmte sie zu.
»Schau mal, diese Rücken«, sagte sie.
Der kleine Trupp arbeitete vor der Lokomotive. Nicht alle Arbeiter waren schwarz, zwei der vier Männer waren Weiße, mit gelblicher Haut, Bierbäuchen und kräftigen Armen, aber die beiden, die gerade die Gleishämmer schwangen, waren Schwarze. Jesusita sagte: »Was für Prachtkörper die Negerbürschchen haben!« Ein bemerkenswerter Ausdruck von jemandem wie ihr, einer kleinen, zierlichen, trotz ihrer Jahre anmutigen Person, für die beiden Kolosse, zu denen nichts weniger paßte als eine solche Verniedlichung. Entlang der Gleise erstreckte sich ein Weidezaun mit MatarratónBäumen. Das Gras duftete.
Sie dösten in der feuchten Hitze vor sich hin, während die Streckenarbeiter in der Sonne rhythmisch auf die Schienen schlugen. Als sie fertig waren, traten die vier zur Seite und standen mit schweißglänzenden Körpern da, während der Zug sich mit leise quietschenden Rädern langsam in Bewegung setzte. Der Fahrtwind brachte Jesusita Kühlung, und sie schloß wieder die Augen. Doch hinter der scheinbaren Behaglichkeit quälte sie der Gedanke an die unver meidliche Auseinandersetzung mit der Schwiegermutter und die Schwierig keiten, die sich der Rückreise entgegenstellen könnten. Jesusita wollte auf gar keinen Fall an die Möglichkeit denken, ihren Mann Gott zurückzugeben, selbst wenn Don Rafael völlig unansprechbar werden und zu Hause kein Wort mehr sagen würde.
Als Flor mit Tamales und einem Kasten Limonade ins Haus kam, hatte der Zug schon eine ganze Weile im Bahnhof von Barranca gestanden, dessen intensive schwüle Hitze sprichwörtlich ist. Flor und Emma boten ihnen Tamales an, die Jesusita bezahlte und durchs Fenster entgegennahm.
»Sind sie auch wirklich frisch, ihr beiden?«
»Wenn sie sauer sind, bekommen Sie Ihr Geld zurück«, sagten die Verkäufe rinnen und kicherten.
»Aha! Ihr wollt uns also verhungern lassen, was?« sagte Jesusita, und die beiden lachten wieder.
»Sehr gut, der Tamal«, sagte nach einer Weile Don Rafael, der ungewöhnlich gesprächig war. Das Reisen schien ihm ein Stück Jugend zurückzubringen. »Es ist nicht ganz so heiß wie sonst, aber die Schwüle ist erdrückend“, sagte Jesuita. „Willst du Chili-Soße?“
Er wollte. Jesusita streckte den Kopf aus dem Fenster, um die Verkäuferinnen zu rufen, die ihr ein schmales Fläschchen reichten, aus dem Don Rafael ein paar Spritzer der feurigroten Soße auf seinen Tamal schüttelte. Emma und Flor hüpften unter ein und demselben gelben Schirm quietschvergnügt den Bahnsteig auf und ab. »Als ob es zwei Leute bräuchte, um ein paar Tamales zu verkaufen!« dachte Jesusita und schüttelte den Kopf. »Die sind doch viel zu groß für solche Albernheiten. Flor hat Kinder, die auf die Universität gehen, kaum zu glauben, und mit ihrer Figur sollte sie sowieso nicht so herumspringen.« Don Rafael hingegen machte es Spaß, den beiden jungen Verkäuferinnen zuzuschauen, wie sie – die eine rund, die andere wie ein Strich – ihre Arbeit auf dem Bahnsteig in ein Spiel verwandelten.
Der Zug fuhr wieder an. Am Abend kam Gonzalo, der jüngste Sohn, mit Nachschub für die Verkäuferinnen – Fleischtaschen und Maisfladen mit Käse – und um seine Rolle im Zug zu übernehmen. Er zog die Schaffneruniform an und ging durch den Wagen, um die Fahrkarten zu kontrollieren. Mit seinem einnehmenden Wesen, immer lächelnd, zuvorkommend und hilfsbereit, war er wie für diesen Job geschaffen. Als die Uniform geschneidert werden sollte, wußte keiner, wie die Schaffner früher gekleidet waren, denn es gab schon lange keine Eisenbahnen mehr. Am Ende entschieden sie sich für einen dun kelblauen Anzug, eine Mütze, auf die eine Tochter in weißen Buchstaben FCN stickte, und eine rote Krawatte. Rot war Gonzalos Lieblingsfarbe für Kra watten. Als Don Rafael ihn das erste Mal sah, schaute er seinen Sohn verdutzt an. Doch er sagte nichts und nahm es wohl hin, daß sich die Uniformen der Schaffner geändert hatten.
Inzwischen waren weitere Kinder und mehrere Enkel gekommen, und im Eßzimmer wurde es laut. Don Rafael hatte die Preise im Zugrestaurant immer als skandalös empfunden und darum auf seinen Geschäftsreisen fast nie dort gegessen. Kurz nach ihrer Hochzeit, als er noch bei Singer arbeitete und Jesu sita ihn zum ersten Mal auf einer Reise begleitete, hatte er sie, um sie zu beeindrucken, in den Speisewagen geführt. Sie war über die Preise entsetzt, und Don Rafael mußte sie darauf aufmerksam machen, daß ihr das Mittag essen nicht bekommen würde, wenn sie nur daran dachte, was es kostete.
Der Lärm im Speisewagen dauerte an, und Jesusita sagte, die dürften nicht geöffnet haben, wenn unsereins schlafen will. Trotzdem schliefen beide dann doch ein. Als sie erwachten, sahen sie das große Rund des Vollmonds, das sich feierlich über der Kordillere erhob, hinter der Gartenmauer, zwischen zwei Mangobäumen. »Die gute Emma!« sagte Jesusita zu sich selbst. »Ich dachte schon, sie würde es vor lauter Tratschen im Eßzimmer vergessen.« Der Mond war aus Aluminiumfolie, und Emma ließ ihn aufgehen, indem sie ihn mit einer Bambusstange hochhob und mit einer Taschenlampe anleuchtete. Auf einer der Reisen war der echte Mond über den Mangobäumen aufgegangen, und Jesusita war enttäuscht gewesen, weil sein Wunder dem Wunder des Taschenlampenmondes die Show stahl. Neben dem richtigen Mond sah die beleuchtete Scheibe wie ein Lampion aus.
»Jetzt kommt Chiriguaná, nicht wahr?«
»Jetzt kommt Gamarra«, sagte Don Rafael und zählte alle Stationen zwischen La Dorada und Ciénaga auf, und als Gamarra und Chiriguaná an die Reihe kamen, hob er die Stimme, wie um seine Frau zu ermahnen, sich ein für alle Mal die richtige Reihenfolge zu merken. Jesusita hatte natürlich genau gewußt, wie der nächste Bahnhof hieß, denn Emma stellte das Schild mit dem jeweiligen Ortsnamen immer so auf, daß es für ihre Mutter gut sichtbar war, aber sie wollte Don Rafael die Gelegenheit geben, mit seiner Antwort recht zu behalten.
In Gamarra hielt der Zug eine Stunde lang. »Was ist denn los, Señor?« fragte Jesusita den Schaffner, und Gonzalo sagte, die Lokomotive habe schon seit Villeta, also lange bevor die beiden eingestiegen waren, mit einer technischen Störung zu kämpfen, und man müsse eben Geduld haben auf einer so langen Reise. »Das Gute beim Reisen ist, daß man nie weiß, was einen alles erwartet«, sagte sie, entzückt von der Schönheit des Mondes über dem Kamm der Kordillere.
»Am besten, Sie schlafen eine Weile, dann wird Ihnen die Reise nicht zu lang, und Sie spüren die Hitze nicht«, sagte Gonzalo, »vor allem der ältere Herr.« Jesusita glaubte in seinen Worten einen leichten Vorwurf zu hören, als ob sie für diese Reisen verantwortlich wäre, die Don Rafael in den Augen der Familie aus seinem geruhsamen Lebensrhythmus rissen. »Bestimmt rede ich mir das nur ein«, dachte sie. Doch dann kam sie zu einem anderen Schluß: »Sie sind schon ungerecht, die Kinder.«
Von all den heißen Orten am Mittellauf des Magdalena ist Gamarra der heißeste, weil hier fast nie ein Wind weht. Jesusita fächelte sich Luft zu, und Don Rafael befeuchtete sein langes, schmales Gesicht mit einem Taschentuch, das so weiß war wie Emmas Mond über der Gartenmauer. »Eine Reise ohne Hitze ist keine Reise«, dachte Jesusita, als würde sie auf Gonzalos Bemerkung antworten. »Dann kann man ja gleich zu Hause bleiben.«
»Länger als eine halbe Stunde wird es bestimmt nicht mehr dauern«, sagte Don Rafael. In der rechten Hemdtasche hatte er ein weiteres Taschentuch, auch mit Kölnisch Wasser getränkt und genauso weiß wie das erste. Damit erfrischte er sein Gesicht, seine glattrasierten Wangen und die Stirn, und ab und zu hielt er es sich an die Nase und atmete den herben Duft ein, als wolle er auch seinen umnebelten Geist beleben. Jesusita schaute Emma an und gab ihr mit den Augen einen Wink, die Ventilatoren anzustellen.
Aus dem Transistorradio eines Fahrgasts im hinteren Teil des Waggons erklang das Lied »Los Sabanales«, gespielt von den Corraleros de Majagual, einer in dieser Gegend sehr bekannten Band. Don Rafael mochte die Vallenato-Musik nicht, sie war ihm zu primitiv, und wenn man ihn auf diese Gruppe angesprochen hätte, hätte er gesagt, natürlich kenne er Majagual, er sei ja oft dort gewesen, aber diesen plärrenden Viehhirten sei er nie begegnet. Jesusita hingegen, die trotz ihrer siebzig Jahre immer noch gern tanzte, bewegte kaum merklich ihre angewinkelten Arme und die Schultern zum Rhythmus der Musik.Von Gamarra an, oder schon vor Gamarra, waren in einem fort Vallenato- Melodien zu hören, als wollten die fremden Klänge ihnen einhämmern, daß sie nun in einer anderen Welt waren.
Hier sitze ich
Und singe von meiner Savanne
Denn alles, woran ich mich erinnere,
Ist auf diesen Hügeln geblieben.Das hätte man von Don Rafael auch sagen können, daß ihm nur die Erinnerungen an früher geblieben waren, an die Küste, dachte Jesusita. Alles andere hatte er verloren oder war dabei, es zu verlieren. Was für ein Jammer. Ein schönes Lied, wirklich schön, dachte sie. Don Rafael war eingeschlafen, und das bedeutete, daß die Reise länger dauern würde, als Jesusita und Emma vorgesehen hatten. Später in der Nacht öffnete er die Augen und fragte, wo sie seien. Da nahmen die Ventilatoren ihre Arbeit wieder auf, und die Reise ging weiter.
In Chiriguaná hatte es gerade geregnet, darum war es außergewöhnlich frisch für diesen sonst so heißen Ort. Der Zug hielt, und bevor Emma hinter die Gartenmauer ging, um die Position des Mondes ein wenig zu verändern, stellte sie die Ventilatoren auf die niedrigste Stufe. Es waren zwei hellblaue Geräte der Marke Sankey, die für die Eisenbahnfahrten immer in einem bestimmten Abstand zur Waggontür aufgestellt wurden.
»Es ist kühl geworden, Frau«, sagte Don Rafael, und sie half ihm, sich den Pullover überzuziehen.
In Chiriguaná stiegen zwei Männer zu, die er offenbar kannte, die Jesusita aber nicht zuordnen konnte. Nach der förmlichen Art zu urteilen, in der er mit ihnen sprach, standen sie ihm nicht sehr nahe, vielleicht waren es Bekannte der Familie, die er lange nicht gesehen hatte. Don Rafael war anzumerken, daß er die beiden rasch loswerden wollte, obwohl er immer höflich blieb. Als sie endlich gegangen waren, verkniff es sich Jesusita, ihn nach den Männern zu fragen, denn sie hatte gemerkt, daß ihm die Begegnung unangenehm gewesen war. Auf der ganzen Strecke nach Aracataca ging ihr die Sache nicht aus dem Kopf. Etwas sagte ihr, daß die beiden vielleicht mit Don Rafaels Mutter zu tun hatten, aber zuerst traute sie sich nicht zu fragen, und dann vergaß sie es.
Sie waren jetzt zwanzig Stunden unterwegs. Mit zunehmender Müdigkeit verloren die Bahnhöfe für Jesusita ihren Reiz: einer war wie der andere. Den Verkäufern sah man an, daß sie übernächtigt waren, und die Käsestückchen in den Bananenblättern wurden säuerlich. Nur der Mond schien weiter in voller Pracht. Jesusita kannte diese Müdigkeit, die sich tief in der Nacht einstellt und auf einer langen Reise jeden überwältigt.
Don Rafael war eingeschlafen und sprach im Schlaf, wie Jesusita vermutete, mit den beiden Männern, die ihn vor ein paar Stunden im Zug begrüßt hatten. »Ja, ja, hm. Gut, ja, gut, aber vorher muß ich sie fragen«, sagte er entschieden, als sei das sein letztes Wort, bevor er still weiterschlief.
Jesusita schaute weg, zur Decke hinauf, um sich zu beruhigen.
»Da ist noch was, Ángel, warte einen Moment!« rief Don Rafael plötzlich und öffnete die Augen, als die beiden Männer offenbar schon an der Tür zum nächsten Waggon waren. Da dämmerte es Jesusita, daß es sich bei dem einen vielleicht um Ángel Oñate handelte, einen Schulfreund von Don Rafael, den er oft erwähnt hatte, weil er als junger Mann gestorben war, an Kälte und an Heimweh, als er in Tunja Jura studierte.
»Und was, wenn sie nein sagt?«
Der Zug stoppte abrupt mitten auf der Strecke, und die Schaffnerin kam und sagte, eine Kuh blockiere mit ihrem Kalb die Gleise. Gonzalos Uniform war Emma etwas zu groß, und Jesusita dachte, daß sie mit den aufgekrempelten Hosenbeinen wie ein Kind aussah, das sich als Erwachsener verkleidet hat. Die Kuh wurde vom Bahndamm getrieben, und sobald sich der Zug in Bewegung setzte, sprangen die Ventilatoren wieder an.
Als auf beiden Seiten die Bananenpflanzungen begannen, weckten die zunehmende Geschwindigkeit und die Üppigkeit der Welt draußen Jesusitas Lebensgeister. Natürlich würde sie nein sagen! Was dachten sich diese Narren eigentlich? Weder Ángel Oñate noch irgendein anderer Engel oder sonst ein Wesen würde es mit ihr aufnehmen können!
Sie passierten den Bahnhof von Aracataca in jenem unbestimmten Moment, da es nicht mehr Nacht und noch nicht Tag ist, oder beides, in dem alles eins wird, Tag und Nacht, Leben und Tod, Wachen und Träumen. Der Zug hielt nicht, sondern drosselte nur die Geschwindigkeit, denn um diese Uhrzeit wollte niemand ankommen oder ließ die letzten Straßen des Ortes hinter sich, nahm wieder Fahrt auf, und allmählich erwachte der Tag, mit Reihern, Wolken und Schwalben.
Emma hatte im hinteren Teil des Wagens Platz genommen und war jetzt der alleinreisende junge Mann, der regelmäßig, aber in kleinen Schlucken Aguardiente trinkt, während die Welt am Fenster vorbeizieht. Ein anderer Reisender schaltete sein Transistorradio ein und begrüßte den Tag mit einem rhythmischen Vallenato.
Das Lied handelte davon, daß die vergangene Zeit nicht wiederkehrt und daß von dem, was man geliebt hat, nur die Erinnerung bleibt. Und nicht einmal die Erinnerung, dachte Jesusita. Alle Lieder hatten irgendwie mit Don Rafael zu tun. Doch dann empörte sich etwas in ihr. Wer sagt denn, daß er keine Erinnerungen hat, he? protestierte sie aufgebracht und fast in Panik, als hätte jemand ihre Gedanken gelesen und könnte aus diesem Moment der Schwäche und Unachtsamkeit seinen Vorteil ziehen. An das, was vor langer Zeit geschehen ist, erinnert er sich doch sehr genau! Und selbst wenn er keine Erinnerungen hätte, was sagt ihr dazu, daß er noch reist oder sich seine Fischsuppe schmecken läßt, auch wenn er nur wenig ißt, weil er einen Vogelmagen hat? Wer will behaupten, daß das nichts ist? Muß er sich vielleicht um eine Stelle bewerben? Nein. Er hat sein Arbeitsleben hinter sich und hat es gut gemacht und gutes Geld verdient. Wenn es sich einer leisten kann, das Gedächtnis zu verlieren, dann er. Dabei macht Don Rafa immer noch eine gute Figur, auch ohne Gedächtnis, dachte Jesusita, er ist nett und höflich zu den Menschen, auch wenn er sie nicht mehr erkennt.
Diese Auseinandersetzung mußte sie jedes Jahr am Ende ihres Besuchs mit ihrer Schwiegermutter führen, die in ihrer arroganten Art darauf beharrte, daß es sich nicht lohne, auf der Welt zu bleiben, wenn man sich nicht mehr erinnere. Die hat gut reden, nicht wahr? Sie, die nicht mehr auf der Welt ist, dachte Jesusita, und die nichts mehr zu verlieren hat. Aber Don Rafael war noch am Leben und für manche Dinge sehr empfänglich. Mit welchem Vergnügen er dem Gesang der Trupiale lauschte! Und ihre Schwiegermutter, wie kam die überhaupt dazu, sich in ihre Ehe einzumischen, bitte sehr! Aber so war sie immer gewesen. Eine tyrannische Frau.
»Kommt jetzt Fundación, Rafa?« fragte sie ihren Mann, der gerade aufgewacht war.
»An Fundación sind wir längst vorbei, Frau!«
Wenn sich jemand an all diese Orte erinnert, dann interessiert ihn die Welt doch noch, oder? ereiferte sich Jesusita. Warum sollte er sie denn verlassen, solange er sie genießt? Don Rafael zählte die Stationen zwischen Gamarra und Ciénaga auf und betonte die Ortsnamen, als er zu Fundación, Aracataca und Sevilla kam. Jesusita lächelte. Es machte sie verlegen, in ihrem Alter das Wort Liebe zu denken. »Wie stark einen das gefangenhält!« dachte sie vielmehr. »Und um wieviel Uhr waren wir eigentlich in Fundación? Ich hab’s gar nicht gemerkt.«
Es war schon hell, als sich vor Jesusita die Ciénaga Grande, die Große Lagune, in ihrer ganzen Schönheit auftat. Die auf Pfählen in den See gesetzten Häuser schwebten im Nebel, und die Ciénaga hatte sich in Dampf und grüne Schatten aufgelöst. Das Bild erinnerte Jesusita an das »Haus in der Luft«, von dem in einem dieser Vallenato-Lieder die Rede war, die seit einiger Zeit ohne Unterlaß aus dem Transistorradio schallten. Jesusita hätte Emma oder Gonzalo bitten können, es auszuschalten, besser gesagt: Sie hätte sich beim Zugpersonal über die Musik beschweren können, die sie nicht bestellt hatte – doch in Wirklichkeit hörte sie sie gern und hätte am liebsten mitgesungen oder im Gang dazu getanzt, und sei es nur ein paar Sekunden lang.
Am Bahnhof von Sevilla war Emma wieder auf dem Bahnsteig. Sie sahen, wie sie am Zug entlanglief und gekochte Eier, Brötchen und Costeño-Käse verkaufte, den Jesusita liebte. Manche dieser regionalen Spezialitäten genoß sie sogar mehr als Don Rafael. Die Kola Román, zum Beispiel, die süß wie Sirup ist – wenn sie die kalt trank, eiskalt, und dazu den sehr salzigen und trockenen Costeño-Käse und ein rundes, süßliches Brötchen aß, wie es sie nur an der Küste gibt, war das für sie das Höchste. Das Rubinrot des Getränks war wunderschön und leuchtete wie eine Neonreklame. Don Rafael dagegen verabscheute dieses Zuckerwasser, und früher, als er noch mehr redete, sagte er immer, dieses pappige Zeug, das sie Brötchen nennen, habe mit Brot überhaupt nichts zu tun. Und wenn Jesusita der Gesang der Mariamulata-Vögel bezauberte, antwortete er, wie immer nicht unhöflich, aber etwas mürrisch: »Ach, diese Flatterviecher.«
Mariamulata- und Guanabó-Vögel waren die ganze Zeit in den Palmen zu hören, solange der Zug im Bahnhof stand. Wenn Jesusita ein Glücksgefühl empfand, wehte es wie ein Luftzug heran, unverhofft und leicht. Zwei oder drei Dinge mußten zusammenkommen, Palmen, frische Luft und Vögel, so wie jetzt, und da war es schon, das Glück. Aber genauso leicht verschwand es wieder. Eine ganze Weile hatte sie schon nicht mehr an Ángel Oñate und ihre Schwiegermutter gedacht, aber als jetzt ein Rütteln durch die Waggons ging und dann der Zug mit einem Ruck anfuhr, waren sie in ihren Gedanken wieder da. Wenn sie ihn holen, müssen sie mich auch mitnehmen, die Elenden, dachte sie mit solcher Intensität, daß auf einmal die Vögel nicht mehr zu hören waren, als habe ein ehrfurchtgebietendes oder heiliges Ereignis sie zum Schweigen gebracht. Da spürte sie eine kalte Angst im Bauch, denn das Jahr würde kommen – nicht dieses, da sollten sie sich bloß keine Hoffnungen machen, dachte sie, aber es würde unausweichlich kommen –, in dem es mit Don Rafaels Rückreise schwierig würde.
»Wie schön die Ciénaga Grande war!« sagte Jesusita, um sich abzulenken. »Aber Mädchen, die Ciénaga kann man vom Zug doch gar nicht sehn!« »Dann hab ich wohl geträumt«, sagte Jesusita. »Aber schön war sie auf jeden Fall. Ganz in Nebel gehüllt.«
Als sie endlich im Bahnhof von Ciénaga ausstiegen, waren Don Rafael die Strapazen der Reise anzusehen. Jesusita verzichtete darauf, in Ruhe einen Kaffee zu trinken und sich im Bahnhof umzuschauen, dessen hohes Dach für Frische sorgte und der ihr wegen der Holzschnitzereien über den Fenstern besonders gut gefiel. Statt dessen gingen sie gleich zum Bus nach Barranquilla. Obwohl ihr alle Bahnhöfe gefielen, jeder auf seine Art, mochte sie den von Ciénaga am liebsten. Vor kurzem hatte sie irgendwo ein Foto des Gebäudes gesehen, doch wirkte es darauf etwas heruntergekommen und verlassen. Das hohe, mit Zinkblech gedeckte Dach war zwar zu sehen, aber das Gebäude sah nicht so aus, als habe es dort je Holzschnitzereien gegeben.
»Hier hast du sie jetzt, die Ciénaga Grande«, sagte Don Rafael auf der Fahrt im Bus, der sich mit Böen von Meeresluft füllte. Auf der einen Seite die Pracht der Mangroven der Lagune, auf der anderen die Herrlichkeit des Meeres. »Schön, nicht?« sagte Jesusita.
»Was? Ach ja«, sagte Don Rafael zerstreut, ganz ein Mann der Küste, der keine romantischen Gefühle mit dem Meer verbindet. Tatsächlich schien ihn die Ciénaga mehr zu interessieren, vielleicht weil mit ihr die Farben und Gerüche seiner Jugend zurückkamen, die Angelausflüge mit seinen Brüdern.
In Barranquilla wurden sie von Mercedes, Don Rafaels jüngster Schwester, mit einem Fischeintopf in ihrem hübschen Haus empfangen, das modern war, aber schattig mit seinen halbgeschlossenen Rollos und blühenden Tulpenbäumen im Garten. Mercedes war eine leidenschaftliche Köchin. Sie gehörte zu jenen, die nur für fünfzehn oder mehr Personen kochen können, und für so viele kochte sie, auch wenn nur zwei Gäste geladen waren. Zum Glück kamen fast immer mehr als zehn, denn die Familie war groß und hatte viele Freunde, die mit der Zeit auch Teil der Familie geworden waren. Mercedes war eine wohlbeleibte Frau mit einem schönen Gesicht und leuchtenden Augen und dirigierte von ihrem Stuhl im Wohnzimmer drei Köchinnen und einen jungen Mann, der als Küchengehilfe und Bote arbeitete.
Als Jesusita von Mercedes umarmt wurde, fühlte sie sich wie in Abrahams Schoß. Sie wurde von der Körperfülle ihrer Schwägerin – Gott hab’ sie selig – und der menschlichen Wärme, die sie ausstrahlte, fast erstickt und lebte auf im Bewußtsein, daß Mercedes sie genauso innig liebte, wie deren Mutter sie verachtete. Daß die mollige Mercedes und der schmale Don Rafael Geschwister waren und sich sogar ähnlich sahen, wunderte sie ebenso wie die große Ähnlichkeit zwischen der dicken Flor und ihrem hageren, schlaksigen Vater.
Die beiden Frauen schauten zu, wie er langsam die Treppe hinaufstieg, und tauschten mitleidsvolle Blicke, denn sie wußten, daß er in das Zimmer ging, das seine Mutter die letzten Jahre bewohnt hatte und das Emma mit großer Sorgfalt hergerichtet hatte, damit sie in Ruhe miteinander reden konnten. Danach würden die anderen Geschwister und viele Neffen und Nichten eintreffen, und bis spät in die Nacht würde Musik zu hören sein.
Später, im Bett, wurde Jesusita von jenem Schaukeln in den Schlaf gewiegt, das man nach einer langen Fahrt mit dem Zug oder dem Schiff noch eine gewisse Zeit zu spüren glaubt; sie hatte sogar, wenn auch nur noch schwach, den ätzenden Dieselgeruch in der Nase. Bevor sie einschlief, dachte sie, daß Flor Mercedes’ Rolle dieses Jahr wirklich glänzend gespielt hatte. So gut war sie gewesen, daß Jesusita fast vergessen hatte, daß Don Rafaels jüngste Schwester, die zeit ihres Lebens Übergewicht hatte, vor ein paar Jahren krank geworden und so stark abgemagert war, daß man sie kaum wiedererkannte, bis sie schließlich zu leicht fürs Leben wurde.
In Barranquilla waren sie an einem Freitag angekommen, und am Montag wollten sie nach Honda zurückfahren. Sie nahmen aber nicht den Zug, wie ursprünglich geplant, sondern machten die Rückreise mit dem Flugzeug, denn weder Emma noch Don Rafael hatten noch die Kraft für eine so lange Eisenbahnfahrt. Jesusita dagegen hätte, wäre es nur um sie gegangen, für die Rückreise gern wieder den Zug genommen.
Während sie unter sich, winzig klein, Hausdächer und Kühe vorbeiziehen sah und Wolken wie Wattebäusche, die zwischen dem Grün der Berge hingen, dachte Jesusita, wie schwierig es dieses Jahr gewesen war, Don Rafael von seiner Mutter loszueisen, die ihn unbedingt dabehalten wollte und noch unterstützt wurde von diesem Kerl, Ángel Oñate, der sich frech in die Diskussion eingemischt hatte und nicht müde wurde, auf Don Rafael einzureden, er solle bleiben.
Jesusita bewunderte den Schneegipfel, der am Flugzeugfenster vorbeizog. Eine schöne Überraschung, die Emma sich ausgedacht hatte! Großartig. Als das Glitzern des Schnees vorbei war, kehrten Jesusitas Gedanken zu der Auseinandersetzung mit ihrer herrischen Schwiegermutter zurück. Nicht daß der Streit sie niedergeschmettert hätte, nein, wütend war sie geworden, denn ihr war klar, daß seine Mutter sich letzten Endes durchsetzen würde und sie, Jesusita, nachgeben müßte. Und wenn sie daran dachte, daß sie ihn ihr diesmal beinahe weggenommen hätten, kochte sie vor Wut, denn sie taten das aus reiner Willkür, ohne überzeugende Argumente gegen die guten Gründe, die sie angeführt hatte.
Was bildeten sich die beiden eigentlich ein! Warum wollten sie nicht kapieren, daß sie nicht nach Belieben kriegen konnten, was sie wollten, nein, sondern erst wenn sie, Jesusita, den Moment für gekommen hielt. Während der Auseinandersetzung mit ihrer Schwiegermutter und diesem Kerl, Ángel Oñate, hatte sie geweint, das schon, aber sie hatte ihre Argumente mit Bestimmtheit und ohne die Stimme zu erheben vorgebracht. Nur aus dem, was Don Rafael sagte, hatte Jesusita heraushören können, was die beiden anderen verlangten, aber trotz allem machte sie ihnen unmißverständlich und ein für allemal klar, daß sie, seit über fünfzig Jahren seine Frau, es als erste merken würde, wenn Don Rafael sich nicht mehr an den Sonnenuntergängen freute, am Gesang der Trupiale, oder an seinen Tropenhemden aus feinem Leinen, oder an den zwei makellos geplätteten Taschentüchern und ihrem frischen Duft.
Dann, und erst dann, und nicht, wenn es zwei Dahergelaufenen einfiel, willkürlich zu entscheiden, daß die Stunde gekommen sei, würde sie – und wenn es ihr das Herz bräche – zulassen, daß Don Rafael die Reise mit dem Flugzeug, der Eisenbahn oder sonstwas absagte und nicht mehr zurückkehrte.Aus dem Spanischen von Rainer Schultze-Kraft und Peter Schultze-Kraft
SINN UND FORM 5/2013, S. 657-671
Hübner, Anja S. und Schöttker, Detlev
Der brasilianische Korrespondent. Auf der Suche nach Otto Storch, S. 672In einer der Aufzeichnungen über den Begriff der Geschichte, an denen Walter Benjamin bis kurz vor seinem Tod im September 1940 arbeitete, steht (...)
LeseprobeHübner, Anja S.
DER BRASILIANISCHE KORRESPONDENT Auf der Suche nach Otto Storch
In einer der Aufzeichnungen über den Begriff der Geschichte, an denen Walter Benjamin bis kurz vor seinem Tod im September 1940 arbeitete, steht ein aphoristischer Satz, den der israelische Bildhauer Dani Karavan in Benjamins spanischem Sterbeort Port Bou am Ende eines Stahltunnels vor dem freien Fall ins Meer auf eine Glasplatte gravieren ließ: »Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.« Dieser Gedanke wird zur konkreten Erfahrung, wenn man die Biographie des kommunistischen Pressefotografen Otto Storch nachzuzeichnen versucht, mit dem sich Ernst Jünger während einer Brasilien-Reise anfreundete.
Beide lernten sich auf dem Überseedampfer »Monte Rosa« kennen, der Mitte Oktober 1936 in Hamburg startete, über die Azoren und das Amazonasdelta zu mehreren brasilianischen Küstenstädten fuhr und Mitte Dezember über La Palma und Casablanca zurückkehrte. Storch allerdings verließ das Schiff auf halber Strecke Mitte November in Santos, der Hafenstadt nahe São Paulo. Anschließend begann eine mehrjährige Korrespondenz mit Jünger, die bald nach Kriegsbeginn abbrach.
Ohne Jüngers Briefarchiv wüßte man nichts über Storch und seine Emigration, da dieser seit Anfang der vierziger Jahre in Brasilien verschollen ist. Die Briefe aber erzählen die Geschichte eines bemerkenswerten Mannes, der nicht nur eine wechselvolle Lebensgeschichte hatte, sondern diese auch in ihren Höhen und Tiefen darstellen konnte, so daß Jünger in mehrfacher Hinsicht an ihm interessiert, wenn nicht gar von ihm fasziniert war.
I. Beurteilung eines Emigranten
Auffällig an dieser Korrespondenz ist zunächst, daß sie trotz der Entfernung meist ohne größere Verzögerungen oder Verluste vonstatten ging. Das lag nicht zuletzt am gut organisierten Postverkehr zwischen Deutschland und Brasilien, der seit Beginn der dreißiger Jahre durch Liniendampfer, Zeppeline und Katapultschiffe mit Wasserflugzeugen bewältigt wurde. Zwar sind Jüngers Briefe verlorengegangen, doch dürften die von Storch fast vollständig erhalten sein.
Gleich im ersten Brief brachte Storch seine Sympathie für Jünger zum Ausdruck, wenn er über die »interessanten Wochen auf der Monte Rosa« schreibt: »Wie meist im Leben hatte ich aus dem Sammelsurium von Spiessern verschiedenster Schattierung einige Menschen herausgefunden, die diese Bezeichnung noch verdienen.« Jünger dürfte ähnlich gedacht haben. In seinem brasilianischen Tagebuch, das 1947 unter dem Titel »Atlantische Fahrt« erschien, berichtet er über Storch (unter dem Kürzel »St.«) ausführlicher als über alle anderen Passagiere, mit denen er ins Gespräch gekommen war. Bereits zehn Tage nach Abreise heißt es: »Unter der gemischten Gesellschaft, die heutzutage nach Phäakenart die Meere durchquert, machte ich einige Bekanntschaften, darunter die von St., mit dem ich die Stunden des Sonnenbades im Liegestuhl verplaudere. Er würde in einen Roman von Joseph Conrad passen, war früh Waise, ging dann zur See und machte den Weltkrieg auf Schiffen mit. Im Frieden betrieb er seltsame Geschäfte, war Mitglied kommunistischer Orden und scheint noch jetzt in undurchsichtige Vorgänge verquickt.«
Die Ausführungen machen neugierig, weil man einen Mann wie Storch weder auf einem Kreuzfahrtschiff noch unter den Vertrauten Jüngers vermutet hätte. Dieser aber lernte nicht nur die Lebensgeschichte seines Reisegefährten kennen; Storch offenbarte sich ihm auch, nachdem er das Schiff verlassen hatte, um in Brasilien zu bleiben. »Ich traf dann St. in einem kleinen Café«, so Jünger über ein Gespräch in São Paulo, »wo er mich von seiner Absicht, nicht mehr an Bord zurückzukehren, unterrichtete.« Zur Erläuterung heißt es: »Das ist eine Form der Auswanderung, die wohl zunehmen wird. Der Gewalt entspricht die Flucht.« Jünger weist also ausdrücklich auf die Verfolgungen im nationalsozialistischen Deutschland hin, die auch auf dem Überseedampfer zu spüren waren, da weitere Passagiere und Besatzungsmitglieder in Brasilien blieben – und zwar »unter Zurücklassung ihrer Pässe«, wie Jünger in einem Brief an seinen Bruder Friedrich Georg vom 20. November 1936 aus Santos berichtet (abgedruckt in der Neuausgabe von »Atlantische Fahrt«, 2013).
Wie Exilanten ab Mitte der dreißiger Jahre in Brasilien gelebt haben, ist bis heute weitgehend unbekannt. Zwar ist über Stefan Zweig, der 1940 aus dem englischen Exil nach Brasilien ging und sich in Petropolis in der Nähe von Rio de Janeiro niederließ, nicht zuletzt durch den Freitod des Autors zwei Jahre später viel geschrieben worden, doch handelt es sich um eine Ausnahme, da hier einem berühmten Autor durch die brasilianische Regierung Asyl gewährt wurde. Dagegen verschärfte das Land 1934, nachdem es seit dem 19. Jahrhundert Hunderttausende von Auswanderern aus Deutschland aufgenommen hatte, die Einwanderungsgesetze, so daß nur noch Personen einreisen durften, die in der Landwirtschaft tätig waren, wie Patrick von zur Mühlen in der Einleitung des Ausstellungskatalogs »Exil in Brasilien« (1994) ausgeführt hat. Storch war über das neue Einwanderungsgesetz zweifellos informiert und ließ sich deshalb als Landwirt in Brasilien nieder, obwohl er über keinerlei Berufserfahrung verfügte und Deutschland aus politischen Gründen verlassen hatte. Es ist bemerkenswert, daß Jünger, der über Emigranten im Prinzip nichts Positives zu sagen wußte, den Typus Storch in »Atlantische Fahrt« mit Bezug auf dessen Kontaktmann als Vorbild würdigt. Dieser sei, so heißt es unter dem Datum vom 18. November 1936, »schon 1927 aus politischen Gründen emigriert «. Jünger nennt ihn Schwager, ein Name, den auch Storch im ersten Brief an Jünger verwendete, so daß beide Personen zu einer verschmelzen: »Schwager, inzwischen Besitzer einer kleinen Farm geworden, schien an unserer Unterhaltung Gefallen zu finden, denn er lud auch mich dorthin ein. Er schien sich zufrieden zu fühlen und pries das Land, in dem er seßhaft geworden war. Vor allem schien ihn ein offenes Gefühl für Menschenwürde anzusprechen, der Sinn für Freiheit und Unantastbarkeit in einem Lande, in dem innere Unruhen doch nicht selten sind.«
Jünger spricht sogar von einem »großamerikanischen Freiheitsbedürfnis mit romantischer Liberalität und Höflichkeit« – eine Haltung, die in den Briefen des Korrespondenzpartners spürbar zum Ausdruck kommt. Die Einschätzung wird durch Jüngers handschriftliche Tagebuch-Aufzeichnungen von 1936 bestätigt. Unter den »Bekannten«, so heißt es hier, gehöre Storch zu den »wichtigsten «. Beide blieben allerdings nicht allein, sondern waren Teil einer Gruppe von Männern, die sich an Bord kennengelernt hatten und über politisch brisante Themen sprachen, wie brieflichen Andeutungen zu entnehmen ist. Zu ihnen gehörten auch der Niederländer Wilhelm Busch und der Münsteraner Vermessungsdirektor Clemens Brand, nach denen Storch sich in den Schreiben mehrfach erkundigte. Während über Busch nichts bekannt ist, wechselten Brand und Jünger in den Jahren 1937 und 1947 einige Briefe (abgedruckt in »Atlantische Fahrt«, 2013).
Die späteren Schreiben zeigen, daß Brand jener »Tischnachbar« im Speisesaal war, den Jünger in »Atlantische Fahrt« als »flache, doch liebenswürdige Intelligenz « bezeichnete, auch wenn dieser glaubte, die Charakterisierung treffe eher auf den »jungen Holländer« Busch zu, da er als Westfale von Natur aus nicht »liebenswürdig« sei und Jünger gegenüber Distanz gewahrt habe. Dennoch bekundete er in einem Brief von 1947 die Hoffnung auf eine weitere »größere Reise« mit den alten Gefährten: »Und wenn es dann wieder im Verein mit Storch und E.J. sein dürfte – Prophete rechts, Prophete links, das Weltkind aus Westfalen in der Mitte – wäre das gar nicht so übel.«
II. Zur Biographie eines Kommunisten
Brands Hinweis zielt nicht nur auf die Sitzordnung in der Liegestuhlreihe, sondern auch auf die politischen Auffassungen der Beteiligten. Jüngers Bemerkungen über Storchs Mitgliedschaft in »kommunistischen Orden« zeigen, daß er über Einzelheiten informiert war. Man kann vermuten, daß beide Diskretion vereinbart hatten, da Storch auf seine Einbürgerung in Brasilien hoffte und Jünger im Sommer 1936 von der Gestapo observiert worden war, so daß er Briefe von Gegnern des Regimes bereits verstecken oder vernichten mußte. Nachrichten eines emigrierten Kommunisten, der 1933 von der SA in Haft genommen worden war, wären in der Tat ein gefundenes Fressen für seine Feinde im Partei- und Staatsapparat gewesen.
Dennoch lassen sich den Briefen einige Fakten entnehmen, die auf das kommunistische Engagement Storchs hinweisen. So war er 1921 in Leningrad und Moskau, wo er angeblich führende russische Kommunisten traf (Brief vom 6. April 1937). Es ist zu vermuten, daß er am III.Weltkongreß der Kommunistischen Internationale teilnahm, der im Juli in Moskau stattfand. Ob er damals schon Mitglied der KPD oder einer ihrer Unterorganisationen war, ist unklar, da er zu dieser Zeit auch Kontakte zu anarchistischen und syndikalistischen Gruppen hatte. Das geht aus einer Akte des Oberreichsanwalts am Reichsgericht in Berlin hervor, der Storch 1926 wegen Aufforderung zum Hochverrat anklagen wollte und entsprechende Belege zusammentragen ließ (vorhanden im Bundesarchiv Berlin). Danach wurde Storch 1897 im niederschlesischen Trachtenberg geboren, wohnte 1926 in Berlin bei einem Professor Uhl, der »als Syndikalist bekannt« sei, und arbeitete »als Motorradfahrer« für die Zeitschrift »Freie Jugend«, die der Pazifist und Anarchist Ernst Friedrich, Gründer des Anti-Kriegsmuseums und Autor des zweibändigen Werkes »Krieg dem Kriege!«, herausgab.
Grund für die Ermittlungen gegen Storch waren Texte in der ersten, 1926 erschienenen Nummer der Zeitschrift »Rote Matrosen«, für die er laut Impressum als »Schriftleiter, Herausgeber und Verleger« verantwortlich zeichnete. Die Zeitschrift fungierte als Organ des »Bundes roter Matrosen«, in die Personen mit »proletarischer Lebens- und Denkungsart« aufgenommen wurden. Sie bestand aus zwei großformatigen Blättern mit vier Druckseiten und enthielt neben einer ganzseitigen Titelillustration von Max Dungert u.a. Texte von Theodor Plievier, der sich damals Plivier nannte, und Erich Mühsam, den Jünger Ende der zwanziger Jahre in Berlin kennenlernen sollte. Plievier wie Mühsam vertraten zu jener Zeit anarchistische Positionen. Die Auswahl der Texte und ihre sorgfältige typographische Gestaltung zeigen, daß der Herausgeber ästhetische und literarische Interessen hatte, die auch in seinem weiteren Leben eine Rolle spielten.
Storchs Aktivitäten für den »Bund roter Matrosen« erklären sich aus seinem Brief an Jünger vom 7. Juli 1938, in dem er Stationen seines Werdegangs und seiner beruflichen Tätigkeiten aufzählt. Demzufolge wuchs er im »Pfarrhaus eines niederschlesischen Dorfes« auf und kam 1912 mit vierzehn Jahren nach Flensburg, wo er »Schiffsjunge bei der kaiserlichen Marine« und zu Kriegsbeginn, knapp siebzehnjährig, Matrose wurde. Auf Schiffen kam er in Kontakt mit anderen Matrosen, die Anfang November 1918, also kurz vor Ende des Krieges, in Wilhelmshaven und Kiel am Aufstand gegen die Regierung beteiligt waren. Die später verstreuten Revolutionäre wollte Storch im »Bund roter Matrosen« zusammenführen, der in der Akte des Oberreichsanwalts allerdings als »Kaffeekränzchen« bezeichnet und 1926 aufgelöst wurde.
Warum Storch 1920 während des Kapp-Putsches, den Offiziere der Reichswehr gegen die sozialdemokratisch geführte Regierung der Weimarer Republik initiiert hatten, aus Kiel »flüchten« mußte, wie es im Brief vom 7. Juli 1938 heißt, bleibt unklar. Danach übte er eine Vielzahl von Tätigkeiten aus, die er im selben Brief aufzählt. Nachdem er zunächst als Lebensmittelschmuggler und -händler in den Niederlanden und in Gelsenkirchen sowie als Detektiv bei der Sicherheitspolizei in Essen gearbeitet hatte, ging er Anfang der zwanziger Jahre nach Berlin, wo er Leiter des Strandcafés am Kleinen Wannsee, dann Mitarbeiter eines Theaters und schließlich Vertriebsleiter einer Zeitung wurde.
Mit Plievier (1892–1955), der im »Bund roter Matrosen« laut Ermittlung des Oberreichsanwalts federführend war und in der Zeitschrift den Beitrag »Skizzen aus dem Seemannsleben« publiziert hatte, lebte Storch in den zwanziger Jahren in einem »wüsten, aber recht romantischen Keller«, wie er am 14. März 1937 an Jünger schreibt. Zu dieser Zeit arbeitete sein Mitbewohner an dem autobiographischen Roman »Des Kaisers Kulis«, in dem die auch Storch bekannten menschenunwürdigen Zustände bei der Marine mit Schwerstarbeit, Demütigungen und Willkür, aber auch die Solidarität und die revolutionären Aktivitäten der Matrosen dargestellt werden. Das Buch erschien 1929 im Malik Verlag, wurde durch Übersetzungen über Deutschland hinaus bekannt und von Erwin Piscator 1930 am Berliner Lessing-Theater in einer dramatischen Bearbeitung mit großem Erfolg inszeniert.
Während sich Plievier, der wie Storch durch die Matrosenaufstände politisiert wurde, später der KPD annäherte und 1933 in die Sowjetunion emigrierte, war Storch als Parteimitglied im Widerstand aktiv. Schon 1929 beteiligte er sich an der Produktion des Kurzfilms »Immer bereit!«, einer Dokumentation über ein Zeltlager des Berliner Jung-Spartakus-Bundes, das nach dem russischen Außenminister »Woroschilow« benannt wurde, wie die Kurzbeschreibung einer Kopie zeigt, die sich im Staatlichen Russischen Archiv für Film- und Fotodokumente in Krasnogorsk erhalten hat. Finanziert wurde die Produktion durch die »Weltfilm GmbH«, die 1928 von Funktionären der Internationalen Arbeiterhilfe gegründet worden war. Zu ihnen gehörte auch Willi Münzenberg (1889–1940), der ab Anfang der zwanziger Jahre für die KPD eines der größten Medienunternehmen der Weimarer Republik aufbaute und zusammen mit Storch als Produzent und Regisseur von »Immer bereit!« genannt wird.
1926 hatte Münzenberg bereits die Firma »Prometheus Film« ins Leben gerufen, die Revolutionsfilme aus der Sowjetunion wie Sergej Eisensteins »Panzerkreuzer Potemkin« (1925) in Deutschland vertrieb und zugleich eigene proletarische Spielfilme produzierte, darunter so bekannte wie »Mutter Krausens Fahrt ins Glück« von Phil Jutzi (1929) und »Kuhle Wampe« von Bertolt Brecht und Slatan Dudow (1932). Die »Weltfilm GmbH« war dagegen auf propagandistische Dokumentarfilme spezialisiert und stütze sich dabei auf eine Gruppe interessierter Laien, für die Münzenberg die Zeitschrift »Der Arbeiterfotograf« (1926–32) herausgab. Es ist zu vermuten, daß Storch einer solchen Gruppe angehörte, da er seit 1930 in Berliner Adreßbüchern als »Pressephotograph« auftaucht, eine Berufsbezeichnung, die er auch in seinem Brief vom 14. März 1937 verwendete.
Jünger selbst kannte aus seinen Berliner Jahren zwischen 1928 und 1933 nicht nur die Aktivitäten revolutionärer Gruppen im rechten wie im linken Lager, sondern auch die Pressefotografie, da er für die beiden Sammelbände »Der gefährliche Augenblick« (1931) und »Die veränderte Welt« (1933), die aus Pressetexten und -fotos zusammengestellt waren, Einleitungen geschrieben hatte. Den Text für den zweiten Band veröffentlichte er bereits 1932 in der von Ernst Niekisch herausgegebenen Zeitschrift »Widerstand«, die 1934 von den Nationalsozialisten verboten wurde. Unter dem Titel »Das Lichtbild als Mittel im politischen Kampf« würdigt er hier nicht nur die Pressefotografie, sondern auch den sowjetischen Revolutionsfilm. Hier zeigt sich, wie sehr sich linke und rechte Auffassungen im Zeichen der Propaganda annähern konnten.
Ob Storch, wie man vermuten kann, für Zeitungen und Zeitschriften des Münzenberg-Konzerns arbeitete, ist unbekannt, da Fotografen hier nicht genannt wurden, obwohl die Organe auflagenstark und erfolgreich waren, darunter die wöchentlich erscheinende »Arbeiter-Illustrierte-Zeitung« (1921–38) und die Berliner Tageszeitung »Welt am Abend« (1922–33). Storch gehörte zwar nicht zu den bekanntesten Pressefotografen der Linken, doch haben Kurt Tucholsky und John Heartfield in ihrem Band »Deutschland, Deutschland über alles«, der 1929 in Münzenbergs Neuem Deutschen Verlag erschien, auch Fotos von Storch verwendet, wie einem Hinweis auf der letzten Seite des Buches zu entnehmen ist. Möglicherweise gab es eine Verbindung über Plievier, für dessen Matrosenroman Heartfield im selben Jahr den Schutzumschlag gestaltet hatte. Auch gesundheitlich wurde Storch von der KPD bzw. der Komintern versorgt. Zwischen Oktober und Dezember 1931 war er zehn Wochen in einem »Sanatorium im Kaukasus« und nach einem kurzen Zwischenaufenthalt in Berlin im Januar 1932 nochmals zehn Wochen in einem »Sanatorium«, wie einem Brief an Jünger zu entnehmen ist (14. März 1937). Im ersten Fall handelt es sich um eines der Arbeitersanatorien, in denen auch Funktionäre der KPD untergebracht wurden, wie Ludwig Renn in der Kaukasus-Reportage seines Buches »Rußlandfahrten« (1932) berichtet hat.
Aus einer Kaderakte zu Otto Neitzel, die im Februar und April 1937 vermutlich in Moskau angelegt wurde und sich heute im Bundesarchiv Berlin befindet, geht hervor, daß Storch, mit dem Neitzel gut bekannt war, gleich nach Hitlers Machtantritt von der SA verhaftet und neun Wochen lang in »Schutzhaft« genommen wurde. Dabei seien sein persönliches Eigentum und »sein gesamtes Photoarchiv« beschlagnahmt worden. Seit dieser Zeit habe Storch mit anderen, ebenfalls illegal agierenden Parteimitgliedern in Verbindung gestanden, zugleich aber auch Abstand gehalten: »Seine Führung und Haltung während dieser ganzen Zeit war einwandfrei, nur wollte er mit der Partei seiner Sicherheit halber nicht zusammenkommen. Im Herbst oder Ende des Jahres 1936 fuhr er nach Amerika.«
Über die Reise nach Brasilien war also zumindest ein Genosse informiert. Zugleich war Storchs Emigration gut vorbereitet und finanziell abgesichert: Er konnte die Fahrt in der Touristenklasse machen, mußte demnach Hin- und Rückfahrt bezahlen, hatte Kontakt zu einem Partner in Brasilien und beherrschte die Landessprache, da er gleich nach Ankunft »portug. Lehrbücher« zur Landwirtschaft las (Brief vom 10. Februar 1937). All das deutet darauf hin, daß er im Auftrag der Komintern, deren wichtigste Basis außerhalb der Sowjetunion die KPD war, nach Brasilien geschickt wurde. Jüngers Bemerkung, sein Reisegefährte sei »noch jetzt in undurchsichtige Vorgänge verquickt«, trifft die konspirative Konstellation.
SINN UND FORM 5/2013, S. 672-684
Storch, Otto
Briefe an Ernst Jünger 1936-1939. Mit Kommentaren von Detlev Schöttker und Anja S. Hübner, S. 685Schock, Ralph
Ein Exil, das kein Ende nahm. Über David Luschnat, S. 707Am 19. November 1934 schickte Joseph Roth einen verzweifelten Bittbrief in die Schweiz. Ein Kollege war in Not: »Lieber Herr Carl Seelig, (...)
LeseprobeSchock, Ralph
EIN EXIL, DAS KEIN ENDE NAHM Über David Luschnat
Am 19. November 1934 schickte Joseph Roth einen verzweifelten Bittbrief in die Schweiz. Ein Kollege war in Not: »Lieber Herr Carl Seelig, entschuldigen Sie diesen Brief (und bestätigen Sie mir bitte, daß Sie ihn erhalten haben). Es handelt sich um eine wichtige Sache, nämlich um einen Menschen. Der deutsche Schriftsteller David Luschnat, kein Kommunist, nicht einmal ein Jude, ein ganz harmloser Mann mit einigen seltsamen Ideen, ist aus der Schweiz ausgewiesen. Er hat keinen ›Namen‹, kein Geld, er kann nicht einmal die Reise zur Grenze bezahlen. (…) Sie sind Schweizer, Journalist. Sie können Herrn Luschnat vielleicht beistehen. (…) Ich erröte bei dem Gedanken, daß ich ohnmächtig bin und auch bei dem, daß die Welt so böse, so vertrackt gemein ist. Herr David Luschnat hat nichts mehr getan, als Herr Thomas Mann: beide haben Deutschland verlassen. Beide sind Schriftsteller. Über ihren litterarischen Grad hat die Polizei nicht zu entscheiden. (…) Was ist das für eine Welt! Was ist das für ein Land, in dem so was möglich ist. Herr Luschnat hat keinen Nobelpreis! Deshalb wird er ausgewiesen! Spätestens am 4.XII. muß er das Land verlassen. Und er stirbt mit seiner Frau schon seit Hitler vor Hunger. (…) Er hat einen Rekurs gemacht, damit er bleiben kann, aber der wird abgewiesen, denn Herr Luschnat hat ja keinen ›Namen‹. Ich bin wütend, ich möchte Bomben schmeißen.« Doch auch Seelig, der Schriftsteller, Mäzen und Freund Robert Walsers, konnte die Ausweisung nicht verhindern.
Kennengelernt habe ich den damals Ausgewiesenen vier Jahrzehnte später, als ich über Gustav Regler zu arbeiten begann. Laut einer Notiz in der »Weltbühne « vom Januar 1933 plante die Berliner Ortsgruppe des Schutzverbands Deutscher Schriftsteller (SDS) eine Anthologie zum Thema »Krieg«. Einige Beiträger waren genannt, darunter Regler. Weitere Manuskripte wurden erbeten an Herrn David Luschnat, Berlin-Schöneberg, Hauptstraße 37. Da die Anthologie nirgends nachweisbar war, wandte ich mich an den Herausgeber. An Regler könne er sich gut erinnern, schrieb er, wo die Beiträge für die Anthologie geblieben seien, wisse er aber nicht. Und er lud mich ein, ihn und seine Frau in Tourrettes-sur-Loup zu besuchen. Ich könnte in einem Cabanon auf ihrem Grundstück wohnen, auch einen großen Pool gebe es.
Nach ihrer Ausweisung aus der Schweiz waren David Luschnat und Lotte, seine mehrere Jahre jüngere Frau, in dem bei Vence in den Meeralpen gelegenen Bergdorf untergekommen. Etwas außerhalb des Ortes lebten sie, bald mit Sohn und Tochter, in einem nur zehn Quadratmeter großen ehemaligen Stall, später immerhin auf eigenem Grund; das Geld für den Erwerb des steinigen, sonnenverbrannten Landes hatten ihnen in den vierziger Jahren amerikanische Quäker gespendet. Ihre Wohnsituation änderte sich erst Anfang der sechziger Jahre, als Lotte, die im Februar 1933 mit einem offenen Brief an den preußischen Kultusminister Adolf Grimme ihre Stelle als Referendarin gekündigt hatte, von der Bundesrepublik eine Wiedergutmachung bekam: eine Pension, die dem entsprach, was sie nach Beendigung ihrer Laufbahn in der Position einer Studiendirektorin bekommen hätte. Damit bauten sie ein bescheidenes Häuschen, bestehend aus einem Schlafzimmer, in dem Lottes Bücher standen, einem Wohnraum, einem geräumigen Bad, einer Küche mit großem Gefrierschrank und Davids Arbeitszimmer mit Bibliothek, Manuskriptschrank und Schreibtisch.
Dem ersten Besuch 1975 folgten weitere, meist für mehrere Wochen, im Gepäck immer Dinge, die in Haushalt oder Garten gebraucht wurden. Ich führte kleinere Reparaturen aus, fällte einen krummen Baum und schnitt auf den oberen Terrassen des ein Hektar großen Geländes die Garigue zurück. Auf den unteren Terrassen bewirtschaftete Lotte ihren Garten, in dem sie jeden Morgen bei Sonnenaufgang zu arbeiten begann. Danach drehte sie ihre Runden im Pool. Die beiden, seit Jahrzehnten Vegetarier, waren weitgehend Selbstversorger.
Er: klein, untersetzt, schlurfender Gang, lethargisch, melancholisch bis zum Fatalismus, tagsüber oft im abgewetzten Bademantel. Stundenlang in seiner Bibliothek vergraben. Das herunterhängende linke Augenlid schob er beim Lesen nach oben. Umständlich und abenteuerlich ungeschickt für jede handwerkliche Arbeit. Eines Abends bot er meiner Frau und mir auf Lottes Vorschlag hin das Du an. Alle vier Wochen telefonierte sie nach einem Taxi, das ihn zum Frisör brachte. Als er bei einer solchen Gelegenheit aus dem Dorf Marmelade mitzubringen wagte, brach ein Gewitter über ihn herein. Zwei Tage lang, bis das Glas leer war, gab es morgens, mittags und abends nichts anderes für ihn. Gleichwohl sagte er: »Ohne meine Frau wäre ich längst tot.«
Sie: schlank, groß und agil. Pfiffig, schlagfertig, unsentimental, zupackend, keck. Gelegentlich geradezu charmant. Typ Berliner Göre. Kurzes weißes Haar, hellblaue Augen, klarer Blick, das Gesicht voller Runzeln. Irritierend unprüde. Politisch bestens informiert, mit dezidierten Meinungen und bisweilen recht eigenwilligen Thesen über deutsche und französische Politiker oder den Nahostkonflikt. Ehe sie zu früher Stunde schlafen ging, löste sie das Kreuzworträtsel aus dem »Nice Matin«. Einmal hatte sie sich aus irgendeinem Grund über mich geärgert, deshalb gab es abends für mich nichts zu essen. Als sie wegen einer Archivrecherche über den Stauferkaiser Friedrich II. nach Italien reiste, richtete sie zu Hause für zwei Wochen alles her. Doch sie mußte bald zurück: David hatte sich, als er Scheite zu spalten versuchte, mit der Axt schwer verletzt. Dabei hatte sie ausreichend Brennholz zurückgelassen, doch er war der Meinung, es reiche vielleicht nicht. Mit einer Erziehungsfrage wandte sie sich einmal an Sigmund Freud in London, seinen Antwortbrief zeigte sie mir eines Abends. Auch sie schrieb, veröffentlicht ist kaum etwas. Ihre Autobiographie, an der sie gelegentlich arbeitete, trug – vielleicht mit einem Hauch von Selbstkritik – den Titel »Mit dem Kopf durch die Wand«. Sie stellte Horoskope, jedes Jahr orderte sie die Ephemeriden. Im Spätsommer reisten sie per Taxi nach Überlingen, um in der Buchinger-Klinik zu fasten, er drei Wochen, sie eine Woche länger.
Nachmittags trafen wir uns unter dem knorrigen Olivenbaum zum Gespräch. Einmal brachte ich ein Tonbandgerät mit, das Porträt Luschnats sendete der Saarländische Rundfunk am 14. Oktober 1978. Er erzählte aus seinem Leben: von der Geburtsstadt Insterburg, über die er eine Novelle schrieb. Vom Vater, einem Pfarrer, der eine freie Gemeinde gegründet hatte. Von der Mutter, die die Familie mit Nähen durchbrachte. Vom Gymnasium ("Marteranstalt«), von seiner Tätigkeit als Hilfsmonteur bei Siemens & Halske ("28 Pfennig die Stunde«). Am 3. Juli 1915 wurde er eingezogen, im September 1918 erlitt er eine Schußverletzung. Es sei zu gefährlich gewesen, die Kugel herauszuoperieren; später verkapselte sie sich, die rote Narbe am Hals blieb. Gelegenheitsarbeiten: Transportbegleiter, Frachtenkontrolleur, Korrekturleser, Seifenhändler, Aufkäufer leerer Ölfässer. »Aufkäufer leerer Ölfässer?« »Ja«, sagte er, »das war der Hunger.«
1918 wurde er Mitglied des Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller, ab 1925 lebte er, »mehr schlecht als recht«, als freier Autor. In den folgenden drei Jahren erschienen drei schmale Hefte mit Lyrik: »Kristall der Ewigkeit«, »Die Sonette der Ewigkeit«, »Abenteuer um Gott«. Er selbst bezeichnete sich als religiösen Sozialisten und Pazifisten. Nachdrucke brachten u.a. die »Frankfurter Zeitung«, die »Sozialistischen Monatshefte« und die »Weltbühne«. Ein Band wurde im »Völkischen Beobachter« besprochen, den Beleg hatte er aufgehoben: Unverständnis, Spott, Verachtung. Die beiden 1927 erschienenen Sammlungen »Stimmen der Jüngsten« und »Anthologie jüngster Lyrik«, letztere mit einem Vorwort von Stefan Zweig und herausgegeben von Willi R. Fehse und Klaus Mann, enthalten Gedichte von ihm.
»Inzwischen begannen Militarismus, Antisemitismus und verwandte Strömungen immer weitere Volksschichten zu infizieren«, erzählte er. Auch den Schutzverband: »Der Hauptvorstand war gerne bereit, sich dem heraufdämmernden Hitler-Zeitalter irgendwie anzupassen.« Doch die große Mehrheit der Berliner Ortsgruppe, mit 900 Autoren ein Drittel aller SDS-Mitglieder, opponierte. Ab 1931 gehörte er neben Georg Lukács, Andor Gábor, Franz C. Weiskopf und Hermann Budzislawski deren Vorstand an. Wegen einer Kampagne zur Befreiung des wegen »literarischen Hochverrats« verhafteten Ludwig Renn und einer vom Hauptvorstand untersagten Goethe-Feier mit Erich Mühsam, Ernst Bloch und Lukács – beide hatte er mitorganisiert – warf man ihn aus dem Verband.
[…]
SINN UND FORM 5/2013, S. 707-714
Luschnat, David
Die Nacht schmilzt wie Wachs. Gedichte, S. 715Bulla, Hans Georg
Die meergrauen Seiten. Gedichte, S. 718Augé, Marc
Alter, Zeit und Gedächtnis, S. 721Feßmann, Meike
Vom Aufbewahren der Erinnerungen. Über Marica Bodrozic, S. 731Nadolny, Sten
»Das Schweigen gehört dazu«. Ein Gespräch über das Gespräch mit Florian Welle, S. 739Klein, Georg
Die Melodika, S. 751Hartwig, Ina
Mit dem Kitsch gegen den Kitsch. Über den Vermeidungsartisten Georg Klein, S. 757Pietraß, Richard
Dichter offener Wunden. Grabrede für Rolf Haufs, S. 762
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6/2013
Heft 6/2013 enthält:
Gasdanow, Gaito
Schwarze Schwäne, S. 773Sośnicki, Dariusz
Stadt der Selbstmörder. Gedichte, S. 788Starobinski, Jean
»In deinem Nichts hoff' ich das All zu finden.« Über Melancholie, S. 791Canetti, Elias
Notizen gegen den Tod, S. 795Michon, Pierre
Der Himmel ist ein sehr großer Mann, S. 812Übrigens hatte schon Swedenborg,
der eine weitaus größere Seele besaß,
uns gelehrt: Der Himmel ist ein sehr großer Mann.
LeseprobeMichon, Pierre
Der Himmel ist ein sehr großer Mann
Übrigens hatte schon Swedenborg,
der eine weitaus größere Seele besaß,
uns gelehrt: Der Himmel ist ein sehr großer Mann.
BaudelaireEs kommt selten vor, daß ich bete. Anfang September 2001 lag meine Mutter, die ihr Erwachsenenleben lang versucht hatte, mir Vater und Mutter zu sein und im hohen Alter meine Tochter hätte sein können, in der Kleinstadt G. im Sterben. Vor dem Fenster standen gewaltige Bäume, ein Blätterwall. Jeder Tag dieses Spätsommers war schön, die Sonne spielte auf der Mauer in immer neuen Variationen unter den Augen einer Sterbenden, die Bäume geliebt hatte. Ich ging jeden Tag zu ihr, aber als ich am siebten September kam, sah ich, daß es aus war (mein Geist sah es, mein Herz konnte nicht folgen): Sie röchelte, würde nicht mehr sprechen; sie war in jenen Zustand der umherirrenden Seelen eingetreten, den die Tibetaner das Bardo nennen. Ich setzte mich zu ihr, und nach einer Weile, die für mich unermeßlich war, Stunden oder Minuten, sprang ich auf und lief hinaus in eine Buchhandlung, um Bücher zu kaufen. Ich nahm mir Zeit, auszuwählen. Ich kehrte zurück mit dem XXIII. Band der »Carte archéologique de la Gaule Romaine«, dem zweiten Band von Michel Foucaults »Dits et écrits« in der Quarto-Ausgabe und einem dritten Buch, das ich vergessen habe. Noch immer rannte ich, wie der Hase in der Fabel. Es war vielleicht sechs Uhr nachmittags. Als ich ins Zimmer meiner Mutter kam, röchelte sie nicht mehr, sie atmete nicht mehr, aber ihre Hand war noch ganz warm, als ich sie nahm. Nachdem die herbeigerufene Krankenschwester den Tod bestätigt hatte, ließ man mich allein. Einzig mein Geist war da und registrierte, wie zuvor. Die Bücher lagen brav in ihrem Tragetäschchen am Fußende des Bettes, bei den Leichenfüßen, die winzig sind. Der grüne Wall tat dem Geist wohl. Auch der Geist war lau, wie er immer ist. Ich mußte beten, mußte das Herz und die Seele herbeirufen, wie es dieser Frau gebührte. Ich versuchte es mit einer jener im Katechismusunterricht erlernten Sachen, dem Vaterunser wahrscheinlich, kam nicht weit. Und dann drängte sich der Text auf, das von sehr weit her gekommene, wie von einem anderen gesandte Gebet, und ich sprach es laut, wie damit die Tote es höre: »Ihr Menschenbrüder, die ihr nach uns lebt, / laßt euer Herz nicht gegen uns verhärten, / denn alles Mitgefühl, das ihr uns gebt, / wird Gott dereinst euch um so höher werten.« (Villon, Ballade der Gehenkten, Übersetzung K.A. Ammer) Herz und Seele sprangen herbei, ich sagte das Gedicht von Anfang bis Ende auf, wie es gesagt werden muß, unter Tränen, ich stand vor der Leiche meiner Mutter, wie man vor ihr stehen muß, unter Tränen.
Ein anderes Mal habe ich gebetet, ein paar Jahre zuvor, im Oktober. Ein Kind war in der Nacht geboren worden, ich war gerade nach Hause zurückgekehrt, im Morgengrauen. Etwas kam in mir auf, was das Verlangen war zu beten, mich abzuschließen, mich zu öffnen. Ruhig auf meinem Bett sitzend, lächelnd wie man lächelt, wenn man allein ist, sagte ich laut, von Anfang bis Ende, Victor Hugos »Der Schlaf des Boas« auf. Ich sagte es, wie es gesagt werden muß, in einem Gefühl der Ruhe, der völligen Ergebenheit, der Hoffnung entgegen jeder Vernunft, der nie ausbleibenden Glorie.
Die »Ballade der Gehenkten« kann für eine tote Mutter gesprochen werden, »Der Schlaf des Boas« für eine lebend geborene und lebensfähige Tochter, wie die Gebärhelfer in ihrem Routinebericht schreiben. Es gibt nur wenige Gedichte, die diesen beiden Ereignissen standhalten, so wie es von Wolfram heißt, daß es der absoluten Nulltemperatur ständhält; das Metall, in das die schönen, zwischen Erde und Mond schwebenden, den Big Bang betrachtenden Teleskope gekleidet sind. Das Wolfram betrachtet den Big Bang. Die beiden Gedichte, die ich aufsagte, betrachten Leichen, alle Leichen, darunter die der Mütter, sie betrachten die Seele, die sich des von ihr einst bewohnten Leibes erinnert, aus dem heraus sie den kleinen, für kurze Zeit ihr zugeteilten Ausschnitt des Big Bang beobachten konnte; sie betrachten die lebendigen Leiber, die kleinen Kinder, die zur Welt kommen, älter werden und sterben. Sie betrachten sie, sie sprechen zu ihnen, sie sprechen von ihnen, von Leichen, kleinen Kindern und von uns, die wir dazwischenstehen, als ob Leichen, kleine Kinder und wir dasselbe wären – und es ist dasselbe. Sie beruhigen die Leiche, helfen dem Kind, auf seinen Beinen zu stehen. Wahrscheinlich ist das die Funktion der Poesie. Eine andere vermag ich kaum zu sehen. Gedichte können diese Wirkung haben, sie können den Big Bang und das Jüngste Gericht und alles, was dazwischen geschieht, die ewige Trauer und die ewige Freude, den Reichtum und seinen Schatten, das Elend, den grünen Wall, die Tote, die Adjektive lebend und lebensfähig, im selben kurzen Blick festhalten; sie können Menschen erschüttern, indem sie ihnen für kurze Zeit diesen doppelten Blick verleihen. Wozu sind Dichter gut in unserer Zeit, die eine Zeit der Not ist, das Jahr der Not 2002, wie das Jahr 1462 in Moulins ein Jahr der Not war, als Villon das Testament zu Ende brachte, und das Jahr 1859, als Victor Hugo im Mai »Der Schlaf des Boas« schrieb, wie das ungewisse Jahr des späten Neolithikums, als Boas träumte – Wozu Dichter? (Im Original deutsch.) Nur dazu.
Gewiß habe ich noch einige Male gebetet, aber diese Gebete waren keine ganz richtigen, sie waren nicht an eine alte Tote oder eine kleine Lebende gerichtet – sie waren an nichts gerichtet, an die Bäume, an meine Selbstgefälligkeit, an eine Freude, auf die man sich keinen Reim machen kann und die sich Reime beschert, um sich zu verzehnfachen. Einmal bin ich Archäologen-Freunden zu einer Ausgrabungsstätte in Oberäthiopien gefolgt, in der Provinz Menz: dreitausend Meter Höhe in den Tropen, das heißt in etwa das Klima der Toskana, das extravagante Blau des Himmels und jene Pflanzendecke, die die Geographen Park nennen, eine Savanne also, die aber an einen Weideplatz und an die französischen Causses erinnert, ein englischer Rasen. Die Ausgrabungen umschlossen die Zeltstadt eines mittelalterlichen Königs, der Sorge getragen hatte, wie Vegetius rät, »sein Lager an einem sicheren Ort einzurichten, wo man reichlich Holz, Viehfutter, Wasser und gesunde Luft vorfindet«. Das alles war hier reichlich vorhanden; es gab auch Korn, das die Einheimischen mit einer Pflugschar aus hartem Mimosenholz in die Erde bringen, mit der Sichel ernten und auf der Tenne dreschen; es gab riesige, tafelartige, königlichen Schatten spendende Wacholder; Basaltorgeln mit bloßliegendem Fundament, ein Felsdurcheinander, schöne, polyedrische Brocken, die zum Anbeißen aussahen, wie in Rimbauds »Festen des Hungers«, und auf denen man sich niederließ wie ein König; und wenn man das königliche Lager und die eingestürzten Orgeln hinter sich ließ, kam man in eine weitläufige, mit Eukalyptusbäumen bewachsene Prärie, die steil bis zum natürlichen Schutzgraben eines dreihundert Meter tiefen Canyons abfiel.
Dorthin ging ich oft. Es war einsam dort und auch wieder nicht. Oft glaubte ich mich allein und plötzlich umstanden mich Kinder, aufmerksam, gelassen, hilfsbereit und willig, einem in schlechtem Englisch den Zweck einer beliebigen Sache, des Windes, der Bäume, der Zweige, Gottes oder, wenn man darauf aus war, der gereimten Poesie zu erklären. Schwer zufriedenzustellen waren sie nicht. Nur hatten sie schon am ersten Tag gemerkt, daß in meinen Taschen immer mehrere dieser bunten Plastikstifte steckten, die es in Bahnhofskiosken zu kaufen gibt und die ein wahrer Schatz für sie waren; auch wurden das Gespräch und die Gefälligkeiten immer wieder unterbrochen: »Father. A pen? Give a pen, father.« Der Umgang mit dem father (hielten sie mich für einen Priester? einen Patriarchen? oder war ich einfach ein Alter für sie?) hinderte sie nicht daran, abgestorbene Eukalyptuszweige aufzusammeln, denn deshalb waren sie in die Prärie über dem Canyon gekommen. Das Sammeln war Aufgabe der Kinder von Menz, höchstens noch der jungen Männer; ich wußte, daß die wenigen Frauen, die Holz suchten, verwitwet oder von ihren Männern verlassen worden und kinderlos waren. Viele Frauen sind in dieser Situation, sie suchen verzweifelt einen beliebigen Gefährten, einen Ernährer. Sie sind nicht besonders anspruchsvoll.
Eines Abends sah ich eine von ihnen. Sie kam vom anderen Ende der Prärie. Beim Näherkommen machte sie mir, Holz auflesend, kleine Zeichen. Es waren diskrete und zugleich offensichtliche Offerten, ein Lächeln, Blicke, bescheidene und offene Versuche, sich vorteilhaft zu präsentieren, ohne Affektiertheit oder Vulgarität, so wie sexuelle Offerten wahrscheinlich von Urbeginn an in den Agrargesellschaften, die wir nicht mehr kennen, ausgedrückt wurden. Ich begriff erst überhaupt nicht, was sie wollte, hielt ihr Gebaren für Freundlichkeit. Dann stand sie vor mir, ihr Reisigbündel im Arm. Sie mochte dreißig oder vierzig Jahre alt sein und war noch recht hübsch, aber ihr fehlten ein paar Zähne und der Bauch war unförmig. In dem schlechten Amerikanisch, über das die ganze Welt verfügt, in diesem Weltreich-Syriakisch sprach sie mich an, freundlich sich darbietend, ohne Zurschaustellung. Ihre vier Kinder waren tot, ihr Mann auch. Sie lächelte. Sie besaß eine unbeugsame Lebenstapferkeit. Sie schaute mir gerade ins Gesicht. »Come home. Bread. Milk. Me. Tala« (so heißt Bier auf äthiopisch). Sie lachte, es war ihr ernst. Ich lachte auch, sagte, ich hätte bereits homes und families, und einer aus meinem Dorf erwarte mich zum Tala-Trinken. Ich gab ihr etwas anderes als Liebe, was man in der Hintertasche der Jeans trägt und was zu allem gut ist. Sie ging fort mit demselben Lächeln, derselben offenen und direkten Art.
Der falsche Patriarch hatte die richtige Ährenleserin nicht gewollt.
Sie hatte mich bewegt. Sie war weggegangen. Der Wind blies ein wenig vom Canyon her und mir brannten die Augen. Ich sagte von Anfang bis Ende »Der Schlaf des Boas« auf, für die Eukalyptus- und die Wacholderbäume, für die toten Könige, für das Neolithikum, für die Tenne und die Sintfluten, um mir eine Freude zu machen und um mich zum Weinen zu bringen, um schon vor der Tala trunken zu sein, für den Canyon, in den man hinunterfallen kann, für das universelle Kauderwelsch, für die verpaßten Gelegenheiten, für die Frauen, die man will, und für die, die man nicht will, für nimmer mehr, für den Corvus crassirostris, der in Menz nistet, den thick-billed raven mit seinem schwerfälligen Flug, seinem schmutzigen Schnabel, seinem widerwärtigen Geschrei, seinem Gefieder, schwärzer als das alter Krähen, aber mit einer Kinderhandbreit Hermelin auf dem Nacken, Milch, Schnee, ein reiner Spiegel, in dem die Arglosigkeit sich betrachtet.
Als ich fertig war, war sie deutlich zu sehen, die goldene Sichel im Feld der Sterne. Ich ging die Tala trinken.
[...]Aus dem Französischen von Anne Weber
SINN UND FORM 6/2013, S. 812-825
Leśmian, Bolesław
Pfade, die ich als Kind durchlief. Gedichte, S. 826Hodjak, Franz
Die Adern der Blätter. Gedichte, S. 829Gebauer, Gunter
Der versteckte Erzähler. Entwurf einer Theorie in Literatur und Philosophie, S. 831Kirsch, Sarah
Im Spiegel. Poetische Konfession. Mit einer Vorbemerkung von Isabelle Lehn, Sascha Macht und Katja Stopka, S. 848Vorbemerkung »Ich hatte mehrere Leben, die sich voneinander stark unterschieden«, schreibt Sarah Kirsch in ihrer Chronik »Allerlei-Rauh«. Im (...)
LeseprobeKirsch, Sarah
IM SPIEGEL Poetische Konfession
Vorbemerkung
»Ich hatte mehrere Leben, die sich voneinander stark unterschieden«, schreibt Sarah Kirsch in ihrer Chronik »Allerlei-Rauh«. Im Mai verstarb die 1935 im Harz geborene Dichterin mit 78 Jahren. Sowohl ihr vielfach ausgezeichnetes lyrisches Werk als auch ihre Prosaarbeiten sind vom unverwechselbaren »Sarah-Sound« (Peter Hacks) geprägt. 1965, an der Schwelle »zwischen nicht mehr und noch nicht«, entstand kurz vor Beginn ihres Lebens als freie Schriftstellerin ein kleiner, noch unveröffentlichter Text, ihre Abschlußarbeit am Leipziger Institut für Literatur Johannes R. Becher. Im vorgegebenen Rahmen einer »poetischen Konfession« stellt sich Kirsch den Ausgangsfragen ihrer Literatur. Der Text gibt Einblicke in die Werkstattüberlegungen einer jungen Dichterin, über deren Lyrik Heinz Czechowski – ebenfalls Absolvent des Instituts – im Rückblick sagte: »Sie war damals schon selbständig, naiv vielleicht, aber echt.« Aufgefunden wurde er kürzlich im Archiv des Deutschen Literaturinstituts Leipzig, das sich – in Nachfolge der 1993 abgewickelten Einrichtung – der Förderung des literarischen Nachwuchses im vereinigten Deutschland widmet. Dort wird seit dem Frühjahr 2013 die Geschichte der institutionalisierten Schriftstellerausbildung in der DDR erforscht.
Gemeinsam mit ihrem Mann Rainer Kirsch nahm die 28jährige 1963 ihr Studium in Leipzig auf. Zuvor hatte sie in Halle (Saale) ein Biologiestudium absolviert, ihren Geburtsnamen Ingrid Hella Irmelinde Bernstein abgelegt und den Rufnamen Sarah gewählt, um ein Zeichen gegen den Antisemitismus in der eigenen Familie zu setzen. Durch ihre Heirat 1958 entstand der Name, unter dem sie erste Gedichte in Zeitschriften publizierte und später zu einer der bedeutendsten deutschen Lyrikerinnen wurde. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns verließ sie – mittlerweile geschieden – die DDR und zog 1977 mit ihrem Sohn zunächst nach West-Berlin und dann nach Schleswig-Holstein, wo ein weiteres ihrer Leben begann. In der kleinen Gemeinde Tielenhemme lebte sie bis zu ihrem Tode.
Sarah Kirsch kam auf Vorschlag des Deutschen Schriftstellerverbands ans Literaturinstitut, nachdem sie in Halle an der von Gerhard Wolf geleiteten »Arbeitsgemeinschaft junger Autoren« (AJA) teilgenommen hatte. Wolf war es auch, der ihre Gedichte Stephan Hermlin empfahl, als dieser im Dezember 1962 eine Lesung mit ausgewählten Nachwuchslyrikern in der Akademie der Künste plante. Die Veranstaltung, die in der Literaturlandschaft der DDR eine regelrechte »Lyrik-Welle« auslöste, zog zahlreiche weitere Lesungen und Veröffentlichungen nach sich.
Das Literaturinstitut Johannes R. Becher war in den sechziger Jahren durchaus renommiert, zumal die Bewerber einen Talentnachweis erbringen und Publikationserfahrung nachweisen mußten. Dennoch war das Studium, die letzte Stufe im vorgezeichneten Weg der staatlichen Autorenausbildung, unter den angehenden Schriftstellern umstritten. Schließlich erfüllte die auf SED-Beschluß gegründete und dem Ministerium für Kultur (MfK) unterstellte Einrichtung einen Auftrag der Partei. Laut Hochschulprogramm galt es, literarische Talente »zu sozialistischen Schriftstellern« auszubilden und darin zu schulen, »mit den Mitteln der Kunst die sozialistische Bewußtseinsbildung der Menschen zu unterstützen«. Dazu sollten die jungen Autoren eine an den Bedürfnissen des Arbeiter-und-Bauern-Staats orientierte, volksnahe und aufklärende Literatur hervorbringen, die nach den Maßgaben des sozialistischen Realismus unter Aussparung allzu abstrakter und moderner Elemente auf große Wirklichkeitsnähe setzte. Vor allem das Arbeitsleben und der sozialistische Alltag, mit dem Bitterfelder Programm 1959 zu Leitmotiven ausgerufen, sollten am Institut ihren Niederschlag finden, u. a. durch einen Fernstudiengang für schreibende Arbeiter und obligatorische Praktika, mit denen Studierende »ihre Kontakte mit der werktätigen Bevölkerung vertiefen « und ihre Darstellung an der Wirklichkeit schulen konnten.
Zu Kirschs Zeit umfaßte der Stundenplan zur »fachlichen Bildung« überwiegend theoretische Lehrveranstaltungen zu deutscher, sowjetischer und Weltliteratur, dazu Ästhetik, Kulturwissenschaft, Stilistik, Literaturkritik sowie der an allen DDR-Hochschulen zum Pflichtfach erhobene Marxismus-Leninismus. Der »künstlerischen Persönlichkeitsentwicklung « – der Begriff war in einem Entwurf des Gründungsstatuts im MfK mit einem handschriftlichen Fragezeichen versehen worden und verschwand dann vollständig – dienten »Schöpferische Seminare«, in denen die Arbeit an eigenen literarischen Texten in den Gattungen Lyrik, Prosa und Dramatik im Mittelpunkt stand. In diesen Veranstaltungen, deren Inhalte und Lehrverfahren nur bedingt kontrolliert werden konnten, ergaben sich Freiräume jenseits ideologischer Vorgaben. So etwa in den Prosaseminaren, die der ehemalige Wismutarbeiter und Institutsabsolvent Werner Bräunig leitete. Er galt als einer der Hoffnungsträger des Bitterfelder Weges, stand aber wegen seiner Parteinahme für Studierende in der Kritik. Sein »Rummelplatz«-Manuskript geriet 1965 auf dem 11. Plenum der SED ins Kreuzfeuer. Schließlich verließ er nach Eröffnung eines Parteiverfahrens »freiwillig« das Institut.
Die prägende Figur für Sarah Kirsch war jedoch der Dichter Georg Maurer, Dozent von 1955 bis 1970, an den sich Kirsch 1993 in einem Interview anläßlich der Verleihung des Peter-Huchel-Preises erinnerte: »Dieses Leipziger Institut war außerordentlich schön, weil Georg Maurer dort lehrte, das Lyrikseminar hielt. Er hatte die wunderbare Methode, sich unsere Gedichte anzusehen und uns dann, eine Woche später, alles zum gleichen Thema aus der Weltliteratur vorzulegen. Diese Bücher gab es im Literaturinstitut. Wenn wir Regengedichte hatten, oder wenn ein Spiegel drin vorkam, da hatte er dazu alles. Von der Droste bis zu William Carlos Williams. Dann hörten wir die wunderbaren Texte und hatten alles gelernt, indem wir unsere nämlich wegschmeißen konnten.« Bei Maurer, der sich in seinen Seminaren über die Kanonisierung hinwegsetzte und seine Schüler zu »Genauigkeit« verpflichtete, habe sie gelernt, »daß man nicht die großen ›philosophischen‹ Gedichte machen soll, wie das im Sozialismus üblich war, so etwas wie der späte Becher machte, soviel Verblasenes hat man ja selten gehört. Davon hat uns Maurer wenigstens abgehalten, das nachzuahmen. Er sagte, wir sollten lieber den kleinen Gegenstand nehmen.«
Für das Diplom reichte Sarah Kirsch im September 1965, wie in der Prüfungsordnung vorgesehen, eine künstlerische und eine theoretische Abschlußarbeit ein. Erstere bestand in dem mit Rainer Kirsch geschriebenen Gedichtband »Gespräch mit dem Saurier«, der ebenso bereits vorlag wie die Reportage »Berlin-Sonnenseite«, die das Paar 1964 zum »Deutschlandtreffen der Jugend« in Ost-Berlin verfaßt hatte, und die in der Anthologie »mitternachtstrolleybus« erschienenen Nachdichtungen aus dem Russischen. Für ihre theoretische Arbeit wählte Sarah Kirsch die freiere Form der »Poetischen Konfession«, die den Studierenden als Alternative zu einer literaturwissenschaftlichen Arbeit möglich war.
So kritisch wie gewitzt befaßt sich Sarah Kirsch darin mit der Tauglichkeit des sozialistischen Realismus und dem Stellenwert der Lyrik im Vergleich zur Prosa. Nicht zufällig trägt ihre poetische Selbstbetrachtung den Titel »Im Spiegel«. Die Ich-Erzählerin rückt ihren Schreibtisch vor den Spiegel, um den eigenen Arbeitsprozeß zu betrachten und sich mit dem Motiv des Spiegels auseinanderzusetzen: Er erzeugt einerseits einen Widerschein, andererseits eine Brechung der Wirklichkeit – bezeichnenderweise hat der in ihrem Text vorkommende Spiegel einen Sprung. Damit erhalten ihre Reflexionen den Charakter eines Metadiskurses über die Frage, was Lyrik vermag, was sie sein kann und möglicherweise nicht sein darf. Der Spiegel wird damit bereits 1965 zum Zentrum von Kirschs Poetik – Günter Kunert wies 1985 im Nachwort zu ihrem Gedichtband »Landwege« auf die besondere Stellung dieses Motivs hin. Die sozialistische Realität und wohl auch die Vorgaben des sozialistischen Realismus scheint die Autorin hier nicht allzu ernst zu nehmen, taucht doch in der zunächst ganz realistischen Situationsbeschreibung ein Drachentöter aus der Artussage auf. Wie in ihrer Lyrik nutzt sie auch hier Märchenmotive zur ironischen Brechung der Wirklichkeit: Lanzelot trägt Bluejeans, hat das Drachentöten aufgegeben und ist in einem Forschungsinstitut angestellt.
Der Ritter, dem Kirsch in späteren Jahren ein eigenes Gedicht widmet, entpuppt sich als ebenso geistreicher wie streitbarer Gesprächspartner der mit ihrer Kunst hadernden Ich-Erzählerin. So entspinnt sich ein doppelbödiger Dialog über poetologische Positionen, dessen ernsthafte Argumentation ständig unterlaufen wird – von ironischen Wendungen und Pointen im typischen Sarah-Sound, unter Einbeziehung von Schlüsselbegriffen wie Grunderlebnis oder Selbstkritik. Ersterer stammt von Anna Seghers und bezeichnet eine Art Initiationserlebnis, das jeder Künstler benötige, um sein Talent an eine Aufgabe zu binden. Für Sarah Kirsch bestand diese Erfahrung nicht zuletzt in der Zugehörigkeit zu einer Lyrikergeneration, die auf dem Wert der eigenen Erfahrung bestand und sich von den »alten Genossen«, den »alten Männer(n)« abgrenzte, so wie ihre Mitstreiter Rainer Kirsch, Wolf Biermann und Volker Braun, die sich nicht auf vorgefertigte ideologische oder ästhetische Positionen einließen, sondern auf »Vorläufigem« beharrten. »Wir waren merkwürdigerweise fast alle vom Jahrgang 1935«, erinnerte sich Sarah Kirsch 1993, »und wir hatten einen gewissen Hochmut. Der blühte, und den brauchten wir auch, um uns gegen die Parteidichter behaupten zu können.«
Demgegenüber kann Selbstkritik als Grundhaltung des engagierten Sozialisten verstanden werden, der sich hinsichtlich seines Auftrags stets kritisch zu hinterfragen hat (was selbstverständlich auch als Synonym für Selbstzensur verstanden werden kann). Doch die scheinbare Ernsthaftigkeit wird durch andere Assoziationen unterminiert – etwa wenn das Segherssche Grunderlebnis mit dem Blick in ein Whiskyglas in Verbindung gebracht wird. Die »doppelte Brechung«, die durch den Glasboden im Spiegel entsteht, kommt einer Selbstbehauptung, einem Beharren auf der eigenen Wahrnehmung gleich: Nur gebrochen ist die Wirklichkeit darstellbar. Die Äußerung zur Selbstkritik ist von so enervierter Flapsigkeit, daß man darüber lachen muß.
Lanzelot fordert von ihren Texten weniger Selbstbespiegelung und tut Gegenstände wie Liebe und Kummer als »Damengeschwätz« ab, wo es doch allerorten »nach Napalm und Atompilzen« rieche. Dahinter ist wohl ein Seitenhieb auf jene Lyrikerkollegen zu vermuten, die Kirschs frühen Gedichten »Mädchenhaftigkeit« oder »Baby-Talk« (Adolf Endler) unterstellten oder, wie Georg Maurer in seinem Prüfungsgutachten, betonten, sie verstehe es, »Vorgänge in der intimen fraulichen Sphäre ebenso ehrlich wie zart auszusprechen«.
Sarah Kirsch setzt dagegen ihr zweites poetologisches Grundverfahren ein, die Verkleinerung, wodurch die Welt im Spiegel ihrer Gedichte »ein bißchen kleiner als in Wirklichkeit « erscheint: Es sind »die trippelnden Vögel, Menschen, struppige Hunde, ein sanfter Garten, der vornehme Verkäufer, ein Fisch«. Es sind die scheinbar nebensächlichen Dinge, die in Kirschs Gedichten große Wirkung entfalten, weil sie Kontraste setzen und die Fallhöhe des Großen und Ganzen verdeutlichen. Auch ihr vermeintlich naiver Tonfall folgt diesem Prinzip der Verkleinerung, die einfache, aber doppelbödige Sprache eröffnet ihr auf unerwartete Weise den Spielraum zur Brechung aller Erwartungen.
So auch in ihrem Gedicht »Kleine Adresse« von 1964, dem erst die Vögel zur vielgeforderten »Welthaltigkeit« verhelfen: als Flug- oder Reisemotiv, das sich antithetisch oder auch spiegelbildlich zu den Grenzen der politischen Welt verhält und »eine ungeheure Sehnsucht nach außen« zum Ausdruck bringt. »Aufstehn möchte ich, fortgehn und sehn, / ach, wär ich Vogel, Fluß oder Eisenbahn, / besichtigen möchte ich den Umbruch der Welt.« Die »Kleine Adresse« ist denn auch eine der wenigen frühen Arbeiten, die Kirsch in ihrer »Poetischen Konfession« noch gelten läßt. Die meisten verwirft sie, sie zweifelt am Erreichten, sucht Rat bei ihren literarischen Vorbildern und spürt den Druck erster Erfolge. Eben dreißig geworden, sorgt sie sich »ein wenig um die Schönheit und sehr um die Leistung«.
Am Ende der »Poetischen Konfession« trinkt Lanzelot den letzten Whisky und verläßt seine Gesprächspartnerin. »Nieder mit dem Gefälligen!« ruft er ihr noch zu. Die Autorin bleibt »etwas klüger als zuvor und unzufrieden« zurück. Doch trotz aller Unwägbarkeiten »zwischen nicht mehr und noch nicht« spricht sie sich noch einmal Mut zu: »Mach weiter«, ermahnt sie sich mit der ihr eigenen Zähigkeit – jener »Zähigkeit, mit der sie Niederlagen überdauert, ihr Recht im Sichnichtverlieren« behauptet, wie Peter Hacks Jahre später schreibt: »›Ich möchte‹, so fühlt Sarah, ›die Welt lieben; sie ist nicht liebenswürdig, weder zu mir, noch als solche. (…) Sie werden mich ein wenig flennen oder ein wenig aufmotzen oder ein wenig kichern hören, aber kleinkriegen, das werden sie mich nicht. So, Sie finden mich schnurrig? Sie glauben, nur Katzen schnurrten, die Guten; sie vergessen die Tiger.‹«
Isabelle Lehn, Sascha Macht und Katja Stopka
[...]
SINN UND FORM 6/2013, S. 848-855
Engdahl, Horace
Wagner und das Wunderbare, S. 856Sloterdijk, Peter
Das glückliche Ohr. Ein Gespräch über Musik mit Manfred Osten, S. 864MANFRED OSTEN: Vielleicht sollten wir mit der Rehabilitierung eines Stiefkinds der europäischen Geistesgeschichte beginnen, mit der (...)
LeseprobeSloterdijk, Peter
Das glückliche Ohr. Ein Gespräch über Musik mit Manfred Osten
MANFRED OSTEN: Vielleicht sollten wir mit der Rehabilitierung eines Stiefkinds der europäischen Geistesgeschichte beginnen, mit der Rehabilitierung des Hörens. Haben wir nicht das Ohr als Erkenntnisorgan allzu lange unterschätzt?
PETER SLOTERDIJK: Ich bin mir nicht sicher, ob wir dem Ohr wirklich so untreu geworden sind, wie es Ihre Worte nahelegen, denn unsere Kultur beruht vom ersten Tag an auf der Allianz zwischen dem Auditiven und dem Visuellen. Das hat unter anderem damit zu tun, daß die Europäer die ersten waren, die den von den Phöniziern und anderen Vorgängerkulturen übernommenen Alphabeten Vokale hinzugefügt haben. Also wären die Griechen, wenn sie sonst nichts geleistet hätten, trotzdem das bedeutendste Volk der Geistesgeschichte Europas, eben weil sie die orientalischen Konsonantenschriften um Vokale ergänzt und dadurch etwas möglich gemacht haben, worauf unsere ganze audiovisuelle Kultur beruht: das autodidaktische, das selbständige Lesen, die vollständige Vokalisierung des lesbaren Textes und damit die Entstehung einer psychoakustisch prägnanten Halluzination im inneren Ohr des lesenden Menschen, der glaubt, er höre den Autor sprechen. Wir haben eine Kultur des inneren Hörens, des betreuten Halluzinierens geschaffen, in der sich die Stimme des Autors gleichsam wie eine Hand auf die Schulter des Lesers legt und ihm erlaubt, sich ein Bild von dem zu machen, was er gesagt hätte, wenn ihn nicht jahrhundertelanges Totsein am unmittelbaren Verkehr mit seinem Fernschüler hindern würde. Die Griechen haben, wenn Sie so wollen, durch ihre Schrift die Teleakademie erfunden. So würde man das heute nennen. Und Teleakademien haben das besondere Merkmal, daß in ihnen Fernstimmenübertragungen stattfinden. Ich würde sagen, das ist die Basis unserer Kultur.
Die Griechen haben zudem eine Merkwürdigkeit an den Tag gelegt, über die wir heute noch staunen können, sie haben nämlich die Buchstaben zugleich für Zahlen und Musiknoten benutzt. Das können wir uns gar nicht mehr vorstellen, weil wir ja Zahlen und Notationen und Buchstaben haben. Der verstorbene Friedrich Kittler hat über diese Entdeckung in seinen reiferen Tagen fast den Verstand verloren, weil er zu verstehen versucht hat, was es bedeutet, wenn man gleichzeitig Mathematik, Musik und geschriebenes Denken praktiziert. Doch alles, was ich gesagt habe, ist nur eine Annäherung an den großen Satz von Thomas Mann, der in meinen Augen am Anfang jeder Besinnung über Fragen der Musik stehen könnte: »Die Musik ist dämonisches Gebiet.«
OSTEN: Die Rangerhöhung der Musik fand in der Spätromantik statt, etwa in Nietzsches berühmter »Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«. Da wurde plötzlich das Ohr an die Herzkammer des Weltwillens gelegt. Der Gedanke, daß der Weltgrund musikalisch, daß Musik im Grunde eine metaphysische Tätigkeit ist, ist doch ungeheuer. Wie kommt man zu solchen Überlegungen?
SLOTERDIJK: Durch die Entdeckung der Mehrschichtigkeit der Audiovisualität als solcher. Ursprünglich hat die europäische Kultur die beiden Fernsinne Auge und Ohr gegenüber dem, was man die Nähesinne nennt, unendlich privilegiert, also gegenüber dem Geruchssinn, dem Tastsinn, dem atmosphärischen Spüren. Im Grunde genommen ist das Spüren der große Verlierer der Kulturgeschichte. Es wird jetzt unter verschiedenen Namen, unter anderem dem der Haptonomie, mühsam wieder in unser Weltbild integriert. Die Nähesinne mußten unter den Sinnen des Menschen zweitausend Jahre lang den Idioten der Familie spielen. Wir haben das Tasten, das Riechen, das Schmecken und das gesamte atmosphärische Empfinden, also den Umgang mit dem, was bei den Phänomenologen tertiäre Qualität heißt, am Eingang zur Akademie abgewiesen. Über diesem Eingang stand ja auch, die mathematisch Ungebildeten, diejenigen, die nicht bereit sind, die für die europäische Wissenschaftskultur konstitutiven Abstraktionen mitzumachen, mögen außen vor bleiben. Und wir haben bis zum Beginn der Renaissance, bis zum 14./15. Jahrhundert warten müssen, ehe die Künstler wieder von der Mathematik zur Sinnlichkeit zurückkehrten. Das ist das eigentliche Geheimnis der Renaissance, die Reinklusion der ausgeschlossenen Sinne – aber auch die müssen sich an das Idiom der Mathematik und an das Denken in Proportionen, die Lage im Raum und die Größenbestimmung halten. Das sind die sogenannten Primärqualitäten, auf sie allein stützt sich wahres Wissen. Musik hat im innersten Kreis der Wissenschaften zwar eine Rolle gespielt, aber nicht als hörbare, sondern als gedachte Musik. Es ist interessant, daß von Pythagoras bis ins hohe Mittelalter immer auch eine Musikologie betrieben worden ist, die so etwas wie die Wissenschaft von den mathematischen Proportionen beinhaltete, auf welchen Musik beruht, auch wenn man sie nicht hört. Die Wiederkehr des Hörens meint eigentlich die niedere Musik, die so etwas Schmutziges wie eine Klangfarbe hat – schon das Wort Farbe löst bei einem echten Platoniker ja Krämpfe des Unwohlseins aus, weil damit die Verschmutzung durch Empirie beginnt.
OSTEN: Ist es nicht so, daß die Metaphern, die wir aus der europäischen Geistes- und Philosophiegeschichte übernommen haben, zum Beispiel »sich ein Bild machen«, »Licht ins Dunkel bringen« oder »Aufklärung«, meist aus dem Bereich des Sehens kommen? Man könnte sich die Aufklärung ja auch als Aufklingung denken. Aber von Aufklingung haben wir keinen Begriff. Es scheint doch irgendwann zu einer Dominanz des Visuellen, zumindest bei Metaphern und Begriffsbildungen, gekommen zu sein.
SLOTERDIJK: Das liegt an Plato. Aber er ist nicht an allem schuld, er kann auf einen anonymen Urheber des Verhängnisses verweisen, denn er lebt in einer Kultur, in der die Alphabetisierung bereits stattgefunden hat. Sie liefert Plato seine Grundideen, denn die Idee der Idee ist der Buchstabe. Man hat aus den Vokalgallerten, die aus Menschenmündern hervorquellen und die man Sprachen nennt, durch geniale Sequenzierung die Elemente herauspräpariert, die eine phonetische und vokale Rekonstruktion des Lautes im Schriftbild begründen. Das ist ein grundstürzender Vorgang, und den hat die Philosophie als eine von ihr selber nicht verstehbare Prämisse bereits im Rücken. Als Plato mit seinem Eidos, seinem Urbild kommt, kann er sich auf zwei Urbilderfahrungen berufen, die zur Grundausstattung der griechischen Lebenswelt gehören. Die erste war die für jeden Griechen, ob alphabetisiert oder nicht, sichtbare Tatsache, daß an jeder Ecke Statuen nackter Männer standen. Ohne diese Grundgeste, ohne die in den Statuen zum Ausdruck kommende Genialität kann man die Griechen nicht verstehen. In der Statue wird das Göttliche aufgerichtet, und das Göttliche ist immer ein bißchen größer als der Mensch, aber nicht zu groß. Zehn Prozent mehr, und schon hat man einen Helden, einen Halbgott oder eine Epiphanie. So muß man sich auch die Statuen in Olympia und an anderen Orten des griechischen Siegerkults vorstellen. Zum olympischen Sieg gehört das Recht, Statuen aufzustellen. Wenn fremde Heere einfielen, verübten sie unter den Statuen einen regelrechten Völkermord. Aber wenn sie abzogen, konnten die Geschichtsschreiber sagen: Griechenland ist immer noch voller Statuen. Dieser Umstand hat Plato in gewisser Weise recht gegeben, weil er darauf verweisen konnte, daß es so etwas wie real existierende Ideen gibt. Zunächst als vergöttlichte Männerkörper in der gebundenen archaischen Gestalt des Kuros mit den am Oberschenkel angelegten Händen und später in der gelösteren Gestalt, die einen Schritt nach vorne tut. Und dann die sich vom Körper lösenden Arme – am Ende fast tänzerisch verklärte Körpererscheinungen, die im römischen Manierismus zu einer unglaublichen Höhe weitergebildet werden. Die zweite Voraussetzung des Platonismus ist noch viel unscheinbarer. Statuen springen ins Auge, werden aber in der Regel vom Betrachter nicht reflektiert, weil er sie nur als herumstehende Objekte wahrnimmt. Wir können die Statuen aufstellende Gebärde, also den Denkakt, der dazu führt, daß man einen menschlichen Körper auf solche Weise erhöht und sichtbar macht, heute nicht mehr recht nachvollziehen. Zumindest konnten wir es bis 1900 nicht, als die neue Kultur der Models aufkam und wir auch die Freude an der Körperpräsentation wieder entdeckten.
Der andere Punkt, auf den ich hinweisen möchte, ist die Tatsache, daß die Griechen bereits diese mysteriösen 24 oder 25 Schriftzeichen hatten, die die gesamte Sprache mit lautbildlicher Präzision wiedergeben konnten. Wenn Plato nach dem Urbild eines Urbilds gesucht hätte, was er aufgrund seines Eingetauchtseins in die Schriftkultur nicht tat, wäre er unweigerlich beim Buchstaben gelandet, der auf griechisch Element heißt. Die eigentliche Elementarisierung, die Sequenzierung des Seienden in kleinste Teile, ist eine Nebenfolge des Umstands, daß die Griechen das in ihrer Schrift bereits getan hatten. Bis vor kurzem war es auch die einzige erfolgreiche Form der Sequenzierung des Seienden. Erst im späten 18. Jahrhundert tauchten Tafeln der chemischen Elemente auf, die wir bis auf den heutigen Tag weiterschreiben. Authentische Sequenzierungen des Seienden kann man daran erkennen, daß man mit den freigelegten Elementen Rekombinationen vornehmen und Existierendes exakt abbilden kann. Mit dem, was darüber hinaus geht, kann man wieder neue Kombinationen erzeugen. Aus dieser Kombinatorik entsteht die erste Form von Kreativität. Das heißt, wir erzeugen durch Kombinationen von Elementen etwas Neues. Insofern war die Kabbala gar keine so dumme Sache.
Die Kabbalisten nahmen die Kunst, aus Buchstaben Wirklichkeiten zu machen, so ernst, daß sie glaubten, sie könnten durch Buchstaben-Manipulationen die Schöpfung rekapitulieren und gewissermaßen daran mitarbeiten. An diesem Punkt stehen wir heute. Wir schreiben den Dienstag der zweiten Schöpfungswoche, und in dieser geht man – was das Kombinieren und das Rekombinieren von Schöpfungsmaterie angeht – weit über die rudimentären Verfahren der ersten Woche hinaus.
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SINN UND FORM 6/2013, S. 864-877
Lian, Yang
Die Poetik des Raumes. Eine zeitgenössische Antwort auf die Herausforderungen des klassischen chinesischen Gedichts, S. 878Jentzsch, Cornelia
Zwischen gestern und morgen. Der Dichter Yang Lian, S. 887Cărtărescu, Mircea
Ein Brunnen im Meer, S. 889Schulze, Ingo
Wenn schon keine Freundschaft oder Liebe, dann wenigstens eine Geschichte! Nachruf auf Klaus Fiedler, S. 891Härtling, Peter
Mein Freund, mein Präsident. Nachruf auf Walter Jens, S. 895