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Heftarchiv – Themen und Debatten

Der Traum vom Fliegen

Den Traum vom Fliegen haben auch viele Schriftsteller geträumt – und manche haben ihn verwirklicht. Virginia Woolf schilderte 1928 mit poetischer Präzision einen "Flug über London" (Heft 1/2014), bei dem sie alle Register zieht, von der Beschreibung der Aeroplane, die "wie ein Schwarm Grashüpfer" im Hangar stehen, bis zur Vision einer Art schamanischer Reise. "Tausend Federhalter haben die Empfindung beim Verlassen der Erde beschrieben; 'Die Erde fällt von einem ab', sagen sie; man sitzt still und die Welt ist gefallen. Es ist richtig, daß die Erde fiel, aber merkwürdiger war das Herunterfallen des Himmels." Erst ganz am Schluß des raffinierten Textes wird klar, daß dieser Flug nie stattgefunden hat.

Anders steht es mit Heinrich Hauser, der schon über seine Ausbildung zum Piloten Anfang der dreißiger Jahre ein Buch schrieb. Als Farmer im amerikanischen Exil verfaßte er Gedichte, die in Heft 1/2012 aus seinem Nachlaß erschienen, melancholische Beschwörungen des alten Kontinents – und der Kindheitssehnsucht, sich mit einem selbstgebauten Apparat in die Lüfte zu erheben: "Nachts schlüpfte ich dann ins Freie, um zu fliegen / Breitete die Flügel aus und rannte einen Hügel hinab / Der Bambus bog sich, die Drähte sangen, das Laken blähte sich / Ich spürte die aufsteigende Kraft des Windes / Fühlte den geheimnisvollen Magnetismus des Mondes / Der mich anzog, die Schwerkraft ließ nach."

Dem wohl bekanntesten Piloten der Literatur, Antoine de Saint-Exupéry, widmete Roger Caillois in Heft 3/2010 einen scharfsinnigen Essay, in dem es auch um schriftstellerisches Selbstverständnis und die Problematik des Schreibens als Beruf geht: "Saint-Exupéry ist nicht zuerst ein Mann des Wortes (…). Die täglichen Pflichten schärfen sein Verantwortungsbewußtsein, bei anderen Autoren verkümmert es als erstes, wenn es nicht gebraucht wird. (…) Am meisten Kraft kostet ihn sein Leben, nicht seine Kunst. In dieser Situation verzichtet er auf das Privileg des Dichters und Romanciers, das freie Erfinden, das man von ihm doch geradezu verlangt."

VIRGINIA WOOLF Im Flug über London
Das Nichts wurde auf uns herabgegossen wie ein Haufen weißen Sandes. Dann, als ob irgendein Teil von uns seine Schwere beibehielte, fielen wir hinunter in Vliesähnliches, Gegenständliches, und Farbe; alle Farben zerstampfter Pflaumen und Delphine und Tücher und Meere und Regenwolken prallten zusammen, fleckten – purpurn, schwarz, stählern, all diese ganze sanfte Reife siedete um uns, und das Auge fühlte, wie ein Fisch fühlt, wenn er vom Felsen in die Tiefen des Meeres gleitet.
Eine Zeitlang waren wir in die Wolken eingewickelt. Dann erschien die Märchen-Erde, die weit, weit unten lag, eine bloße Scheibe oder Messerklinge von fließender Farbe. Sie stieg mit rasender Geschwindigkeit zu uns auf, sich verbreiternd und verlängernd;
1/2014
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HEINRICH HAUSER Die schlechten Mädchen von Hamburg. Texte aus dem Nachlaß
IKARUS, IKARUS!
(...)
Als ich ein Junge war, mein Junge
Träumten wir vom Fliegen
Nicht wie du heute von fliegenden Güterwagen und Ozeanriesen mit Flügeln
Die mit der brutalen Kraft zahlloser PS die Räume durchmessen
Sondern davon, ganz leicht zu sein, wie Bambus und Aluminium
Und gleichzeitig sehr stark, wie die Flügelmuskeln der Vögel
Damit wir fliegen könnten – wie Vögel.
1/2012 | zum Text

ROGER CAILLOIS Katechismus und Almanach. Über Saint-Exupéry
Saint-Exupéry überträgt und verlängert offenbar mehr als andere diese komplementären Bildungsgüter Katechismus und Almanach ins Erwachsenenleben und baut darauf auf: Er wird Pilot; er kann in stummer Nacht die Sprache der Sterne entziffern; er repariert Motoren, arbeitet an der Verbesserung eines Querruders, eines Landesystems, eines Geräts zur Aufzeichnung von Funkpeilungen, erwirbt Patente, stellt komplizierte Gleichungen auf, schreibt seitenweise Zahlen auf, um rein theoretische Probleme zu lösen, erfindet Kartentricks. Nebenbei verfaßt er moralische Traktate. In dieses Genre gehören alle seine Bücher, wie unterschiedlich sie auch sind(.)
3/2010
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