Lent, Dora
(1897–1989), deutsche Lyrikerin.
Siehe auch SINN UND FORM:
- 4/2024 | Im freien Fall wird die Wolke Gewicht. Gedichte. Mit einer Vorbemerkung von Wolfgang Matz
Vorbemerkung Die Literaturgeschichte ist an Dora Lent vorbeigegangen, zu unzeitgemäß war das, was sie dachte und schrieb. Auch sie selbst ist (...)
LeseprobeLent, Dora
Im freien Fall wird die Wolke. Gedichte
Vorbemerkung
Die Literaturgeschichte ist an Dora Lent vorbeigegangen, zu unzeitgemäß war das, was sie dachte und schrieb. Auch sie selbst ist vorbeigegangen, hat sich wohl allzu fern gehalten von der Literatur ihrer Zeit; war zum Fernhalten aber noch mehr gezwungen, denn unter dem Druck der Gewalterfahrung der dreißiger, vierziger, bis in die fünfziger Jahre war an freies Publizieren nicht zu denken, also gerade während jener wesentlichen, erwachsenen Lebensjahre, in denen ein literarisches Werk seine Öffentlichkeit finden muß.
Dorothee »Dora« Buch wird am 11. April 1897 in Brandenburg an der Havel geboren, geht dort zur Schule, legt das Abitur ab (»Drei großartige Studienrätinnen, 1. Generation studierter Frauen, die wir öfter zu Fahrten einluden«, heißt es in einer autobiographischen Aufzeichnung) und anschließend die Lehramtsprüfung für Lyzeen. Sie zählt zum linken Flügel der Jugendbewegung und des Wandervogel, interessiert sich für die frühe Frauenbewegung. Der Krieg bewirkt einen Riß. Der Verlobte Hans Lent ist in Frankreich an der Front, kehrt nach einer Verschüttung traumatisiert zurück; sie arbeitet als Hauslehrerin in Pommern. Beim Signal zur Novemberrevolution 1918 fährt sie ins heimatliche Brandenburg, »um dabei zu sein«, am Jahresende zählt sie zu den ersten Mitgliedern der neugegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands. Hans Lent, der in München Architektur studiert, engagiert sich dort in den Arbeiter- und Soldatenräten. 1920 heiratet das Paar und erbaut sich ein kleines Haus am waldigen Rand von Erkner bei Berlin; zwischen 1920 und 1929 werden vier Kinder geboren. Nach einer kurzen Berührung mit expressionistischen Literaturkreisen in Berlin bedeuten der Umzug ins ländliche Erkner und die Familiengründung einen immer stärkeren Rückzug; zwar nimmt das Ehepaar teil am kulturellen Leben im Berlin der Weimarer Republik – Theaterinszenierungen von Max Reinhardt, Konzerte, moderner Tanz von Mary Wigman oder Gret Palucca –, aber Dora Lent spürt ihre wachsende Isolierung und ein starkes Ungenügen in der festgefügten Rollenverteilung ihrer Ehe. Sie verläßt die KPD, sieht sich indes weiterhin der politischen Linken zugehörig. In diesen Jahren beginnt sie intensiv mit der Arbeit an Gedichten; daß sie damit beim Ehemann keinerlei Verständnis findet, löst eine schwere Lebenskrise aus: »Erschütterung des Fundaments«, hält sie fest. »Einsicht: Ich habe sein Leben mitgelebt in seinen Ideen, Plänen, Erfolgen und Schwierigkeiten – er hat mich garnicht wahrgenommen.« Eine Psychoanalyse mündet in den Rat, »ich solle mich selbständig machen, da ich der problematische Partner sei«.
Der Zerfall der Familie geht einher mit der politischen Entwicklung nach 1933. Beide Eheleute sind entschiedene Gegner des NS-Staates, und das macht es Dora Lent unmöglich, mit ihrer schriftstellerischen Arbeit an eine eigene, unabhängige Existenz zu denken. In diesen Jahren entstehen zahlreiche Gedichte, doch ohne jede Öffentlichkeit. Ab 1940 arbeitet sie als Bürokraft in der 1939 gegründeten »Einwandererzentralstelle«, welche die Einbürgerung der sogenannten volksdeutschen Umsiedler aus Osteuropa organisiert; zunächst in Berlin, dann läßt sie sich ins polnische Łódź (»Litzmannstadt«) versetzen, »um dort zu erkunden, wie sich der nationalsozialistische Staat da verhält gegen Polen und Juden«. Über ihre Erfahrung am Rande des Ghettos verfaßt sie einen umfangreichen, natürlich verborgen bleibenden Bericht »Abordnung nach Litzmannstadt« (der lange nach dem Krieg von der BBC London als mehrteilige Sendung ausgestrahlt wird). Nach einer weiteren Station in Innsbruck kehrt Dora Lent zurück nach Erkner; bei der Nachricht vom deutschen Angriff auf die Sowjetunion beginnt sie privat Russisch zu lernen, da sie von Rußland die Befreiung vom Nationalsozialismus erhofft. Hans Lent geht als Architekt mit der sogenannten Organisation Todt nach Norwegen, von da an lebt die Familie nie wieder zusammen. Der Krieg bringt zwei persönliche Katastrophen: Der ältere Sohn Karl unternimmt nach dem Einberufungsbefehl einen Selbstmordversuch, wird in eine Strafkompanie versetzt und fällt am 29. Januar 1943 bei Leningrad. Am 8. März 1944 wird bei dem großen Bombenangriff durch die amerikanische Luftwaffe die Stadt Erkner weitgehend zerstört, das Haus brennt nieder. Dora Lent bewohnt in den kommenden Jahren mit der jüngsten Tochter den hergerichteten Stall. Lichtblick in Kriegszeiten ist die Entdeckung der deutschsprachigen Sendungen des Londoner Rundfunks, mit denen die Mauer des Schweigens durchbrochen wird. Als am 27. April 1945 die Rote Armee in Erkner einzieht, begrüßt Dora Lent die Soldaten auf russisch als Befreier. Hans Lent geht bei der Rückkehr aus Norwegen weiter nach Westdeutschland; die Ehe wird geschieden; Dora Lent bleibt in Erkner, um am Aufbau des Sozialismus teilzunehmen; Anfang 1946 folgt sie einem Aufruf und wird Mitglied der KPD, die am 22. April mit der SPD zur SED vereinigt wird.
Im Ort war Dora Lent als offene Gegnerin des Naziregimes allgemein bekannt, darum trägt man ihr jetzt die Mitarbeit im von Johannes R. Becher gegründeten »Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« an, und sie übernimmt in der Ortsgruppe Erkner die Verantwortung für Schule, literarische Veranstaltungen und den Wiederaufbau der völlig zerstörten Gemeindebücherei. Hier kann sie auch zum ersten Mal aus eigenen Werken öffentlich lesen; im Oktober 1947 nimmt sie am Ersten Deutschen Schriftstellerkongreß in Berlin teil. Diese Phase ist allerdings nicht von langer Dauer, denn da eine unabhängige Kulturarbeit, auf der Dora Lent beharrt, unter dem Druck der sowjetischen Besatzungsbehörden immer schwieriger wird, befindet sie sich bald wieder in Opposition zur politischen Führung. 1947 wird sie aus ihrer Funktion entlassen, im folgenden Jahr erklärt sie den Austritt aus der SED, was eine neue Isolierung zur Folge hat, denn Veröffentlichungen werden ihr nach dem Parteiaustritt verweigert. Von der aussichtslosen Situation zermürbt, gehen sie und ihre Tochter am 31. Juli 1952 in den Westteil von Berlin, bekommen durch die Unterstützung des unter anderem von Benedetto Croce, Karl Jaspers und Bertrand Russell präsidierten »Kongresses für kulturelle Freiheit« den Status politischer Flüchtlinge.
In Berlin wird Dora Lent die nächsten drei Jahrzehnte leben und versucht mit inzwischen 55 Jahren zum ersten Mal, ihre literarischen Arbeiten an die Öffentlichkeit zu bringen; ein viel zu später Versuch, der selten gelingt. Geschrieben hatte sie immer, in all den Jahrzehnten erzwungenen Schweigens. An die lockere Folge der frühen Gedichte seit 1920 schließen sich die Zyklen der vierziger Jahre an: die Kriegsgedichte, der Gedenkzyklus für Karl, den toten Sohn, die »Brandmarken« aus Łódź; daneben aber kristallisieren sich zwei Reihen heraus, die mit feministisch-theologischen Gedichten, mit weltanschaulichen, formstrengen, oft um Pol und Gegenpol herum konstruierten Sprüchen in diesen fünfziger, sechziger Jahren, als Feminismus noch kaum mehr als ein Gerücht ist, nur wenig Echo finden können, und als sich das langsam ändert, ist es zu spät. Es gibt aus dieser Zeit verschiedene Publikationen, in Zeitschriften, Zeitungen, so mehrfach in der Zürcher »Literarischen Tat«, später auch in der einen oder anderen Anthologie, eine Buchveröffentlichung aber bleibt aus. Mit anderem findet sie mehr Resonanz, so mit der Nachdichtung der Fabeln von Iwan Andrejewitsch Krylow, Folge ihrer Russischstudien der vierziger Jahre, und besonders mit Aufsätzen zu Politik, Gesellschaft, Religion – unter anderem in »Die Zeit«, »Wege zum Menschen«, »Freigeistige Aktion«, »Liberal«; im höheren Alter wird ihr feministisches Engagement dabei immer radikaler. Die Verbindung nach London bringt zwei bedeutende Publikationen: Die BBC sendet im September 1960 und im Februar 1970 zwei Folgen von autobiographischen Texten; zunächst die fünfteilige »Russische Suite«, Momentaufnahmen von der Ankunft der Roten Armee im April 1945; dann »Wir sollten uns erinnern«, die gekürzte, vierteilige Fassung ihres Berichts über das Jahr 1940 in Łódź,
All dem zum Trotz ist es die Enttäuschung ihrer späten Jahre, daß es nicht gelingt, ihr Eigentliches, also die Dichtung, mit einem Buch an die Öffentlichkeit zu bringen, und auch die Hilfe von Walter Höllerer im Literarischen Colloquium Berlin führt nicht weiter; Auftrieb gibt zumindest Höllerers Initiative, Dora Lents Werk im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg zu sichern, wo Manuskripte, Drucke und Briefe seither verwahrt sind. Bei nachlassenden Kräften zieht sie im Dezember 1983 aus familiären Gründen nach Langenhagen bei Hannover. Ganz zuletzt, im Oktober 1989, druckt Michael Krüger in seiner Zeitschrift »Akzente« eine kurze Folge »Späte Gedichte«. Das Heft hat sie selber nicht mehr in Händen gehalten, denn sie stirbt, zweiundneunzigjährig, am 14. Oktober 1989. Doch gerade diese späten Texte wecken ein wirkliches Echo. »Spuren einer Unbekannten« heißt der eindrucksvolle Prosatext des Schweizer Dichters Kurt Marti in seinem Band »Herausgegeben. Notizen und Details« (1990). »Am 28. Januar 1977 las ich im Literaturteil der Zürcher Tageszeitung ›Die Tat‹ ein Gedicht, das mich seltsam berührte«, schreibt Marti. »Den Namen der Gedichtautorin hielt ich zunächst für ein Pseudonym, die Autorin selbst für eine vom eben aufkommenden theologischen Feminismus bewegte, vermutlich noch jüngere Frau, obgleich mich die Sprache stutzig machte. Irrtum jedenfalls! 1977, als das Gedicht in der ›Tat‹ erschien, war die Verfasserin bereits 80 Jahre alt.« Der Name ist nicht vergessen, als Marti ihn jetzt, ein Dutzend Jahre später, in den »Akzenten« wiederfindet, aufs neue »von Dora Lents späten Gedichten seltsam berührt«. Und er fügt hinzu: »Ich könnte mir sogar denken, daß die Texte dieses Zyklus gerade heute eine breitere Beachtung zu finden und durchaus auch theologische Diskussionen auszulösen vermöchten. Jedenfalls halte ich dies für möglich angesichts der denkerischen Eigenwilligkeit, die die wenigen mir bekannten Gedichte Dora Lents verraten. Natürlich vernähme man gerne auch, wer Dora Lent war, wie ihr Leben verlief, welche Erlebnisse und Lektüren sie geprägt haben.« Diese Auswahl der Gedichte gibt eine erste Antwort.
Wolfgang Matz
SINN UND FORM 4/2024, S. 511-521, hier S. 511-513