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Die surrealistische Revolution Mitte der zwanziger Jahre in Paris war vielleicht nicht die wichtigste, wohl aber eine der schönsten und unblutigsten (...)
LeseprobeKillert, Gabriele Helen
Die Kunst, das Unendliche hereinzubitten. Zur Poetik des literarischen Surrealismus
Die surrealistische Revolution Mitte der zwanziger Jahre in Paris war vielleicht nicht die wichtigste, wohl aber eine der schönsten und unblutigsten aller historischen Revolten. Was ist passiert? Ein paar Priester wurden beschimpft, der Papst ein Hund genannt. Und ein paar Ausstellungsräume und Kinos gingen zu Bruch. Nicht eben viel, wenn man bedenkt, welche Zukunft das »Büro für surrealistische Forschung« über die Menschheit verhängt hatte: Enteignung des Bewußtseins, der Logik, des perfiden Wachzustandes. Und: schöpferischer Schlaf, Mystik, Magie, Hysterie und automatisches Schrei ben – für alle!
Wieder einmal zogen die Proletarier aller Länder nicht mit. Dafür strömte die Boheme aller Länder und Wolkenkuckucksheime in Paris zusammen, um André Breton bei der »Neueinteilung des Lebens« zur Hand zu gehen. So nahm die Bewegung ihren Lauf.
Bei uns kam sie allerdings nie so richtig an. Der literarische Surrealismus hatte in Deutschland erst spät, seit den vierziger Jahren, eine bescheidene, leise vor sich hin bröckelnde Bastion. Weithin unbekannte Namen wie K. O. Götz, Johannes Hübner, Joachim Uhlmann, Lothar Klünner wären zu nennen. Ein Grüppchen, so klein und anfangs gänzlich unsichtbar, daß der Übersetzer Friedhelm Kemp nach 1945 immerhin noch meinte, einen deutschen Surrealisten – Friedrich Umbran – erfinden zu müssen, um einer etwas tristen Nachkriegsanthologie etwas mehr Pep und Farbe zu verleihen: »Unter den süßen Schenkeln / Wenn die Galle der Gärten im Nebel schläft / Und die Teiche wie Bienen sich umsehen …« Mit seinem eigenen guten Namen wollte Kemp dafür lieber nicht geradestehen.
Der deutsche Geschmack hat es gern profund. Ein bißchen schwer, ruhig auch schwerverdaulich. Nur nicht zu leicht, dann wird es schnell frivol. Dadaismus ja. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Bei Dada fällt so viel Sprachschrott hinten raus, man merkt, wie fleißig da gearbeitet wurde. Das spricht das deutsche Handwerkergemüt an. Aber Surrealismus? Ziemlich französisch, ziemlich artistisch. Schön vielleicht, aber wozu das Ganze?
Mit solch obstruktiven Sinnfragen wird dem Surrealismus hierzulande das Leben schwergemacht. Betrachten wir zum Beispiel das Gedicht »Steinbläue über dem Dolchschatten« von Anfang der sechziger Jahre: »Weil das Fleisch mit / dem Knochen schläft / rollen Augen über den Tisch / tanzt löwenbeinig / der Tisch übers Meer / öffnet das Meer Fenster / über einem Meer von Gesichtern.«
Das Gedicht verfaßte der Berliner Lyriker Richard Anders, ein Mensch von sanfter Schale, aber rauhem Kern, wenn es darum ging, Breton und den Surrealismus vor der Welt zu verteidigen. Bis zu seinem Tod 2009 hielt er tapfer die Stellung als vermeintlich »letzter deutscher Surrealist«.
In dem kleinen Text werden Dinge behauptet, die nur schwer nachvollziehbar sind. Dieses Gedicht kann sich nicht ausweisen: weder als Sinngedicht noch als lyrisches Stimmungsgedicht. Erst recht nicht als engagiertes, dazu fehlt ihm der angemessen freudlose Ton. Es hat keine Chance, in ein Lesebuch der sechziger Jahre aufgenommen zu werden, neben Verse von Günter Kunert, Erich Fried oder Hans Magnus Enzensberger, denn wo sind hier die sechziger Jahre? Keine Chance, überhaupt in ein Lesebuch zu kommen, denn was soll man hier interpretieren? Es wirkt so leicht, so übermütig, als hätte es gar keine Arbeit gemacht.
Es ist eben ein surrealistisches Gedicht. Ein Stück magische Kunst, die »irgendwie erneut den Zauber zeugt, der sie selbst gezeugt hat«, wie André Breton in »L’art magique« (Magische Kunst) zu definieren versucht hat. Es handelt sich um die schwer faßliche Disziplin des somnambulen Arbeitens. »Der Dichter arbeitet «, ein Schild mit diesem Hinweis stand an der Tür des Surrealisten Robert Desnos, während er schlief und träumte. Die Ressourcen des Innern, des eigenen respektive kollektiven Unbewußten sprudeln zu lassen, darum ging es von Anfang an. Der Surrealismus ist vor allem »ein Zustand des Geistes«, dekretierte Antonin Artaud, der zeitweilige Bürochef der Bewegung. Will heißen, der Surrealist »besitzt keine Gefühle, die zu ihm selbst gehören, er bekennt sich zu keinem Gedanken. Sein Denken errichtet ihm keine Welt, der er vernünftig zustimmt. Er gibt die Hoffnung auf, den eigenen Geist zu treffen. Aber endlich ist er im Geist (…), und vor seinem Denken wiegt die Welt nicht schwer«.
Wie man in diesen Schwebezustand einer ungelenkten Rezeptivität gerät, der die poetische Energie des Unbewußten freisetzt, skizzierte André Breton nach Art einer Gebrauchsanweisung der écriture automatique, des primären jeu surréaliste. Man möge sich in einen quasi meditativen Zustand des Nichtwollens, der Gedankenleere und Absichtslosigkeit versetzen und schnell, ohne Plan und vorgefaßtes Thema drauflosschreiben. »Der erste Satz wird ganz von alleine kommen, denn es stimmt wirklich, daß in jedem Augenblick in unserem Bewußtsein ein unbekannter Satz existiert, der nur darauf wartet, ausgesprochen zu werden. Ziemlich schwierig, etwas darüber zu sagen, wie es mit dem folgenden Satz geht; zweifellos gehört er unserer bewußten Tätigkeit und zugleich der anderen an, (…) gerade darin liegt zum großen Teil der Wert des surrealistischen Spiels.« Man solle sich dabei, betont Breton, ganz auf »die Unerschöpflichkeit dieses Raunens« verlassen. Wenn ein Verstummen sich einzustellen droht, breche man bei einer zu einleuchtenden Zeile ab und setze hinter das suspekt erscheinende Wort irgendeinen beliebigen Buchstaben als Anfang des folgenden Wortes, um so die Willkür wiederherzustellen.
Ausgenommen die theoretischen Texte, wie etwa dieser aus dem ersten surrealistischen Manifest von 1924 – hier mußte zum Bedauern Bretons »in Formeln« statt in Zungen geredet werden –, verdanken wir dieser Technik einer blind agierenden sprachlichen Induktion die frühen Texte des Surrealismus. Entscheidend beim automatischen Schrei ben ist der Verzicht auf Kontrolle. »Denk-Diktat jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Reflexion« soll der Text sein. Das Karussell darf sozusagen nicht an der Kasse haltmachen. »Die magnetischen Felder«, Bretons erster, gemeinsam mit Philippe Soupault verfaßter, kanonisch surrealistischer Text – eine lyrisch dramatische Collage aus Kindheitserinnerungen und aggressiv getönten Ängsten, die die Lebenssituation der Freunde nach dem Ersten Weltkrieg spiegeln –, entstand so in automatischer Schreibweise.
Soupault: Ein guter Rat: Gehen Sie in die Avenue du Bois und schenken
Sie einem Mieter dieser Häuser, deren entzückende Geschmacklosigkeit
unsere Leidenschaften erregt, ein bescheidenes Zehnsousstück.
Breton: Wir werden dann den Rückzug der toten Generäle erzwingen können
und ihnen von neuem die Schlachten liefern, die sie verloren haben.
Sonst müssen wir eine Fälschungsklage einreichen gegen die gerechtesten
Urteile der Welt, und das Palais de Justice ist naß.
Soupault: Ich bin dessen nicht so sicher wie Sie. Eine Straßenlaterne, die
ich liebe, hat mir zu verstehen gegeben, daß Generäle und Nonnen den
Verlust der geringsten Träume zu schätzen wissen …
Syntaktisch gesehen scheint die Welt auf den ersten Blick noch in Ordnung. Doch die formale Verknüpfung innerhalb des Textes durch Rede und Gegenrede, das Vertraute rhetorischer Figuren sind trügerisch. Was hier geschieht, gleicht dem Ins-Leere-Reden des Absurden Theaters, das mit Alfred Jarry und Apollinaire beginnt und sich bei Beckett bis zur Selbstauflösung, zum Paroxysmus des Absurden im Schweigen, radikalisiert hat. Die beiden glücklichen Verfasser staunten über den Elan, die Leichtigkeit und die »bemerkenswerte Auswahl derart guter Bilder, wie wir sie bei langer Vorbereitung unfähig gewesen wären hervorzubringen«.
Der assoziative Schwung, die Schubkraft der Bilder ermöglicht ungewöhnliche Konstellationen, wie die »Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf dem Seziertisch«, die wir dem Vorreiter und Spiritus rector des Surrealismus, Lautréamont, verdanken. Er sprach solchem Schöpfungsakt »konvulsivische Schönheit« zu, die Breton und sein Kreis nunmehr von jedem surrealistischen Akt verlangten. Man könnte hier an Schillers Begriff des Schönen denken als Freiheit in der Erscheinung«. Surrealismus bedeutet aber vor allem: Freiheit in actu. Was Friedrich Schlegel für die Ironie reklamiert – »sie ist die freieste aller Lizenzen, denn durch sie setzt man sich über sich selbst weg« –, gilt auch für die Praxis des jeu surréaliste. Niemand ist freier als der Surrealist, der sich der Willkür des Einfalls, dem Handstreich des Augenblicks überläßt. Dies ist jedenfalls sein Glaube und sein Credo.
(…)
SINN UND FORM 1/2019, S. 106-115, hier S. 106-109
Adolf Muschg ist seit Jahrzehnten schon ein Klassiker der Gegenwartsliteratur. Und wie es so manchem Klassiker ergeht: Er gilt viel und wird wenig (...)
LeseprobeKillert, Gabriele Helen
Hypochondrie und Ironie. Uneigentliches Leiden und uneigentliches Sprechen im Werk von Adolf Muschg
Adolf Muschg ist seit Jahrzehnten schon ein Klassiker der Gegenwartsliteratur. Und wie es so manchem Klassiker ergeht: Er gilt viel und wird wenig gelesen. Muschg ist gleichsam der Schweiz-Korrespondent der Literatur, der uns über dieses eigenwillige Nachbarland auf dem laufenden hält. Seine Stimme hat als die eines reflektierten Intellektuellen Gewicht, sei es in entschiedener Opposition zu den Vereinfachern bei gewissen Zeitgeist-Themen (zuletzt etwa der sogenannten Cancel culture) oder als engagierter Streiter für ein aufgeklärtes, Konflikte tolerierendes »gastliches Europa«.
Neben dieser politisch-publizistischen Präsenz ist Adolf Muschg aber vor allem ein – auch jenseits der achtzig – unvermindert produktiver Erzähler. Beinah alle zwei Jahre überrascht er mit einem meist umfangreichen Roman, und es zeigt sich, daß er sich und seinen Lesern nichts nachgibt. Muschgs Erzählen war immer anspruchsvoll, immer hochgradig vielschichtig und mehrdeutig. Es richtete sich, wenn nicht an die happy few, so doch an eine literarisch gebildete Leserschaft. Es geht eigentlich stets ums Ganze. Um das Leben mit seinen unaufhebbaren Widersprüchen und Ambivalenzen. Um Abgründe, dunkle defizitäre Seiten hinter der bürgerlichen Fassade.
Bei einer Annäherung an Adolf Muschg nimmt man am besten den Umweg über die Hypochondrie. Sie ist eine große Produktivkraft in seinem Werk wie in der Literatur überhaupt. Immanuel Kant nannte sie die »Grillenkrankheit« und Hugo von Hofmannsthal spricht von den Qualen eines »Gespensterkampfes«. Man denke auch an Thomas Mann oder an Italo Svevo und seinen Helden Zeno Cosini, der ständig damit beschäftigt ist, seine letzte Zigarette zu rauchen, überhaupt mit einer gewissen Angstlust an die letzten Dinge denkt und mit Mitte dreißig bereits sein Ende erwartet. Von diesem bekennenden Hypochonder stammt der Satz: »Die Krankheit ist eine Überzeugung. Ich wurde mit dieser Überzeugung geboren.«
Wenn es so ist, daß die Themen sich ihren Autor suchen und nicht umgekehrt, dann hat es nach Svevo wohl niemanden mehr so erwischt, hat die Hypochondrie wohl kaum einen treueren literarischen Sachverständigen finden können als Adolf Muschg. Wie Svevo ist auch er ein passionierter Ironiker. Wie die Hypochondrie sich der Krankheit als Maske, so bedient er sich der Maske der Ironie. Uneigentliches Leiden und uneigentliches Sprechen – das tertium comparationis liegt in der Dissimulation, in der Verstellungskunst. Unter einem Hypochonder versteht man für gewöhnlich jemanden, der sich Krankheiten einbildet. Ein eingebildetes Leiden. Sagen wir lieber: ein Leiden aufgrund von Einbildungskraft. Ein Druckgefühl in der Lendengegend, ein taubes Gefühl im Arm – das kann nur etwas Schlimmes sein. Der Hypochonder ist so durchdrungen vom Gefühl der Unhaltbarkeit des Lebens, daß er immer auf das Schlimmste gefaßt ist. Muschgs Figur Albisser zum Beispiel, der linksbourgeoise Jedermann der sechziger und siebziger Jahre und Protagonist des Romans »Albissers Grund« (1974), läßt nichts aus. Er ist von Kopf bis Fuß auf Schmerzen eingestellt, und von Kopf bis Fuß wird er auch untersucht. »Es brachte ihn jedesmal an den Rand einer Ohnmacht. Aber immer noch nicht an den Rand eines Befunds, obwohl sich ein Urologe einmal extra ein wenig ›Nierengries‹ einfallen ließ. Ein Stein wollte aber nicht draus werden. Erst, als nuklearmedizinische Praktiken aufkamen, gelang es, in der rechten Niere Albissers eine gewisse Unterleistung nachzuweisen. Von der lebte er eine Weile.«
Der Hypochonder »lebt« von seinen Symptomen wie der Kapitalist von seinen Schulden. Der Mensch mag sich eine »gewisse Unterleistung« infolge eines notorischen Leistungsdrucks, infolge zu hoch geschraubter Erwartungen und Ziele nicht eingestehen. Oder um es mit Muschg zu sagen, er kapituliert gleichsam vor einer »Über-Ich-Forderung« und flüchtet in die Krankheit, »die zugleich eine echte Zuflucht ist. Denn sie bringt die Schuld zum Schweigen, indem sie ein Organ für sie sprechen läßt, das zugleich die Not anzeigt und um Hilfe ruft.« (»Literatur als Therapie?«) Im Falle Albissers springt die Niere ein und entschuldigt ihn gewissermaßen. Dieser burleske Ironie-Ton des Romans ist eine reife Kulturleistung. Es hat den Autor, wie wir aus diversen Selbstzeugnissen wissen, einiges an leidvollen Erfahrungen gekostet, um diese Konversion in Komik leisten zu können. (»Cystoskopie, Gastroskopie, Bronchoskopie, Koloskopie waren eine Zeitlang beinahe mein tägliches Brot …«)
Der Schmerz ist also real, aber er ist auch ein Phantomschmerz. Denn da, wo er sitzt, sitzt nicht das Problem. Muschgs Protagonisten verhalten sich wie der Mann, der seinen verlorenen Hausschlüssel nachts vor der eigenen Haustür sucht, nicht weil er dort liegen könnte, sondern weil er dort Licht hat. Der Autor hat dieser Absurditätsmetapher in seinem Roman »Das Licht und der Schlüssel« manch fruchtbare Sinndeutung abgewonnen. Etwa die, daß wir »einander nicht unser wirkliches Leben (erzählen), sondern Geschichten, mit denen wir es besser zu ertragen glauben«.
Auch der hypochondrische Schmerz erzählt solche Geschichten. Der Druckschmerz, die Taubheit, die vorübergehende Lähmung, das Herzstechen. Tu etwas, laß dir etwas einfallen, sagt eine Instanz, die unerkannt bleiben möchte, zum Körper. Denn nur dieser, das sichtbare Leben und Leiden, wird in der sozialen Sphäre ernst genommen und gebührend beachtet in seiner ganzen theatralen Wandlungsfähigkeit. Der Hypochonder hat seit früher Kindheit gelernt: Wenn der Leistungs- und Erwartungsdruck zu groß wird, hilft nur die Flucht in die Krankheit. Im geschwächten Zustand wurde dem endlich umsorgten Kind die Zuneigung und Aufmerksamkeit zuteil, die ansonsten fehlte. Und so tummelt sich an den unschuldigen Organen des Hypochonders plötzlich das bunte Leben, das sonst so ängstlich eingesparte.
Damit sind wir beim Kern des Problems. Von diesem Verdacht, daß es ihnen an Leben fehlt, sind die sensiblen, introspektiv begabten Antihelden der Schweizer Literatur bis zur Tollheit durchdrungen. Das Lebensgefühl in diesem Land tendiert, will man der Literatur glauben, offenbar schon von Hause aus zum Hypochondrischen. Beinah seit die Schweiz existiert, gibt es den »Meister Niemand« – und Provinzialitätskomplex. Das bohrende Gefühl, sich gegen das Leben, indem man ihm ängstlich ausweicht, zu versündigen, lastet wie ein Atridenfluch auf dieser Literatur von Gottfried Keller bis Robert Walser, von Max Frisch bis Adolf Muschg. Wofür müssen sie so schwer büßen? Das fragen sich die Protagonisten unausgesetzt selber. *** Ein Hauch von Asche liegt in der Luft. Einen Geruch von »versäumtem Leben« will Zerutt, der Therapeut und Gegenspieler der Hauptfigur im Roman »Albissers Grund«, bei den Schweizern ausgemacht haben. Er selber versteht es auch nicht zu leben. Erst als er an der Kugel, die sein Klient auf ihn abfeuert, beinah krepiert, wachsen ihm übermenschliche Kräfte zu. In einer Besenkammer der Klinik, wo man ihn schon abgeschrieben hat, erfährt er so etwas wie eine Wiedergeburt. Mit der Hoffnung, daß es ihm endlich einmal gelingen möge zu leben, endet das Buch. Doch daraus wird nichts. Zerutt kehrt im übernächsten Roman zurück, als untoter Vampir ohne fühlbaren Puls, den drei Arztgattinnen mit ihrem Blut ernähren müssen. Dafür kann er gut erzählen und das Leben anderer bereichern und sogar verlängern.
Oft greift der Autor wie ein Notarzt – oder wie ein Zenmeister – beherzt ein und führt eine heftige Erschütterung herbei, damit Leben und Bewußtsein in seine Figuren zurückkehren. Er muß Gewalt anwenden. Nicht selten läßt er von der Schußwaffe Gebrauch machen, damit ein neurotisch Gehemmter endlich aus sich herauskann. Von Albisser heißt es, nachdem er dem Therapeuten einen Lungendurchschuß verpaßt hat: »Das war das Gesunde an Albissers Krankheit, (…) daß er sich mit dieser negativen Diagnose nicht zufriedengab. Er hat Glück gehabt, daß er auf Zerutt geschossen hat. Daß er es endlich fertiggebracht hat, auf jemand anders zu schießen.« Albisser hatte immer wieder leidvolle Erfahrungen mit Ärzten machen müssen. Sie laborieren herum, schneiden ihn auf sein Drängen hin auf und finden notorisch: nichts. Albisser will aber, daß da etwas ist. Der boshafte Zerutt konnte, als er Albisser auf den Grund schaute, aber auch nichts finden außer mangelhaftem Leben und Ersatzwirtschaft, was ihn teuer zu stehen kam.
Dieses »Nichts« ist ein schwerwiegender, ein unbekömmlicher Befund. Auch bei Italo Svevo spielt es eine tragende Rolle. Seinem Held Nitti, diesem inetto, sprich: Lebensuntauglichen in dem Roman »Ein Leben«, setzt es existentiell zu, wie schon sein sprechender Name bezeugt: Nichts, niente. Ihn und all die untragisch-traurigen, in der Masse verlorenen Romanfiguren des 19. Jahrhunderts graust es vor der Unendlichkeit dieses Nichts wie den Nachtwächter in den »Nachtwachen des Bonaventura«, einem Bravourstück vormoderner Literatur. Es liest sich wie das Krankenblatt des modernen Hypochonders mit seinen vagabundierenden Phantomschmerzen: »Da fliehen die Masken vorüber, die Empfindungen, eine verzerrter wie die andere … Schmerz, laß dir fest ins Auge schauen, warum erscheinst du mir! Auch er ist schon vorüber. Gebt mir einen Spiegel, ihr Fastnachtsspieler, daß ich mich selbst einmal erblicke – es wird mir überdrüssig, nur immer eure wechselnden Gesichter anzuschauen. Wie? Steht kein Ich im Spiegel, wenn ich davor trete? (…) Hu! Das ist ja schrecklich einsam hier im Ich, (…) nirgends Gegenstand, und ich sehe doch – das ist wohl das Nichts, das ich sehe!«
Beinahe wie ein Echo auf Jean Pauls »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei« oder wie die vorweggenommene Vision Nietzsches vom »tollen Menschen« nach dem Tod Gottes klingt diese Passage. Wie das Protokoll einer gleichsam transzendentalen posttraumatischen Belastungsstörung. Den Nachtwächter graust es vor den Phantomen wie später in Guy de Maupassants Phantasmagorie »Le Horla« den Erzähler beim Blick in den Spiegel. Der Spiegel ist leer, sein Bild ist daraus verschwunden. Für eine narzißtische Gesellschaft kann es keine größere Kränkung geben. Daß der Himmel leer ist, kann sie gut verkraften. Aber das auf sich selbst zurückgeworfene Subjekt füllt diese Leerstelle nicht aus, es erlebt sich als haltlos und defizitär. Dafür mag die Hypochondrie, dieses blinde Ausagieren der Angst vor der eigenen Nichtigkeit, ein Zeichen sein.
Der zappelnde Neurotiker Albisser ist auch heute noch repräsentativ für die abstiegsgefährdete bürgerliche Mitte. Er wollte sich und die Gesellschaft verändern. Doch dann: nichts. Die Revolution fand nicht statt. Nur dieses Hangeln von Symptom zu Symptom, diese Kunstanstrengung namens Neurose und das Schönerwohnen im Gerede. Muschg hat das Kollektiv-Ich in Albisser – und beileibe nicht nur in dieser Figur – gleichsam psychoanalysiert. Die Hypochondrie, so seine Expertise, ist ein schriller physischer Alarm, der eine Überanstrengung und narzißtische Kränkung anzeigt. Da ist etwas Heilloses, peinlich Ungenügendes, das doch im Innersten die Gesellschaft zusammenhält. Denn auch das schnelle tagespolitische Hüpfen von Thema zu Thema, von Skandal zu Skandal trägt – die Metapher drängt sich förmlich auf – auffallend hypochondrische Züge. Kein Thema, das nicht schon auf der Beschwerdeliste gestanden hätte, um nach kurzer Debatte von einer neuen Aufregung abgelöst zu werden, die genauso folgenlos bleibt. So kreuzen sich die Fluchtlinien in unseren Feuilletons, in den Talkshows, in Beziehungsgesprächen, im Parlament und konvergieren in der Suggestion der Zeitgenossen: Es wird wohl nichts Ernstes sein. Das Agenda-Karussell gesellschaftlicher Erregungsthemen oder die Winkelzüge der Symptomverschiebung als Surrogat libidinöser Wunscherfüllung – in beiden Fällen handelt es sich um Scheinbewegungen zum Zwecke der Beibehaltung eines etablierten Status quo.
Gegen die Hypochondrie ist kein Kraut gewachsen, es sei denn: die Ironie. Wenn die Hypochondrie das zugespitzte Empfinden für die Hinfälligkeit der Person ist, so ist die Ironie das luzide Wissen um die Hinfälligkeit aller Sätze und Setzungen, die Einsicht in die grundlegende Kontingenz und Unhaltbarkeit aller »abschließenden Vokabulare« (Richard Rorty). Die Ironie hat in einer säkularisierten Welt gleichsam den Blick von oben auf das irdische Treiben übernommen (um Jean Paul leicht abzuwandeln, der diese Rolle allgemein dem Humor zuerkannte). Sie verschafft sich einen Überblick und kommt zu dem Schluß: die Lage ist vielleicht hoffnungslos, aber nicht ernst. Mit dieser verläßlichen Grundskepsis ist das Erzählen bei Adolf Muschg imprägniert. Er sorgt dafür, daß alles Gesagte im Subtext unterwandert, jeder Spruch im Widerspruch gespiegelt wird. Vielleicht gerade weil er ein so eleganter, bis zur Redseligkeit eloquenter, geständnisinniger Erzähler ist, mißtraut er der Magie der Wörter, die gern so tun, als seien sie schon die Dinge selber; und läßt sich andererseits kaum eine Mehrdeutigkeit, kaum ein schillerndes Paradox entgehen, wo die Sprache selbst dies auf dem Wege begrifflicher Offenheit anbietet. Sätze können erst dann Wahrheit beanspruchen, wenn auch ihr Gegenteil wahr ist.
Die Literatur ist eine sehr ökonomische Angelegenheit. Sie braucht nicht Tausende Probanden, um etwas herauszufinden, was wir als signifikant oder wenigstens als evident bezeichnen. Es bedarf nur eines Autors, der das experimentum crucis mit sich selber anstellt. Für einen genuinen Schriftsteller kann das Leben nur dort wahrhaft glücken, wo es im Eigentlichen stattfindet: in seinem Schreiben. Seine dem Verdacht des Ungenügens und Mißlingens ausgesetzte Vita erleidet den Mangel nicht zuletzt infolge seiner Profession, die dem eigenen Leben alle Energie vampirhaft aussaugt und entzieht: das Thema des Künstlerromans von E.T.A. Hoffmann bis Thomas Mann, von Nabokov bis Adolf Muschg, dessen Novellen und Romane diese Dialektik zwischen Leben und Schreiben immer mitverhandeln.
[...]
SINN UND FORM 3/2022, S. 406-418, hier S. 406-411