Kalka, Joachim
geb. 1948 in Stuttgart, Schriftsteller und Übersetzer, lebt dort. Zuletzt erschienen »Hoch unten. Das Triviale in der Hochkultur« (2008) und »Die Katze, der Regen, das Totenreich« (2012). (Stand 1/2013)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 1/2011 | »Das Unterirdische geht so natürlich zu als das Überirdische«. Zur Mythologie der geheimen Gesellschaften
- 1/2013 | Die bösen Ärzte. Eine Montage
Was hat es auf sich mit den geheimen Gesellschaften? Der vielleicht erste Historiker, der sich sine ira et studio mit ironisch-professioneller (...)
LeseprobeKalka, Joachim
»Das Unterirdische geht so natürlich zu als das Überirdische«.
Zur Mythologie der geheimen Gesellschaften
Was hat es auf sich mit den geheimen Gesellschaften? Der vielleicht erste Historiker, der sich sine ira et studio mit ironisch-professioneller Trockenheit dieses Themas annahm, J. M. Roberts aus Oxford in »The Mythology of the Secret Societies« (1972), schließt mit dem Fazit: »Obwohl zwischen 1750 und 1830 in Europa geheime Gesellschaften in großer Zahl existierten und versuchten, die politischen Ereignisse zu beeinflussen, lag ihre hauptsächliche Bedeutung in dem, was die Leute von ihnen glaubten. Dies war stets wichtiger als das, was diese Sozietäten tatsächlich taten, und ihre Mitgliederzahl und politische Wirksamkeit standen in keinem Verhältnis zur Macht ihres Mythos. Hierin liegt ihre wahre Bedeutung, und das macht sie auch für den Historiker interessant; was man von ihnen glaubte, war ein wichtiger Teil dessen, was die Reaktion der Menschen auf große Ereignisse bestimmte.« Der Zeitraum, den Roberts für seine Untersuchung gewählt hat, 1750 bis 1830, entspricht ziemlich genau der Lebenszeit Goethes; das Thema gehört in die Epoche, die wir nach Goethe zu benennen gewohnt sind. Wenn hier nun noch einmal die Frage gestellt wird: Was hat, was hatte es auf sich mit den geheimen Gesellschaften? dann in dem eben formulierten Sinne. Nicht ihre verzwickte, konfuse und tragikomische Geschichte, die nur angedeutet werden soll, ist hier mein Gegenstand, sondern das, was man von ihnen glaubte – und was sie selbst von sich glaubten. Das ist ihre eigentliche Geschichte. Die äußere des Ordenswesens wird nur kurz gestreift; jedermann kann sich mühelos über sie informieren. Im übrigen versuche ich, etwas vom Fluidum der Geheimgesellschaften, der imaginierten Geheimgesellschaften spürbar zu machen. Nähern wir uns dem Thema mit zwei ganz unterschiedlichen Zitaten aus der deutschen Literatur.
Eines von deren großen Dramen, wohl eines der größten, beginnt auf eine seltsam irrlichternde Weise. In einer der erhaltenen Versionen des Stücks, das Fragment geblieben ist, zu Lebzeiten des dreiundzwanzigjährig verstorbenen Autors nie veröffentlicht wurde und in der Tat erst ein Dreivierteljahrhundert nach seinem Tod zur Uraufführung kam, lautet der Anfang folgendermaßen (nach der einleitenden Regieanweisung, daß auf der Szene zwei Männer Stecken im Gebüsch schneiden):
»ANDRES (pfeift und singt).
Da ist die schöne Jägerei.
Schießen steht jedem Frei
Da möcht‹ ich Jäger sein,
Da möchte ich hin
Läuft dort a Has vorbei
Frägt mich ob ich Jäger sei.
Jäger bin ich auch schon gewesen,
Schießen kann ich aber nit.«
Der andere spricht mit einem Mal: »Ja Andres, das ist er, der Platz ist verflucht. Siehst du den leichten Streif, da über das Gras hin, wo die Schwämme so nachwachsen da rollt Abends der Kopf, es hob‹ ihn einmal einer auf, er meint es sei ein Igel, 3 Tage und 2 Nächte, [unlesbar] Zeichen, und er war tot. (Leise) Das waren die Freimaurer, ich hab‹ es haus. – ANDRES. Es wird finster, fast macht Ihr ein Angst. (er singt)« – Der andere kommt her. »(Faßt ihn an.) Hörst du's Andres? Hörst du's es geht! Neben uns, unter uns. Fort, die Erd schwankt unter unsern Sohln! Die Freimaurer! Wie sie wühlen! (Er reißt ihn mit sich.)"
So beginnt in der sogenannten zweiten Entwurfsstufe das Woyzeck-Fragment, hauptsächlich 1835-36 entstanden, spät herausgegeben und von den Lesern spät entdeckt, dann allerdings von epochaler Wirkung, nicht zuletzt durch Alban Bergs Oper. Als Elias Canetti zum ersten Mal auf dieses Stück stößt, liest er es eine ganze Nacht lang immer und immer wieder. »Es war, als hätte der Blitz in mich eingeschlagen… Ich habe nicht glauben wollen, daß es so etwas gibt«, schreibt er im dritten Band seiner Autobiographie »Das Augenspiel«. Die Schicksale des armen, gepeinigten, mörderischen Titelhelden schildert Georg Büchner in der Nachfolge zeitgenössischer Berichte über ähnliche Verbrechen; er ist durchaus fasziniert von diesen Fällen, so, wie er den Gerichtsdiener im »Woyzeck« sagen läßt: »Ein guter Mord, ein ächter Mord, ein schöner Mord, so schön als man ihn nur verlangen tun kann wir haben schon lange so kein gehabt.« Büchner wollte, soweit wir es aus dem fragmentarischen Text erkennen können, die kuriosen Phantasien Woyzecks über die Macht der Freimaurer nur in wenigen spukhaft eindringlichen Sätzen andeuten. Schlägt man aber im Aktenmaterial des Woyzeck-Prozesses nach, findet man eine kleine Blütenlese der abergläubischen Ideen, die sich an die Freimaurerei hefteten. So liest man in dem zweiten Gutachten, das der Arzt Dr. Johann Christian August Clarus 1821 über den geständigen Woyzeck lieferte: »Schon auf seinen Wanderungen habe er [Woyzeck] von reisenden Handwerksburschen allerhand nachteilige Gerüchte über die Freimaurer gehört, unter anderm, daß sie durch heimliche Künste, zu denen sie nichts als eine Nadel brauchten, einen Menschen ums Leben bringen könnten.« Solcher Aberglaube war tief verwurzelt, man kann dafür in den einschlägigen volkskundlichen Werken unzählige Belege finden. Beispielsweise steht in Leander Petzoldts Sammlung »Deutsche Volkssagen« (München 1970) ein Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Rügen aufgezeichneter Text: »Ein verheirateter Mann kann nur dann Mitglied der Genossenschaft [der Loge] werden, wenn seine Frau ihre Einwilligung dazu gibt. Einstmals wollte eine Frau nicht dareinwilligen, daß ihr Mann Freimaurer würde. Da befahlen ihr die Freimaurer, sie solle sich die Bilder in dem roten Saale ansehen. Sie tat es, und fand auch das Bild ihres Mannes. Darauf sagte man ihr, sie solle ihren Mann mit einer Stecknadel durchstechen. Sie tat es: als sie aber nach Hause kam, fand sie ihren Mann tot im Lehnstuhl sitzend, seine Schläfe mit einem Nagel durchbohrt.«
Das ist das Freimaurerische – das geheime Töten, die hieroglyphischen Figuren auf dem Waldboden, das Unterirdische, all das, was so alptraumhaft unheimlich ist und doch suggeriert, so könne man die Welt begreifen, ihre eigentliche mysteriöse Ordnung erkennen und schließlich sagen: »Ich hab es haus.« Dieses »Ich hab es haus« sollte man sich merken als eine der Grundgebärden der Vorstellung von geheimen Gesellschaften, die den Weltlauf regieren. Dieser Satz will besagen: Ich habe die Welt durchschaut, ich kenne ihre geheime Mechanik. Nun ein weiter Sprung: In seinem 1971 erschienenen »bürgerlichen Roman« (Untertitel) »Tadellöser & Wolff« schildert Walter Kempowski neben so vielen anderen mit mikrologischer Präzision erfaßten Lebensdetails einer in der Tat in jedem Sinne bürgerlichen Familie im Dritten Reich eine Einzelheit aus dem Jahre 1939.
»Beim Abendessen war mein Vater mürrisch.
Er klingelte im Teeglas herum.
'Wo kommst du jetzt her?'
Seine goldene Brille funkelte. […]
'Du hast auf die Minute pünktlich zu sein!'
Immer wieder sei hinter mir hertelefoniert worden, ab sofort würden andere Saiten aufgezogen.
Da gäbe es Wind von vorn.
Meinen Berichten lauschte er nur obenhin.
'Jaja, so isses woll… Wackel nicht so mit dem Stuhl.'
Sie hatten ihn nicht genommen.
Er hatte den blauen Umschlag geöffnet, der schon seit Jahren im Schreibtisch lag, sich am Samstag auf sein Fahrrad geschwungen […] und war zum Wehrbezirkskommando gefahren.
Right or wrong – my country.
Aber, sie hatten ihn nicht genommen.
'Was, Freimaurer?'
Mit Rot durchgestrichen: Freimaurer. Aus.
'Das wird Vati nie verwinden‹, sagte meine Mutter. Im Stahlhelm gewesen und schon in der Systemzeit immer alle Übungen mitgemacht, den ganzen Weltkrieg, Ypern, Somme, Kemmel […], immer in der vordersten Linie.
Übrigens ohne je verwundet worden zu sein, nicht eine Schramme. (Wenn man von der Haut absehe.)
Die Loge sei doch ganz harmlos gewesen, wie so ein Verein. Da hätten sie immerlos gesoffen, gegenseitige Beziehungen, alles Kaufleute.
'Na, wer weiß, wozu es gut ist.'"
Die Worte der Mutter sind prophetisch. Später wird Vati trotz seiner Logenzugehörigkeit doch noch eingezogen, rückt in der militärischen Hierarchie langsam ein wenig nach oben und wird kurz vor der Kapitulation ein Opfer des Krieges.
Wenn man diese beiden durch ziemlich genau hundertvierzig Jahre getrennten Zitate nimmt, das Unheimliche bei Büchner mit seinem Hintergrund aus Wahnsinn und Volksaberglauben und das wegwerfend Beiläufige des spätbürgerlichen Alltags, zeigt sich die Widersprüchlichkeit des Begriff des »Freimaurerischen« im deutschen Volk. Zu ihr gehört, daß hinter der nüchternen Trivialisierung im Hause Kempowski ("immerlos gesoffen«) die nationalsozialistische Verschwörungsphantasie auftaucht: Freimaurer werden nicht »genommen«, sie sind eo ipso national unzuverlässig. Darin steckt eine gewisse stolze Wahrheit.
Die Literatur hat das Motiv der mächtigen Geheimgesellschaft, welche die Welt verändern möchte und jene Menschen, auf die sie ein Auge geworfen hat, je nachdem gütig lenkt oder bedroht und verfolgt, gerne verwendet; schon Reinhold Tautes frühe und dilettantische Bibliographie der Ordens- und Bundesromane von 1907 nennt an die vierhundertfünfzig Titel. Hier müssen die Hinweise auf wenige wichtige Werke genügen: Karl Philipp Moritz‹ »Andreas Hartknopf« (1786-90), Meyerns »Dya-na-Sore oder Die Wanderer« (1787-89), Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre« (1795-96) mit der geheimnisvoll-ambiguosen Turmgesellschaft (und dann »Wilhelm Meisters Wanderjahre« mit der gleichsam abgeschwächten Form der »Pädagogischen Provinz«), Jean Pauls »Unsichtbare Loge« (1793) und Gutzkows »Die Ritter vom Geiste« (1850-57). Mancher Leser wird hier einige der Lieblingsbücher Arno Schmidts erkennen; man könnte noch die von ihm geliebte »Insel Felsenburg« von Schnabel (1731-43) hinzunehmen. Der Grund dürfte wohl sein, daß in den ausführlichen Schilderungen und weiträumigen Landschaften dieser Romane oft eine ungewöhnlich konzentrierte Welthaltigkeit möglich wird: durch das alles rätselhaft verknüpfende Bundesmotiv. Es ist hier nicht der Ort, weiter in die verzweigte Geschichte des Geheimbundmotivs in der Literatur vorzudringen – ich erwähne nur zwei Bücher, die sich seiner auf ganz verschiedene Weise bedienen: André Gides »Verliese des Vatikans«, wo das Gerücht, der Papst werde von den Freimaurern in der Engelsburg gefangengehalten, während ein Doppelgänger die Amtsgeschäfte versieht, eine zentrale Rolle spielt, und die merkwürdige kleine poetische Utopie »Die Gesellschaft vom Dachboden« von Ernst Kreuder, eines der wichtigsten Bücher der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland. Daß das Motiv auch der postmodernen Literatur nicht fernliegt, zeigt unter anderem Pynchons »Versteigerung von Nr. 49«.
Eine knappe Skizze der frühen Freimaurerei in Deutschland sähe etwa so aus: Ausgehend von England, dem Mutterland der Maurerei, die sich im siebzehnten Jahrhundert in Anlehnung an ältere Zunft- und Bauhüttensymbolik herausgebildet hatte, entstanden in den dreißiger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts die ersten Logen in den deutschen Staaten. 1738 wurde in Braunschweig der preußische Kronprinz, der spätere König Friedrich II., durch eine Deputation aus Hamburg initiiert. Rasch konnte die Maurerei sich ausbreiten; sie gefiel einerseits dem reformfreudigen Adel und dem fortschrittlichen Bürgertum, andererseits allen möglichen wunderlüsternen und auf Offenbarungen hoffenden Köpfen. Hier vermischten sich auf lokal und regional ganz unterschiedliche Weise die Bedürfnisse nach einer freieren Geselligkeit, als sie der Hof bot, nach Information und Diskussion (nahebei liegt die Geschichte der Lesegesellschaften), nach einem politischen Aufmarschterrain der radikalen Aufklärung, die sich eine Öffentlichkeit erst erschaffen mußte, und nach Befriedigung eines diffusen Interesses an Geheimlehren, alten Mysterien, vielleicht auch nach einem pittoresk-erhabenen Ritual, wie es zumindest der Protestantismus nicht mehr bereithielt. Bald erfolgte eine Radikalisierung: 1776 wurde in Ingolstadt, dessen katholische Universität ein Zentrum aufgeklärter Gelehrsamkeit bildete – nicht umsonst läßt Mary Shelley Dr. Frankenstein dort studieren –, unter Führung des Juristen Weishaupt der Illuminatenbund gegründet, mit dem Vorsatz einer planmäßigen Besetzung wichtiger Schaltstellen in Politik und Verwaltung und damit einer gründlichen Reform der Gesellschaft. Dies zu einer Zeit, da die Formierung von »Parteyen« für den absolutistischen Staat Anathema war.
In den letzten Jahrzehnten wurde das Bild der Freimaurerei und insbesondere auch der Illuminatenbewegung, dem zufolge die vom Orden verkündeten Präzepte und die intern verschickten langen Listen der Adepten oft überbewertet wurden, durch eine Fülle von Einzelstudien präzisiert, von denen ich nur die auch als Einführung in die Geschichte der Illuminaten geeignete schmale Schrift von Monika Neugebauer-Wölk nennen möchte: »Reichsjustiz und Aufklärung. Das Reichskammergericht im Netzwerk der Illuminaten« (Wetzlar 1993). Die Entwicklung der europäischen Freimaurerei im Spannungsfeld zwischen irrational-esoterischen und kosmopolitisch-aufklärerischen Ideen ist außerordentlich kompliziert, die Forschung ist noch im Gange. Eine Momentaufnahme auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen zwischen den Fraktionen gab zuerst Ludwig Hammermayers Studie über den Ordenskonvent zu Wilhelmsbad im Jahre 1782. Die Freimaurerei vereinte oft die besten und berühmtesten Köpfe einer Stadt. Der Bildhauer Houdon schuf eine Serie von Freimaurerporträts (Lafayette, Laplace, Lalande, Voltaire, Washington), meist wohl im Auftrag der berühmten Loge des Neuf Sœurs in Paris, deren Mitglied er war; diese Loge war auf Anregung von Helvétius gegründet worden, ihr erster Stuhlmeister war der Astronom Lalande, Mitglieder waren neben den Genannten u. a. Condorcet, d'Alembert, Sieyès, Greuze, Boucher und Gluck. Die Liste zeigt die breite gesellschaftliche Akzeptanz der Freimaurerei. Houdons Marmorporträt von Cagliostro aber markiert die Achillesferse dieses nobel-aufgeklärten Freimaurertums: Schwärmerei und Scharlatanerie. Cagliostro war ein Abenteurer und ist mit seiner erfolgreichen (gelegentlich erotisch aufgeladenen) »Ägyptischen Maurerei« doch Teil der Geschichte des Logenwesens. Er zog durch Europa, immer auf der Flucht, immer eine Stadt, wo ihm der Boden zu heiß wurde, hinter sich lassend, um in der nächsten wieder eine ägyptische Loge zu gründen, die Armen umsonst mit seinen Elixieren zu heilen, die Geister der Toten zu beschwören und die Zukunft zu enthüllen, die Höfe und die Geheimgesellschaften zu faszinieren und seinen Zwecken dienstbar zu machen. Ahnungslos geriet er schließlich in den Strudel einer verhängnisvollen Staatsaffäre des ancien régime – er wurde, dieses eine Mal wohl tatsächlich ohne alle Schuld, in die Pariser Halsbandaffäre verwickelt. Nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser Skandalintrige haben Goethe und Schiller im »Großcophta« und im »Geisterseher« Cagliostro-Figuren eingeführt. Goethe schrieb in den »Tag- und Jahresheften« (1789): »Schon im Jahre 1785 hatte die Halsbandgeschichte einen unaussprechlichen Eindruck auf mich gemacht. In dem unsittlichen Stadt-, Hof- und Staatsabgrunde, der sich hier eröffnete, erschienen mir die greulichsten Folgen gespensterhaft, deren Erscheinung ich geraume Zeit nicht loswerden konnte; wobei ich mich so seltsam benahm, daß Freunde, unter denen ich mich eben auf dem Lande aufhielt, als die erste Nachricht hievon zu uns gelangte, mir nur spät, als die Revolution längst ausgebrochen war, gestanden, daß ich ihnen damals wie wahnsinnig vorgekommen sei.«
Was bot, was lehrte Cagliostro in Überbietung der klassischen Maurerei, doch diese immer hofierend? Prophezeiungen, Schau entfernter Vorgänge (vor allem mit Hilfe eines wahrsagenden Kindes), Belehrungen über die Geisterwelt mit ihren Schutzgeistern und feindlichen Mächten, Beschwörungsrituale, Hinweise auf vergrabene magische Schätze, auf die Kraft des Gebets, die Wunder der Apostel, Andeutungen über okkulte Arzneien, die eine Lebensspanne von mehreren Jahrhunderten ermöglichten, Zubereitung stärkender Elixiere, Versuche, durch suggestive Wiederholung Träume zu induzieren, Vorlesungen über Dämonologie und eine Rhetorik, die zu mahnen, schmeicheln, drohen, rühren verstand. Alle diese Künste gehörten zum Angebot einer geheimen Gesellschaft, »welche diejenigen zu höherer Glückseligkeit führe, die mit reinem Herzen nach Wahrheit strebten, und voll Liebe zum allgemeinen Besten, ihre Kenntnisse zu erweitern suchten. Uns gefiel die Idee...« So schrieb Elisa von der Recke, eine junge kurländische Aristokratin, die Cagliostros Charme verfiel, sich dann aber von ihm löste und ihre Ablehnung schließlich in der bemerkenswerten Form einer von ihr selbst kritisch kommentierten Ausgabe ihrer schwärmerischen Aufzeichnungen als Cagliostro-Adeptin publizierte.
Hier möchte ich ein besonders interessantes Rädchen der konspirationstheoretischen Maschinerie demonstrieren: die Austauschbarkeit der Gegensätze (man denke an die Ineinssetzung von Kommunismus und Kapitalismus im Judentum durch die Nazis). Als Elisa mißtrauisch wurde, richtete sich dieses Mißtrauen zunächst nicht gegen Cagliostros »magische Experimente« an sich – sie befürchtete vielmehr, er gehe den Weg der schwarzen Magie. Schließlich jedoch gelangte sie zu der Überzeugung, daß er ein Schwindler war. Kein gewöhnlicher Betrüger, sondern ein Abgesandter der Jesuiten. Offenbar schrak sie vor dem letzten Schritt zurück: der Einsicht, daß all dies ganz und gar nichtig sein könnte. Ist der Wundermann schon ein Scharlatan, so muß er doch ein Scharlatan in hohen Diensten bleiben, eine Figur in einem mysteriösen europäischen Schachspiel. Anscheinend bot die Einordnung von Schwindlern à la Cagliostro in die Apparatur einer Jesuitenverschwörung für die enttäuschte Wunderhoffnung eine Art defensive Rückzugsposition: Wenigstens die Aura der Verschwörung blieb, wenigstens die hochpolitische Bedeutsamkeit des undurchsichtigen Abgesandten arkaner Mächte. Die Jesuitentheorie scheint so etwas wie eine rettende Falle für manche Skeptiker gewesen zu sein, die zwar enttäuscht von dem diskreditierten Wundermann abließen, aber es nicht über sich brachten, in ihm lediglich einen virtuosen Impresario seiner selbst zu sehen. Der Gedanke, daß man von dem Agenten einer weitverzweigten, mächtigen und erschreckend intelligenten Konspiration genarrt wurde, mag erträglicher gewesen sein als das Gefühl, einem phantasiebegabten, auf eigene Faust operierenden Glücksritter auf den Leim gegangen zu sein. Auch der Leipziger »Kaffeewirth« und Geisterbeschwörer Schrepfer galt als Emissär der Jesuiten. Der katholische Prediger Johann August Starck (für viele Zeitgenossen ein typischer jesuitischer Intrigant) schrieb ihm einen hieroglyphischen Brief: »nach dem Wenigen, was mir, mein Bruder, von Ihnen bekannt geworden ist, müßte mein Geist sehr trügen, und die Siegel, die unser Orden seinen Geweihten aufgedrückt, verwischt sein: oder ich muß in Ihnen einen Mann finden, der eines Ursprungs mit mir ist und mit mir zu einem Zwecke geht.« Gerüchte suggerierten eine systematische katholische Unterwanderung der Freimauererei (mit dem langfristigen Ziel einer Gegenreformation vor allem in den protestantischen Staaten Deutschlands). Die Neigung, überall Kryptokatholizismus und jesuitische Intrigen zu entdecken, gehört zu einem Repertoire von Verschwörungsphantasien, aus dem sich noch Wilhelm Busch in »Pater Filucius« (1872) bedient. Um 1800 gab es immerhin ein, zwei Gründe für eine solche Konstruktion. Die 1688 durch die glorious revolution, welche Wilhelm von Oranien auf den Thron hob, aus England (und Schottland, wo die Dynastie ihren Ursprung hatte) vertriebenen Stuarts saßen noch ein Jahrhundert nach der Flucht Jakobs II. in Rom und hatten dem Anspruch auf die britische Krone nie entsagt. Immer wieder, zuletzt 1749 – das ist der Gegenstand des großen ersten Romans von Walter Scott, »Waverley« –, hatten sie versucht, sie durch Aufstände zurückzuerobern. Da im Antagonismus der katholischen Stuarts und des anglikanischen England ein letztes Echo der großen Religionskriege furchterregend nachklang, wurde der Jesuitenorden schließlich auf Grund gewisser Indizien einer Verschwörung bezichtigt, die der Rekatholisierung des protestantischen Europa und der Restauration der Stuarts diene, mit Hilfe der jakobitisch gefärbten Freimaurerei des »schottischen Ritus«. Die Virulenz der antijesuitischen Agitation wird daraus ersichtlich, daß sich Papst Clemens XIV. 1773 gezwungen sah, den Orden aufzuheben, der erst 1813 wiederhergestellt wurde. Die Angst vor den Jesuiten führte paradoxerweise zu erhöhtem Mißtrauen gegen die mehrheitlich aufklärerisch und oft auch antiklerikal gesonnenen Freimaurer.
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SINN UND FORM 1/2011, S. 93-111
Wissen Sie nicht, was die erste Pflicht des Mediziners ist?
Die erste Pflicht ist es, um Verzeihung zu bitten.
Ingmar Bergman, »Wilde (...)
Kalka, Joachim
Die bösen Ärzte
Eine Montage
Wissen Sie nicht, was die erste Pflicht des Mediziners ist?
Die erste Pflicht ist es, um Verzeihung zu bitten.
Ingmar Bergman, »Wilde Erdbeeren«
Auch damals ihr, ein junger Mann,
Ihr gingt in jedes Krankenhaus,
Gar manche Leiche trug man fort,
Ihr aber kamt gesund heraus.
Goethe, »Faust I, Vor dem Tor«
Von keinem anderen Berufsstand erwarten wir, wenn es darauf ankommt, so viel wie von den Ärzten. Unsere Hoffnungen heften sich, sind wir einmal aus der bewußtlosen Routine unseres unauffällig funktionierenden Organismus herausgerissen und stehen – liegen! – krank oder verwundet da, flehend und fordernd an die ärztliche Kunst. Da der Arzt diese Hoffnungen oft nur begrenzt erfüllen kann, wird er uns gelegentlich zur verhaßten, in schwarzen Farben gemalten Figur. Die Vernunft sagt uns, daß es Krisen und Katastrophen des Körpers gibt, bei denen ärztliche Kunst nichts oder nur sehr wenig vermag. Gut, aber sagt sie uns nicht auch, daß die Medizingeschichte selbst beweist, wie viele Pfuscher, Ignoranten und Sadisten es unter den Ärzten gibt? Das gilt für jeden Beruf, sagt die Vernunft, deren Stimme, wie Freud bemerkt hat, leise ist. Wir aber sehen, sind wir angstvoll mißgelaunt, lieber »den Arzt« schlechthin als höchst unzuverlässige Gestalt. Dies geschieht in wechselnden Graden mit allen Berufen, von der Witzblattkomik des Installateurs, der für den Wasserrohrbruch immer erst nächste Woche Zeit hat, bis zur schneidenden Justizsatire bei Daumier oder Karl Kraus. Kein Berufsstand aber scheint das Mißtrauen so anzuziehen wie die Ärzte. Eine Wurzel dieses Mißtrauens liegt in der Neigung der Patienten, die Möglichkeiten des Arztes zu überschätzen und dann enttäuscht zu sein.
Lange blieb der Medizin nicht viel anderes übrig, als die Unzulänglichkeit und Kärglichkeit ihrer Mittel durch Spekulation und Pittoreskes zu ergänzen – mit Begründungen, die (wie der heute noch den Nashörnern verhängnisvolle Analogieglaube) Hoffnungen auf eine geheime Ordnung der Welt zum Ausdruck brachten. Eine barock ausziselierte Vignette derartigen Aberglaubens entsteht, als der Held in Herzmanovsky-Orlandos »Gaulschreck im Rosennetz« (1928) bei einer hexenartigen Hebamme einen Liebestrank bestellt. Die Alte setzt ihm umständlich die Schwierigkeit des Unternehmens auseinander: »auch müsse man den Koth einer unschuldigen, weißen Taube dazutun. Der verfaulte Zahn einer Kindsmörderin, sowie ein Loth getrocknetes Krokodilshirn seien als Beigabe sehr zu empfehlen, letzteres wäre aber selten, – ob er vielleicht wo eins wüßte? Früher hätten die ‚Venedigermanderln’ einen schwunghaften Handel damit getrieben, aber heute … die verfluchte neiche Apothekerordnung …« So führt ein Strang der Medizingeschichte direkt zurück in die Hexenküche; ein anderer in die Jahrmarktsbude. Auch hinter dem marktschreierischen Scharlatanswesen steckt die Suggestion des Dämonischen. Noch eine Schausammlung wie die des Josephinums in Wien mit ihren Wachspräparaten scheint den Besucher in eine Sphäre zurückzuversetzen, wo die ärztliche Wissenschaft in den Zauberkreis des Gruselkabinetts gerät. Bis in die Nachkriegszeit verhießen Jahrmarktszelte Einblicke in die Geheimnisse des menschlichen Leibes – eine schäbig-mysteriöse Inszenierung, wo sich für den halbwüchsigen Besucher die Angst vor Krankheit und Tod mit der sexuellen Ignoranz legierte, wo die Innereien des Menschen ausgebreitet und nebenbei die Stadien der Syphilis erläutert wurden. Werfen wir einen Blick in jene merkwürdige Kuriositätenbude, die ("Zündet der Ägypter nicht schon die Flammen rings um das Zelt an?«) in einer Erzählung von Gustav Meyrink aufragt. Sie liefert Ernst Bloch im Abschnitt »Südsee in Jahrmarkt und Zirkus« des »Prinzip Hoffnung« einen Kardinalbeleg für dämonischen Exotismus in der Jahrmarktswelt. Der Ursprung der monströsen Ausstellung in Meyrinks »Das Wachsfigurenkabinett« (1918) ist in den Aktivitäten eines geheimnisvoll-skrupellosen Mediziners zu suchen, des Persers Mohammed Darascheh-Koh. Dieser diabolische Arzt, der in einer anderen Geschichte Körperteile seines angeblich verstorbenen Feindes als dekorative – auf geheimnisvolle Weise lebendige – Gebrauchsgegenstände in seiner Wohnung angebracht hat ("Das Präparat«), gehört zu einer Reihe von unheimlichen Medizinern, denen man in Meyrinks Sammlung »Des deutschen Spießers Wunderhorn«, dieser Enzyklopädie des Décadence-Horrors, begegnen kann: Dr. Cinderella, Dr. Kassekanari … Es ist interessant, daß Meyrink, für den die aufgeblasene Wichtigtuerei der medizinischen Wissenschaft zu den bevorzugten Gegenständen seiner satirischen Konstruktionen gehört (mit Gestalten wie »Sanitätsrat Mauldrescher«), andererseits dem Mediziner diabolische, schrankenlose Macht attestiert. Hier verspottet er ihn als anmaßenden Ignoranten, zehn Seiten später zeigt er ihn uns flüsternd als grausamen Übermenschen. Meyrink hat in seinen satirischen Erzählungen des öfteren den Arzt als Inkarnation der »aufgeklärten« Stupidität abgebildet ("Der heiße Soldat«, »Blamol«, »Die schwarze Kugel« usw.), doch das Revers dieser Verachtung ist die abergläubische Scheu, die sich in Schreckensgeschichten wie »Die Pflanzen des Dr. Cinderella« oder »Der Albino« ausprägt. So haben wir bei ein und demselben Autor nebeneinander den Arzt als albernen Ignoranten und allwissenden Dämon.
Das gehört auch zusammen. Der fast magische Hochschätzung der medizinischen Möglichkeiten, die den Patienten immer wieder Unmögliches vom Arzt erhoffen (oder befürchten) läßt, entspricht eine sardonische Verspottung der Medizin, mit der man diese entgelten läßt, daß sie den Menschen eben doch nicht unsterblich machen und häufig nicht einmal die Krankheiten (seine Mängel als Naturwesen) beheben kann. Die Satire auf die Ärzte, die vom siebzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert eine reiche eigene Tradition bildet, konzentriert sich auf die dem Arzt nur allzu bewußte Mangelhaftigkeit seiner Möglichkeiten. Ihre zentrale Figur ist der jegliche Unsicherheit aggressiv überspielende Quacksalber, der medizinische Scharlatan, der Gaukler, der vor keiner Versprechung zurückschrickt und – wie im hübschen Couplet des Doktor Eisenbart – machen kann, »daß die Lahmen sehen, / und auch die Blinden wieder gehen«. Hier spiegelt sich die lange Periode, in welcher der Arzt zwar schon ein Beruf mit alter Tradition, das ärztliche Wissen und Vermögen jedoch, gemessen an den heutigen Mitteln, noch äußerst gering war. Der Arzt dieser vergangenen Epoche, der – wie auf zahllosen Bildern, oder als kleine Groteskschnitzerei im Chorgestühl der Oude Kerk zu Amsterdam – das Beschauglas für den Urin (in der katholischen Ikonographie das Requisit, an dem man die heiligen Ärzte Cosmas und Damian erkennt) ernst gegen das Licht hält, übt eine genuine diagnostische Praxis, doch eben diese zeigt die Beschränktheit seiner Möglichkeiten. Das schmale Repertoire der alten Medizin privilegiert, sofern sie nicht gleich zum scharfen Messer und zum glühenden Eisen greift, die ebenfalls recht brachialen Möglichkeiten des Aderlasses und der Purgierung. Es ist ein hübsches Detail, daß der vergiftete und von den ignoranten Medizinern der Garnison bedrängte römische Beamte in »Asterix bei den Schweizern« vor dem Eintreffen des weisen gallischen Druiden sich nichts besseres weiß, als die ihn umdrängenden, streitenden, tobenden Ärzte zu bitten, sie möchten dem Asklepios für seine Genesung einen Hahn opfern: um sie endlich loszuwerden.
Im Städel hängt ein Bild, das Anlaß für ein Gedicht von Wilhelm Busch wurde ("Sahst du das wunderbare Bild von Brouwer?...« in »Kritik des Herzens«). »Die Operation am Rücken« zeigt einen Eingriff, den ein Landarzt oder Bader in einer Wirtsstube vornimmt; das verzerrte Gesicht des Patienten, der im weißen, halb herabgestreiften Hemd auf der Bank sitzt, und die gelassenen Physiognomien des Arztes und der assistierenden alten Frau – diese drei Gesichter, in ein Dreieck gesetzt, sind das eigentliche Sujet. »Ein kühler Doktor öffnet einem Manne / Die Schwäre hinten im Genick; / Daneben steht ein Weib mit einer Kanne, / Vertieft in dieses Mißgeschick.« Busch nimmt die Bildbetrachtung zum Anlaß für eine jener Verallgemeinerungen, die oft nur platt sind, hier aber seltsam plausibel: »Ja, alter Freund, wir haben unsre Schwäre / Meist hinten. Und voll Seelenruh / Drückt sie ein andrer auf. Es rinnt die Zähre, / Und fremde Leute sehen zu.« Mit schöner Beiläufigkeit nimmt Busch die metaphysische Soziologie des zwanzigsten Jahrhunderts mit ihrem Zentralbegriff des »Anderen« vorweg. Bilder von Arztbesuchen gehören in der niederländischen Malerei des siebzehnten Jahrhunderts immer zum Genre, entweder wie hier zum niedrigen, wo ein robustes Handwerk mit grotesk-komischen Zügen geschildert wird, oder zum eleganten. In letzterem erweist sich der Arzt entweder als überflüssig (wie bei den zahllosen Varianten – mindestens achtzehn allein bei Jan Steen – des Topos von der melancholischen Liebeskranken, welcher ärztlich nicht zu helfen ist), oder aber er denkt mit ernster Miene über seine Diagnose nach: eine Nachdenklichkeit, die fast schon Ratlosigkeit bezeichnet. Zeitlose Themen, wenigstens eins aber scheint überwunden: Die theatralisch-liebenswürdige Gebärde des Jahrmarkts-Zahnausreißers auf Genre-Gemälden (etwa von Rombouts, wie in Gent, Münster oder im Prado) ist Geschichte – ein Auftritt mit einer gewissen Suggestion jovialer Eleganz (der Bewegung) und geschmeidiger Ansprache an das Publikum, der immer noch beklemmend wirken kann. Alle, die am Gedanken des »Fortschrittlichen« ganz und gar verzweifeln wollen, mögen nur ein kleines Stück in die Historie zurückgehen, etwa bis zur Zahnarzt-Episode in Wilhelm Buschs »Balduin Bählamm«, um im Kontrast zu unserer örtlich betäubbaren Gegenwart zu erleben, daß es den Fortschritt tatsächlich gibt.
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SINN UND FORM 1/2013, S. 43-46