Hines, Thomas S.
geb. 1936 in Oxford (Mississippi / USA), Architekturhistoriker, Professor emeritus der University of California, Los Angeles. Zahlreiche Veröffentlichungen zur modernen US-Architektur. (Stand 4/2024)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 4/2024 | Christa Wolf und der Überzieher von Dr. Freud. Erinnerungen an eine kalifornische Freundschaft
Achtzehn Jahre war ich mit Christa Wolf befreundet. Zum ersten Mal hörte ich von ihr in den frühen neunziger Jahren, als ich in der New York Times (...)
LeseprobeHines, Thomas S.
Christa Wolf und der Überzieher von Dr. Freud.
Erinnerungen an eine kalifornische Freundschaft
Achtzehn Jahre war ich mit Christa Wolf befreundet. Zum ersten Mal hörte ich von ihr in den frühen neunziger Jahren, als ich in der New York Times eine Besprechung ihrer Werke las. Der Roman »Nachdenken über Christa T.« wurde besonders hervorgehoben, was mich zur Lektüre des Buchs anregte. Als eine Art Bildungsroman verfolgt es die Freundschaft der Erzählerin mit Christa T., einer Frau, deren fiktive Identität zum Teil mit der von Christa Wolf verschmilzt. Ganz eigentümlich berührte mich, daß Wolf als Motto Johannes R. Bechers »Was ist das: dieses Zu-sich-selbst-Kommen des Menschen?« wählte. »Nachdenken über Christa T.« brachte mich dazu, das genauso berührende Buch »Kindheitsmuster « und einige andere ihrer Romane zu lesen.
Als ich wenig später erfuhr, daß Wolf für das akademische Jahr 1992 / 93 als Stipendiatin des Getty Research Institutes (GRI) in Los Angeles sein würde, war ich hocherfreut. Der damalige Direktor Kurt Forster erzählte mir später, daß er sowie das Getty Institut dafür kritisiert wurden, am Ende des kalten Krieges diese »ostdeutsche Kommunistin« eingeladen zu haben. Einer gemeinsamen Freundin, Gwendolyn Wright, auch eine Getty-Stipendiatin, gestand ich, wie gerne ich Wolf kennenlernen würde. Halb im Spaß schlug ich vor, eine Führung zur modernen Architektur in Los Angeles, vor allem jener der österreichischen Emigranten Richard Neutra und Rudolph Schindler zu organisieren, über die ich damals arbeitete. Ich war angenehm überrascht, als ich kurz darauf einen Anruf von Wolf erhielt, die mir mitteilte, daß sie mein Angebot gern annähme. Ihr Ehemann, der Schriftsteller und Verleger Gerhard Wolf, war gerade zu Besuch in Santa Monica, und so einigten wir uns, zusammen mit Marco de Michelis, einem weiteren Getty-Stipendiaten und Professor für deutsche Architekturgeschichte, und seiner Frau Agnes Kohlmeyer, Professorin für deutsche Kulturgeschichte, auf einen Tag, an dem wir in meinem kleinen blauen Honda, wie Christa ihn beschrieb, losfuhren.
Wir starteten früh zu unserer Tagestour, bei der zahlreiche Fotos von uns vor berühmten Gebäuden entstanden. Besonders beeindruckten Christa Frank Lloyd Wrights Hollyhock House (1919 – 21) für die vermögende Sozialistin Aline Barnsdall, Neutras Lovell Health House (1927 – 29) für Philip und Leah Lovell und Schindlers eigenes Haus Schindler Chace (1921 – 22) für ihn und seine Frau Pauline sowie die Freunde Clyde und Marion Chace. Die beiden Wolfs waren natürlich vom linken Engagement der Bauherren angetan, vor allem von dem Pauline Schindlers, die in den zwanziger und dreißiger Jahren Mitglied der kommunistischen Partei Amerikas war. Neben diesen Baudenkmälern steuerten wir auch weniger bekannte Bauten wie Neutras Jardinette Apartments (1927) an, unbestreitbar das erste Gebäude des später so genannten International Style in den Vereinigten Staaten. Vor diesem Haus gab es einen Zwischenfall, den Christa zunächst in einer Kurzgeschichte und dann in ihrem letzten Roman »Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud« aufgriff. Marco, Agnes und Gerhard wollten sich die Rückseite des Apartmentkomplexes anschauen, nachdem sie zunächst die straßenseitigen Hauptfassaden studiert hatten. Christa und ich blieben vorne an der Straße und wurden Zeugen eines zunächst harmlos erscheinenden, dann aber alarmierenden Vorfalls. Als Marco und die anderen zu uns zurückkamen, spazierten sie völlig unbekümmert in der Mitte der Straße, wo ihnen ein gutaussehendes schwarzes Ehepaar in einem schnittigen, offenen Cabriolet mit quietschenden Reifen ausweichen mußte, um keinen zu überfahren. Der wütende Autofahrer rief den weißen »Eindringlingen« in das hauptsächlich von Koreanern und Schwarzen bewohnte Viertel eine Beleidigung hinterher. Diplomatische Ruhe seitens der Besucher hätte sicherlich alle Feindseligkeiten beseitigt. Doch Marco konnte sich nicht zügeln und antwortete im gleichen Tonfall, woraufhin der immer zorniger werdende Autofahrer anfing, langsam zurückzusetzen, um es mit dem Kontrahenten aufzunehmen. Da Christa und ich die Krise von Anfang an beobachtet hatten, merkten wir, daß sich eine Eskalation anbahnte, und intervenierten, indem wir das mangelnde Feingefühl unseres ungestümen Freundes erklärten: »Wir sind Architekturhistoriker und nur hier, um dieses eine wichtige Gebäude zu studieren.« Für den Cabriofahrer war das offensichtlich ein so unvorstellbares Anliegen, daß er und seine Begleiterin unter Kraftausdrücken der Verwunderung von dannen fuhren. Christa und ich hingegen gratulierten uns gegenseitig, daß wir einen Streit verhindert hatten, den die Presse unausweichlich als »rassistischen Zwischenfall« eingestuft hätte.
Am Abend traf sich die Gruppe wieder zum Essen in meiner Wohnung in Westwood, wo der deutsch-amerikanische Fotograf und Filmemacher Karl Kuehn dazukam, der eine der schönsten Aufnahmen von Christa während ihrer Zeit in Los Angeles machte. Die Anspannung des Tages löste sich kurz vor dem Abendessen, als Christa in meinem Badezimmer ein kitschiges Filmposter entdeckte, das sie so herzhaft lachen ließ, wie ich es nie wieder von ihr hörte. Sie rief Gerhard hinzu, der ebenfalls in Lachen ausbrach. Das Poster bewarb den Film »I married a Communist«, ein B-Movie der RKO Radio Pictures Inc. von 1949. Der Regisseur war Robert Stevenson, in den Hauptrollen spielten Robert Ryan, Laraine Day und John Agar. Nachdem das Poster gedruckt worden war, erzwangen kritische Publikumsstimmen, den Titel in »Beautiful but Dangerous« abzuändern.
Einige Zeit später lud Kuehn uns alle zum Abendessen in sein Haus und Studio ein, in den Hügeln unterhalb des berühmten Hollywood-Schriftzugs. An diesem Abend faszinierten Christa insbesondere die Erfahrungen meines Freundes Alan Onoye, eines japanisch-amerikanischen Geschäftsmanns. Er hatte als Kind nach dem Luftangriff auf Pearl Harbor vier Jahre mit seinen Eltern und Großeltern in einem Internierungslager in Colorado verbringen müssen. Christa hatte noch nie jemanden getroffen, der in einem »amerikanischen Konzentrationslager« gewesen war. So drückte sie sich aus, obwohl Alan ausdrücklich darauf bestand, daß diese Lager zwar entwürdigend, aber nicht lebensgefährlich waren und auf keinen Fall mit den nationalsozialistischen Konzentrations- und Todeslagern zu vergleichen wären. In ihrer Nacherzählung in »Stadt der Engel« veränderte Christa meinen Namen zu »Bob Rice«. Alan wurde lediglich durch einen zusätzlichen Buchstaben als »Allan« mehr oder weniger unkenntlich gemacht.
Während Christas Jahr in Los Angeles verabredeten wir uns immer wieder, um die Umgebung zu besichtigen, vor allem Santa Monica, wo ich mit ihr eine Autofahrt zu den Wohnhäusern bekannter deutscher Emigranten unternahm: Thomas Mann, Bertolt Brecht, Theodor W. Adorno sowie Salka und Berthold Viertel. Wir trafen uns auch zum Dinner in den Strandrestaurants von Malibu und zum Abendessen in kleiner Runde in meinem Haus. Einer dieser Abende fiel in die Woche, in der die deutsche und internationale Presse berichtete, daß ihr Name in Stasiakten aufgetaucht war. Während ich noch verschiedenes in der Küche vorbereitete, kam sie dazu, um sich zu unterhalten. »Wie fühlst du dich?« fragte ich. »Es ist die schlimmste Woche meines Lebens«, antwortete sie. Ich hakte nach, ob sie unter diesen Umständen lieber in Kalifornien oder in Deutschland wäre, um gegen die Vorwürfe anzugehen, worauf sie meinte, daß es an beiden Orten unangenehm wäre, sie aber alles in allem froh sei, in L. A. zu sein. Das Getty bot ihr Schutz vor dem Sturm und einen ruhigen Ort, um sich für die bevorstehenden Auseinandersetzungen zu wappnen. (…)
SINN UND FORM 4/2024, S. 479-486, hier 497-481