Hertmans, Stefan
geb. 1951 in Gent, Schriftsteller und Publizist, lebt bei Brüssel. Auf deutsch erschienen die Romane »Amselbach« (1996) und »Der Himmel meines Großvaters« (2014) sowie der Gedichtband »Scardanelli« (2001). (Stand 2/2016)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 2/2016 | »Wir leben in einer Zeit der Übergänge.« Gespräch mit Achim Engelberg
- 2/2016 | Zwischen Gedenken und Erinnern. Über individuelle und kollektive Identität
ACHIM ENGELBERG: Mit Ihrem letzten Roman »Der Himmel meines Großvaters« gelang Ihnen der internationale Durchbruch. In mindestens neunzehn (...)
LeseprobeHertmans, Stefan
»Wir leben in einer Zeit der Übergänge«. Gespräch mit Achim Engelberg
ACHIM ENGELBERG: Mit Ihrem letzten Roman »Der Himmel meines Großvaters« gelang Ihnen der internationale Durchbruch. In mindestens neunzehn Sprachen ist oder wird das Buch verlegt. Sie reisen den Übersetzungen hinterher. Kommen Sie – jenseits von kleineren Arbeiten – noch zum Schreiben?
STEFAN HERTMANS: Ich beende gerade einen Roman, der im 11. Jahrhundert spielt und auf einem alten sephardisch-hebräischen Manuskript beruht, das sich in einer Sammlung in Cambridge befindet. Auf meine Protagonistin stieß ich durch ein Buch des Historikers Simon Schama. Nach drei Jahren Recherche weiß ich, daß sie 1070 geboren wurde, also vier Jahre nach der Schlacht bei Hastings, dem ersten Erfolg der französischen Normannen bei der Eroberung Englands. Auf den Straßen geißelten sich damals Flagellanten, um ihre Greueltaten in der Schlacht und bei den anschließenden Plünderungen zu büßen. Der Vater meiner Protagonistin ist ein vornehmer christlicher Normanne, sie aber verliebt sich in einen Juden, den Sohn des Großrabbiners von Frankreich, und flieht mit ihm 1090 – da ist sie zwanzig – neunhundert Kilometer nach Narbonne. Sie heiraten und geraten nach sechs glücklichen Jahren in eines der ersten Pogrome der Kreuzfahrer. Und genau in diesem Dorf in der Provence, in dem südöstlich vom Mont Ventoux gelegenen Monieux, habe ich seit zwanzig Jahren ein Haus.
ENGELBERG: Diese Pogrome waren der Auftakt für eine Mordserie, die sich bis in deutsche Lande zog. In Mainz starb fast die gesamte jüdische Gemeinde.
HERTMANS: In Monieux töteten Kreuzfahrer den Mann meiner Heldin und nahmen die Kinder mit. Diese Frau hat etwa hundert Meter von meinem Haus entfernt gelebt. Ich fand Überreste des rituellen Bades der Synagoge. Durch das Dokument, auf das ich mich stütze – es wurde 1888 in der Synagoge von Kairo gefunden –, wissen wir, daß sie auf der Suche nach ihren Kindern in Ägypten war. Vielleicht hoffte sie, weiter nach Jerusalem zu gelangen. Die jüdische Gemeinde half ihr. Ein Jahr später war sie in Nordspanien, wo man sie als Hexe verbrennen wollte. Sie entkam und ging wieder nach Monieux. Ich schreibe also die Geschichte meines Dorfes, aber aus der Perspektive eines Flüchtlings, der in anderer Richtung sein Heil sucht als die heutigen. Die Muslime waren gegenüber Juden und Konvertiten toleranter. Das ist eine tausend Jahre alte und zugleich aktuelle Geschichte.
ENGELBERG: Ihr Vorgängerbuch »Der Himmel meines Großvaters« birgt auch viel Autobiographisches und Dokumentarisches. Aus den Notizbüchern Ihres Großvaters erarbeiten Sie ein ebenso weites wie detailreiches Panorama. Nimmt, wenn Sie auf Ihr Werk schauen, das Autobiographische zu?
HERTMANS: Beides, das Dokumentarische und das Autobiographische, wird für mich immer wichtiger. Ich komme aus einer Generation, die an der Universität studierte und dort Vorbilder fand in Dichtern wie Samuel Beckett und Paul Celan, für die die Avantgarde und Post-Avantgarde wichtig waren. Allmählich eröffneten sich mir andere Möglichkeiten. Mein erstes Buch hieß »Raum« und war beeinflußt vom Nouveau Roman.
ENGELBERG: Also von Autoren wie Claude Simon oder Alain Robbe-Grillet.
HERTMANS: Ja, aber auch Marguerite Duras sollte man nicht vergessen. Dann vollzog ich eine postmoderne Wende und schrieb »Amselbach«, eine Parodie auf Romane wie die von Ernest Claes, die viel gelesen wurden und das schöne Flandern beschrieben. Sie prägten auch in Deutschland die Vorstellung von den Flamen als arkadisches Volk, das gemütvolle Bücher schreibt. Das haßte ich natürlich, aber gerade einigen deutschen Kritikern fiel die Parodie nicht auf, einer schrieb sogar, daß die flämische Literatur immer noch sehr ländlich sei. Das kam auch daher, daß man den Untertitel »Die Autobiographie eines Lügners « nicht mitübersetzt hatte. »Amselbach« ist ein Pastiche. Ich las zu dieser Zeit Witold Gombrowicz, »Ferdydurke« und anderes, und hatte eine Groteske über die Identitätskrisen der Flamen verfaßt. Das verstand man in Flandern oder in den Niederlanden gut, nicht aber in Deutschland. Es war ein Bruch mit der ländlichen Tradition.
Viel gelernt habe ich von Hugo Claus, aber ich gehöre natürlich zu einer anderen Generation. Er war Jahrgang 1929, ich bin 1951 geboren. Bei Claus findet man eine Mischung aus ironischem Manierismus und Naturalismus. Bei mir wird daraus ein post-experimenteller, ironischer Umgang mit der eigenen Autobiographie. Und nun endlich zur Antwort auf Ihre Frage: Als Intellektueller hatte ich damals Hemmungen, etwas Autobiographisches zu schreiben, aber ich hatte auch meinen Proust gelesen. Es gab natürlich im Buch auch eine nostalgische Sicht auf das, was ich als Jugendlicher in den sechziger Jahren erlebt habe. Ich schrieb eine Groteske auf einen »Roots«-Roman, hielt es aber für feige, zu verbergen, daß ich, wie Jacques Derrida sagt, doppelt gebunden bin. Ich stieß mich ab und wußte doch, da gehöre ich hin. Es war ein Buch gegen den Vlaams Blok, der ein unabhängiges Flandern will. Ich wollte zeigen, daß man auch ohne klare Identität leben kann.
ENGELBERG: Ein Einschnitt für Belgien war die Staatskrise, die der Kindermörder Dutroux im Sommer 1996 auslöste. Wenn ein Kriminalfall ein ganzes Land erfaßt, dann steckt dahinter mehr als ein Verbrechen. Auf solche Ereignisse reagieren Sie direkt mit Zeitungsartikeln, aber auch indirekt mit Romanen.
HERTMANS: Ja, der Roman ist für mich ein Mittel, um soziologisch-kulturell-allgemeinpsychologische Themen intuitiv auszuarbeiten. In der Dutroux-Periode schrieb ich »Wie am ersten Tag«. Ein dunkles Buch, in dem ich in drei Teilen eine Figur vom dreizehnten bis in die vierziger Lebensjahre schreckliche sexuelle Dinge tun lasse. Er vergewaltigt und tötet etwa eine Frau beim Halleluja von Monteverdi. Es war ein Buch über die dunklen Seiten des Erhabenen. Danach schrieb ich einen Thriller über die Wiederkehr der Chasaren, eines Volks, das im 10. Jahrhundert verschwunden ist und über das es diverse Theorien und Spekulationen gibt. In dem Buch stelle ich mir vor, sie kehrten als Terrorgruppe zurück. Das war ein Roman über Liebe in Zeiten von Paranoia und Terrorismus, er wird gerade verfilmt. »Lauter als Schnee« heißt er nach einer Metapher im Buch, daß das Blut lauter als Schnee auf den Boden fällt. Danach schrieb ich einen Roman über eine postfeministische Frau. Eine Penelope, die nicht mehr auf ihren Odysseus warten will. Einmal nennt sie sich eine umgekehrte Penelope, nachts in ihren Träumen webe sie Treue, aber tagsüber zerreiße sie wieder alles. Deshalb heißt das Buch »Das verborgene Gewebe«. Die Protagonistin ist eine in eine Krise geratene Schriftstellerin. Ich dachte dabei an Ingeborg Bachmann und Elfriede Jelinek. Im Roman heißt sie auch Jelina. Sie ist völlig emanzipiert, ihr Mann Hans ist grün-alternativ, sanft und sorgt für das Kind. Die Frau hat männliche und der Mann weibliche Züge. Am Ende verläßt Jelina den Mann und ihr Kind für eine andere Zukunft. Ich empfinde es immer noch als eines meiner schönsten Bücher. Es ist wie ein Tagebuch einer Frau geschrieben. Jeder Autor möchte sich wie Flaubert mit »Madame Bovary« in eine Frau hineinversetzen. Sie sehen, alle meine Romane beschreiben gewisse Perioden unserer gesellschaftlichen Entwicklung.
ENGELBERG: International bekannt wurden Sie mit »Der Himmel meines Großvaters«.
HERTMANS: »Krieg und Terpentin« heißt er im Original, eine ironische Abwandlung von »Krieg und Frieden«. Vordergründig ging es um die Identität Flanderns. Ich fragte: Was hat der Erste Weltkrieg – der immer noch der Große Krieg heißt – mit dem Land gemacht? Was haben wir verdrängt? Ich versuche immer eine autobiographische Schicht einzubeziehen, weil sie meine Beziehung zum Thema zeigt. Ich bin kein überlegener Autor mit der Souveränität eines Thomas Mann oder Harry Mulisch. Für mich ist das fast altmodisch, ich muß mich outen wie W. G. Sebald, muß zeigen, daß ich in einem Thema lebe. Es gibt in all meinen Büchern das autobiographische Engagement, dann die fiktive Struktur, die Imagination der Erzählung, und als drittes das Reale, weil ich recherchiere und Aktuelles, Soziologisches einbeziehe. Diese drei Elemente zeigen für mich die Wahrheit des zeitgenössischen Romans. Das Autobiographische und das Gesamtgesellschaftliche verbinden sich mit dem Imaginären.
ENGELBERG: Und es gibt Auftritte von nicht mit Namen genannten Personen der Zeit- und Kulturgeschichte. Peter Handke zum Beispiel.
HERTMANS: Nein, nein. Die meisten Leute glauben, es sei Handke gemeint. Aber es ist Botho Strauß mit seinem Essay »Anschwellender Bocksgesang«. Wenn wir nicht mehr zu kämpfen lernen, sagt er sinngemäß, dann fehlt uns auch der Respekt vor dem Gegner.
ENGELBERG: Von Botho Strauß gibt es einen Band mit dem Titel »Die Fehler des Kopisten«. Auch bei Ihnen geht es um das Thema Original und Kopie. Mir scheint, der Roman ist eine eindrucksvolle Auseinandersetzung damit, nicht nur, weil Ihr Großvater Bilder alter Meister kopierte. Das Original ist der Fehler des Kopisten, wenn er sich emanzipiert.
HERTMANS: Zunächst ist mein Buch ein Roman über den Ersten Weltkrieg, dann ein Bildungsroman über einen kleinen flämischen Soldaten und schließlich ein Roman über eine erhabene Liebe, über den Pietismus in Flandern. Etwas tiefer kommt man zu der Schicht, die Sie ansprachen, Mimesis und creatio ex nihilo. Das sind die beiden großen Traditionen, die ich mein Leben lang an der Kunstakademie gelehrt habe. Seit der Romantik glauben wir, daß der Künstler wie Gott etwas völlig Originelles schafft. Er schafft – creatio ex nihilo – etwas Neues aus dem Nichts. Das wirkte damals wie ein Donnerschlag. Die ältere Tradition war die mimetische, sie galt noch in der Renaissance. Man muß die Alten nachahmen, um originell zu werden. Das meine ich noch immer. Ich habe immer ein bißchen über die Forderung der Postmoderne gelächelt, man müsse intertextuell sein. Das haben Dante und Petrarca schließlich auch schon gesagt.
ENGELBERG: Das ist sogar noch älter, denken wir an Ovids »Metamorphosen« …
HERTMANS: Natürlich. Ovid ist Postmodernismus. Intertextualität gab es schon immer. Und Derrida war ein alter hebräischer Schriftgelehrter. Wenn man diesen großen Raum der Literatur überblickt, wird man gelassener beim Streit der unterschiedlichen Schulen. In meinem Roman stellte ich meinen Großvater als Kopisten dar, der sein Leben in kleinen Details versteckt. So hat er in einer Kopie eines Velázquez-Gemäldes im Spiegelbild das Gesicht seiner frühverstorbenen, großen Liebe Maria Emelia gemalt. Er war kein Intellektueller, aber auf so etwas kam er. Indem er ein Detail änderte, wurde alles anders. Der nackte Frauenkörper konnte jetzt der seiner großen Liebe sein. Die Ironie des Buches ist, daß ich der letzte Kopist bin. Ich habe einige Details aus dem Leben meines Großvaters verändert, die niemand kennt. Mein Buch ist ein Alltags-Triptychon in einer katholischen Kirche. Der heilige Martinus als Kind, der heilige Martinus als Soldat, der heilige Martinus in der Wüste seiner späten Jahre. Was heißt Originalität im Leben? Manche glauben, sie seien unabhängige Subjekte. Aber wir sind geprägt durch Großeltern, Eltern, Geschwister, Freunde, Partner usw. Wir werden von allen Seiten beeinflußt und sind auch Kopien anderer Leben. Das ist ein philosophisches Thema im Buch, für mich das wichtigste.
ENGELBERG: Was sind Ihre weiteren Themen?
HERTMANS: Die Zeit. Die Proustsche Zeit. Die Uhr, die ich mit zwölf Jahren fallengelassen habe, ist eine Metapher. Man läßt die Zeit aus der Hand gleiten. Es ist mit unserem Gedächtnis wie mit Hegels Eule der Minerva, die erst bei anbrechender Dämmerung ihren Flug beginnt. Also wenn es zu spät ist. Wenn unsere Großeltern gestorben sind, denkt man, man hätte dies und jenes noch fragen sollen. Dann müssen wir unsere Fantasie, Einbildungskraft und Einfühlung einsetzen. Bei Lesungen halte ich oft das Buch hoch und sage, das ist die reparierte Uhr. Die Geschichte der Zeit im Buch ist zyklisch. Mein Großvater erinnert sich an seinen toten Vater. Während des Ersten Weltkrieges entdeckt er in Liverpool eine Kirchenmalerei des Verstorbenen, die ihn darstellt. Das ist wie ein spätes Liebeszeichen. Immer wieder gibt es Zyklen, gibt es Kopien. So ist auch meine Großmutter eine unzulängliche Kopie ihrer Schwester, der großen Liebe meines Großvaters. Diese Wiederholungsthematik findet sich in der Malerei, im Buch und in den Kriegserfahrungen. Der Besuch der Gelatine-Fabrik mit den vielen toten Tieren nimmt natürlich die Verwesung im Krieg vorweg. Das Buch hat mehrere Wendungen, einschließlich des Remarque-Zitats am Anfang: »Die Tage stehen wie Engel in Gold und Blau / Unfaßbar über dem Ring der Vernichtung. / Jeder hier weiß, daß wir den Krieg verlieren.« Hier deute ich an, daß das Buch für Flandern so etwas sein soll wie das von Remarque für die deutsche Literatur. Es ist keine Familienchronik, sondern eine Dekonstruktion und Rekonstruktion. Ich habe die Uhr zerspringen lassen, um sie wieder zusammenzusetzen.
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SINN UND FORM 2/2016, S. 217-235, hier S. 217-221
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»Der Himmel meines Großvaters« basiert auf der Geschichte, genauer den Aufzeichnungen meines Großvaters mütterlicherseits, in deren Mittelpunkt seine Erfahrungen und Erlebnisse im Ersten Weltkrieg stehen. Er hat diese im wesentlichen zwischen 1963 und 1979 niedergeschrieben – also fast ein halbes Jahrhundert später, (...)
Hertmans, Stefan
Zwischen Gedenken und Erinnern. Über individuelle und kollektive Identität
»Der Himmel meines Großvaters« basiert auf der Geschichte, genauer den Aufzeichnungen meines Großvaters mütterlicherseits, in deren Mittelpunkt seine Erfahrungen und Erlebnisse im Ersten Weltkrieg stehen. Er hat diese im wesentlichen zwischen 1963 und 1979 niedergeschrieben – also fast ein halbes Jahrhundert später, und mußte sich dabei oft traumatischen Erinnerungen stellen, die er sein Leben lang mit sich herumgetragen hat. Ich habe mein Buch, das noch einmal dreißig Jahre später entstanden ist, ganz bewußt als Roman bezeichnet. Dennoch wurde es in weiten Kreisen als historisches Dokument gelesen (...)
Aus dem Niederländischen von Marlene Müller-Haas
SINN UND FORM 2/2016, S. 229-235
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