Hartmann, Bernhard
geb. 1972 in Gerolstein / Eifel, Übersetzer, lebt in Duisburg. (Stand 3/2021)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 4/2006 | Wojciech Bogumil Jastrzebowskis »Verfassung für Europa«
- 6/2007 | Gespräch mit Artur Szlosarek
- 1/2011 | Gespräch mit Julia Hartwig
- 2/2014 | Ob Sprachbildner, ob Fuhrmann – ich bin Übersetzer. Dankrede zum Karl-Dedecius-Preis
- 4/2017 | »Ich gehöre zu den modernen Nomaden.« Ein Gespräch mit Olga Tokarczuk über Literatur als Welterfahrung
- 3/2019 | Die Kunst des Überdauerns. Ein Gespräch mit Tomasz Różycki über Geschichte und Sprache
- 3/2021 | »Neuanfänge sind niemals leicht«. Gespräch mit Irit Amiel
"Ich gehöre zu den modernen Nomaden". Ein Gespräch mit Olga Tokarczuk über Literatur als Welterfahrung
LeseprobeHartmann, Bernhard
BERNHARD HARTMANN: Vor siebenundzwanzig Jahren, am 12. November 1989, fand im niederschlesischen Kreisau die deutsch-polnische Versöhnungsmesse statt, bei der es zur berühmt gewordenen Umarmung zwischen dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem Ministerpräsidenten der ersten frei gewählten polnischen Regierung, Tadeusz Mazowiecki, kam. Ein wichtiger Moment für die deutsch-polnischen Beziehungen, der zugleich für die Hoffnung und die Euphorie steht, die in der Zeit nach dem Mauerfall aufkamen. Man träumte – zumindest im Westen – vom »Ende der Geschichte« und hoffte, die Gespenster der Vergangenheit endgültig zu bannen und in eine Zukunft ohne große Konflikte zu gehen. Wie erinnerst du dich an diese Zeit?
OLGA TOKARCZUK: Ich habe 1989 angefangen, meinen ersten Roman zu schreiben, und hätte mir keinen besseren Zeitpunkt dafür vorstellen können. Es schien, als heitere Europa sich auf, als wüchse es zusammen und schüttele endlich die Alpträume der Geschichte ab. Ich dachte, auch in Polen würde man sich nun dem zuwenden können, was Literatur eigentlich ausmacht. Meine Generation – darunter inzwischen bekannte Autoren wie Andrzej Stasiuk, Paweł Huelle oder Natasza Goerke – entdeckte damals das Private neu für die Literatur. Dieses Gefühl der Befreiung von gesellschaftlichen und politischen Pflichten war für uns unglaublich belebend. Wir konnten uns beispielsweise mit Feminismus und Ökologie befassen, unseren Ort in der Welt und unsere Körperlichkeit erkunden. Jetzt, wo die Zeiten unruhiger werden, geraten diese Themen erneut an den Rand. Ich hätte nie gedacht, daß die Literatur sich keine drei Jahrzehnte später wieder mit Politik befassen muß, die Schriftsteller wieder politisch werden, alles wieder politisch wird, jede Erzählung, jeder Roman, jedes Thema.
HARTMANN: Der politische Wandel in Polen ist symptomatisch für den Stimmungswandel, der in ganz Europa zu beobachten ist. Die Idee der europäischen Einigung überzeugt nur noch wenige, in immer mehr Ländern wächst der Wunsch, sich ins nationale Schneckenhaus zurückzuziehen. Sind wir überfordert damit, europäisch zu denken? War es zu viel Europa in zu kurzer Zeit – zumal für die einstigen Ostblockländer, die ihre hart erkämpfte Souveränität nicht gleich wieder an eine oft als technokratisch empfundene Institution abgeben möchten?
TOKARCZUK: Für mich ist der Beitritt Polens zur EU einer der glücklichsten Momente der polnischen Geschichte. Ich kann mir Polens Zukunft auch nur innerhalb dieser großen Gemeinschaft vorstellen, deren östlichen Rand wir derzeit bilden. Doch momentan weiß niemand, was kommen wird. Auch ich kann und will keine Diagnosen stellen oder Prognosen abgeben, das ist nicht mein Metier, ich bin Schriftstellerin. Aber ich glaube, es sind vor allem zwei Gründe, die diese Verunsicherung und Angst hervorrufen. Das eine ist die Flut von Informationen, die heute jeder einzelne von uns verarbeiten muß. Zum ersten Mal in der Geschichte ist der Mensch nicht mehr in der Lage, alles mit seinen Sinnen und seinem Verstand zu verarbeiten. Zugleich haben die großen Wertsysteme und Erzählungen, die früher klare Weltbilder vermittelten, an Bedeutung verloren, und die Medien bringen keine Ordnung ins Chaos, sondern vergrößern es noch. Das andere ist der weltweite Siegeszug des Neoliberalismus, der einerseits Enklaven des Friedens und Wohlstands schafft, andererseits aber auch Ghettos, in denen die ungeheure Zahl der Ausgeschlossenen lebt. Die Mechanismen dieser Ausgrenzung sind schwer zu durchschauen und zu kontrollieren. Wir begreifen nicht, wie neoliberale Wirtschaft und Politik funktionieren, und das führt zu einer Erosion der Demokratie. Die Folge ist das Aufkommen populistischer Strömungen, das wir derzeit überall in der Welt beobachten.
HARTMANN: Nun arbeitest du in deinen Romanen auch mit dem Mittel der Fragmentarisierung, der Leser muß sich aus unzähligen Mosaikstücken und Mini-Erzählungen selbst ein Gesamtbild schaffen. In deinem letzten Roman, »Ksie˛ gi Jakubowe« (Die Bücher Jakob), spielen Grenzüberschreitungen verschiedenster Art eine Rolle, schon der Untertitel deutet darauf hin: »Eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei Religionen, die kleinen nicht mitgezählt «. Am Beispiel der Sekte des Jakob Frank und ihrer Reise durch das Polen und Europa des 18. Jahrhunderts zeigst du, wie individuelle und kulturelle Identitäten sich auflösen und wandeln. Und du entwirfst ein Bild Polens in dieser Zeit, das der – nicht zuletzt durch Autoren wie Henryk Sienkiewicz – verbreiteten Vorstellung von ethnischer und religiöser Homogenität diametral entgegensteht. Du zeigst einen Vielvölkerstaat, in dem neben christlichen auch jüdische und osmanische Einflüsse wirksam sind. Das ist natürlich eine Provokation für alle, die in nationalen oder ethnischen Kategorien denken. Hast du beim Schreiben bewußt versucht, ein Gegenmodell zu vereinheitlichenden, vereinfachenden Darstellungen nationaler Identität zu schaffen?
TOKARCZUK: Als ich »Ksie˛ gi Jakubowe« zu schreiben begann, dachte ich, ich schriebe für eine nicht allzu große Gruppe literarisch versierter und historisch interessierter Leser, und rechnete mit einer Auflage von höchstens zwei- oder dreitausend Exemplaren. Inzwischen wurden 150 000 Exemplare verkauft, das Buch wurde breit diskutiert und es gab zahlreiche Besprechungen. In der Tat revidiert das Buch in gewisser Weise eine verbreitete naive Sicht auf die polnische Geschichte. Kurz gesagt, handelt »Ksie˛ gi Jakubowe« davon, wie die modernen Gesellschaften in Europa entstanden, in diesem Fall in Mitteleuropa, in Polen. Ein zentrales Moment in diesem Entstehungsprozeß war immer die Auseinandersetzung, das Verhandeln mit Fremden, die zur Mehrheitskultur hinzukommen und anders sind. Das führt natürlich unweigerlich zu Spannungen, die daher rühren, daß wir einerseits das Fremde fürchten, es andererseits aber auch eine gewisse Faszination ausübt.
HARTMANN: Ist es Zufall, daß dieses Fremde in »Ksie˛ gi Jakubowe« vor allem durch die jüdischen Sektierer um Jakob Frank verkörpert wird?
TOKARCZUK: Das Verhältnis zu den Juden steht in Europa sinnbildlich für das Verhältnis zum Fremden. Salopp könnte man sagen, die Juden sind die Fremden vom Dienst. Mal passen sie uns in den Kram, denn sie steigern das wirtschaftliche Niveau und ihre Kultur ist in vielerlei Hinsicht nützlich, und mal nicht, dann haßt man sie. In der europäischen Geschichte schwingt das Pendel hin und her. Mein Buch nimmt die Mechanismen des Umgangs mit dem Fremden unter die Lupe, vom Assimilationsdruck bis zu unterschiedlichen Autonomiekonzepten. In ihm sehen wir die Welt vor allem mit den Augen von Außenseitern, die sich einer Mehrheitsgesellschaft anschließen möchten und fragen: Was sind die Bedingungen, was läßt sich gemeinsam aushandeln? Die Ergebnisse solcher Prozesse können unterschiedlich, oft auch tragisch ausfallen, hier endet es damit, daß die Fremden aufgenommen werden, dafür aber alles aufgeben, was ihre Identität ausmacht.
HARTMANN: In der polnischen Rezeption steht dieser Aspekt im Hintergrund. Die Debatte kreist vor allem um die Darstellung der polnischen Wirklichkeit zur Zeit der Handlung.
TOKARCZUK: Weil ich eine Geschichte erzähle, die historisch bedeutsam ist, über die aber lange nicht gesprochen wurde. Mitte des 18. Jahrhunderts ist die Rzeczpospolita, die polnisch-litauische Adelsrepublik, ein mächtiges Königreich, das aber schon erste Zerfallserscheinungen zeigt. Eine Gruppe armer jüdischer Kaufleute um Jakob Frank, deren Auslegung des jüdischen Glaubens sie zu Häretikern macht, möchte sich in die polnische Gesellschaft eingliedern und konvertiert zum Katholizismus, insgesamt etwa 15 000 Menschen. Die katholische Kirche nimmt sie auf, begegnet ihnen aber mit Mißtrauen. Ihr jüdisches Umfeld wendet sich von ihnen ab. Das Buch zeigt, wie die Frankisten in der polnischen Gesellschaft aufgehen – um den Preis der Aufgabe ihres alten Glaubens – und wie sie das im 19. und 20. Jahrhundert einflußreiche polnische Bürgertum mitbegründen und prägen. Bestimmte Glaubenselemente und Denkweisen der Frankisten sind in der polnischen Kultur und Literatur bis heute erkennbar. In dieser Hinsicht spielt es keine Rolle mehr, wer vor zweihundert Jahren einheimisch und wer fremd war.
HARTMANN: Hast du eine Idee, warum vor dir niemand dieses Thema aufgegriffen hat?
TOKARCZUK: Diese Geschichte paßt nicht ins nationale Selbstbild, darum wurde sie vergessen oder verdrängt. Aber nicht nur von den Polen. Die orthodoxen Juden haben sie verdrängt, weil die Frankisten in ihren Augen Abtrünnige und Verräter waren. Und auch die Frankisten selbst und ihre Nachkommen wollten nicht an ihre jüdischen Wurzeln erinnert werden, weil sie auf totale Assimilation setzten.
HARTMANN: Und die Debatten? Wolltest du eine Diskussion anstoßen oder warst du überrascht von manchen Reaktionen?
TOKARCZUK: Als ich das Buch schrieb, war ich politisch völlig unbefangen, ich bin herumgereist, habe in Bibliotheken recherchiert, Quellen studiert, mit Historikern gesprochen. Aber als das Buch vor gut zwei Jahren erschien, kam es in eine ganz andere Zeit. Wir haben inzwischen eine Regierung, die ihre Politik an einem Verständnis der polnischen Geschichte und Identität ausrichtet, in dem die Nation als homogenes Gebilde mit einer langen heroischen Vergangenheit erscheint und alles ausgeblendet wird, was ethnische Minderheiten und überhaupt die Heterogenität unserer Gesellschaft betrifft. Mein Buch dekonstruiert in gewisser Weise jenes nationale Bild. Ich erzähle von dieser Zeit aus Sicht der Provinz und der Peripherie. Weil das Buch aber inhaltlich wenig Angriffsfläche bietet, haben sich die Angriffe aus dem nationalkonservativen Lager großenteils auf meine Person gerichtet.
HARTMANN: Vor zwei Jahren ist in einer Anthologie mit Texten zur Flüchtlingsthematik deine Erzählung »Die Grenze« erschienen. Auch diese vor fast zwanzig Jahren entstandene Erzählung klingt heute merkwürdig aktuell. Weißt du noch, was dich seinerzeit dazu gebracht hat, diesen Text zu schreiben?
TOKARCZUK: Ich erinnere mich, daß ich »Die Grenze« in meinem Haus in Krajanów geschrieben und mich beim Schrei ben ziemlich amüsiert habe. Der Text greift einen im polnischen Denken fest verwurzelten Topos auf, dem zufolge wir die östliche Grenze der europäischen Zivilisation bilden und das christliche Europa gegen Angriffe verteidigen. Ich habe mir eine postapokalyptische Welt vorgestellt, in der alle zivilisatorischen Werte in Vergessenheit geraten sind und die Überlebenden versuchen, aus den Trümmern der Überlieferung eine neue Ordnung zu schaffen, während von jenseits der Grenze immer wieder die Barbaren andrängen und zurückgeschlagen werden müssen. Der Grenzfluß Pruth markierte einst tatsächlich eine Grenze des christlichen Europa, auf der anderen Seite lag das Osmanische Reich, lag der Islam. Damals habe ich die Erzählung als Groteske betrachtet, als literarischen Scherz. Ich hätte nicht gedacht, daß uns das Thema Jahre später unmittelbar betrifft. Als ich gefragt wurde, ob ich bei einem Buchprojekt zugunsten einer polnischen Flüchtlingshilfeorganisation mitmachen würde, wollte ich eigentlich einen neuen Text schreiben. Doch dann fand ich im Computer diese noch unveröffentlichte Erzählung, die plötzlich eine ganz neue Bedeutung gewann.
[…]
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 4/2017, S. 447-457, hier S. 447-451.
BERNHARD HARTMANN: Als Sie vor gut zwei Jahren einen Unfall hatten, habe ich Ihnen per E-Mail baldige Genesung gewünscht. Sie schrieben mir (...)
LeseprobeHartmann, Bernhard
»Neuanfänge sind niemals leicht«. Gespräch mit Irit Amiel
BERNHARD HARTMANN: Als Sie vor gut zwei Jahren einen Unfall hatten, habe ich Ihnen per E-Mail baldige Genesung gewünscht. Sie schrieben mir zurück: »Wir sogenannten Shoah-Überlebenden haben so etwas wie einen Sensor, einen Rettungsknopf in uns. Und immer, wenn uns etwas Schlimmes passiert, drücken wir diesen Knopf und dann ist wieder alles möglich.« Wie funktioniert das?
IRIT AMIEL: Bei mir vor allem so, daß ich nicht den Kopf verliere, wenn etwas passiert. Ich weiß, daß ich meine Kinder anrufen muß, Oni und Dita. Seit einiger Zeit habe ich auch einen echten Notrufknopf, mit dem ich den Krankenwagen alarmieren kann. Den Rest erledigt dann der Arzt … Als ich nach meinem Sturz operiert werden mußte, sah es so aus, als würde ich nicht mehr laufen können. Ich saß im Rollstuhl, aber ich habe mir vorgenommen: »Ich stehe wieder auf.« Und ich bin aufgestanden. Später hat mir ein Physiotherapeut Übungen gezeigt, eine Art Tanz, die mache ich bis heute. Mittlerweile schaffe ich wieder die zwei Kilometer in den benachbarten Park. Nicht mehr laufen? Oh nein! Man darf sich nicht unterkriegen lassen. Auch nicht von der Panik, von der Angst, die uns ständig im Nacken sitzt. Außerdem habe ich Glück mit den Menschen. Vor zehn Jahren habe ich eine junge Polin kennengelernt, die zum Judentum konvertiert ist und einen Israeli geheiratet hat. Sie war nett und sehr fromm, eine bessere Jüdin als ich. Jetzt ist sie meine Assistentin. Als ich im Krankenhaus lag, suchten wir nach einer Pflegerin, damit ich weiter in meinem Haus leben konnte. Viele Bewerberinnen sprachen vor allem davon, was wie zu sein hätte, was sie bräuchten, wann sie freihaben wollten und so weiter. Bis eine Srilankerin hereinkam, sich an mein Bett setzte, kein Wort redete und mich einfach ansah, bis sie irgendwann sagte, sie würde gern bei mir bleiben, solange ich lebe. Und ich sagte: »Das möchte ich auch.« Seitdem leben wir zusammen hier.
HARTMANN: Sie wurden 1931 als Irena Librowicz in Tschenstochau geboren. Erinnern Sie sich, wie das Leben Ihrer Familie und die polnisch-jüdischen Beziehungen vor dem Krieg aussahen?
AMIEL: In Tschenstochau lebten vor dem Krieg 35 000 Juden, das war knapp ein Viertel der Stadtbevölkerung. Und beileibe nicht alle waren religiös. Meine Familie war assimiliert, bei uns wurde polnisch gesprochen. Die polnisch-jüdischen Beziehungen waren nicht sonderlich gut, an den Universitäten gab es die Ghettobänke, wer Arzt oder Lehrer werden wollte, mußte sein Judentum aufgeben. Sonst hätte er nicht studieren können. Es gab vor dem Krieg einen starken Antisemitismus in Polen und es gibt ihn bis heute, obwohl fast keine Juden mehr dort leben, weil sie von den Deutschen ermordet wurden, teils unter aktiver und bereitwilliger Mithilfe der Polen. Wie 1939 die Atmosphäre in Polen war, müssen Sie bei den Historikern nachlesen. Mir fällt es schwer, darüber zu sprechen, ich war acht, als der Krieg ausbrach.
HARTMANN: In Ihrer Autobiographie »Arbeitstitel: Leben« schreiben Sie mit großer Zuneigung über Ihre Eltern, aber auch mit einer gewissen Distanz. An einer Stelle sagen Sie, wenn nicht Krieg und Shoah gewesen wären, hätten Sie als Erwachsene sicher mit ihnen über Ihre Erziehung diskutiert, die Sie »nicht auf das Leben, auf eine selbständige Existenz vorbereitet« habe.
AMIEL: Das ist nicht leicht zu erklären, denn meine Eltern waren außergewöhnliche Menschen. Sie stammten aus Großfamilien, meine Mutter hatte sieben Geschwister, sie wußte, wie schwer es war, auf Mutters Schoß zu gelangen. Sie glaubte, man könne nur ein Kind wirklich lieben. Meinen Vater vergötterte ich, ich vertraute ihm alle Geheimnisse an. Die beiden wollten ihr Kind schützen, sie schickten es nicht zur Schule, sondern engagierten eine Hauslehrerin, damit es nicht mit dem Antisemitismus konfrontiert würde, nicht mit der Wirklichkeit, damit es sich sicher fühlte … Vor diesem Hintergrund war es um so bemerkenswerter … bemerkenswerter und mutiger, daß sie mich im September 1942 am Tag der Aktion auf die andere Seite schickten, elf war ich damals …
HARTMANN: Der »Tag der Aktion« war der Tag, an dem die Deutschen ins Ghetto kamen und Menschen verhafteten, um sie nach Treblinka zu deportieren. Damals schmuggelte Ihr Vater Sie durch ein Loch in der Wand eines Hauses an der Grenze zur sogenannten arischen Seite aus dem Ghetto.
AMIEL: Wir hatten schon vorher mehrfach versucht, aus dem Ghetto zu fliehen. Ich hatte gute Überlebenschancen, weil ich nicht jüdisch aussah. Ich hatte helles Haar, einen Zopf, mein Kindermädchen hatte mir die katholischen Gebete beigebracht. Einige frühere Versuche waren gescheitert, denn es war nicht so, daß man bei Kaffee und Gebäck zusammensaß und in Ruhe überlegte, vielleicht machen wir dies oder das. Man mußte je nach Situation schauen, was möglich war. Und an Jom Kippur ging es los, denn sie quälten uns mit Vorliebe an den Feiertagen. Und keiner, wirklich keiner ahnte … Ich erinnere mich, daß mein Bekannter Michał angefahren kam und rief: »Hört zu, sie töten die Juden!« Keiner wollte ihm glauben, die Leute sagten: »Er is meschigge gewordn.« Denn sie erinnerten sich an die Deutschen aus dem Ersten Weltkrieg, da hatte es noch geheißen: »Bitte sehr« und »Danke sehr«. Auch mein Vater zog später Arbeitsschuhe an, weil er dachte, er führe zur Zwangsarbeit.
HARTMANN: In Wirklichkeit fuhr er nach Treblinka, wo er wie Ihre Mutter ermordet wurde. Zuvor gelang es ihm aber noch, Sie vor der Deportation zu retten. In »Arbeitstitel: Leben« beschreiben Sie die Szene dieser Rettung als zweite Geburt.
AMIEL: Ja, man könnte sie aber auch ganz anders erzählen. Etwa so: Was empfindet ein Kind, wenn es weggegeben wird? Was empfindet es sein Leben lang? Es denkt sein Leben lang, Vater hat mich gerettet, und deshalb lebt jetzt der und der und der – es gibt ein Gedicht, in dem ich aufzähle, wer ihm alles das Leben verdankt. Aber es könnte auch denken, er hat es sich leichtgemacht, er hat sich mit seiner über alles geliebten, schönen und sinnlichen Frau davongemacht und ihr gesagt: »Wir können uns noch so eine Irenka machen.« Irenka hat nicht so gedacht, aber bei Saul Friedländer habe ich irgendwann gelesen, daß er seinen Eltern lange böse war, weil sie ohne ihn in die Öfen gegangen waren. Als ich das las, dachte auch ich kurz, mein Vater hätte mich verraten, weil er mich nicht mitnahm. Aber nur kurz …
HARTMANN: Nach der endgültigen Flucht aus dem Ghetto lebten Sie unter falscher Identität erst auf dem Land und später in Warschau, wo Sie 1944 Augenzeugin des Warschauer Aufstands wurden. Ihr Onkel Marian Hassenfeld half Ihnen, so gut er konnte. Sie hätten nach dem Krieg bei ihm bleiben können, aber Sie wollten nach Palästina.
AMIEL: Bei Kriegsende wußten wir noch nicht, was den Juden angetan worden war. Wir wußten von Deportationen, Lagern und Zwangsarbeit, aber bis wir die ganze Wahrheit erfuhren, habe ich jeden Tag auf meine Eltern gewartet, einen Monat lang. Währenddessen ging ich zur Schule, aber das war stinklangweilig. Ich war belesen, weil ich in jedem meiner Verstecke gelesen hatte. Wo immer sich ein Buch fand, las ich … Ich hatte verschiedene Möglichkeiten. Mein Onkel wollte mich adoptieren, aber dafür fand ich mich zu alt. Ich hätte zu Verwandten nach Kuba gehen können, und in den USA lebte eine Schwester meiner Mutter, die von der Aussicht auf Familienzuwachs freilich wenig begeistert war. Meine bevorzugte Option war eine Kibbuz-Gruppe, die erste, die gleich nach Kriegsende in Warschau entstanden war. Dort waren unter anderem meine Freundinnen, die fast alle Zwangsarbeiterinnen bei der HASAG (Hugo und Alfred Schneider AG) in Tschenstochau gewesen waren, und dort wollte ich auch hin. Allerdings stellte sich heraus, daß diese Gruppe schon nach Palästina aufgebrochen war. Doch es sollte eine neue Gruppe gebildet werden. So begann meine Reise. Ich bin von zu Hause weggelaufen, anfangs wurde ich sogar von der Polizei gesucht …
HARTMANN: Es war nicht leicht, nach Palästina zu kommen. Sie mußten sich zum Mittelmeer durchschlagen, großenteils zu Fuß, dann wurde Ihr Schiff von den Briten abgefangen und Sie saßen fast ein Jahr in einem Displaced-Persons-Lager auf Zypern fest. Insgesamt dauerte die Reise zweieinhalb Jahre. Haben Sie unterwegs nie den Mut verloren?
AMIEL: Ich war damals in einem Alter, in dem der Mensch glaubt, er sei zu allem imstande. Und ich hatte die für junge Leute typische Abenteuerlust. Zugleich war ich verzweifelt, weil ich begriffen hatte, daß es in Polen nie anders sein würde – ich wollte dem Antisemitismus entkommen, den ich nach dem Krieg erlebt hatte. Und natürlich wollte ich die Welt verbessern und beim Aufbau eines jüdischen Staats mithelfen. Die Araber und alles andere haben mich damals nicht interessiert, nur die Juden. Ich war fest überzeugt und bin es bis heute, daß es einen Ort geben muß, an dem ein Jude, dem es schlechtgeht, Zuflucht finden kann. Israel muß existieren. Selbst wenn es dazu zwei Staaten geben müßte, was auch seine Risiken hätte.
HARTMANN: Nach der Ankunft in Palästina haben Sie, wie Sie in »Arbeitstitel: Leben« schreiben, »Irenka begraben und Irit erschaffen«. Wie haben Sie die erste Zeit im neuen Land empfunden?
AMIEL: Es war ein Neuanfang und Neuanfänge sind niemals leicht. Mitten im Leben. Die Israelis damals … Der Mensch sieht immer nur das, was um ihn herum ist. Was anderswo geschieht, sind Zeitungsmeldungen. Menschen werden ermordet, aber man sieht es nicht mit eigenen Augen, man schüttelt den Kopf und sagt, wie schrecklich … Aber es ist nicht dein Leben, nicht du mußt dich verstecken, weil du sonst umgebracht wirst. Es war nicht einfach, diesen Israelis zu begegnen, die … Wir kamen aus religiös geprägten Familien, zwar nicht mehr durch unsere Eltern, aber durch die Generation unserer Großeltern. Und hier war alles ganz anders. Hier gab es Kibbuze und einen berühmten Schriftsteller, Moshe Shamir, der über seinen im Unabhängigkeitskrieg gefallenen Bruder schrieb: »Elik nolad min ha yam. Elik wurde aus dem Meer geboren.« Das bedeutete, er hatte keine fromme Großmutter, keinen Großvater mit Bart, sondern gehörte zu denen, die früher hergekommen waren und die Geschichte dieses Landes verändert hatten. Sie waren melakh ha’aretz, das Salz der Erde. Ihre Eltern waren aus allen möglichen Käffern in Polen und anderswo ausgewandert, aber sie hatten inzwischen eine völlig neue Generation herangezogen. Für uns war das alles zu viel auf einmal. Wir wurden nicht freundlich oder mit Neugierde aufgenommen. Am Anfang mochte uns niemand. Die Leute waren skeptisch, sie fragten: Wieso hast ausgerechnet du überlebt? Was hast du getan, um am Leben zu bleiben? Das war nicht einfach. Trotzdem habe ich nie bereut, daß ich hierhergekommen bin.
(…)
Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann
SINN UND FORM 3/2021, S. 308-317, hier S. 308-311