Gracq, Julien
französischer Schriftsteller. Auf deutsch erschienen zuletzt der Roman »Das Abendreich« (2017) und die Aufzeichnungen »Lebensknoten« (2023). (Stand 4/2025)
Siehe auch SINN UND FORM:
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- 1/2022 | Novalis und Heinrich von Ofterdingen
- 3/2023 | Die Taktzahl der Prosa
- 4/2024 | Mittagsruhe in Seeländisch Flandern
- 4/2025 | Der Surrealismus und die zeitgenössische Literatur
Angesichts des damals anschwellenden Rimbaud-Snobismus schrieb Louis Aragon 1928 in seiner »Abhandlung über den Stil«, jegliche Anspielung auf das (...)
LeseprobeGracq, Julien
Der Surrealismus und die zeitgenössische Literatur
Angesichts des damals anschwellenden Rimbaud-Snobismus schrieb Louis Aragon 1928 in seiner »Abhandlung über den Stil«, jegliche Anspielung auf das »Trunkene Schiff« könne nur noch als sicherstes Zeichen von Vulgarität gelten. Wer heute über den Surrealismus spricht, kann sich zugegebenermaßen einer ähnlichen Befürchtung nicht erwehren. Wir leben in einer Zeit, in der Worte ihre Wirkung verlieren und sich schneller als sonst durch Reibung abnutzen – die Abnutzung von Schallplatten in Radio und Werbung, die aus der lebendigsten Rede ein fades Eintrichtern machen, dem sich unser Magen bald verweigert. Man sollte allerdings nicht übertreiben. Einer ähnlich rasch, vielleicht noch rascher fortschreitenden Entwürdigung ist das rivalisierende Wort Existentialismus ausgesetzt, dessen Schicksal noch schneller besiegelt war. Es gibt eine Sahnetorten- Seite des Surrealismus, und wenn ich eine Entschuldigung dafür vorweisen kann, daß ich von ihm spreche, kann es nur die Absicht sein, ein Wort blank zu putzen, das manchen seinerzeit wie eine Feuerschrift geleuchtet hat – und es von den Spuren unzähliger schmutziger Finger zu befreien, die bei lange im Umlauf befindlichen Münzen das aufgeprägte Bildnis irgendwann verdecken.
Der Surrealismus war ein Opfer seines eigenen Erfolgs, oder besser gesagt, einer bestimmten Art von Erfolg. Er hat nicht gesiegt in dem Sinne, daß er seine Gegner zum Aufgeben oder zum Schweigen gebracht hätte, wie es der Klassik und Romantik einst gelang. Er ist immer wieder verlacht und sogar erbittert bekämpft worden: Wenn François Mauriac selbst heute noch von der surrealistischen »schwarzen Pest« spricht, die angeblich unsere Dichtung aushöhle, fehlt es bestimmt nicht an Leuten, die ihm dafür Beifall spenden. Der Erfolg des Surrealismus besteht in etwas anderem. Es ist keiner der Triumphe, die sich in Verkaufsstatistiken oder massenhaften Konversionen niederschlagen. Er besteht in einer von anderen Doktrinen selten erreichten Fähigkeit, sich über weite Entfernungen hinweg auszubreiten, sich in fremden und entlegenen Gewässern aufzulösen, sie zu kontaminieren. Er besteht in seinem volatilen Charakter, in seiner besonderen Fähigkeit, sich zu Bekundungen und Verhaltensweisen zu gesellen, die ihm eigentlich wesensfremd sind – wie ein Zeichen, das den Sinn verändert –, und die Alltagssprache ist Garant dafür, daß er lieber in adjektivischer als in subjektivischer Form auftritt. So wird man beispielsweise, durch ein suspektes Detail veranlaßt, das immer schwer zu isolieren ist, eine Begegnung, ein Plakat, ein Wortspiel, eine zufällige Anordnung von Gegenständen surrealistisch nennen. Im übrigen kann ich nur auf einen bemerkenswerten Artikel von Maurice Blanchot verweisen, der in der Zeitschrift »L’Arche« über den Surrealismus schrieb: »Eine eigentliche Schule existiert nicht mehr, aber ein geistiger Zustand, der dem Surrealismus entspricht, besteht weiterhin. Niemand gehört mehr zu dieser Bewegung, und dennoch wissen alle, daß sie ein Teil davon hätten sein können. In jeder Person, die schreibt, gibt es eine surrealistische Berufung: Man gesteht sie ein, man treibt sie ab, manchmal klaut man sie, aber auch wenn sie unecht ist, drückt sie dennoch eine im Kern ehrliche Anstrengung und ein ehrliches Bedürfnis aus. Der Surrealismus ist verschwunden? Nein, er ist nur nicht mehr hier oder dort, sondern: Er ist überall. Er ist ein Gespenst, ein strahlender Fluch. Die Metamorphose ist verdient – der Surrealismus ist seinerseits surreal geworden.«
Doch weil Adjektive, die bekanntlich einen dem Wesen nach flüchtigen Eindruck festzuhalten versuchen, der Verzerrung durch die individuelle Wahrnehmung wenig entgegensetzen können, nimmt das oft mißbräuchlich verwendete Wort ganz unterschiedliche Bedeutungen an. Manchen gilt alles als surrealistisch, was in der Literatur oder im Alltag seltsam, überraschend, willkürlich, ulkig oder phantastisch ist. Bei anderen Gelegenheiten, wenn stärker auf die Literatur als solche Bezug genommen wird, sind mit dem Beiwort surrealistisch – und übrigens mit gleicher Feindseligkeit – zwei Positionen gemeint, die sich in Wirklichkeit ausschließen. Für die einen weckt es die Vorstellung eines exklusiven und respektlosen Literatenkreises – eines Clubs wechselseitiger Bewunderung, in dem kabbalistische Formeln als Losungsworte dienen und dessen Türen den Naiven, die eintreten zu dürfen glaubten, vor der Nase zugeschlagen werden. Für andere wiederum verkörpert der Surrealismus die gemeinste literarische Demagogie, »Dichtung, wie sie jedem Unbewußten entspringen könnte«, »Jedermannspoesie«, »Kommunismus des Genies« – also eine ruinöse Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner dessen, was »literarisches Talent« sein könnte. Es genügt ja schließlich, eine Feder zu halten und zu schreiben, um Dichter zu sein, solange man dabei Absätze macht. So gesehen profitiert der Surrealist von einer zeitlichen Koinzidenz und schiebt sich ohne weiteres vor das Bild des sagenumwobenen Bolschewiken. Er wird zum Verschleuderer des Talents, zum Plünderer des erworbenen Ansehens, zum Regelbrecher schlechthin – eine Art Dichter mit dem Messer zwischen den Zähnen.
Mit solchen weitverbreiteten Auffassungen des surrealistischen Unterfangens brauchen wir uns nicht lange aufzuhalten. Will man aber seinen Platz und seine Lehren in der heutigen Literatur verorten, muß man ihm erst seine wahre Gestalt zurückgeben.
Halten wir gleich fest, daß der Surrealismus selbst zu widersprüchlichen Interpretationen Anlaß bot. Wie Jules Monnerot in »La Poésie moderne et le Sacré« (Die moderne Dichtung und das Heilige) sehr schön gezeigt hat, bestand die Eigentümlichkeit dieser und wohl jeder wirklich lebendigen Bewegung darin, gegensätzliche Positionen und Doktrinen miteinander zu verbinden, dies vor allem im Bemühen, nichts auszulassen, worauf es ankam. Die Mitglieder der Gruppe schlossen sich keiner logisch hergeleiteten Lehre an (dagegen sträubte sich der ganze Surrealismus), vielmehr teilten sie einen bestimmten Geist – den »neuen Geist« –, sie waren die Hüter einer »allgemeinen Offenbarung«, was Breton zufolge das gemeinsame Schicksal der repräsentativen Geister jeder großen Epoche ist. Der im übrigen nur relative Zusammenhalt der Gruppe bezeugt im Grunde die Wahrheit des Proust-Wortes, wonach die Gemeinschaft der Überzeugungen weniger zählt als die Blutsverwandtschaft der Geister. Doch irreführender als die scheinbaren oder tatsächlichen Widersprüche des Surrealismus ist an seiner landläufigen Deutung (und selbst Sartre erliegt in seiner Schrift »Was ist Literatur?« dieser optischen Täuschung) der Umstand, daß man den Surrealismus nicht in seinem historischen Zusammenhang betrachtet, denn wenn er auch zweifellos etwas ankündigt, so folgt er doch vor allem etwas anderem nach, mit dem er gern verwechselt wird. Wer hat, dem wird gegeben, und so schreibt man dem Surrealismus häufig Dinge zu, die eigentlich von seinem Vorgänger, dem Dadaismus, stammen.
Über das wahre Wesen des Dadaismus, der bekanntlich fast zur gleichen Zeit gegen Ende des Ersten Weltkriegs mit Tzara in der Schweiz, mit Duchamp und Picabia in den USA sowie in Paris entstanden ist, hat sein skandalumwittertes Treiben mit Negertänzen und organisierten Plünderungen lange Zeit hinweggetäuscht. Mit genügend Abstand lassen sich seine Bestandteile dagegen leicht auf den unverstellten Ausdruck von etwas zurückführen, das ich als eine wahre Explosion, eine regelrechte Verpuffung reiner Negativität definieren würde. Der Dadaismus, geboren in dem Jahr, in dem der Weltkrieg die ersten Symptome völliger Zersetzung zeitigte, ist jedenfalls der entschlossenste und konsequenteste Zerstörungs- und Plünderungsversuch, den die Literatur erlebt hat. Er zielt auf völlige soziale Desintegration, und einer seiner Vertreter, der Boxer Cravan, gibt sich als »Fahnenflüchtiger von siebzehn Nationen« aus. Er arbeitet an der Zerstörung des Gegenstands durch objektiven Humor, der uns vor Augen führt, daß der Schein der Ruhe, welcher die Materie umgibt, von seltsamen Zufällen abhängt; dazu gehört Duchamps bekannter Versuch, Marmorstücke durch Zukkerstücke zu ersetzen. Der gleiche Duchamp treibt beharrlich die Liquidierung der individuellen Erfahrung durch »Ready-mades« voran: Er stellt einen handelsüblichen Flaschentrockner und eine lithographierte Winterlandschaft aus, die er »Apotheke« nennt, und signiert beide. Der Ausdruck selbst, so neutral er scheinen mag, wird noch in seinem Tauschwert aufgespürt: Man verfaßt ein Gedicht, indem man Wörter wie Lose aus dem Hut zieht und zusammenfügt. An die Stelle des artikulierten Worts setzt man Lautmalerei, den Schrei, zufällige Silben, für die Dada symbolisch steht. Schrei ben ist verboten, denn wie Artaud meint, ist »jegliches Schrei ben eine Sauerei«. Handeln ist verboten wegen der »theatralischen und freudlosen Nutzlosigkeit von allem, wenn man ein Wissender ist«, wie Vaché schreibt. Ist der Mensch einmal seiner wesentlichen Attribute beraubt, bleibt den Konsequentesten nur noch, die Schuld bei seiner Existenz zu suchen: »Es ist unzulässig«, sagt Tzara, »daß ein Mensch eine Spur hinterläßt.« Vaché bleibt seiner Logik treu und bringt sich um, indem er einen Unfall simuliert, auch Rigaut bringt sich um und Cravan verschwindet nachts im Golf von Mexiko, ohne daß von seinem Boot die geringste Spur gefunden werden kann. Nicht die gesamte Glut dieses riesigen Freudenfeuers ist erloschen. Ein bruchloser Übergang verbindet Dadaismus und Surrealismus – und eben das begünstigt Mißverständnisse. Die großen Vorgänger, auf die sich der Surrealismus stets bezieht, sind hier zu verorten: Vaché, Cravan, Rigaut, die gerade durch ihre Selbstmorde eine Art sakramentales Zeichen tragen, strahlen als Fixsterne weiterhin an seinem Firmament. Mögen Duchamp und Picabia noch so still und untätig bleiben, sie genießen bei ihm einen unerschöpflichen Kredit. Zudem sind fast alle Surrealisten durch die Dada-Schule gegangen und bewahren davon eine unauslöschliche Eigenart, eine bittere und heftige Tönung, die sich auf alle ihre Bekundungen überträgt: die Lust daran zu verletzen und zu mißfallen, die Lust am Skandal um des Skandals willen und an der Provokation um der Provokation willen, der Kult des Humors auch in seiner zerstörerischsten Form, dem schwarzen Humor, der ihnen als wirksamstes Mittel der Zertrümmerung gilt, als »unsichtbarer Strahl«, mit dem sie ihre Gegner überwinden. Etwas anderes tritt an die Stelle des Dadaismus, nämlich der Surrealismus, aber kein spektakulärer Bruch scheint sie zu trennen, weil der Surrealismus – und darin besteht zum großen Teil seine verwirrende und offensichtliche Mehrdeutigkeit – ein Gedankensystem ist, das sich mehr schlecht als recht einem schon vorhandenen Lebensstil angepaßt hat, der nur ganz grob seinen Zuschnitt hatte und ein Vermächtnis des Dadaismus war.
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Aus dem Französischen von Gernot Krämer
SINN UND FORM 4/2025, S. 438-458, hier S. 438-440