Braun, Volker
geb. 1939 in Dresden, Schriftsteller, Mitglied der Akademie der Künste, lebt in Berlin. Zuletzt erschienen »Große Fuge« (2021) und »Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben« (2024). (Stand 4/2025)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 1/1963 | Junge Lyrik der deutschen demokratischen Republik
- 4/1963 | Gedichte
- 3-4/1965 | Für Paul Dessau zum 19. Dezember 1964
- 5/1969 | Gedichte
- 1/1972 | Die Kipper
- 4/1975 | Zu Mickel, Mottek sagt
- 4/1975 | Zu Brecht, Die Wahrheit einigt
- 4/1975 | Zu Hermlin, Die einen und die anderen
- 5/1975 | Unvollendete Geschichte
- 3/1982 | Geschichten von Hinze und Kunze
- 5/1985 | Rimbaud. Ein Psalm der Aktualität
- 1/1988 | Lenins Tod
- 4/1988 | Gedichte
- 6/1989 | Bodenloser Satz
- 3/1990 | Wie es gekommen ist
- 5/1992 | Raskolnikow Trotzki Gorbatschow
- 1/1993 | Ist das unser Himmel? Ist das unsre Hölle?
- 6/1994 | Gespräch mit Rolf Jucker. Wir befinden uns soweit wohl. Wir sind erst einmal am Ende
- 2/1996 | Die vier Werkzeugmacher
- 4/1996 | Das Ende der »Unvollendeten Geschichte«
- 1/1997 | Es bleibt die Unvollendete Geschichte. Ein Nachtrag
- 1/1999 | Lagerfeld
- 5/1999 | Zu Tellers Gedächtnis
- 2/2000 | Wanderungen durch das Mark. Laudatio auf Stephanie Menzinger
- 1/2004 | Der berüchtigte Christian Sporn
- 1/2007 | Und wünschte kein Ende dem Umweg. Lobrede auf Alain Lance
- 1/2008 | Machwerk oder Das Schichtbuch des Flick von Lauchhammer
- 6/2008 | Fährmann Jastram
- 3/2009 | Flickwerk
- 3/2009 | Gedichte
- 4/2009 | Über Christa Wolf
- 2/2010 | Über Sinn und Form
- 2/2011 | Zukunftsrede
- 3/2011 | Die hellen Haufen
- 4/2013 | Wilderness
- 1/2022 | Luf-Passion
- 3/2024 | Der Moment des Möglichwerdens. Núria Quevedo
- 4/2025 | Nachruf auf Trolle
Wie wir heute abend, des Andrangs wegen, in zwei Säle sprechen, so schrieb Christa Wolf in zwei Teile Deutschlands hinein und wirkte bald in die Welt. Und sie war doch ganz bei sich, im Versuch, sich kenntlich zu machen. Sich selbst zu geben. Ich darf es sagen, ich kenne sie fünfzig Jahre, und so viele hilfreiche, herzliche, ernste Begegnungen stehn mir vor Augen, Bilder gestellt vom Lebens- und vom Weltlauf. Auf einem der ersten die junge Autorin in Hans Mayers Hörsaal, neben mir eine Studentin, der ich den Platz freihalte und die meine Frau wird. Auf dem letzten die Jubilarin bei dem Fest, das ihr die Enkel bereiten im engsten unendlichen Kreis. Was für ein freudereiches, sorgensattes Leben: anteilnehmend, sich kümmernd, wenn einer Mut braucht oder einen Mantel. Sie ist, auch wenn sie dich fragt, eine Gebende. Aber hör mal, sagt sie: und du sprichst. Ich habe mit wenig Menschen so rückhaltlos geredet und heiter geschwatzt. (...)
LeseprobeBraun, Volker
Über Christa Wolf
Wie wir heute abend, des Andrangs wegen, in zwei Säle sprechen, so schrieb Christa Wolf in zwei Teile Deutschlands hinein und wirkte bald in die Welt. Und sie war doch ganz bei sich, im Versuch, sich kenntlich zu machen. Sich selbst zu geben. Ich darf es sagen, ich kenne sie fünfzig Jahre, und so viele hilfreiche, herzliche, ernste Begegnungen stehn mir vor Augen, Bilder gestellt vom Lebens- und vom Weltlauf. Auf einem der ersten die junge Autorin in Hans Mayers Hörsaal, neben mir eine Studentin, der ich den Platz freihalte und die meine Frau wird. Auf dem letzten die Jubilarin bei dem Fest, das ihr die Enkel bereiten im engsten unendlichen Kreis. Was für ein freudereiches, sorgensattes Leben: anteilnehmend, sich kümmernd, wenn einer Mut braucht oder einen Mantel. Sie ist, auch wenn sie dich fragt, eine Gebende. Aber hör mal, sagt sie: und du sprichst. Ich habe mit wenig Menschen so rückhaltlos geredet und heiter geschwatzt. – Jetzt sehe ich ganz von selbst zu Gerhard, dem liebevollen, dem Lebenslektor; wurde je ein Werk so unnachsichtig mitgedacht und kritisch ermutigt? Einem Minister aber, dem bei dem »Nachdenken über …« (Verschiedenes) nicht wohl war, konnte er entgegnen: Was glaubst du denn, wer sie ist? um damit nur zu sagen: daß sie ja keine Wahl hat, daß eine Erschütterung sie zum Schreiben brachte. Es ist der Widerspruch der Zeit, der uns handeln macht.
Unsere Generation hat an der Abbruchkante der Geschichte gestanden – ich rede nicht von Krieg und Vertreibung, ich rede nicht vom Ende des Ostblocks, »ein Weltreich ist zusammengebrochen. So gehört nun also der Zusammenbruch von Weltreichen zu den Gegenständen, welche wir als selbsterfahrene beschreiben können« (Karl Mickel) – ich rede vom atomaren Wettrüsten, der Option auf die Selbstvernichtung. Das war die Zeit, in der Gefahr das Wort zu ergreifen. Christa Wolf sprach früh von der Schwierigkeit, »Strukturen zu finden, in denen sich heute noch reden läßt, ernüchtert bis auf den Grund, in Verhältnissen, da verzweifeln eher komisch wirke«. So steht es in den »Kindheitsmustern«; sie schrieb mir in das Exemplar: »Wie erkennt man, was man nicht lassen kann, mit tödlicher Sicherheit?«
[...]
SINN UND FORM 4/2009, S. 566-567
Nachruf auf Trolle
LeseprobeBraun, Volker
Das Mitglied unserer Akademie der Künste Lothar Trolle ist seiner schweren Erkrankung erlegen. Bis zuletzt war er tätig und gefaßt. Unerträglich, in der Vergangenheitsform von ihm zu sprechen. – Trolle, das war sein ganzer Name, war ein Autor jenseits der Gattungen und der Anpassung überhaupt. Wie die Landschaft, aus der er kam, das Mansfeld, war seine Erscheinung, ruhig, verschlossen, aber sein Wesen wach und zuinnerst aufgekratzt. Als Bühnenarbeiter und Philosophiestudent in der Hauptstadt Berlin inspirierte ihn das egalitäre Milieu, es war, als hätten die umgeworfenen Verhältnisse einer frühen, rohen Volksdemokratie in dem Mann aus der Provinz einen Realismus des Volkstheaters provoziert, der sich in Harlekinaden übt und an der russischen Avantgarde leckt. Seine Texte sind eine ganz eigene Kunstform, die so unprätentiös wie raffiniert ist. »Er konnte aus dem Gang aus dem Haus auf die Straße ein Stück machen und eine ganze Welt von Sprache blättert sich auf, ohne in Akte eingeteilt werden zu müssen. Seine Stücke sind Träume, die mit der Wirklichkeit spielen, ohne sie abzuschreiben«, sagt Annett Gröschner. Er scheute nicht das krudeste Material, den Abraum, die Schlacke, hineinmontiert womöglich klassische Verse, die den Abgrund gegen den Himmel setzen, die deutsche Geschichte gegen den idealischen Geist. So geht Hermes der gleichmütige Gott durch Marzahn.
Trolle hatte einen vollkommen irdischen Sinn. Seine Urteile waren fest und bestimmt: Das ist großartig. Das ist Dreck. Selbstlos gab er seine Entdeckungen preis, Platonows Baugrube, und seine Erwerbungen: Schalck- Golodkowskis schwerer Mantel, noch Tabak in den Taschen. Sein sachtes Kichern habe ich angenommen. Er hatte nie gehofft oder gewollt, Mitglied einer Akademie zu sein. – Trolle, wie schneidet man einen Apfelbaum? – So, daß du den Hut durchwerfen kannst. Oder deine Mütze, Freund.
SINN UND FORM 4/2025, S. 557