Astel, Arnfrid
(1933 – 2018), Lyriker, von 1967 bis zu seiner Pensionierung Leiter der Literaturabteilung des Saarländischen Rundfunks. Veröffentlichungen u. a.: »Sternbilder« (1999) und »Das Spektrum gibt dem Augenblick die Sporen« (2010). (Stand 5/2024)
Siehe auch SINN UND FORM:
- 5/2024 | Den Augenblick beim Schopf fassen. Ein Gespräch über Literatur im Radio, das Glück der Spontaneität und Freundschaften mit Schriftstellern. Gespräch mit Ralph Schock
RALPH SCHOCK: Wir führen jetzt ein kleines Gespräch und ich zücke einen Zettel, den ich, um dieses Gespräch ein wenig zu strukturieren, (...)
LeseprobeAstel, Arnfrid
Den Augenblick beim Schopf fassen.
Ein Gespräch mit Ralph Schock über Literatur im Radio, das Glück der Spontaneität und Freundschaften mit Schriftstellern
RALPH SCHOCK: Wir führen jetzt ein kleines Gespräch und ich zücke einen Zettel, den ich, um dieses Gespräch ein wenig zu strukturieren, vorbereitet habe. Das hast du nie gemacht. Ich habe einen Großteil deiner Gesprächssendungen im Studio mitgekriegt, aber du hattest nie einen Zettel dabei. Warum eigentlich nicht? Ist das Snobismus?
ARNFRID ASTEL: Nein. Ich bin kein sehr systematischer Mensch. Das habe ich ja mal in einem Buch geäußert, das Steffen Aug im Pocul-Verlag herausgegeben hat. Es heißt »Im Chaos schwimmt der aufgeräumte Kopf«. Man kann natürlich Ordnungen schaffen, und das ganze Leben, der ganze Staat und alles um uns herum besteht aus dieser Ordnung. Nur im Kopf wird nichts vernetzt. Ich habe nicht die Kraft, außerhalb meines Kopfes Ordnung zu schaffen, und daher rette ich mich in einen gewissen Hochmut, der aber auch irgendwie begründet ist. Ich habe mich natürlich mit den Autoren beschäftigt und mußte mich deshalb nicht so intensiv auf die Sendungen vorbereiten, weil ich nur Leute gesendet habe, deren Literatur ich einigermaßen kannte. Und dann vertraute ich auf die Situation: Den Augenblick beim Schopf zu fassen war für mich am wichtigsten, und nur so gelingen mir solche Sendungen. Am schwierigsten war es für mich, wenn ich mal einen Zettel hatte, vom Ablesen wieder ins Gespräch zu kommen, und umgekehrt. Daran scheitere ich, das kann ich gar nicht. Und dann gibt es ja diesen Druck, diesen Horror vacui, der im Rundfunk größer als im Fernsehen ist – im TV kann man wenigstens gucken, was die Petra Gerster anhat, und sich in ihre blauen Augen, ihre wunderbaren Twinsets und dergleichen vertiefen. Im Hörfunk geht das nicht. Und deshalb ist der Horror vacui, die Angst, daß einem nichts einfällt, besonders stimulierend. Also fällt dir etwas ein, etwas anderes kannst du dir gar nicht erlauben.
SCHOCK: Ich wußte gar nicht, daß du in der Situation Angst hast … Ich habe mehrfach miterlebt, wie der Einstieg vor sich ging: erst das Parlando, das Vorgespräch in der Kantine, dann der Gang ins Studio. Du hast den Beginn des Gesprächs inszeniert. Böse Zungen behaupten, daß du erst angefangen hast, wenn dein Gesprächspartner aufgeregt war. Meistens schafften es die Gäste, eine Zeitlang gelassen zu bleiben. Aber du hast erst angefangen, wenn du ganz ruhig geworden warst und dein Gesprächspartner irgendwie nervös, weil es nicht losging. Manchmal hast du auch gesagt, man könnte das Mikrophon in der Kantine auf den Tisch stellen, das wäre das Allerbeste. Trotzdem gibt es einen Unterschied zwischen dem Parlando in der Kantine und dem Beginn einer Gesprächssendung im Studio. Den hast du ganz bewußt gestaltet und immer wieder hinausgezögert. Deine Vorgespräche sind legendär.
ASTEL: Was du zuerst gesagt hast – daß ich gewartet hätte, bis mein Gesprächspartner verunsichert war –, halte ich für üble Nachrede, das hat keinen Fuß in der Realität.
SCHOCK: Vielleicht zwei?
ASTEL: Vielleicht zwei, natürlich, die wichtigen Sachen sind einem selbst ja nicht bewußt. Wenn das stimmen sollte, wäre es schlimm. Es geht aber nicht darum, daß du eine Sendung abliefern mußt, sondern darum, daß du dich wirklich für den Autor und seine Literatur interessierst. Und wenn man etwas wissen will, ist man nicht verlegen, danach zu fragen. Ich habe immer gefragt, was ich wissen wollte. Das ist ein einfaches Rezept. Wenn man nichts wissen will, ist es natürlich schwierig.
SCHOCK: Hast du manchmal getürkte Fragen gestellt? Hast du etwas gefragt, was du schon wußtest, um jemanden ins Sprechen zu bringen oder aus der Reserve zu locken?
ASTEL: Rhetorische Fragen kommen vor. Es war immer mein Ziel, mit den Autorinnen und Autoren freundschaftlich zu verkehren. Auch in der Zeit vor dem Rundfunk, in der ich viele Literaturkritiken schrieb, habe ich nur rezensiert, was ich gut fand. Ich habe nie einen Verriß geschrieben. Und so war es
eigentlich auch mit den Sendungen.
SCHOCK: Einspruch, euer Ehren. Mir fällt eine Formulierung ein, die ich, weil sie so unglaublich war, nie vergessen werde. Du hast ein Gespräch mit einem Autor geführt, dessen Namen ich nicht sage. Du warst erkennbar wenig begeistert von dem Text, hast einige abgegriffene Formulierungen, Bilder und so weiter aufgegriffen und dann hinterhältig gefragt: Woher, lieber Autor, nimmst du das Vertrauen, daß diese abgegriffenen Bilder bei dir poetischen Glanz entfalten?
ASTEL: Aber er hat es nicht gemerkt.
SCHOCK: Das ist ja noch hinterhältiger!
ASTEL: Er hat es nicht gemerkt – und weiß es bis heute nicht. Es besteht natürlich die Gefahr, daß man sich hinter dem Rücken des Autors mit den klügeren Zuhörern verbündet. Die Kritik wurde ja sanft geäußert, im Ton der Bewunderung: Ich beneide dich um dein Selbstvertrauen in solche Formulierungen.
SCHOCK: Ich möchte dich nach den Kriterien fragen, wie du die Autoren ausgewählt hast. Unser Kollege Peter König hat heute einen Satz über dich gesagt, den ich auch unterschreiben würde: Ruhm war ihm verdächtig.
ASTEL: Stimmt.
SCHOCK: Gleichwohl hattest du immer wieder Gesprächspartner wie Enzensberger, Rühmkorf, Walser, Sarraute, etc. Aber warum waren Autoren, die weniger bekannt sind, für dich wichtig? Warum hast du sie eingeladen? Was hat dich an ihnen mehr interessiert als an den bekannten?
ASTEL: Ich denke, es ist nicht Aufgabe eines Redakteurs, die ohnehin bekannten Leute immer wieder zu senden. Also Grass, Lenz, Böll und so weiter. Die Böll-Sendung war eine Ausnahme. Bölls Dichtung kennt niemand, die ist völlig unbekannt geblieben. Mit Hans Magnus Enzensberger ist es eine andere Sache. Er ist öffentlichkeitsscheu und negiert eigentlich den Literaturbetrieb, ist aber einer seiner bekanntesten Vertreter. Mit ihm habe ich übrigens schon früh korrespondiert für die »Lyrischen Hefte«. Ich hatte mit ihm immer schöne Gespräche. Er wußte es zu schätzen, daß ich nichts für meine eigene Karriere von ihm wollte. Das hat er mir auch mal gesagt. Ich wollte nur Sendungen mit ihm machen. Und im Gegensatz zu seiner sonstigen Scheu vor dem Literaturbetrieb hatte er diese Hemmungen mir gegenüber nicht.
SCHOCK: Die Frage war aber, warum du oft ganz am Anfang ihrer Laufbahn Autoren eingeladen hast, von denen gar nicht absehbar war, daß sie einmal bekannt würden: Nicolas Born, Hubert Fichte und so weiter.
ASTEL: Weil mich ihre Literatur interessiert hat. Ich hatte etwas von ihnen zu lesen bekommen. Oder sie sind mir vor die Füße gelaufen. Das sind Zufälle. Und wenn du, wie ich, als Student eine Zeitschrift machst, die »Lyrische Hefte« heißt, gehst du nicht zu den bekannten Leuten, wenn dich selbst keiner kennt. Also habe ich gemacht, was ich aus meiner Umgebung kannte.
SCHOCK: Wann ist eine Sendung nach deiner Einschätzung schiefgegangen? Hast du dafür Kriterien?
ASTEL: Peinlich sind Sendungen, in denen du einem Autor ins linke Nasenloch einfädeln mußt, was du ihm aus dem rechten zu ziehen gedenkst. Also mit Autoren, die nicht von sich aus reden oder eingeschüchtert sind von dem Medium. Das Reden habe ich ja nicht beim Rundfunk gelernt, ich habe schon vorher immer geredet. Nur am Anfang habe ich mich dort nicht getraut, weil beim Rundfunk noch ganz andere Sitten herrschten. Das freie Reden mit ungeschnittenen Sendungen, in denen nicht jeder Versprecher getilgt wird, war unüblich. Ich habe das mitgemacht und gemerkt, daß das Ungeschnittene eigentlich das Interessante ist. Sozusagen die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. Man weiß vorher nicht, was man sagen wird. Es sei denn, man hat einen Zettel.
SCHOCK: Was hältst du eigentlich von der Idee, daß du im Grunde ein Prediger bist, der sich Woche für Woche Autoren als austauschbare Adressaten seiner Predigten eingeladen hat?
ASTEL: Es ist mir sehr peinlich, aber das stimmt leider. Ich bin schon so eine Art Prediger ohne theologische Examina und deshalb nur nachmittags zugelassen. Ich predige gern. Ich teile auch gern mit, was ich von anderen gehört habe, und finde das nicht schlimm. Es geht ja ums Gespräch. Zu meinem siebzigsten Geburtstag hast du mit Michael Buselmeier ein Buch mit dem Titel »Seit ein Gespräch wir sind« herausgebracht. Das Motto stammt aus Hölderlins »Friedensfeier«: »Viel hat von morgen an / Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander / Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.« Das klingt vielen Leuten sicher hochtrabend, aber es ist wichtig, im Gespräch zu sein. Und wenn wir tot sind, leben wir allenfalls in der Literatur oder in den Gesängen nach uns fort. In einem Brief an Böhlendorff schreibt Hölderlin: »Schreibe doch nur bald, ich brauche Deine reinen Töne. Die Psyche unter Freunden, das Entstehen des Gedankens im Gespräch und Brief, ist Künstlern nötig. Sonst haben wir keinen für uns selbst.« Den Gedanken für uns selbst haben wir erst, wenn wir ihn im Gespräch äußern. Diese Überlegung ist natürlich eine Utopie von Freundschaft, die meistens nicht eingelöst wird, aber einlösbar ist. Man kann sich unterhalten. Wir haben uns auch in der Kantine immer wunderbar unterhalten. Und ich erinnere mich an die Zeit, in der wir, weil wir es mit der Mittagspause nicht so genau genommen haben, dort ungeheure Tischgespräche geführt haben. Die hätte man auch senden können.
SCHOCK: Ich erfahre es manchmal als bedrückend, sogar peinigend, daß man als Literaturredakteur in einer Doppelfunktion agiert. Man ist mit den Autoren mehr oder weniger bekannt, befreundet, gelegentlich auch verfeindet. Wie bist du damit umgegangen, wenn du von befreundeten Autoren Manuskripte bekamst, die du nicht überzeugend fandest? Die Leute leben ja vom Schreiben und wollen im Winter nicht frieren. Ernst-Jürgen Dreyer, der 1980 für seinen Roman »Die Spaltung« den Hermann-Hesse-Preis bekam, überwies das ganze Geld seinem Zahnarzt, bei dem er Schulden hatte.
ASTEL: Es ist für einen Redakteur, der Gelder zu vergeben hat und Entscheidungen treffen kann, natürlich schwierig, unabhängig zu bleiben. Wichtig ist herauszukriegen, worin die Freundschaft besteht. Wenn Autoren bloß deshalb mit dir befreundet sind, weil du gelegentlich Sendungen mit ihnen machst, sind sie keine echten Freunde.
SCHOCK: Sind dir bestimmte Sendungen besonders in Erinnerung geblieben?
ASTEL: Ja, viele. Eine wunderbare Sendung war zum Beispiel die mit Wolfdietrich Schnurre. Warum war das Gespräch phantastisch? Weil der Mann phantastisch ist! Ich hatte ihm gesagt: Ich würde gerne eine Sendung mit Ihnen machen. Sie lesen, was Sie wollen, und ich will es vorher nicht mal wissen. Da hat er mich in der Sendung mit einem langen Text überrascht, »Der Mann mit dem Waldläufergang«. Es kam heraus, daß es ein Nachruf auf seinen Vater war, den er aber am Grab nicht lesen konnte, weil es ihn zu sehr ergriffen hat. Wolfdietrich Schnurre war nicht nur ein interessanter Schriftsteller, sondern auch eine interessante Person. Andere verschwinden ja hinter ihren Büchern und haben auch nichts dagegen, weil sie vielleicht merken, daß sie das Niveau ihrer Literatur nicht halten können. Aber es ist natürlich wunderbar, wenn da in der Qualität praktisch kein Unterschied mehr ist.
SCHOCK: Ein anderer Autor, dessen Sendung du zum Jubiläum des Saarländischen Rundfunks wiederholt hast, war Thaddäus Troll. Warum?
ASTEL: Ich hatte ihn nicht eingeladen, hörte aber, er sei gerade im Funkhaus. Da habe ich ihn einfach gefragt: Wir haben morgen ein Studio, hätten Sie nicht Lust, eine Sendung mit mir zu machen? Sie können lesen, was Sie wollen. Er las dann einen Nachruf auf sich selbst, der ungefähr so beginnt: »Heute nachmittag um drei wurde auf dem Steigfriedhof in Stuttgart Thaddäus Troll beerdigt. An seinem Grab spielte eine Jazzband ›New Orleans Function‹ von Satchmo, von Louis Armstrong.« Und es ging so weiter, er hat seine eigene Beerdigung geschildert. Bevor die Sendung ausgestrahlt wurde, hat er sich umgebracht. Er hatte wohl eine Krebsdiagnose. Im Gespräch war er sehr heiter. Er war einer von diesen Leuten, die oft als Humoristen verkannt werden. Daß jemand ohne zu lamentieren seinen eigenen Nachruf im Radio vorliest und sich dann umbringt – ich muß schon sagen: Das ist nicht von Pappe.
SCHOCK: Zum Schluß noch diese Frage: Du hast bei Vorgesprächen mit den Autoren zum Warmwerden oft übers Wetter geredet. Aber manchmal hast du auch ironisch gefragt: Haben Sie eine Botschaft an die Menschheit? Die hatten keine, aber du hattest immer eine.
ASTEL: Natürlich! Als Prediger.
SCHOCK: Hast du heute eine Botschaft an die Menschheit?
ASTEL: Bleibt, wie ihr seid, aber nicht ganz so schlimm. Das sage ich mir selber auch.
SINN UND FORM 5/2024, S. 697-700