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Heftarchiv – Leseproben

Burmeister, Brigitte

1/1988 | Gespräch mit Alain Robbe-Grillet und Vincent von Wroblewsky

BURMEISTER/WROBLEWSKY: Alain Robbe-Grillet, Sie sind berühmt als Filmemacher, vor allem aber als Romanautor. Zweifellos gehören Sie zu denen, die die französische Literatur unseres Jahrhunderts geprägt haben. Das einzige Ihrer Bücher, das hier in der DDR veröffentlich wurde, ist »Ein Königsmord« - vielleicht das am wenigsten »Robbe-Grilletsche« von allen, in jedem Fall das erste, der Ausgangspunkt. Wie stehen Sie heute zu diesem  frühen Roman?   ROBBE-GRILLET: Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, »Ein Königsmord« sei der am wenigsten typische meiner Romane. Denn dort (...)

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Llywelyn-Williams, Alun

1/2016 | In Berlin – August 1945. Gedichte. Mit einer Nachbemerkung von Wolfgang Schamoni

1. Lehrter Bahnhof   Heledd und Inge im roten Fackelschein – Inge oder Heledd, wer ist wer? Die Jahre betrügen uns – Sieh nur, wie dort, wo eilig Fäden ineinanderlaufen, wir fernen Reisenden zusammenkommen, durch Zufall unter der Uhr. Wirklich durch Zufall? Auf diesem Bahnhof beginnt keine Reise, es endet auch keine, es sei denn, man sieht in seinen zerborstenen Bahnsteigen das Ende aller Reisen. Kauft eure armselige Fahrkarte wohin auch immer; lang, lang ist das Warten dieser Menschenmenge, groß ihre Geduld und ohne Murren, weil das blinde Geschoß, das meinen tumben (...)

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Müller-Waldeck, Gunnar

1/2008 | Woyzeck in Umea

Reisen erweitert den Horizont, ist aber teuer und daher mehr etwas für Wohlhabende. Goethe in Italien, Humboldt in Südamerika, Schliemann in Kleinasien, Griechenland, Ägypten. Die Finanzierung ihrer Unternehmungen bereitete diesen Reisenden kaum Kopfzerbrechen. Nicht jeder konnte sich das leisten. Doch auch viele Plebejer brachten es auf beachtliche Kilometerzahlen. Ihr Herumreisen in der Welt war freilich nicht Bildungsidealen und geistigen Interessen geschuldet, sondern allein ihrem Stand - sofern sie etwa Bedienstete oder Soldaten waren. Ein solch militärischer und damit eher (...)

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3/2015 | Ein expressionistischer Dichter namens Wolfgang Koeppen

Die Antwort des Bertolt Brecht – befragt nach dem Einfluß des Expressionismus auf seine frühe Dichtung – ist berühmt. Sie war verächtlich und lautete: "Gab’s damals in Augsburg nicht". (Daß es diesen Einfluß gleichwohl gab, steht auf einem anderen Blatt!) Sein acht Jahre jüngerer Bewunderer Wolfgang Koeppen hätte nicht so lakonisch über sich und seine Geburtsstadt sprechen können. Zum einen war der literarische Expressionismus für ihn die Eintrittspforte in die Literatur, zum andern gab es ihn in Greifswald durchaus. Genauer: Es hatte ihn gegeben, wenn auch nicht im Sinne einer Gruppe oder Schule. (...)

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Opitz-Wiemers, Carola, und Michael Opitz

5/2014 | »Der Bachmann glaube ich, was sie schreibt«. Gespräch mit Christine Koschel

MICHAEL OPITZ, CAROLA OPITZ-WIEMERS: Sie haben 1961, im Alter von fünfundzwanzig Jahren, mit dem Lyrikband »Den Windschädel tragen« debütiert. Wann haben Sie mit dem Schreiben begonnen? CHRISTINE KOSCHEL: Mit etwa fünfzehn, als der alte Fürst von Thurn und Taxis starb. Ich besuchte in Regensburg eine Internats-Klosterschule, und wir mußten in der Kirche an dem aufgebahrten Fürsten vorbeidefilieren. Für uns Kinder war das ein schockierendes und berührendes Erlebnis. Aus dieser Begegnung mit dem Tod ist mein erstes Gedicht entstanden. OPITZ/WIEMERS: Hat Sie jemand ermutigt, diese (...)

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Adorno, Theodor W.

5/2021 | »Sie sollten sich über diesen Ungeist wirklich einmal orientieren«. Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger 1955 – 66. Mit einer Vorbemerkung von Jan Bürger

Vorbemerkung Mitte der sechziger Jahre prägten Hans Magnus Enzensberger und Theodor W. Adorno den noch vergleichsweise kleinen Suhrkamp Verlag wie eine Doppelspitze. Beide waren auf unterschiedliche Weise Identifikationsfiguren, beide rückten mit ihrem Sensorium für politische, soziale, kulturelle und künstlerische Probleme die Wirtschaftswunder- Gesellschaft gewissermaßen zurecht: Der 1903 in Frankfurt geborene und 1934 ins Exil gegangene Adorno stellte durch seinen intellektuellen Anspruch, die Ausnahmerolle des Remigranten und nicht zuletzt durch seine Präsenz im Massenmedium Radio (...)

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2/2022 | »Ich habe die Hosen voll, wenn ›ich an Deutschland denke in der Nacht‹«. Briefwechsel mit Lotte Lenya. Mit einer Vorbemerkung von Jens Rosteck

Vorbemerkung Kurt Weills plötzlicher Tod im einundfünfzigsten Lebensjahr, ausgelöst durch einen Herzinfarkt, am 3. April 1950 warf seine Ehefrau Lotte Lenya (ursprünglich Karoline Wilhelmine Charlotte Blamauer, 1898–1981) völlig aus der Bahn. Zweieinhalb stürmische Jahrzehnte hatten sie verbunden, ein bemerkenswertes Auf und Ab in Liebesdingen, eine veritable Schaffensexplosion, eine beispiellose Premierenserie in Berlin, die glorreiche wie mythenumrankte Brecht-Ära, die schwierige Emigration, der Neuanfang in den Vereinigten Staaten und gleich zwei Hochzeiten. Weills letztes (...)

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6/2023 | »Ich kann auch den kleinsten Weg nicht anders als allein gehen«. Briefwechsel mit Elias Canetti. Mit einer Vorbemerkung von Sven Hanuschek

Ein Vulkan an Ressentiment. Vorbemerkung zum Verhältnis von Theodor W. Adorno und Elias Canetti Hilde Spiel hat in den Erinnerungen »Welche Welt ist meine Welt?« (1990) von einem Mittagessen in ihrem Garten erzählt: Unter einem Kastanienbaum bewirtete sie Theodor W. Adorno, Elias Canetti sowie Ernst und Lou Fischer, und in der Nacht spaltete ein Blitz den Baum – am nächsten Tag habe sie mit ihrem Mann gewitzelt, die geballte Eitelkeit der beiden Geisteshelden habe wohl noch in der Luft gelegen und die himmlische Entladung auf sich gezogen. Daß zwischen Canetti und Adorno jenseits (...)

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Wackwitz, Stephan

2/2019 | Die Poetisierung des Lebens. Über Karlo Katscharawa

Es ist September 2011 in Tbilissi, einer mir noch ganz unvertrauten Stadt. Alles ist neu hier und erinnert mich trotzdem an lang Bekanntes. Das Mediterrane der Landschaft. Von Macchia bewachsene Bergzüge aus bröckeligem Fels stehen ringsum kulissenhaft in der afrikanisch rücksichtslosen Mittagssonne. Das wilde Bergwüstenumland schickt tiefe Schluchten, von Sträuchern und niedrigen Bäumen angefüllt, bis ins Stadtzentrum hinein. Kleine Bäche verschwinden in den Gullys staubiger Straßen. Zypressen ragen als dunkelgrüne Säulen aus verwachsenen Gärten am Hang. Das Rot der überall (...)

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1/2021 | Minsk. Widersprüche der Utopie

Wer ehemalige Sowjetrepubliken, die jetzt ihren eigenen politischen Weg gehen, besucht oder für einige Zeit dort lebt, denkt unwillkürlich darüber nach, wie jene Städte, Landschaften, Atmosphären und Mentalitäten heute aussähen, wenn sich die kommunistische Union 1991 nicht aufgelöst hätte. Hätte das sozialistische Staatswesen, das noch vor dreißig Jahren eine globale Supermacht war, möglicherweise eine Chance gehabt, in veränderter Gestalt weiterzubestehen? Hätte es sich der Weltwirtschaft und den Einflüssen der konsumistischen Kultur vorsichtig öffnen, seinen Bürgern ein im (...)

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6/2021 | Mein Leben als Schwamm

Es war im September 1979. Ich war siebenundzwanzig und wanderte an einem dunklen Herbstabend auf der Stuttgarter Schloßstraße in Richtung Liederhalle. Erstes Herbstlaub fiel und verwehte. Gelbliches Laternenlicht warf filigran windbewegte Baumschatten von Robinien auf den grauen Bürgersteig. Eine beunruhigende Begegnung mit einem ehemaligen Internatskameraden lag hinter mir. Eine verwahrloste Wohnung in einem Hinterhof des Stuttgarter Westens, dämonisch inkohärentes Gerede, der Eindruck eines durch Drogen zerstörten Menschen. Der unvermeidliche Joint, an dem ich widerwillig partizipiert (...)

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Wagner, Richard

6/2011 | »Das ist eine untergegangene Welt.« Gespräch mit Renatus Deckert

RENATUS DECKERT: Ihre Eltern haben Sie Richard Wagner genannt. Das kann ja kaum Zufall sein. Gehe ich recht in der Annahme, daß Ihre Eltern leidenschaftliche Wagnerianer waren? RICHARD WAGNER: Mein Vater war tatsächlich Wagnerianer. Hinzu kommt, daß er in seiner Jugend ein eher ungewöhnliches Instrument spielte, nämlich Waldhorn. Das war nicht sehr verbreitet. Er war in einem Laienorchester, das Ouvertüren und dergleichen mehr spielte, und da hatte er einmal einen Einsatz mit seinem Waldhorn. Das ist ihm in Erinnerung geblieben. Seitdem hat er sich immer wieder mit Wagner (...)

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Wagner-Régeny, Rudolf

1/2010 | Erinnerungen und Notizen (1943-65)

Aus dem Archiv der Akademie der Künste   Es ist unwahrscheinlich, und nur der Erlebende vermag es zu bestätigen, daß eine restlose Zerstörung der eigenen Lebensführung eine Art der Heiterkeit zu erzeugen vermag, die jenseits aller festgefügten Vorstellungen steht. Je gewaltsamer alle äußeren wie inneren Werte aufgelöst werden, um so beharrlicher will ein starkes Weltgefühl sich bemerkbar machen. Es übernimmt die Funktionen des verstandesmäßigen Erwägens, es leitet unsere Schritte in nachtwandlerischer Sicherheit.   Ein kleines unfreundliches Zimmer des Gasthauses »Zum (...)

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Wajsbrot, Cécile

6/2009 | Wieder eine Nacht

Wieder eine Nacht, in der ich nicht schlafe. Ich hatte auf Schlaf gehofft; als ich ins Bett ging, konnte ich die Müdigkeit schon fast mit Händen greifen, die neblige Schwere wurde dumpfer und dumpfer bis zum unbestimmbaren Moment des Einschlafens. Da erwache ich. Lasse die Augen zu. Hoffentlich ist es wenigstens vier oder fünf; sechs wage ich nicht zu denken, es ist dunkel, um mich die Stille des Schlafs, und neben mir verrät der regelmäßige Atem meines Gefährten, daß er schläft, wie sicher auch alle Nachbarn oben, unten und nebenan. Ich öffne die Augen – man muß der Wirklichkeit (...)

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2/2012 | Die Zeremonie

1

Die leere Straße setzt das Schweigen der Wege fort, Sonntag ist der schlimmste aller Tage und dieser Sonntag ist der schlimmste aller Sonntage, aus der Autobahn Chartres–Orléans wurde die Autobahn Nantes–Bordeaux, mehr hat sich nicht verändert, wie die Kilometer ziehen die Jahre vorüber, eines nach dem anderen, stumpfsinnig, der Frühling, wechselhaft, ohne Schatten, reicht in den Sommer hinein, bleibt im Winter stecken, man verläßt die Autobahn, und die Straße zieht sich schnurgerade, schneidet die monotone Landschaft entzwei, die flach und gnadenlos horizontal (...)

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1/2013 | Über Katastrophen schreiben

»Du bittest mich, Dir das Ende meines Onkels zu schildern, damit Du es desto wahrheitsgetreuer der Nachwelt überliefern kannst. Ich danke Dir; denn ich sehe, daß seinem Tod, wenn er von Dir beschrieben wird, unsterblicher Nachruhm bestimmt ist. Denn obwohl er bei der Verheerung der schönsten Landstriche, wie die Bevölkerung, wie ganze Städte, den Tod fand und wie sie durch diese denkwürdige Katastrophe gleichsam ewig leben wird und obwohl er selbst viele bleibende Werke verfaßt hat, wird die Unvergänglichkeit Deiner Schriften doch viel zu seinem Fortleben beitragen.« So beginnt der (...)

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2/2014 | »Osnabrück ist das verlorene Paradies, nur nicht für mich.« Gespräch mit Hélène Cixous

Vorbemerkung   Ich hatte in den siebziger Jahren einiges von Hélène Cixous gelesen, vor allem »Angst«, aber auch ihre Essays, ich wußte von ihrer Rolle bei der Gründung der alternativen Universität Vincennes (jetzt Saint-Denis), an der man auch ohne Abitur studieren konnte, ich wußte von der Strahlkraft ihrer Seminare und auch von ihrer Freundschaft mit Derrida, die sich in mehreren Büchern niederschlug. Dennoch lernte ich Hélène erst viel später, 2006, durch den gemeinsamen Freund Frédéric-Yves Jeannet kennen. Inzwischen hatte ich mit dem 1999 erschienenen Buch (...)

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4/2016 | Der Tag danach

Es sind die leeren, verlassenen Straßen, die der Schwere des Anschlags eine physische Dimension verleihen. Ein Samstag nachmittag, niemand ist draußen, und in dem Touristenviertel, durch das sich sonst Gruppen aus Europa und Asien schieben, herrscht diesmal Stille. Keine megaphonverstärkten Fremdenführerkommentare, kein Rumoren unter den Fenstern, nichts – nicht einmal der gewohnte Geräuschhintergrund des Verkehrs. Im Radio vervielfacht sich der Chor der Stimmen. Zeugnisse aller Art – von Leuten, die im Bataclan waren und entkommen konnten, von solchen, die Hilfe geleistet haben, auf (...)

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1/2024 | Verlorene Generation oder Die Macht der Namen

1 Ich möchte von einer unbekannten Generation zu Ihnen sprechen, von einer unsichtbaren, die in der Forschung die zweite Generation genannt wird oder auch Generation einundeinhalb, je nach Zählweise – daran erkennt man schon das Ungewisse, den Nebelschleier, der sie umgibt. Ich möchte hier von Jahrgängen sprechen, die dem Ende der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zu nahe und von deren Historisierung zu weit entfernt waren. Von einer Generation, die weder Zeugin der Zerstörungen noch nostalgische Archäologin des Lebens davor war – des Lebens in den polnischen Schtetls oder den (...)

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Walenski, Tanja

6/2023 | »Man kann den Abgrund nicht beschreiben, solange man sich darin befindet«. Ein Gespräch mit Natascha Wodin über die Angst, das Unsagbare und Wörter als vorletzte Wahrheit

TANJA WALENSKI: Ihr Leben erscheint wie das Aschenputtel-Märchen. Im September 2022 haben Sie mit dem Joseph-Breitbach-Preis einen der höchstdotierten Literaturpreise der Bundesrepublik verliehen bekommen. Noch immer erreichen Sie Einladungen zu Lesungen in der ganzen Welt. Aber nicht im Licht hat Ihr Leben begonnen, sondern als Kind von Zwangsarbeitern in Dreck und Armut. Sie waren immer Außenseiterin – als Mädchen, als Bürgerin, als Schriftstellerin. Ist da ein Wunder geschehen? Oder liegt Ihrem heutigen Erfolg ein hart erarbeitetes Lebenswerk im Schreiben zugrunde? NATASCHA (...)

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Wegmann, Christoph

1/2018 | Der Kanzler und die Sängerin. Aus Theodor Fontanes »Musée imaginaire«

Theodor Fontane besaß nicht besonders viele Bilder, sein Kopf aber war voll davon. Voller Fresken, Graffiti, Denkmäler, Zeitungsillustrationen, Spielkarten, Ofenkacheln mit biblischen Szenen und vielem mehr. 1819 geboren, wurde er Zeuge jenes Umbruchs, in dessen Verlauf Bilder die Schrift verdrängten und die Herrschaft über Wahrnehmen und Denken übernahmen. Als Fontane sieben Jahre alt war, brachte der Vierfarbendruck die Lithographie in Schwung, und der Neuruppiner Bilderbogen, durch den der Knabe Theodor so vieles erfuhr, erstrahlte in farbigem Glanz. Als er zehn war, taten sich (...)

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Weichelt, Matthias

2/2009 | Gespräch mit Hans Keilson

MATTHIAS WEICHELT: Herr Keilson, Sie wurden 1909 in Bad Freienwalde bei Berlin geboren und emigrierten in den dreißiger Jahren nach Holland. Sie haben die längste Zeit Ihres Lebens in Holland gelebt und gearbeitet, halten aber immer noch an der deutschen Sprache fest, schreiben auf deutsch. Das ist etwas Besonderes.
HANS KEILSON: Das ist es bestimmt. Meine Frau würde sagen, es ist schon sehr seltsam. Ich bin holländischer Arzt, holländischer Nervenarzt, Psychoanalytiker. Aber es gibt eine Verbindung, eine Beziehung, für die ich nur das Wort Treue finde.  
WEICHELT: Dabei (...)

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2/2011 | Souveränität ist, nichts für Zufall zu halten. Gespräch mit Dieter Janz und Sebastian Kleinschmidt

SEBASTIAN KLEINSCHMIDT: Sie sind Arzt, Neurologe, Ihre Spezialität ist die Epileptologie. Generell aber verstehen Sie sich als Gewährsmann der anthropologischen Medizin. Was haben wir uns darunter vorzustellen? DIETER JANZ: Es ist nicht ganz einfach zu sagen, was medizinische Anthropologie bzw. anthropologische Medizin ist, aber versuchen wir es. Die drei Stücke, die Viktor von Weizsäcker 1927 für die »Kreatur« verfaßt hat, nämlich »Der Arzt und der Kranke«, »Die Schmerzen« und »Krankengeschichte«, nannte er Stücke einer medizinischen Anthropologie. Und dort sagt er, (...)

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4/2013 | Für den, den's angeht. Zu Peter Handkes Steh- und Gehbüchern

Man kann sich unschwer freundlichere Einladungen zur Lektüre vorstellen: »(Für den, den’s angeht)« steht über Peter Handkes erstem, die Jahre 1975 bis 1977 umfassenden Journal »Das Gewicht der Welt«. Und dieses Motto, heißt es 1998 in »Am Felsfenster morgens«, gelte auch für alle darauffolgenden Aufzeichnungsbücher. Wer eines davon aufschlägt, weiß also nicht, ob sich die spröde Widmung auch auf ihn bezieht, ob das Angebot, das hier gemacht wird, auch eins für ihn ist. Herausfinden kann man es nur, indem man es annimmt. Daß sogenannte »Geschäfte für den, den es angeht« (...)

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1/2016 | Gottfried Benn, Friedrich Wilhelm Oelze. »Alles, was ich zu wünschen vermag, gilt Ihnen«. Aus dem Briefwechsel 1945. Mit einer Vorbemerkung von Matthias Weichelt

Widerhall ohne Widerspruch. Eine Vorbemerkung Nach der Feier seines fünfundsechzigsten Geburtstags, zu der sein Verlag im Mai 1951 nach Wiesbaden eingeladen hatte, schrieb Gottfried Benn seinem Brieffreund Friedrich Wilhelm Oelze: »Der Eindruck, den Sie gemacht haben, war allgemein groß. Wollen Sie wissen, was meine Tochter, deren Gedanken sich viel mit Ihnen beschäftigen, unter Anderem sagte? ›Eine unheimliche Erscheinung! Man muß damit rechnen (!), daß er nachts ein schwarzes Trikot anzieht u. auf Einbruch geht‹. Nun? Wenn das kein Effekt ist!« Wenn der Bremer Großkaufmann (...)

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3/2016 | Die Ergänzung der eigenen Erfahrungen. Ein Gespräch über Schriftsteller und Editionen mit Inge Jens und Matthias Bormuth

MATTHIAS WEICHELT: Frau Jens, Sie haben sich vor allem als Herausgeberin einen Namen gemacht, seit Sie in den frühen sechziger Jahren die Briefe Thomas Manns an den Philologen Ernst Bertram veröffentlichten. In den nächsten Jahrzehnten folgten dann weitere Editionen, die Werke des Literaturhistorikers und Schriftstellers Max Kommerell, die Briefe und Aufzeichnungen der Geschwister Scholl und ihres Freundes Willi Graf, die Tagebücher des Komponisten Ralph Benatzky und immer wieder die Familie Mann. Wie kamen Sie – ohne von einer Institution getragen zu sein – zu diesen ganz (...)

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2/2020 | Lob des Verzettelns. Gespräch mit Klaus Reichert und Thomas Sparr

MATTHIAS WEICHELT: In einem Gespräch über Ihr »Wolken«-Buch haben Sie gesagt: »Bei mir hat das so ungefähr mit sieben Jahren angefangen, bis dahin hatte ich am Himmel eben immer nur Flugzeuge gesehen und auf einmal, nach der Zerstörung unserer Städte, lag ich auf der Wiese und sah zum ersten Mal echte Wolken am Himmel. Ich habe damals angefangen Wolken zu beschreiben, das war so schön, ich mußte es aufschreiben. Seitdem versuche ich Wolken zu beschreiben und merke, es geht nicht, es ist zu schwer.« Was mich an diesem Zitat interessiert, ist die mit Kriegsende plötzlich (...)

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1/2023 | »Die Geheimnisse der Prosa sind von stillerer Art.« Gespräch mit Elisa Primavera-Lévy und Wolfgang Kohlhaase

MATTHIAS WEICHELT: Herr Kohlhaase, Sie haben eine Wohnung in Ihrer Geburtsstadt Berlin, wohnen mit Ihrer Frau Emöke Pöstenyi aber seit den sechziger Jahren auch in diesem Haus in Neu Reichenwalde, fernab der Literatur und Filmkreise. Damals waren Sie als Drehbuchautor in der DDR schon sehr bekannt. Wie hat man Sie hier auf dem Land als Zugezogenen, als Städter aufgenommen? WOLFGANG KOHLHAASE: Ziemlich am Anfang war ich noch viel in Berlin, einmal bin ich mit dem Rad hier rausgekommen und habe das dann stehenlassen. Ich wollte ausprobieren, wie lange es steht. Eine Art Check auf die (...)

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Welle, Florian

3/2011 | Nachrichten aus der Nachkriegsprovinz. Günter Eich, Jürgen Eggebrecht, Horst Lange

Jürgen Eggebrecht und Günter Eich kannten sich und kannten sich doch nicht: 1927, in der von Klaus Mann und Willi R. Fehse verantworteten »Anthologie jüngster Lyrik« präsentierten sich beide zum ersten Mal der literarischen Öffentlichkeit, Günter Eich noch unter dem Pseudonym Erich Günter. In seinem Nachwort schreibt Klaus Mann, daß die Autoren eine Generation seien, »und sei es, daß uns nur unsere Verwirrtheit vereine«. Der Zusatz ist notwendig, denn ein Autor wie Jürgen Eggebrecht gehört genau besehen nicht zur sogenannten verlorenen Generation wie das Gros der Versammelten, (...)

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Wenders, Wim

6/2009 | Was Menschen mit ihren Bewegungen sagen. Die Kunst der Pina Bausch

Festrede zum Frankfurter Goethepreis 2008

In unserer Gesellschaft ist nicht alles Gold, was glänzt. Wir haben es immer häufiger mit falscher Münze zu tun. Wenn etwas besonders glänzt, ist es häufig auch besonders unecht, künstlich, »fake«. »Fool’s gold« heißt der schöne englische Ausdruck für das falsche Gold, auf das man hereinfällt.
Das tritt nirgendwo so deutlich zutage wie in unserer Unterhaltungsindustrie, wenn dort »Gefühle« beschrieben, evoziert, ja, letzten Endes »produziert« werden. Die theatralischen Gesten eines Opernsängers, die einstudierte (...)

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Wiedemann, Barbara

6/2022 | »Wir sind halt ein berühmtes Paar gewesen, leider«. Der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch

»2011 wurde bekannt«, so ist noch im Sommer 2022 im Wikipedia-Eintrag zu Ingeborg Bachmann zu lesen, »daß sich im Max-Frisch-Archiv in Zürich rund 250 zumeist handschriftliche Briefe Bachmanns an Frisch befinden, ebenso Kopien seiner Briefe an sie. Frisch hatte das Material für 20 Jahre nach seinem Tod gesperrt; nun we rden die Bachmann-Erben mit den Frisch-Erben darüber zu beraten haben, ob bzw. wann und wie diese Korrespondenz veröffentlicht werden soll.« So steht das, wohlgemerkt, nicht im Wikipedia-Eintrag zu Frisch, sondern in dem zu Bachmann, und zwar nach der Zusammenfassung (...)

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Winkels, Hubert

2/2024 | Der Ziegen-Zyklus

Ich hatte es vergessen, es war verschwunden in den Falten des Gedächtnisses. Und wie so oft, wenn Abgelehntes, Abgelegtes sich zurück ins Bewußtsein drängt, hat man ein spontanes Gefühl für den ursprünglichen Grund der Verdrängung oder den nachträglichen, wie in diesem Fall. Bei einer Reise durch Jordanien konnte ich wie einst Moses vom Berg Nebo aus nicht nur das Heilige Land sehen, sondern auch Jerusalem, die Heilige Stadt, und weiter nördlich bis Jericho, den Ort selbst nicht richtig. Die biblische, heute palästinensische Stadt auf der Westbank liegt tief im Jordantal und ist (...)

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Wiseman, Boris

2/2009 | Die westliche Kontamination. Gespräch mit Claude Lévi-Strauss

BORIS WISEMAN: Sie gelten heute als Klassiker, und nicht selten reiht man Sie unter die größten Denker unserer Zeit ein. Was bedeutet Ihnen das?
CLAUDE LÉVI-STRAUSS: Es rührt mich, aber zugleich bringt es mich in Verlegenheit und ärgert mich.
WISEMAN: Warum?
LÉVI-STRAUSS: Weil ich glaube, daß es nicht wahr ist. Neben meinen großen Vorgängern empfinde ich mich als klein.
WISEMAN: Mir scheint, Sie haben niemals wirklich versucht eine Schule zu bilden oder, in der Art von Sartre, die Rolle eines »intellektuellen« Führers zu spielen. War das eine (...)

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Wodin, Natascha

6/2011 | Das Ausland des Alters

Zuerst hatte sie geglaubt, die Schwäche, mit der sie eines Morgens aufgewacht war, sei eine der ganz gewöhnlichen kleinen Unpäßlichkeiten, die kamen und genauso schnell wieder gingen, spätestens nach der nächsten Nacht mit erholsamem Schlaf. Doch am nächsten Tag, Lea hatte acht Stunden lang tief und entspannt geschlafen, war die unerklärliche Schwäche immer noch da. Am Tag darauf und eine Woche später immer noch. Alles fiel Lea auf einmal schwerer als bisher, das Aufstehen von ihrem Bett, das Ankleiden, sogar das Zähneputzen. Fast alles, was bisher völlig unmerklich vor sich (...)

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6/2023 | »Man kann den Abgrund nicht beschreiben, solange man sich darin befindet«. Ein Gespräch mit Tanja Walenski über die Angst, das Unsagbare und Wörter als vorletzte Wahrheit

TANJA WALENSKI: Ihr Leben erscheint wie das Aschenputtel-Märchen. Im September 2022 haben Sie mit dem Joseph-Breitbach-Preis einen der höchstdotierten Literaturpreise der Bundesrepublik verliehen bekommen. Noch immer erreichen Sie Einladungen zu Lesungen in der ganzen Welt. Aber nicht im Licht hat Ihr Leben begonnen, sondern als Kind von Zwangsarbeitern in Dreck und Armut. Sie waren immer Außenseiterin – als Mädchen, als Bürgerin, als Schriftstellerin. Ist da ein Wunder geschehen? Oder liegt Ihrem heutigen Erfolg ein hart erarbeitetes Lebenswerk im Schreiben zugrunde? NATASCHA WODIN: (...)

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Wolf, Christa

2/2011 | Begegnungen mit Uwe Johnson

Ich stelle mir vor, Uwe Johnson, der Mann, an den wir heute hier erinnern wollen, wäre unter uns. Er säße zum Beispiel, wie es ihm zukäme, in der ersten Reihe unserer Versammlung und wunderte sich, daß jemand und wer in seinem Namen einen Preis bekommen soll. Das wäre doch möglich. Das wäre doch normal, er war ja vier Jahre jünger als ich, er könnte doch leben. Es müssen besondere Begleitumstände gewesen sein, die ihn mit fünfzig Jahren sterben ließen. Ich versuche, vorsichtig, einige dieser Umstände anzudeuten, indem ich schildere, wie ich ihn erlebt habe. Soll ich sein Leben (...)

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6/2020 | »Die vielen ungelebten Leben«. Briefwechsel mit Hans Stoffels 1971–74. Mit einer Vorbemerkung von Hans Stoffels

Vorbemerkung
Im Wintersemester 1967 / 68 begann ich mein Medizinstudium an der Universität Heidelberg. Bald beneidete ich die Studenten der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer, weil diese offensichtlich lernten, ein »kritisches Bewußtsein« zu entwickeln und Mensch und Welt neu zu entdecken. Im buchstäblichen Sinne gingen sie auf die Barrikaden und intonierten bei ihren Protestzügen mit Ironie und Selbstbewußtsein den Spruch: »Wir sind eine radikale Minderheit«.
Mir schien, das Studium der Medizin bot keine Anknüpfungspunkte für die jugendliche Sehnsucht (...)

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Wolfe, Thomas

4/2020 | Eine Reise durch den Westen. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow

Zeitlose Zeit. Eine Vorbemerkung Die Legende vom »hungrigen Gulliver« ist schon oft erzählt worden. Daß Thomas Wolfe (1900–1938) sein Erwachsenwerden in zwei wortgewaltigen Großerzählungen ausgebreitet hat, die sein Entdecker Maxwell E. Perkins vom Verlag Charles Scribner’s Sons erst auf ein zumutbares Format eindampfen mußte, hat sich herumgesprochen; auch den schwelenden Streit um die Authentizität zweier postum erschienener Werke Wolfes, in denen er seine »Geschichte vom begrabenen Leben« mit anderem Personal und in weniger Worten nochmals aufrollt, kann man getrost der (...)

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Woolf, Virginia

1/2014 | Im Flug über London

Fünfzig oder sechzig Aeroplane waren in der Flugzeughalle versammelt wie ein Schwarm Grashüpfer. Der Grashüpfer hat die gleichen riesigen Schenkel, denselben kleinen bootsförmigen Körper, der zwischen seinen Schenkeln ruht, und wenn er mit einem Grashalm berührt wird, hüpft auch er hoch in die Luft. Die Mechaniker schoben das Aeroplan hinaus auf die Grasnarbe; Flieger-Leutnant Hopgood, auf dessen Einladung wir gekommen waren, um unseren ersten Flug zu unternehmen, beugte sich herunter und ließ den Motor aufheulen. Tausend Federhalter haben die Empfindung beim Verlassen der Erde (...)

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Wyleżyńska, Aurelia

5/2019 | »Über nichts schreiben, als was die Augen sehen«. Tagebuch aus dem besetzten Warschau (1939). Mit einer Vorbemerkung von Bernhard Hartmann

Vorbemerkung Als am 1. September 1939 deutsche Truppen Polen überfielen, hatte Aurelia Wyleżyńska sich als Verfasserin mehrerer Romane, eines Parisführers und zahlreicher Beiträge für Tageszeitungen und Zeitschriften schon einen Namen gemacht. Gleichwohl waren es von allen Werken ihre Aufzeichnungen aus den Jahren 1939 –1944, von denen sie hoffte, daß sie für die Nachwelt erhalten blieben. Am 3. April 1944 notierte sie: »Das ist mein Testament … (…) Von Horaz bis Puschkin wollte jeder Schriftsteller sich ein Denkmal setzen. (…) Mein Wunsch ist es, dieses Tagebuch zu (...)

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