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Heftarchiv – Leseproben

Täubert, Klaus

3/2010 | Zwillingsbrüder. Herbert Schlüter und Klaus Mann

Die Briefpartner lernten sich im März 1926 kennen: Klaus Mann war der Einladung zu einer Matinee seines Theaterstücks »Anja und Esther« im Berliner Lessing-Theater gefolgt und traf dort den gleichaltrigen Herbert Schlüter, der ihm, dem Autor und Darsteller eigener Befindlichkeiten – Herbert Ihering nannte sein Stück einen »szenischen Marlittroman der Homosexualität« –, bereits mit »Gedichten von den ersten Menschen« aufgefallen war. Der kurzen Begegnung nach der Aufführung, einem Sich-"Erkennen«, folgte die Einladung zu einem privaten Treffen. An einem Märznachmittag bald (...)

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Tawada, Yoko

3/2023 | Der Zylinderpilz. Fünfzehn Fragmente zu einem Spaziergang

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Die Zeit verwandelte ein Gebäude in ein organisches Wesen. Die Zeit, die als Regen, Wind und Sonne spürbar wird, verändert die Oberfläche jedes Bauwerks. Eine Außenwand aus Beton gewinnt langsam den Charakter von altem Ziegelstein, aus der Nähe betrachtet sieht sie aus wie verstaubtes Leder oder die Haut eines Nashorns; aus den Rissen im Beton wachsen zarte strohige Pflanzen; die mit Moos bedeckten schattigen Flecken treffen genau den graugrünen Ton der Stadtnatur. Das Gebäude bekommt dadurch den Anschein, ein Teil der Gegenwart zu sein, die auf natürliche Weise gewachsen ist. (...)

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Adorno, Theodor W.

5/2021 | »Sie sollten sich über diesen Ungeist wirklich einmal orientieren«. Briefwechsel mit Hans Magnus Enzensberger 1955 – 66. Mit einer Vorbemerkung von Jan Bürger

Vorbemerkung Mitte der sechziger Jahre prägten Hans Magnus Enzensberger und Theodor W. Adorno den noch vergleichsweise kleinen Suhrkamp Verlag wie eine Doppelspitze. Beide waren auf unterschiedliche Weise Identifikationsfiguren, beide rückten mit ihrem Sensorium für politische, soziale, kulturelle und künstlerische Probleme die Wirtschaftswunder- Gesellschaft gewissermaßen zurecht: Der 1903 in Frankfurt geborene und 1934 ins Exil gegangene Adorno stellte durch seinen intellektuellen Anspruch, die Ausnahmerolle des Remigranten und nicht zuletzt durch seine Präsenz im Massenmedium Radio (...)

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2/2022 | »Ich habe die Hosen voll, wenn ›ich an Deutschland denke in der Nacht‹«. Briefwechsel mit Lotte Lenya. Mit einer Vorbemerkung von Jens Rosteck

Vorbemerkung Kurt Weills plötzlicher Tod im einundfünfzigsten Lebensjahr, ausgelöst durch einen Herzinfarkt, am 3. April 1950 warf seine Ehefrau Lotte Lenya (ursprünglich Karoline Wilhelmine Charlotte Blamauer, 1898–1981) völlig aus der Bahn. Zweieinhalb stürmische Jahrzehnte hatten sie verbunden, ein bemerkenswertes Auf und Ab in Liebesdingen, eine veritable Schaffensexplosion, eine beispiellose Premierenserie in Berlin, die glorreiche wie mythenumrankte Brecht-Ära, die schwierige Emigration, der Neuanfang in den Vereinigten Staaten und gleich zwei Hochzeiten. Weills letztes (...)

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6/2023 | »Ich kann auch den kleinsten Weg nicht anders als allein gehen«. Briefwechsel mit Elias Canetti. Mit einer Vorbemerkung von Sven Hanuschek

Ein Vulkan an Ressentiment. Vorbemerkung zum Verhältnis von Theodor W. Adorno und Elias Canetti Hilde Spiel hat in den Erinnerungen »Welche Welt ist meine Welt?« (1990) von einem Mittagessen in ihrem Garten erzählt: Unter einem Kastanienbaum bewirtete sie Theodor W. Adorno, Elias Canetti sowie Ernst und Lou Fischer, und in der Nacht spaltete ein Blitz den Baum – am nächsten Tag habe sie mit ihrem Mann gewitzelt, die geballte Eitelkeit der beiden Geisteshelden habe wohl noch in der Luft gelegen und die himmlische Entladung auf sich gezogen. Daß zwischen Canetti und Adorno jenseits (...)

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Thun-Hohenstein, Franziska

4/2008 | Gespräch mit Daniil Granin und Friedrich Schorlemmer

(…) DANIIL GRANIN: Am 17. Juni 1941 befand ich mich mit den Resten meines Regiments auf dem Rückzug. Bei Leningrad wurden wir von den Deutschen bombardiert. Alle liefen durcheinander, auseinander und davon. Ich auch; ich rannte nach Hause und habe meiner Schwester gesagt, gleich kommen die Deutschen, bleib am Fenster, und wenn sie kommen, weck mich. Ich war todmüde und überzeugt, daß die Deutschen bald in die Stadt kämen. Aber sie kamen nicht. Das ist mir bis heute ein Rätsel. Wir hatten wirklich keine Verteidigung, die Stadt war absolut offen. Als ich zu schreiben (...)

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Tielke, Martin

4/2012 | Habent sua fata libelli et balli. Über das falsche Zitat und die treffende Widmung

Kugeln und Bücher haben ihr Schicksal – dazu gehört, daß sie zur rechten Zeit treffen und eintreffen. Ernst Jünger   Der frühe Ruhm des Schriftstellers Ernst Jünger beruht bekanntlich auf den Taten des hochdekorierten Stoßtruppführers im Ersten Weltkrieg, die er in seinem Buch »In Stahlgewittern« beschrieb. Im Verlauf dieses Krieges wurde Jünger vierzehn Mal verwundet und trug, wie er später resümierte, mit Ein- und Ausschüssen zwanzig Narben an seinem Körper davon. Einen der Treffer erhielt er während der Somme-Schlacht. In den »Stahlgewittern« schildert er, wie er (...)

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Tokarczuk, Olga

4/2017 | »Ich gehöre zu den modernen Nomaden.« Ein Gespräch mit Bernhard Hartmann über Literatur als Welterfahrung

BERNHARD HARTMANN: Vor siebenundzwanzig Jahren, am 12. November 1989, fand im niederschlesischen Kreisau die deutsch-polnische Versöhnungsmesse statt, bei der es zur berühmt gewordenen Umarmung zwischen dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem Ministerpräsidenten der ersten frei gewählten polnischen Regierung, Tadeusz Mazowiecki, kam. Ein wichtiger Moment für die deutsch-polnischen Beziehungen, der zugleich für die Hoffnung und die Euphorie steht, die in der Zeit nach dem Mauerfall aufkamen. Man träumte – zumindest im Westen – vom »Ende der Geschichte« und hoffte, die (...)

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Tophoven, Erika

3/2012 | »The Dom in Naumburg was stupendous«. Beckett 1937 in Mitteldeutschland

In meinen Kindertagen drang der Name Halle immer wieder an mein Ohr. Es war die Studienstadt meines Vaters und später meiner beiden älteren Schwestern. Ich selbst erinnere mich nur an den Bahnhof, wo ich als Zwölfjährige im Sommer 1943 einen Zug aus Hamburg vorbeifahren sah, vollgestopft mit Menschen, die dem Inferno des Großangriffs auf die Hansestadt entkommen waren. Ich hätte mit Samuel Beckett im Verlauf unserer zahlreichen Zusammenkünfte in Paris zwischen 1957 und 1987 darüber sprechen können, aber von seinem Aufenthalt in Halle oder in den zwanzig anderen Städten, die er (...)

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Tournier, Michel

2/2010 | Kleines Porträt von fünf Lehrern

Claude Lévi-Strauss Es war 1950. Das befreite Frankreich suchte seine zweite Luft. Von der Höhe seiner Panoramawohnung herrschte noch immer Paul Rivet über »sein« Musée de l’Homme, mit einer Eifersucht, die nur von zwei reizenden weißhaarigen Fräulein einen Stock tiefer, seinen Schwestern, gemäßigt wurde. Um sie scharten sich Gruppen von Forschern, die aus zwanzig Disziplinen kamen, aber vereint durch das Losungswort Reise, den seltsamen und verlockenden Begriff Ethnologie mit Sinn zu erfüllen suchten. Darunter waren ein paar weltfremde, ironische, rätselhafte Menschen, die (...)

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Troller, Georg Stefan

1/2019 | Die Hoffnung der hoffnungslosen Fälle. Ein Gespräch mit Marion Neumann über Heimat, Emigration und Verwandlung

MARION NEUMANN: In Ihrer Autobiographie »Selbstbeschreibung« von 2009 erzählen Sie vor allem von den Jahren 1938–45, auch vom Nachkrieg und von Ihrer Rückkehr nach Paris. Wie haben die Jahre des Exils Sie geprägt? Und hat sich diese Zeit auch auf Ihren Stil ausgewirkt? GEORG STEFAN TROLLER: Das ist nicht einfach zu beantworten. Jahrelang habe ich unter Zukunfts- und Lebensangst gelitten, auch unter der Minderwertigkeit, die mir so viele Jahre lang eingetrichtert wurde, und der eigenen Bedeutungslosigkeit: Es kommt nicht auf dich an. Ob du lebst oder stirbst ist der Welt vollkommen (...)

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Trott zu Solz, Adam von

1/2024 | Ein böser Traum. Mit einer Nachbemerkung von Benigna von Krusenstjern

(…) Nachbemerkung Adam von Trott zu Solz, der Autor dieses bisher unveröffentlichten Textes, ist, wenn überhaupt, als Widerstandskämpfer gegen das nationalsozialistische Regime bekannt. Ab 1939 engagierte er sich beharrlich und unter ständiger Lebensgefahr für dessen Sturz und wurde wenige Wochen nach dem gescheiterten Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 im Alter von fünfunddreißig Jahren hingerichtet. Von Anfang an war Trott keinerlei Kompromisse mit dem neuen Regime eingegangen und hatte dafür persönliche Nachteile in Kauf genommen. Ein ideologisch-politischer Schulungsleiter in (...)

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Tulli, Magdalena

6/2018 | Wie Blätter im Teeglas

Ihre Krankheit war wie das Ende eines Imperiums. Die Armee zog sich zurück und verließ die in Zeiten vergangener Herrlichkeit besetzten Brückenköpfe, die Statuen bröselten, die Säulengänge wurden von Unkraut überwuchert. Die Beamten des Kaiserreichs dachten nicht mehr an die Macht, sondern nur noch ans Überleben, an das Irdische, das heißt an das, was dem Körper am nächsten war, und durch die verlassenen Grenzposten drangen Fremde – Viren, Bakterien – und übernahmen die Herrschaft. Gegen Ende gab ich ihr jeden Vormittag eine Spritze. »Und wer bezahlt Sie?« fragte sie (...)

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