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Heftarchiv – Leseproben

Lévi-Strauss, Claude

2/2009 | Die westliche Kontamination. Gespräch mit Boris Wiseman

BORIS WISEMAN: Sie gelten heute als Klassiker, und nicht selten reiht man Sie unter die größten Denker unserer Zeit ein. Was bedeutet Ihnen das?
CLAUDE LÉVI-STRAUSS: Es rührt mich, aber zugleich bringt es mich in Verlegenheit und ärgert mich.
WISEMAN: Warum?
LÉVI-STRAUSS: Weil ich glaube, daß es nicht wahr ist. Neben meinen großen Vorgängern empfinde ich mich als klein.
WISEMAN: Mir scheint, Sie haben niemals wirklich versucht eine Schule zu bilden oder, in der Art von Sartre, die Rolle eines »intellektuellen« Führers zu spielen. War das eine bewußte (...)

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Sagnol, Marc

1/2020 | Galizische Erkundungen. Sambor, Stryj, Bolechów

SAMBOR Am Fuße der Karpaten, an der Straße, die hinauf zu den Almen der Polonina führt, liegt die Stadt Sambor anmutig über dem Dnjestr, der hier noch ein schmales Flüßchen ist, bevor er breiter wird und sich in Mäandern durch die galizische Ebene schlängelt, um größere Städte wie Mogiljow Podolski und Jampol mit Wasser zu versorgen, und schließlich als mächtiger Strom bei der Festungsstadt Belgorod Dnestrowski ins Schwarze Meer mündet. Doch in Sambor deutet kaum etwas darauf hin, daß dieser schäumende Wasserlauf irgendwann solche Dimensionen annimmt, in seinem Verlauf von (...)

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Saltzwedel, Johannes

5/2016 | Eine Finalgestalt des Zerfalls. Rudolf Borchardts Erzählfragment »Paulkes letzter Tag«

Rudolf Borchardt ein Satiriker? Mögen Kenner dem gelehrten Sprachkünstler, der zwischen Bannrede und Minnelied, kulturhistorischem Weltentwurf und virtuoser Gelegenheitslyrik mühelos die Register wechselte, auch beinahe alles zutrauen: Schwungvolle Gesellschaftskritik scheint in seinem Œuvre zu fehlen. Gewiß, da gibt es Erzählungen, die auf höchstem sprachlichen Niveau den Tonfall des sogenannten modernen Menschen samt seiner Freude an geistreichen Pointen simulieren: Schon im »Gespräch über Formen« ist ein ganzes Zeitalter der Ästheten-Dialoge bestens präpariert zu besichtigen, (...)

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Schacht, Ulrich

2/2014 | Dem Geheimnis der Glaubwürdigkeit auf die Spur kommen. Begegnungen mit Erwin Strittmatter

I Warum einer Bäcker werden will? In meinem Fall erinnere ich mich an den Grund genau. Ich war gerade mal vierzehn, die Lust am Spielen war immer noch groß, und die Spiele bestanden darin, sich bis spät in die Abendstunden herumzutreiben, so daß jeder Schulbeginn morgens zur Qual wurde. Man wollte im Bett bleiben, bis das Licht der Mittagssonne den Raum erfüllte und auch die Wachträume ausgeträumt waren. Warum dann um fünf Uhr in der Frühe, wenn alles noch schläft und die Stadt gerade erst zu leben beginnt, eine vor Hitze flirrende Backstube betreten? In Pepitahose, weißem (...)

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Scharf, Kurt

4/2017 | »Halt aus in der Nacht bis zum Wein«. Die Entstehung der modernen persischen Lyrik

Um die Bedeutung des Bruchs mit der Tradition zu erfassen, den die modernen iranischen Lyriker vollzogen, müssen wir zumindest einen kurzen Blick auf die Geschichte der persischen Dichtung werfen. Wie die deutsche, so hat auch die Entwicklung der persischen Sprache drei Etappen durchlaufen. Will man jedoch zu ihren Ursprüngen gelangen, so muß man, um mit Thomas Mann zu sprechen, sehr viel tiefer in den Brunnen der Zeit hinabsteigen als bei unserer Muttersprache. Die älteste uns erhaltene Literatur in persischer Sprache ist geistliche Lyrik. Es sind die Gathas, die Zarathustra vor vermutlich etwa dreitausend Jahren verfaßt hat und die uns zunächst mündlich, später auch schriftlich im Âwestâ, dem heiligen Buch seiner Anhänger, überliefert worden sind. (...)

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Scherer, Marie-Luise

2/2017 | Die Geschichte von Lydia und Behn

Lydia Proske verbrachte die Wochenenden mit Hubertus Behn auf dem Lande. Sie hatten die Klappräder dabei, die einzige gemeinsame Anschaffung, zu der sie als Paar sich vorgewagt hatten. In der Stadt lebte jeder für sich. Ihre Treffen fanden in ihrer Wohnung statt, während Behn sich die seine als Refugium hielt. Bis auf sein Fahrrad in ihrem Keller, einen Schlafanzug in ihrem Bad, Zahnbürste und Trockenrasierer zeugte nichts von ihren Zusammenkünften. (...)

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Schlaffer, Hannelore

5/2001 | Der jugendliche Greis. Das Reden über Alter und Altern

Tugenden Das Alter wird heute als eine zweite Jugend begangen. Jugendlichkeit  aber war zu allen Zeiten der Traum der Alten gewesen, nur haben sie sich dies nicht eingestanden. Im zweitausendjährigen Diskurs über das Alter ist immer nur von dessen Vorzügen die Rede: von seiner Würde, seiner Weisheit, seiner philosophischen Gelassenheit. Bei genauem Hinsehen jedoch stellt sich heraus, daß diese Auszeichnungen nichts sind als Stilisierungen, mit denen die Alten versuchten, sich gegen die Jugend zu behaupten. Bis ins 18. Jahrhundert hat man sich solcher Selbstdarstellung befleißigt, hat (...)

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6/2014 | Die Heimat tritt in den Krieg ein. Brechts Mütter

In einem beträchtlichen Teil von Brechts Stücken ist die »Heldin« eine Mutter: in »Die Mutter«, »Die Gewehre der Frau Carrar«, »Mutter Courage«, »Der kaukasische Kreidekreis«, »Coriolan«; zudem hat Brecht Gerhart Hauptmanns Dramen »Der Biberpelz« und »Der rote Hahn« bearbeitet, in denen Mütter Hauptrollen haben. Carl Pietzckers Buch »Ich kommandiere mein Herz – Brechts Herzneurose« (1988) führt diese poetische Eigenart auf den frühen Tod von dessen Mutter zurück. Auf ihren Tod 1920 reagierte er so demonstrativ achtlos – am Tag danach veranstaltete er auf seiner (...)

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2/2022 | Liebe vor dem Sündenfall oder Das Paradies im Roman

Eine Sammlung von Szenen wäre aus der Weltliteratur, aus Romanen und Erzählungen zusammenzutragen, die vergessen sind und doch nicht hätten vergessen werden dürfen. Es sind dies anrührende Bilder einer erwachenden Liebe, die von sich noch nichts weiß. Die große Leidenschaft, die das – meist männliche – Gemüt entfacht und zur Eroberung einer Geliebten anfeuert, die Klage über deren Verlust, die Verführung zum Ehebruch, diese offenbaren Aufregungen aus lauter Liebe, die sich zum Motor einer Handlung so gut eignen, ist viel besprochen, theatralisch genutzt und lyrisch besungen (...)

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Schleef, Einar

6/2018 | Herzkammern. Gedichte. Mit einer Vorbemerkung von Hans-Ulrich Müller-Schwefe

Vorbemerkung 1. »Stinkstiefel!« Mit diesem Ausdruck bedachte der zornige Jürgen Holtz einmal im Interview den Regisseur Einar Schleef. Die Wortwahl war drastisch, und sie brachte mich damals, als Lektor und dramaturgischer Berater an Schleefs Seite, gegen den Schauspieler auf; klar, ich nahm Partei. Dabei ließ sich so ein Ausbruch nachvollziehen. Der Regisseur konnte im Probenprozeß verbissen, kleinlich, ja gemein reagieren. Gentleman-Regie gehörte nicht zu seinen Möglichkeiten. Wenn etwas Sehenswertes entstehen sollte, mußte hart gearbeitet, mußten Konflikte (an denen es nie (...)

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Schlesinger, Klaus

3/2014 | »Eine Art Beweisnotstand«. Aus dem Tagebuch 1991. Mit einer Vorbemerkung von Astrid Köhler

Vorbemerkung   Am 28. Oktober 1991 stand im »Spiegel« ein »Offener Brief an Sarah Kirsch, Jürgen Fuchs und Wolf Biermann«: »Wenn schon, denn schon – ich war auch mal ein Spitzel! Die ‚Einsamkeit der weißen Weste’ paßt mir also nicht. Seit Posen/Ungarn (`56) war ich dagegen. Nicht gegen den Kommunismus, aber gegen die asiatische Despotie. Ohne Herkunft, Studentin vor dem Staatsexamen, liiert mit einem isländischen Studenten – war ich erpreßbar. Und ich unterschrieb, September `57. Ich wollte nämlich nicht, wie Erich Loest, sieben Jahre in Bautzen sitzen, wo mir, da ich (...)

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Schmidt, Kathrin

4/2019 | Gesucht: Zeitgeist_in (m/w/d). Weimarer Rede

Ich bin Psychologin von Beruf und habe die erste Phase meines Berufslebens als solche verbracht, habe in Kinderheimen und Polikliniken der DDR Dienst getan. Wenn das Wort »Heimerziehung« fällt, denkt man heutzutage sofort an jene der DDR, meinetwegen auch an Wochenkrippen, an Jugendwerkhöfe und dort herrschende Mißbrauchsverhältnisse, nicht nur sexueller Art. Daß aber der Zeitgeist auch in Kinderheimen des Westens lange Zeit auf repressive Erziehungsformen setzte, daß es dort länger als im Osten auch in der Schule die Prügelstrafe gab, daß der Zeitgeist mit schwarzer Pädagogik (...)

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Schmölders, Claudia

1/2009 | Der Meteorit von Tunguska. Zur Geschichte des Katastrophismus

I. »In den frühen Morgenstunden des 30. Juni 1908 konnten Zehntausende von Bewohnern Mittelsibiriens eine außergewöhnliche Naturerscheinung beobachten. Am Himmel stieg eine blendendweiße Kugel auf, die sich mit rasender Geschwindigkeit von Südosten nach Nordwesten bewegte. Sie überflog das Jenesseier Gouvernement - eine Strecke von mehr als 500 Kilometern - und brachte unter ihrer Bahn den Erdboden zum Beben, die Fensterscheiben zum Klirren; der Putz fiel von den Wänden, die Mauern bekamen Risse [...] Man hielt das Ende der Welt für gekommen. Kurze Zeit nach dem Verschwinden des (...)

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Schnitzler, Arthur

5/2017 | »Es ist eine sehr seltsame Gefühlsmischung, die Sie erwecken«. Briefwechsel mit Alfred Kerr 1896-1925. Mit einer Vorbemerkung von Elgin Helmstaedt

Vorbemerkung
Als 1984 der zweite Band der Briefe Arthur Schnitzlers erschien, hieß es im Vorwort: "Obwohl Schnitzler es fast immer ablehnt, eigene Werke zu interpretieren, gibt es dennoch Briefe, die über seine inhaltlichen und ästhetischen Intentionen einigen Aufschluß geben." Unter den fünf Adressaten, die solche Schreiben erhielten, war der Kritiker Alfred Kerr. Dabei lagen den Herausgebern gerade einmal vier Briefe an diesen vor, von denen sie drei veröffentlichten.
Bis 2013 besaß das Alfred-Kerr-Archiv der Akademie der Künste nur Schnitzlers letztes Schreiben an Kerr von 1925. Der Großteil der restlichen Briefe galt jahrzehntelang als verschollen. Als Kerr 1933 mit seiner Familie aus Deutschland fliehen mußte, wurde der größte Teil seines Besitzes konfisziert, darunter auch die Schnitzler-Briefe. In einem Zwischenlager der Gestapo nahm eine literaturinteressierte, vielleicht auch Schnitzler verehrende Sekretärin die Briefe an sich. Nach dem Krieg wagte sie nicht, mit ihrem "Fund" an die Öffentlichkeit zu gehen. Sie vererbte die wertvollen Autographen ihrem Neffen, der sie 2013 einem Auktionshaus anbot. Nach Absprache mit der Familie Kerrs, den rechtmäßigen Eigentümern der Briefe, konnte die Akademie ein Vorkaufsangebot aushandeln und die Manuskripte erwerben. (...) Elgin Helmstaedt

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Schoch, Julia

5/2013 | Literatur als Rache. Vom Auftauchen und Verschwinden des Georges Hyvernaud

  I Die Aufmerksamkeit, die einem Schriftsteller zuteil wird, ist nicht nur von seinem literarischen Können abhängig. In beträchtlichem Maße scheint es gerade auf außerliterarische Talente anzukommen. Kraft und Durchhaltevermögen, Dickhäutigkeit gegenüber Kritik, die Fähigkeit, sich vorzudrängeln und zugleich geschmeidig zu bleiben, sowie eine gewisse Selbstüberhebung sind allesamt gute Voraussetzungen, um sich im Literaturbetrieb gleich welcher Zeit zu etablieren und vor allem dauerhaft dort zu halten. Im Fall Georges Hyvernauds (1902–1983) erscheint es besonders fatal, daß (...)

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Schock, Ralph

3/2008 | Gespräch mit Hartmut Lange

RALPH SCHOCK: Viele Ihrer Novellen, auch die Künstlernovellen über Nietzsche, Liszt, Kleist und Schnitzler, kreisen um Endlichkeit und Tod. Warum beschäftigt Sie das Thema so sehr? HARTMUT LANGE: Der Tod beschäftigt einen immer dann, wenn man den Zenit seiner Lebenskurve überschritten hat und sieht, daß es nicht nach oben, sondern nach unten geht. Mich beschäftigt der Tod schon seit meinem vierzigsten Lebensjahr. SCHOCK: Da hatten Sie den Zenit Ihrer Lebenskurve doch noch nicht erreicht. LANGE: Da war ich schon drüber hinweg. Da war der Hegelsche Rationalismus, jene Form von (...)

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5/2009 | Gespräch mit Christoph Hein

Befristetes Angebot:
Den gesamten Beitrag kostenlos als PDF herunterladen. RAPLH SCHOCK: Vor mehr als 25 Jahren erschien Ihre Novelle »Der fremde Freund«. Sie fand große Resonanz. Wie denken Sie heute über diesen Text?
CHRISTOPH HEIN: Tatsächlich habe ich ihn schon 1981 geschrieben, vor 28 Jahren. Das Buch war für mich sehr wichtig, da es viel übersetzt wurde und immer wieder überraschende Reaktionen hervorrief. Beim Wiederlesen bekommt man mit, was man geschafft, was man nicht geschafft hat. Man schaut mit dem Interesse eines sehr viel älteren Kollegen auf die Arbeit dieses jungen Menschen.
SCHOCK: Sind Sie denn zufrieden mit der Arbeit des jungen Kollegen?
(...)

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2/2011 | »Am besten gefiel mir wieder Regler«. Gustav Regler und Klaus Mann

Es war der Auftritt der Roten Armee auf dem Ersten Allunionskongreß der Sowjetschriftsteller im August 1934 in Moskau, der die unterschiedlichen Positionen von Gustav Regler und Klaus Mann schlagartig hervortreten ließ: Differenzen, die nicht nur ihren Briefwechsel grundierten, sondern auch in ihren Autobiographien Spuren hinterließen. Einige Wochen nach dem Kongreß veröffentlichte Mann in der von ihm herausgegebenen Exilzeitschrift »Die Sammlung« seine »Notizen in Moskau« (2. Jg., Heft 2 /Oktober 1934). Auf das martialische und von ihm als bedrohlich empfundene Auftreten der (...)

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5/2011 | »Wenn ich schreibe, kann mir nichts passieren.« Gespräch mit Peter Kurzeck

RALPH SCHOCK: Dein Roman »Oktober und wer wir selbst sind« ist Teil eines großen Erinnerungsprojekts, an dem du seit Jahrzehnten schreibst. Kannst du die Position des Romans in diesem Werk beschreiben? PETER KURZECK: Es ist der vierte Band und eine Rückblende innerhalb des Erzählten. Die autobiographische Reihe beginnt 1984, und dann erzähle ich rückwärts den vorangegangenen Herbst und Winter. Hier geht es um den Oktober 1983, ein Herbstbuch also. SCHOCK: Warum hast du diese Zeit, diese zwölf Monate des Jahres 1983/84, zum Zentrum des Mammutprojekts gemacht? KURZECK: Weil ich (...)

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5/2013 | Ein Exil, das kein Ende nahm. Über David Luschnat

Am 19. November 1934 schickte Joseph Roth einen verzweifelten Bittbrief in die Schweiz. Ein Kollege war in Not: »Lieber Herr Carl Seelig, entschuldigen Sie diesen Brief (und bestätigen Sie mir bitte, daß Sie ihn erhalten haben). Es handelt sich um eine wichtige Sache, nämlich um einen Menschen. Der deutsche Schriftsteller David Luschnat, kein Kommunist, nicht einmal ein Jude, ein ganz harmloser Mann mit einigen seltsamen Ideen, ist aus der Schweiz ausgewiesen. Er hat keinen ›Namen‹, kein Geld, er kann nicht einmal die Reise zur Grenze bezahlen. (…) Sie sind Schweizer, Journalist. (...)

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4/2014 | »Die Spuren des Lebens der Armen verschwinden«. Ein Gespräch mit Gert Heidenreich über »Die andere Heimat«

  RALPH SCHOCK: Ihre Erzählung »Die andere Heimat« hat eine Menge mit dem gleichnamigen Film von Edgar Reitz und Ihnen zu tun, denn Sie sind auch der Koautor des Drehbuchs. Wie kam es zu dieser Kooperation? GERT HEIDENREICH: Edgar Reitz hatte seit vielen Jahren die Idee, sich mit der Auswanderung aus dem Hunsrück in der Mitte des 19. Jahrhunderts, vorwiegend nach Brasilien, zu beschäftigen. Zum einen, weil auch Vorfahren von ihm ausgewandert waren, deren Nachkommen noch in Südamerika leben, zum anderen, weil sich Edgars verstorbener jüngerer Bruder Guido als eine Art linguistischer (...)

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2/2015 | »Eine andere Wahrnehmung der Welt«. Ein Gespräch über Gedichte mit Jan Wagner

RALPH SCHOCK: Ihr neuer Gedichtband "Regentonnenvariationen" ist vor einigen Monaten erschienen. Ich habe Sie in Frankfurt während der Buchmesse daraus lesen hören und gedacht, das ist ein Autor, mit dem ich gern über Dichtung sprechen würde. Ihre literarische Karriere hat aber gar nicht mit einem Lyrikband begonnen. JAN WAGNER: Bevor mein erstes eigenes Buch herauskam, habe ich unter anderem Charles Simic übersetzt, einen amerikanischen Dichter mit Belgrader Wurzeln, und wie so viele junge Lyriker eine Zeitschrift herausgegeben, besser gesagt, ein Objekt zwischen Zeitschrift, Buch und Kunstgegenstand – eine Literaturschachtel. SCHOCK: Können Sie diese Literaturschachtel beschreiben? (...)

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2/2019 | »Ich sehe mich als Überlebenden meiner Krisen«. Gespräch mit Wilhelm Genazino

RALPH SCHOCK: Du hast für den Saarländischen Rundfunk deinen Roman »Bei Regen im Saal« eingelesen. Wie war die Wiederbegegnung mit dem Buch? WILHELM GENAZINO: Im großen und ganzen hat es mir gut gefallen. Wenn ich es noch einmal schreiben müßte, würde ich den einen oder anderen Satz streichen, aber das ist normal. Um gewisse Aufdringlichkeiten zu bemerken, zum Beispiel überdeutliche Erläuterungen, die die Mitarbeit des Lesers überflüssig machen, braucht man eben Abstand. SCHOCK: Gab es auch die eine oder andere Stelle, wo du denkst: Da hätte ich noch einen Satz ergänzen (...)

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Schorlemmer, Friedrich

4/2008 | Gespräch mit Daniil Granin und Franziska Thun-Hohenstein

(…) DANIIL GRANIN: Am 17. Juni 1941 befand ich mich mit den Resten meines Regiments auf dem Rückzug. Bei Leningrad wurden wir von den Deutschen bombardiert. Alle liefen durcheinander, auseinander und davon. Ich auch; ich rannte nach Hause und habe meiner Schwester gesagt, gleich kommen die Deutschen, bleib am Fenster, und wenn sie kommen, weck mich. Ich war todmüde und überzeugt, daß die Deutschen bald in die Stadt kämen. Aber sie kamen nicht. Das ist mir bis heute ein Rätsel. Wir hatten wirklich keine Verteidigung, die Stadt war absolut offen. Als ich zu schreiben (...)

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Schöttker, Detlev

3/2009 | »Vielleicht kommen wir ohne Wunder nicht aus.« Zum Briefwechsel Jünger-Scholem

Bald nach dem Tod von Gershom Scholem im Februar 1983 in Jerusalem bat Jacob Katz im Auftrag des Leo Baeck Instituts ehemalige Korrespondenzpartner, darunter auch Ernst Jünger, um die Übersendung von Briefen. Auf dem Schreiben notierte dieser neben dem Kürzel EJ und einem Erledigungszeichen: „30.V.83 mit Kopie von fünf Briefen«. Dies waren, abgesehen von einer kurzen Danksagung, alle Schreiben, die sich in Jüngers Besitz befanden. Er selbst hat vier Briefe an Scholem geschickt, die als Durchschriften in seinem Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv in Marbach vorhanden sind. Hinzu (...)

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4/2010 | Dolf Sternberger und Walter Benjamin. Ein Photographie-Aufsatz und seine Folgen

Für Rolf H. Krauss 1938, vier Jahre, nachdem er in die Redaktion der »Frankfurter Zeitung« eingetreten war, veröffentlichte Dolf Sternberger sein Buch »Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert«. Walter Benjamin verfaßte eine aggressive Rezension, die er in der »Zeitschrift für Sozialforschung« veröffentlichen wollte. Doch wurde sie hier nicht gedruckt, sondern erschien erst 1972 aus dem Nachlaß im dritten Band der »Gesammelten Schriften«. Die Lektüre machte Sternberger betroffen, wie das Vorwort zur Taschenbuch-Ausgabe seines Buches von 1974 zeigt. Dennoch hielt er auch (...)

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4/2011 | »Gefährlich leben!« Zum Briefwechsel zwischen Ernst Jünger und Dolf Sternberger

Seit ihrer ersten Begegnung in Paris 1941 stand die Korrespondenz zwischen Ernst Jünger und Dolf Sternberger im Zeichen von Einvernehmen und Verschwiegenheit. Einvernehmen herrschte darüber, intellektuell unabhängig zu bleiben, obwohl beide in Institutionen tätig waren, die von den Nationalsozialisten kontrolliert wurden. Verschwiegenheit war Voraussetzung, um die verbleibenden Spielräume, ob in Wehrmacht oder Presse, nutzen zu können. Während der 45jährige Jünger seit Erscheinen seines Romans »Auf den Marmorklippen« im Jahr 1939 über seine Verehrer in soldatischen Kreisen hinaus (...)

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5/2013 | Der brasilianische Korrespondent. Auf der Suche nach Otto Storch

In einer der Aufzeichnungen über den Begriff der Geschichte, an denen Walter Benjamin bis kurz vor seinem Tod im September 1940 arbeitete, steht ein aphoristischer Satz, den der israelische Bildhauer Dani Karavan in Benjamins spanischem Sterbeort Port Bou am Ende eines Stahltunnels vor dem freien Fall ins Meer auf eine Glasplatte gravieren ließ: »Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.« Dieser Gedanke wird zur konkreten Erfahrung, wenn man die Biographie des kommunistischen Pressefotografen Otto Storch nachzuzeichnen versucht, mit dem sich Ernst (...)

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Schroetter, Richard

6/2009 | Gespräch mit Victor Brombert. »Wir ahnten nicht, was kommen würde«

RICHARD SCHROETTER: Man kennt Sie als einen der führenden amerikanischen Komparatisten, als Romanisten und Literaturkritiker, aber auch aus dem Film über die ›Ritchie Boys‹, jene jungen Emigranten, die im Zweiten Weltkrieg in Camp Ritchie für Spezialeinsätze ausgebildet wurden. Sie kamen1923 zur Welt und verbrachten Ihre Kindheit in Leipzig. Was hat Ihre Eltern, wohlhabende jüdische Kaufleute aus Rußland, dazu bewogen, ausgerechnet nach Deutschland zu gehen? VICTOR BROMBERT: Bei Ausbruch der Oktoberrevolution 1917 waren sie auf der Hochzeitsreise in Dänemark und mußten (...)

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Schulze, Ingo

1/2022 | »Ich möchte Ihnen Hoffnung machen« Franz Fühmann oder Der Mythos als Ort der Verständigung

Anfang Juli 1984 wartete ich in der Sektion Altertumswissenschaften der Uni Jena darauf, zu meiner ersten mündlichen Prüfung (Grundkurs Griechenland) aufgerufen zu werden. Der Dozent, der schließlich die Tür öffnete und mich hereinbat, sagte, während ich aufstand und auf ihn zuging: »Ach, wissen Sie schon? Gestern ist Fühmann gestorben!« In diesem Augenblick brach für mich eine Welt zusammen. Ich hatte Franz Fühmann nie persönlich erlebt, war nie auf einer Lesung von ihm gewesen, ich hatte ihm nie geschrieben, ich hatte weder Fernsehbilder von ihm gesehen noch wußte ich, wie (...)

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Schuster, Gerhard

2/2008 | Harry Graf Kessler - eine »blosse Person«?

Es war der freundliche Wunsch der Canitzgesellschaft Berlin, zum Auftakt ihres Seminars über Harry Graf Kessler jemanden zu hören, der sich früh und lange mit diesem Thema beschäftigt hat, um so etwas Authentisches über die Wiederentdeckung dieses Autors in den letzten drei Jahrzehnten zu erfahren. Was ich Ihnen bieten kann, sind Details über eigene Unternehmungen und Erlebnisse, die mit der Erforschung der Figur und des Werkes zu tun haben. Sie führen aber vielleicht auch auf Grundtatsachen jeder biographischen Recherche.
Kessler gehört nicht zu denjenigen Figuren der (...)

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Schütte, Uwe

2/2010 | Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Anmerkungen zu W.G. Sebalds Essay über Jurek Beckers Romane

Bereits der erste Satz war eine Kampfansage: »Es ist der Zweck der vorliegenden Arbeit, das von der germanistischen Forschung in Zirkulation gebrachte Sternheim-Bild zu revidieren.« So schrieb der fünfundzwanzigjährige Winfried Georg Sebald in seiner 1969 erschienenen Magisterarbeit und kündigte an, daß »es sich bei dieser Revision vorwiegend um eine Destruktion« handele. Den damals hoch im Kurs stehenden Dramatiker betrachtete Sebald, dem Untertitel gemäß, zugleich als »Kritiker und Opfer der Wilhelminischen Ära«, und die zahlreichen Invektiven gegen Sternheims Fürsprecher (...)

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Schwob, Marcel

4/2017 | Manapouri. Eine Seereise nach Samoa 1901/02. Mit einer Vorbemerkung von Gernot Krämer

Vorbemerkung Am 21. Oktober 1901 schiffte sich in Marseille der Schriftsteller Marcel Schwob zu einer Reise ein, von der er sich vor allem zwei Dinge erhoffte: Heilung von der Krankheit, die ihn seit Jahren niederdrückte, und neue Impulse für sein Schaffen. Der aus Chaville bei Paris gebürtige Autor hatte 1891 mit dem Erzählungsband »Das gespaltene Herz« debütiert und dann praktisch jedes Jahr einen solchen veröffentlicht – (...)

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Seibt, Gustav

2/1999 | Das Prinzip Abstand

Daß wir uns zum fünfzigsten Geburtstag von Sinn und Form versammeln können, hat etwas von einem Wunder. Vor zehn Jahren geriet die Zeitschrift, die mit beträchtlicher Würde vierzig Jahre DDR durchlebt hatte, in ernste Gefahr: Sie bekam ein Lob von Erich Honecker. Der Generalsekretär und Staatsratsvorsitzende sandte dem Chefredakteur Max Walter Schulz ein Glückwunschschreiben, in dem er Sinn und Form »zu den weltweit beachteten Gütezeichen der sozialistischen Nationalkultur der Deutschen Demokratischen Republik« zählte. Als Honeckers Sätze im Juli/August-Heft des Jahrgangs 1989 (...)

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Seiler, Lutz

2/2023 | Die Moosbrand-Geschichte

Grüne Schläfen

Woran ich mich erinnere: daß Schnee gefallen war am Abend der ersten »moosbrand«-Lesung im Spätherbst 1993. Die Adresse hieß An der Trift 5 in Wilhelmshorst. Elf Autorinnen und Autoren lasen ihre unveröffentlichten Texte und sprachen darüber, die meisten kannten sich schon aus den achtziger Jahren und waren befreundet, darunter Elke Erb, Thomas Böhme, Cornelia Saxe, Thomas Kunst, Nadja Gogolin, Jörg Schieke, Katrin Dorn, Klaus Michael. Einige kamen aus Berlin, einige waren aus Leipzig angereist – man würde übernachten, man nahm sich die Zeit.
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Simon, Claude

1/2014 | Novelli oder Das Problem der Sprache. Mit einer Vorbemerkung von Irene Albers

Vorbemerkung von Irene Albers   Was Claude Simon von anderen Autoren des Nouveau Roman unterscheidet, wird in kaum einem Text so deutlich wie in dem lange weitgehend unbeachteten Essay über Gastone Novelli (1962), der nun erstmals auf deutsch erscheint. Auch in Frankreich mußte er erst wiederentdeckt werden. Anlaß dafür war Simons später Roman »Jardin des Plantes« von 1997. Dieses explizit autobiographische »Porträt eines Gedächtnisses« enthält Erinnerungen an Begegnungen und Gespräche, bei denen es immer wieder um das Verhältnis von Leben und Kunst geht. Die Literatur dient (...)

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Singh, Gurmeet

4/2021 | Bruchstücke der Geschichte. Zehn Tage im Archiv des Literaturhauses Berlin

Im März 2021 ging ich ins Literaturhaus Berlin, um dessen Archiv in Augenschein zu nehmen. Das Anliegen des Hauses: Man wollte Schriftsteller abseits des Mainstreams einladen, die Fülle von Material und Dokumenten aus vierzig Jahren zu erkunden und einen »frischen Blick« auf die Geschichte des Hauses zu werfen. »Bleiben Sie eine Woche, vielleicht finden Sie ja etwas Interessantes«, hieß es von seiten der Leitung. Schon das war interessant. Ich lebte seit acht Jahren in Berlin, und so etwas war mir noch nicht passiert. Institutionen fordern einen sonst nicht einfach dazu auf, sich mit (...)

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Sloterdijk, Peter

4/2012 | Homo collector, homo lector, homo corrector. Für eine kurze Geschichte des Lektorats

Meine Damen und Herren, ohne Zweifel haben Sie es bemerkt: ich reihe mich mit der Wahl des Untertitels für diese Rede anläßlich des heutigen feierlichen Ereignisses in die Schar derer ein, die ihre Eifersucht auf Stephen W. Hawking nicht verbergen können. Bekanntlich hatte dieser mit seinem Buch »Eine kurze Geschichte der Zeit« (A Brief History of Time, 1988) einen Weltbestseller lanciert, den alle sofort lesen wollten, weil der Titel die lang erwartete Kurzfassung der Theorie von allem zu liefern versprach – so daß man sich, wenn man ein aufmerksamer Leser war, nie wieder dafür (...)

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6/2013 | Das glückliche Ohr. Ein Gespräch über Musik mit Manfred Osten

MANFRED OSTEN: Vielleicht sollten wir mit der Rehabilitierung eines Stiefkinds der europäischen Geistesgeschichte beginnen, mit der Rehabilitierung des Hörens. Haben wir nicht das Ohr als Erkenntnisorgan allzu lange unterschätzt? PETER SLOTERDIJK: Ich bin mir nicht sicher, ob wir dem Ohr wirklich so untreu geworden sind, wie es Ihre Worte nahelegen, denn unsere Kultur beruht vom ersten Tag an auf der Allianz zwischen dem Auditiven und dem Visuellen. Das hat unter anderem damit zu tun, daß die Europäer die ersten waren, die den von den Phöniziern und anderen Vorgängerkulturen (...)

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Sparr, Thomas

2/2020 | Lob des Verzettelns. Gespräch mit Klaus Reichert und Matthias Weichelt

MATTHIAS WEICHELT: In einem Gespräch über Ihr »Wolken«-Buch haben Sie gesagt: »Bei mir hat das so ungefähr mit sieben Jahren angefangen, bis dahin hatte ich am Himmel eben immer nur Flugzeuge gesehen und auf einmal, nach der Zerstörung unserer Städte, lag ich auf der Wiese und sah zum ersten Mal echte Wolken am Himmel. Ich habe damals angefangen Wolken zu beschreiben, das war so schön, ich mußte es aufschreiben. Seitdem versuche ich Wolken zu beschreiben und merke, es geht nicht, es ist zu schwer.« Was mich an diesem Zitat interessiert, ist die mit Kriegsende plötzlich eintretende (...)

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Steiner, George

6/2012 | Fragmente (leicht verkohlt)

Diese aphoristischen Fragmente kamen auf einer der verkohlten Schriftrollen zum Vorschein, die unlängst in einer vermutlich als Privatbibliothek genutzten Villa in Herculaneum entdeckt wurden. Sprachliche Indizien und der Tenor der Darlegung verweisen auf das ausgehende zweite Jahrhundert nach Christus. Einige Gelehrte haben den Namen Epicharnus von Agra zur Diskussion gestellt. Doch über diesen Moralphilosophen und Rhetoriker (falls er das war) ist faktisch nichts bekannt. Zudem macht der Zustand des Papyrus die Entzifferung an einigen Stellen konjektural.
1. Wenn der (...)

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Stepanowa, Maria

1/2020 | Kein Zimmer für sich allein

Ich bin keine Wissenschaftlerin und kann mir daher die Freiheit nehmen, mich als Schriftstellerin, ja als Dichterin zu betrachten. Letzteres ist eigentlich kein Beruf, sondern eher eine Art zu denken: nämlich eine, die den Reimen der äußeren Welt eine innere Bedeutung gibt. Ich schreibe auf Russisch, also in einer Sprache, in der die Tradition der gereimten Dichtung noch sehr lebendig ist. Wahrscheinlich deshalb sind Koinzidenzen und Korrespondenzen für mich ein wesentlicher Teil des kognitiven Prozesses – sie führen weiter als wir mit reiner Logik je kämen. Es mag zu diesen (...)

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Stevenson, Robert Louis

4/2014 | Henry David Thoreau. Sein Charakter und seine Überzeugungen

I   Thoreaus schmales eindringliches Gesicht mit der großen Nase deutet selbst in einem schlechten Holzschnitt noch auf seine geistigen und charakterlichen Grenzen hin. Sein schier beißend scharfer Verstand, seine schier animalische Geschicklichkeit gingen nicht mit der großen, unbewußten Herzlichkeit der Welthelden einher. Er war nicht ungezwungen, nicht großzügig, nicht weltgewandt, nicht einmal freundlich; seine Freude lächelte kaum, oder das Lächeln war nicht breit genug, um zu überzeugen; in seinem Wesen gab es weder Brachen noch prähistorische Küchenabfälle, aber alles (...)

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2/2017 | Über das Genießen unangenehmer Orte

Aus einem beliebigen Ort das Beste zu machen ist schwierig, und vieles liegt in unserer Macht. Was man geduldig Seite für Seite betrachtet, zeigt am Ende gewöhnlich auch eine, die schön ist. Vor ein paar Monaten wurde im »Portfolio« etwas über »enthaltsame Lebensführung in einer Scenerie« gesagt und solche Selbstzucht sodann als »heilsam und den Geschmack kräftigend« empfohlen. Das ist gleichsam der Text des vorliegenden Essays. Diese Selbstzucht in einer Scenerie, muß man wissen, ist mehr als ein bloßer Spaziergang vorm Frühstück, um den Appetit anzuregen. Denn wenn man in (...)

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Stoessel, Marleen

4/2015 | Der siebte Sinn oder die Zwölf ist ein Löwe. Erfahrungen mit Synästhesie

Synästhesie – ein Wort so luftig wie ein seidenes Gewebe, rötlich schimmernd, Y und I sticken etwas Gold und Gelb hinein. Ein schönes, rhythmisch ausschwingendes Wort – selbst das Ä, meinen Ohren empfindlich, fügt sich mit einem bläulich-lila Streif harmonisch in das zarte Klanggebilde ein. Alle Vorsilben mit Syn oder Sym haben diese gelbrot-goldene Tönung. Eingedunkelt und kompakt gerundet erscheint sie in dem Wort Symbol. Härtere Kontur wiederum gewinnt die Silbe in Symmetrie, wo dem Wort nichts Gewebeartiges mehr eigen ist – (...)

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6/2016 | Mythos Georgien?

Dies sind nur tastende Worte der Annäherung an ein Land, eine Stadt, Tbilisi, die sich mir vor allem im Hitzeschleier zeigte, in einer Dunstglocke, die ihre Farben dämpfte und ihr etwas von einem "panischen Schlaf" verlieh. Einem ewigen Mittag, dessen Pulsschlag ich für ein paar Tage im Juni mitträumte und dessen Traumbild jetzt Erinnerung ist. Aus dieser erinnerten Ferne, Monate später, der Versuch einer Annäherung an dieses Bild, mein Tasten nach dem Ton, dem Wort, das ihm entspricht. Sagt sich all das doch so leicht: (...)

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Stoffels, Hans

6/2020 | »Die vielen ungelebten Leben«. Briefwechsel mit Christa Wolf 1971–74. Mit einer Vorbemerkung von Hans Stoffels

Vorbemerkung
Im Wintersemester 1967 / 68 begann ich mein Medizinstudium an der Universität Heidelberg. Bald beneidete ich die Studenten der geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächer, weil diese offensichtlich lernten, ein »kritisches Bewußtsein« zu entwickeln und Mensch und Welt neu zu entdecken. Im buchstäblichen Sinne gingen sie auf die Barrikaden und intonierten bei ihren Protestzügen mit Ironie und Selbstbewußtsein den Spruch: »Wir sind eine radikale Minderheit«.
Mir schien, das Studium der Medizin bot keine Anknüpfungspunkte für die jugendliche Sehnsucht nach (...)

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Stoop, Paul

5/2021 | Der Schmerz der anderen. Susan Sontag am 11. September 2001

»Und wo warst du, als …?« Es gibt weltpolitische Ereignisse, die den mit Radio und Fernsehen aufgewachsenen Generationen dauerhaft in Erinnerung geblieben und auch Jahrzehnte später noch Gesprächsthema sind: »Ich war gerade in XY, als die Nachricht kam …« Der Tag des Mauerbaus, der Tag, an dem John F. Kennedy erschossen wurde, der Tag des Mauerfalls. Und zuletzt vor genau zwanzig Jahren die Terrorangriffe auf das World Trade Center und das Pentagon. Am 11. September 2001 schaute die ganze Welt zu, wie in einer Metropole zwei Wolkenkratzer, in denen Tausende Menschen arbeiteten, (...)

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Strube, Rolf

3/2011 | Von der Musik der Ideen. Paul Valéry - Dichter, Philosoph, Europäer

Paul Valéry hat zeitlebens über die Sprache nachgedacht. »Den Dichter«, sagt er einmal, erkennt man »an der einfachen Tatsache, daß er den Leser in einen Inspirierten verwandelt.« Lesen und Verstehen wird hier zu einem kurzen, scharf umrissenen Vorgang, als ginge es um nichts anderes als den gelungenen Anstoß einer Billardkugel, die ihre kinetische Energie beim Aufprall an eine andere weitergibt. Jahrhunderte der Exegese und Hermeneutik werden spielerisch überbrückt, wie um zu demonstrieren: Es geht auch einfacher und vor allem – präziser. Valéry liebte Anleihen oder besser (...)

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Szentkuthy, Miklós

3/2015 | Marginalien zu Casanova. Alfons von Liguori (1696–1787)

Alfons von Liguori (1696–1787) Der Heilige Alfons starb im Alter von einundneunzig Jahren, doch das Schreiben hatte man ihm, nachdem er unzählige Bücher und Briefe verfaßt hatte, aus gesundheitlichen Gründen bereits als Dreiundachtzigjährigem verboten; zwar gab es nichts, das ihm leichter gefallen wäre als das Formulieren, nie mußte er auch nur das Geringste korrigieren, Gedanken und Gefühle prasselten nur so aus ihm heraus, mal im schlichten, mal im barocken Stil, wie unablässiger Regen, doch hinter seinem unvergleichlichen Stilempfinden tobten große Leidenschaften, Gefühle der (...)

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Sznurkowski, Przemyslaw

5/2015 | »Wo Juden sind, entsteht auch Literatur«. Gespräch mit Chaim Noll

PRZEMYSŁAW SZNURKOWSKI: Sie zeichnen in Ihren Büchern ein differenziertes Bild der israelischen Gesellschaft. Besonders in Ihrem 2014 erschienenen Roman "Die Synagoge" lernt man Sie als aufmerksamen Beobachter der politischen Ereignisse und sozialen Zustände in Israel, vor allem aber auch als kritischen Bürger kennen.
CHAIM NOLL: Kritik gilt hier in Israel als etwas vollkommen Normales. In Deutschland neigt man dazu, Konsens auf allen Gebieten herzustellen, man ist bemüht, möglichst immer einer Meinung zu sein, bis zur bösen Einheitlichkeit, die alle anderen Meinungen unterdrückt und totschweigt. So etwas ist hier unvorstellbar. Wenn man nach Israel kommt, (...)

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Trott zu Solz, Adam von

1/2024 | Ein böser Traum. Mit einer Nachbemerkung von Benigna von Krusenstjern

(…) Nachbemerkung Adam von Trott zu Solz, der Autor dieses bisher unveröffentlichten Textes, ist, wenn überhaupt, als Widerstandskämpfer gegen das nationalsozialistische Regime bekannt. Ab 1939 engagierte er sich beharrlich und unter ständiger Lebensgefahr für dessen Sturz und wurde wenige Wochen nach dem gescheiterten Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 im Alter von fünfunddreißig Jahren hingerichtet. Von Anfang an war Trott keinerlei Kompromisse mit dem neuen Regime eingegangen und hatte dafür persönliche Nachteile in Kauf genommen. Ein ideologisch-politischer Schulungsleiter in (...)

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