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Heftarchiv – Leseproben

Rack, Jochen

5/2010 | Gespräch mit Odo Marquard. Über das Alter (2004)

JOCHEN RACK: Sie haben in Ihren philosophischen Essays immer wieder betont, daß Erfahrung für die Philosophie unersetzlich sei. Sie sind jetzt 76 und insofern durchaus qualifiziert, über das Altern zu sprechen. Wann beginnt es eigentlich? ODO MARQUARD: Man sagt, normalerweise um die fünfzig, aber für mich ist das kein Einschnitt gewesen. Der erste Einschnitt kam schon mit 28, als ich anfing, über mein Leben nachzudenken, ein anderer war natürlich die Emeritierung mit 65. Ich habe drei Jahre vor der Zeit aufgehört, weil ich mir sagte, es wird nicht lange dauern, bis ich sterbe, und (...)

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Regler, Gustav

4/2023 | Paris bei Nacht

Wenn dann der Mann von Radio Française bonne nuit gesagt hat, fast wie ein braves Kind bei einer Abendgesellschaft, zu der es noch fünf Minuten zugelassen wurde,
wenn die Geisterhäuser des Sacré-Cœur, des Panthéon, der Notre-Dame und des Napoleongrabes mit einem Ruck ihr Licht abdrehen und der Horizont noch unwirklicher wird ohne die unwirklichen Fassaden,
wenn sich clochards unter oder auf den Seinebrücken ihr Lumpenbett zurechtklopfen und noch einen letzten Schluck aus der Flasche nehmen,
wenn auf dem Pont Neuf die Lieblingstaube von Henri Quatre nah bei seinem (...)

Leseprobe
Reichel, Käthe

2/2024 | »Solchen menschlichen Regungen sind Klassiker, glaube ich, gar nicht zugänglich.« Briefwechsel mit Bertolt Brecht. Mit einer Vorbemerkung von Helene Herold

Vorbemerkung

Helene Weigel empfiehlt Bertolt Brecht 1950 eine junge talentierte Schauspielerin. Sie hat Waltraut Reichelt im Februar in Rostock in der Inszenierung »Herr Puntila und sein Knecht Matti« unter der Regie von Egon Monk gesehen. Brecht engagiert Käthe Reichel, wie sie sich später nennt, nach einem kurzen Vorsprechen im Oktober 1950 für das Berliner Ensemble. Er ist zu dem Zeitpunkt zweiundfünfzig Jahre alt, ist ein gefeierter Dichter, Schriftsteller und Theatermann und hat lange Exiljahre überstanden. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland versucht er in Ostberlin (...)

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Reichert, Klaus

4/2010 | Adorno und das Radio

Ludwig von Friedeburg zum Gedenken Wer als junger Mensch in den fünfziger Jahren anfing, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, dem boten sich dafür zwei sehr unterschiedliche Möglichkeiten: die Schule, obwohl damals noch ein reiner Paukbetrieb und für die Entwicklung geistiger Fähigkeiten eher hinderlich, und, andererseits, das Radio. Morgens Werner Bergengruen und Gertrud von le Fort, abends Gottfried Benn, Günter Eich, Ingeborg Bachmann und manchmal auch der von den Deutschen jener Jahre ungeliebte Thomas Mann, der das Gespräch zwischen Felix Krull und Professor Kuckuck im Zug (...)

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2/2020 | Lob des Verzettelns. Gespräch mit Thomas Sparr und Matthias Weichelt

MATTHIAS WEICHELT: In einem Gespräch über Ihr »Wolken«-Buch haben Sie gesagt: »Bei mir hat das so ungefähr mit sieben Jahren angefangen, bis dahin hatte ich am Himmel eben immer nur Flugzeuge gesehen und auf einmal, nach der Zerstörung unserer Städte, lag ich auf der Wiese und sah zum ersten Mal echte Wolken am Himmel. Ich habe damals angefangen Wolken zu beschreiben, das war so schön, ich mußte es aufschreiben. Seitdem versuche ich Wolken zu beschreiben und merke, es geht nicht, es ist zu schwer.« Was mich an diesem Zitat interessiert, ist die mit Kriegsende plötzlich eintretende (...)

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Reichl, Veronika

2/2022 | Die Hummeln summen lauter. Katherina liest Clarice Lispector

Katherina hatte schon als Kind die Schönheit schwergenommen: Sie hielt es nicht aus, wenn etwas Schönes verging, ohne ganz gesehen worden zu sein. Während ihre Eltern bei Wanderungen immerzu weiterwollten, weil sie an den Kaiserschmarrn in der Gastwirtschaft oder den Kuchen zu Hause dachten, konnte Katherina einem berückenden Sonnenuntergang kaum den Rücken zukehren. Es wäre furchtbar, wenn die Schönheit umsonst dagewesen wäre. Nur wenn Katherina sah, daß andere Menschen den Sonnenuntergang bewunderten, mochte sie weitergehen. So ging es ihr mit allem, was sie liebte. Katherina (...)

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Eörsi, István

4/2013 | »Lukács war bereit, sein Leben für eine Sache hinzugeben«. Gespräch mit Adelbert Reif und Ruth Renée Reif

ADELBERT REIF, RUTH RENÉE REIF: Herr Eörsi, Sie bekannten einmal, daß Georg Lukács im intellektuellen und auch im persönlichen Sinne Ihr Leben mitbestimmt habe und daß Sie wahrscheinlich bis zum Lebensende in der Auseinandersetzung mit ihm stehen würden. Wann sind Sie Georg Lukács zum ersten Mal begegnet? ISTVÁN EÖRSI: Ich habe Lukács zunächst durch sein Buch über den historischen Roman kennengelernt. Das war 1946. Ich war damals fünfzehn Jahre alt und seine Ausführungen begeisterten mich ungemein. Bis heute bin ich davon überzeugt, daß es einen tiefen Zusammenhang gibt (...)

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Reinert, Bastian

3/2019 | Die Wahrheit liegt im Zerfall. Aphorismen

Es gibt nichts, was nicht Abschied wäre.
Selbst das Willkommen ist einer. Meist sind Feinde gewissenhafter als Freunde. An jedem Gedanken hat sich schon einmal ein Mensch erhängt. Nichts von dem, was wir tun, hat Bestand. Darum tun wir es und täten nichts, wenn alles bliebe. Am freiesten sind wir in unseren Widersprüchen. Wer die eigenen Lügen irgendwann glaubt, dem sind sie zu Wahrheiten geworden, um die man ihn beneiden kann. Denken heißt: seinem Verstand mißtrauen, daß er etwas bereits verstanden hat. Du mußt mit den Ohren staunen! Im Vergleich werden die (...)

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Röckel, Susanne

4/2023 | Drei Bilder aus Vilnius

(…)
2. Paneriai
Die Fahrt dauert acht Minuten und kostet hin und zurück 1,76 Euro. Man sitzt in einem warmen, bequemen Zug und wenn man aussteigt, ist man in einem durchschnittlich häßlichen Vorort mit Wohnblock aus der Sowjetzeit; Einfamilienhäusern, Gemüsegarten und Supermarkt. Es gibt ein Schild: Paneriu˛ Memorialas mit einem Pfeil, dem ich vertrauensvoll folge. Der Weg führt in den Wald. Bald ist er nicht mehr geteert. Die Hauser sind alt und aus Holz. Zwei Betrunkene gehen schwankend vor mir her und verschwinden hinter einem rostigen Tor. Auf einer Veranda sind (...)

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Roidis, Emmanouil

3/2008 | Lob der Krankheit

Wahrscheinlich wirst du, lieber Leser, schon bei der Überschrift dieses Artikels mit den Achseln zucken und ausrufen: »Dummes Zeug!« Allerdings wohl nicht, wenn du mal schwer krank warst und noch daran denkst, was du damals empfandest. Der erste und vielleicht größte Vorzug einer Krankheit besteht darin, daß du dich nur an diesen Tagen erzwungener Untätigkeit völlig frei fühlst von jeder Verpflichtung und Verantwortung gegenüber dir selbst, deiner Frau und den Kindern, der Gesellschaft und deinen Gläubigern. Erst dann kannst du ruhigen Gewissens sagen: »Mag kommen, was da will (...)

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Różewicz, Tadeusz

5/2011 | Eine Erinnerung und ein Gedicht

Nur soviel Ich wollte Erinnerungen an den Herbst 1939 in Radomsko notieren … das Bombardement, die brennende Stadt, unsere Flucht durch Flammen und Rauch. Das Feuer ist klein und kalt. Die deutschen Bomber ziehen wie Schatten vorbei, das schrille Pfeifen der fallenden Bomben ist wie Stille. Das Ganze wirkt wie ein verschwommenes Bild, wie ein altes, zwischen Zetteln wiedergefundenes Foto. Selbst die große Angst ist klein. Die Asche der Stille, in der ich mit meinem schwarzen Kugelschreiber wie mit einem Stöckchen herumwühle. Die Lebenden und die Toten schrumpfen und verlieren sich am (...)

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Różycki, Tomasz

2/2014 | Gedichte als Lebenschronik. Über Joachim Du Bellay

Ich weiß nicht, warum ich diese Gedichte gefunden habe, die Frage ist sogar etwas absurd. Von allen möglichen Gründen, potentiellen und realen Verkettungen von Ereignissen scheint die einzig wahre und – bei aller Paradoxalität – einzig sinnvolle Antwort zu lauten: Die Gedichte haben mich gefunden. So ist es wohl mit allen Lektüren – unser Unterbewußtsein wartet nur darauf, sich im Licht der weißen Blätter zu enthüllen, die schwarzen Buchstaben dienen ihm als Weckruf. Und weil ich nichts über mein Unterbewußtsein weiß, denke ich lieber, die Gedichte hätten mich gefunden. Sie (...)

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1/2016 | Tomis. Notizen vom Haltepunkt

Winter. Erster Eintrag: So sei es denn eine – sicher unvollkommene – Existenzweise und ein ebenso unvollkommener Verständigungsversuch. Dem Anschein nach ist es ein richtiger Winter, sentimental und mythisch, die Stadt ist eingeschneit, die Autos passieren einander vorsichtig wie beladene Elefanten auf einem Dschungelpfad. Fluß und Kanäle sind zugefroren, im Fernsehen schneit es. Einstweilen muß man nicht über den sechs Monate langen, bis in den April dauernden winterähnlichen Herbst voller Schlamm klagen, die Zeit des Schlamms kommt später – wenn es taut, wenn die Schneewehen, (...)

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2/2021 | Sternenvehikel. Zum Übersetzen von Gedichten

1. Als ich, zusammen mit anderen mehr oder weniger gelungenen Definitionen von Poesie, vor Jahren Robert Frosts Aussage »I could define poetry this way: it is that which is lost out of both prose and verse in translation« in polnischer Übersetzung zum ersten Mal las, fand ich sofort, dies sei einer jener wunderbaren und zugleich scheußlichen Sätze, in denen kein Wort ersetzt oder gar umgestellt werden kann. Ein Satz wie eine mathematische Gleichung mit einer Unbekannten. Und zugleich eine dieser Definitionen, die, statt etwas zu erklären, weitere Fragen provozieren und uns nicht (...)

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5/2021 | Der dunkle Mantel. Über Adam Zagajewski

1. Als sein Gedicht »Versuch, die verstümmelte Welt zu besingen« in Claire Cavanaghs Übersetzung bald nach dem 11. September 2001 im »New Yorker« erschien und ihn in den USA berühmt machte, war Adam Zagajewski in Europa und insbesondere in Deutschland, wo er von 1979 bis 1981 als DAAD-Stipendiat lebte, schon lange bekannt und geachtet. In Polen kannte man ihn als Verfasser nicht nur ästhetisch, sondern auch politisch wichtiger und streitbarer Bücher. Die Bühne der amerikanischen Literatur betrat er mit einem Lyrikband, der – auf Empfehlung von Joseph Brodsky, wie Adam einmal (...)

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2/2023 | Großmutters Haus. Eine Reise in die Ukraine

Ungenaue Karten, falsche Karten, verbrannte Karten. Karten, die so dicht mit Bedeutung gesättigt sind, daß sie unmöglich erklärt werden können und das Entwirren des Geflechts von Namen und Zeichen großen Schmerz bereitet. Ich tauche ein in das Dunkel und versuche, einige Winkel kurz zu erhellen. Ich beuge mich vor und sammle ein paar verkohlte Klumpen, Fetzen und Rußpartikel. Ich muß mich an die Erde schmiegen, mit dem Kopf ins hohe Gras des Bahndamms eintauchen. Ungerecht, wie überaus ungerecht sind diese Teile, diese Bruchstückchen. Nie wird man sie zu einem Ganzen fügen können, (...)

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Ruhe, Ernstpeter

1/2017 | Die Vitalität der Poésie noire. Aimé Césaires Wirkung in den deutschsprachigen Ländern

Es brauchte erst einen Weltkrieg, damit die weltweite Wirkung Aimé Césaires beginnen konnte, und einen objektiven Zufall, wie ihn die Surrealisten so schätzten. André Breton, bei seinem Ausweichen nach New York 1941 auf Zwischenstation in Martinique, entdeckte in einem Kurzwarenladen in Fort-de-France ein lokales Zeitschriftenheft mit Gedichten, die ihn zum Dichter selbst und zu dessen »Aufzeichnungen von einer Rückkehr ins Land der Geburt« führten, dem für Breton »größten Monument der Lyrik unserer Zeit«. Die Begeisterung über einen Schwarzen, der dem in der Alten Welt (...)

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Rühmkorf, Peter

5/2010 | Im Pastorat am Himmelreich. Rede zum Johann-Heinrich-Voß-Preis

Als ich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts meinen 70.Geburtstag feierte, fand sich unter zahlreichen ausgesucht persönlichen Geschenken ein besonders merkwürdiges und beziehungsreiches. Es stammte von meiner Cousine Margret, die mir zum Anlaß Johann Heinrich Voß’ Idylle »Der siebzigste Geburtstag« aus einer alten Werkausgabe herauskopiert hatte und mit eigener Hand gebunden und mit teils stattlichen, teils komischen Greisenporträts versehen, und natürlich begann ich sofort darin zu lesen. Alles noch ohne Hinblick oder Bezug auf den mir hier verliehenen Preis, denn davon konnte noch (...)

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3/2020 | Die Widersprüche singen lassen. Aufgezeichnet von Gabriele Helen Killert

Empfangsbereit Es ist ein eigenartiges Phänomen: Je tiefer man in sich hineinschaut, um so mehr Menschen können sich darin erkennen. Man muß es so subjektiv wie möglich halten, damit dieser Funke bei den Klienten zündet. Ich habe mich immer als Versuchsperson betrachtet, habe geschrieben, hinter mir ging sozusagen eine Gestalt, die mitschreibt. Ich habe überall Papier und Stift dabei, man kann nicht alles am Schreibtisch erledigen. Wenn man sich selbst so’n bißchen als Welt- und Zeitmitschreiber versteht, dann kommen aus dem Moment heraus wunderbare Formulierungen, kleine Quanten, (...)

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3/2022 | Träume ausgeklinkt. Briefwechsel mit Kurt Darsow 1996/97. Mit einer Vorbemerkung von Kurt Darsow

Flugübungen. Eine Vorbemerkung
Hellwache Gegenwartsnähe und profunde Belesenheit schlossen sich für Peter Rühmkorf nie aus. Bis in die Wortwahl hat er in seinen vertrackten Gedichten das Triviale mit dem Erlesenen kontrastiert. Der Panzerschrank, die Wurstfabrik, das Hollerithgesicht, der Siebenuhrflieger, die Rheinstahltochter und das Morgenei koexistieren dort unfriedlich mit dem Montgolfier, der Hypotaxe, dem Prokrustesbett, dem Nietzschewort, Hans Huckebein und dem Prinzip Hoffnung. Kein Wunder, daß für den unehelichen Sohn einer Grundschullehrerin und eines Puppenspielers die (...)

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Wagner-Régeny, Rudolf

1/2010 | Erinnerungen und Notizen (1943-65)

Aus dem Archiv der Akademie der Künste   Es ist unwahrscheinlich, und nur der Erlebende vermag es zu bestätigen, daß eine restlose Zerstörung der eigenen Lebensführung eine Art der Heiterkeit zu erzeugen vermag, die jenseits aller festgefügten Vorstellungen steht. Je gewaltsamer alle äußeren wie inneren Werte aufgelöst werden, um so beharrlicher will ein starkes Weltgefühl sich bemerkbar machen. Es übernimmt die Funktionen des verstandesmäßigen Erwägens, es leitet unsere Schritte in nachtwandlerischer Sicherheit.   Ein kleines unfreundliches Zimmer des Gasthauses »Zum (...)

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