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Heftarchiv – Leseproben

Palaver, Wolfgang

4/2007 | Gespräch mit René Girard

PALAVER: Sie sagen, schon die ersten biblischen Texte seien, verglichen mit den Texten der Griechen, blutiger, grausamer und von ganz unverhüllter Gewalt. Deshalb ist das biblische Erbe für viele ein Erbe der Gewalt. Sie haben die Psalmen einmal mit einem umgedrehten Fell verglichen. GIRARD: Mit einer Tierhaut. Gesäubert und bearbeitet ist sie wunderschön, glänzend, großartig. Aber wenn man sie gleich nach dem Abziehen wie einen Handschuh umdreht, ist überall Blut. Ja, die Mythen sind wie ein Fell, daher werden sie gehegt und gepflegt. Der heutige Leser findet die Psalmen abstoßend, weil er noch die blutige Haut des Opfers sieht. (...)

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Paret, Christoph

1/2022 | Wettbewerb mit Toten. Über eine eigentümliche Rezeptionstheorie Boris Groys’

Ist es trotz oder wegen der Publikationsflut unserer Tage, daß die Ratgeber, die ich mir eigentlich wünschen würde, partout nicht erscheinen wollen: »Stillschweigen. Wie Sie zu Ihrer eigenen Schreibblockade werden«, »Das leere Blatt – eine Utopie«, »Schreib-Enthemmung? 120 geniale Tips sich zurückzuhalten«. Jedenfalls muß es mittlerweile als Ereignis allerersten Ranges angesehen werden, wenn ein Text einmal nicht geschrieben wird. So erklärt sich die Aufmerksamkeit, die der in Sinn und Form veröffentlichte Briefwechsel zwischen Hans Magnus Enzensberger und Theodor W. Adorno (...)

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Pauly, Yvonne

1/2021 | Unterscheidungskunst. Ein Gespräch mit Marion Poschmann über poetische Taxonomien

YVONNE PAULY: Seit Ihrem Debüt 2002 sind Sie als Romanautorin und Lyrikerin hervorgetreten und für Ihr Werk vielfach ausgezeichnet worden. Ich erwähne hier nur die Thomas-Kling-Poetik-Dozentur, für die Sie 2016 an Ihre Alma mater, die Universität Bonn, zurückkehrten. Die Antrittsvorlesung wurde unter dem Titel »Kunst der Unterscheidung« publiziert. Da ich 1989 / 90 ebenfalls in Bonn studierte, habe ich schon die ersten Sätze mit besonderem Interesse und nicht ohne Sentimentalität gelesen. Sie beschreiben Ihre beiden Bonner Jahre als ein Leben »mit gesenktem Kopf« und (...)

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Pavlovici, Florin Constantin

5/2017 | Die Folter. Das Grundlagenbuch

Gesichter des Winters
Anfang Dezember wurde der Regen zu Schneeregen. Der Wind schlug in heftigen, sturmverheißenden Böen, Wassertropfen geißelten die taubgefrorenen Körper wie Eisnadeln. Wir waren dabei, die letzte Erde am Dorfrand bei Agaua aufzuschütten, um wie angeordnet mit der Baustelle in den Süden der Insel zu ziehen. Der Damm sollte mitten durchs Dorf gehen, es standen bloß ein paar Bauernhäuser und Gehöfte im Weg, deren Abriß auf den Frühling vertagt worden war. Selbst die Herren der Aue wagten es nicht, ganze Familien mitten im Winter an die Luft zu setzen, nicht ohne Sondergenehmigung. Zu Sankt Nikolaus waren wir für den Umzug bereit, just als der Schneesturm heraufzog. Wegen einer Durchsuchung verzögerte sich unser Aufbruch. Am Lagerausgang hießen uns die Unteroffiziere erst einmal die Häftlingsuniformen ausziehen. Eine gute Stunde ließen sie uns in Hemd und langer Unterhose an Ort und Stelle ausharren. Zweifellos brauchte es die Zeit, bis jeder einzelne gefilzt und sichergestellt worden war, daß keiner darunter Flanellhemden oder Zivilbekleidung trug, in der er hätte fliehen können. (...)

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Person, Jutta

1/2023 | Wortfeldmagie mit Wiedergängern. Kleine Dämonologie für Lothar Müller

Vor genau hundert Jahren schreibt Heinrich Mann eine Rezension für die Prager Zeitung »Bohemia«, die mit einem eher düsteren Bild der Gegenwart beginnt: »Diese Zeit hat alles, nur nicht Heiterkeit«, so der erste Satz, und der Kritiker des Jahres 1922 fährt fort: »Zuinnerst lebt die Gegenwart verdammt beladen mit schweren Fragen und hat das – niemals berechtigte – Gefühl, als seien sie unlösbar.« Dann aber folgt die 180-Grad-Wende: Ein Buch komme ihm gelegen, das vollkommen heiter und noch dazu auf der Höhe der Zeit sei, so Mann, nämlich die Geschichtensammlung (...)

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Peter, Carmina

5/2014 | »Eine lebendige Statue des Schmerzes«. Über M. Blecher

  I Als der Militärarzt und Dichter Saşa Pană im Frühjahr 1936 in die moldauische Provinz versetzt wird, nutzt er die Gelegenheit zu einem seit langem ersehnten Besuch und legt einen Zwischenaufenthalt in der Kleinstadt Roman ein. Der unermüdliche Verfechter der Bukarester Avantgarde ist nicht der einzige, den es an den unscheinbaren Ort im Nordosten Rumäniens zieht. Seit zu Jahresbeginn »Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit«, das außergewöhnliche Prosabuch des jungen Autors M. Blecher, erschienen ist, pilgern Bukarester Schriftsteller in das Provinzstädtchen. Der in (...)

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Petrow, Wsewolod

1/2015 | Erinnerungen an Michail Kusmin und Anna Achmatowa. Mit einer Nachbemerkung von Oleg Jurjew

Cagliostro Man mußte in den vierten Stock eines großen Petersburger Hauses in der ruhigen Spasskaja-Straße, die allerdings schon lange Ryleew-Straße hieß. Man mußte dreimal die Klingel der Gemeinschaftswohnung drücken. Dann öffnete sich die Tür, und dahinter entstand eine magische Atmosphäre. Hier wohnte ein Mensch, der Cagliostro ähnelte – Michail Alexejewitsch Kusmin. Er war einer der Bewohner einer zugemüllten und engen Gemeinschaftswohnung der dreißiger Jahre. Außer Kusmin und seinen Angehörigen wohnte dort eine menschen- und kinderreiche jüdische Familie, deren (...)

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Pfeifer, Anke

3/2012 | Gespräch mit Mircea Cartarescu

ANKE PFEIFER: Sie gelten als einer der bedeutendsten rumänischen Gegenwartsautoren und sind auch jenseits der Landesgrenzen sehr bekannt. Seit dreißig Jahren veröffentlichen Sie Lyrik, Prosa und Essays. Vor zwei Jahren haben Sie die umfangreiche Trilogie »Orbitor« beendet, die zum Teil auch schon auf deutsch vorliegt. Als der abschließende dritte Band erschien, sagten Sie, dieses Romanwerk sei das beste Buch, das Sie schreiben konnten, und was nun komme, sei nur noch ein Anhang. Sind Sie immer noch dieser Meinung? MIRCEA CĂRTĂRESCU: Es wäre sehr traurig, wenn ich das (...)

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Pitschmann, Siegfried

3/2016 | Aufzeichnungen eines Lehrlings. Mit einer Vorbemerkung von Kristina Stella

Vorbemerkung Siegfried Daniel Pitschmann, ein kaum bekannter ostdeutscher Meister der Short story, wurde am 12. Januar 1930 im niederschlesischen Grünberg (heute Zielona Góra) geboren und war das zweitälteste von sechs Kindern des Tischlermeisters Daniel Pitschmann und seiner Frau Lucie, die einer alteingesessenen schlesischen Handwerker- und Lehrerfamilie entstammte. Anfang 1945 wurde die Familie mit einem der letzten Flüchtlingszüge, die unversehrt aus Grünberg herauskamen, evakuiert. Zwei Kinder lebten schon nicht mehr: Siegfrieds kleine Schwester Dorothea starb mit zehn Monaten, (...)

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Plessen, Elisabeth

3/2024 | Katia Manns unerwünschte Memoiren

Der Mauerbau im August 1961 veränderte das Leben in der Viersektorenstadt Berlin radikal. Sie war nun in zwei Hälften zerschnitten. Westberlin war nicht Westdeutschland, war etwas Drittes, der Status blieb in der Schwebe – und die Stadt hing am Bonner Tropf. Ab 1964 studierte ich an der Freien Universität Berlin Philosophie und Literaturwissenschaft, wechselte aber bald zu Walter Höllerer, der an der Technischen Universität den Lehrstuhl für Neuere Germanistik innehatte und ein renommiertes Doktorandenseminar leitete – ein quirliger, innovativer Geist, der unendlich viel für die (...)

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Ponge, Francis

2/2020 | Die Nelke / Die Mimose. Mit einer Vorbemerkung von Susanne Stephan

Vorbemerkung

Im Herbst 1940 läßt sich Francis Ponge mit seiner Familie in Roanne westlich von Lyon nieder. Nach dem deutschen Überfall auf Polen und der Kriegserklärung Frankreichs an Deutschland war er zunächst eingezogen und in Rouen stationiert worden; als die Besatzer sich in Nordfrankreich etablierten, flüchtete er nach Süden in die »Zone libre« und traf nach einigen Irrfahrten in La Suchère (Haute-Loire) wieder auf seine Familie, die Ehefrau Odette und die fünfjährige Tochter Armande. In Roanne finden sie Zuflucht, und Ponge kann eine Tätigkeit im Steuerbüro (...)

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Poschmann, Marion

1/2021 | Unterscheidungskunst. Ein Gespräch mit Yvonne Pauly über poetische Taxonomien

YVONNE PAULY: Seit Ihrem Debüt 2002 sind Sie als Romanautorin und Lyrikerin hervorgetreten und für Ihr Werk vielfach ausgezeichnet worden. Ich erwähne hier nur die Thomas-Kling-Poetik-Dozentur, für die Sie 2016 an Ihre Alma mater, die Universität Bonn, zurückkehrten. Die Antrittsvorlesung wurde unter dem Titel »Kunst der Unterscheidung« publiziert. Da ich 1989 / 90 ebenfalls in Bonn studierte, habe ich schon die ersten Sätze mit besonderem Interesse und nicht ohne Sentimentalität gelesen. Sie beschreiben Ihre beiden Bonner Jahre als ein Leben »mit gesenktem Kopf« und erinnern (...)

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Prabala-Joslin, Avrina

3/2023 | Ein Panzer, ein Bataillon, ein Banyanbaum

Er erzählt ihr, er sei achtundzwanzig. Sie erzählt ihm, sie sei sechzehn. Zu Hause stimmt etwas nicht. Sie weiß nicht was. Sie mag es, wenn niemand  da ist und sie sich einfach an den neuen Computer setzen kann. Damals waren Computer noch eine große Neuheit und sie gehörten zu den wenigen Leuten in der ganzen Stadt, die einen zu Hause hatten. Ihr Dad ist der Präsident von irgendwas. Nicht des Landes, nicht der Stadt. Es  ist so etwas wie ein Geheimdienst, wie diese Bühnenarbeiter, die zwischen den Akten Möbel herumschieben. Blackouts. Sein Telefon klingelt ständig. Er sagt nicht (...)

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Prammer, Theresia

6/2015 | Mönchsgrasmücken, Tamarisken, Bekassinen. Der Dichter Giovanni Pascoli

oci oci oci oci oci oci, fi fideli fideli fideli fi, ci cieriri ci ci cieriri, ci ri ciwigk cidiwigk fici fici. Oswald von Wolkenstein   chioccola il merlo, fischia il beccacino; anch’io torno a cantare in mio latino. es flötet die Amsel, die Schnepfe schlägt ein; auch ich singe weiter in meinem Latein. Giovanni Pascoli   Obwohl im deutschen Sprachraum bis heute kaum bekannt, war Giovanni Pascoli (1855 –1912) einer der großen Dichter des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Für Pier Paolo Pasolini, der ihm bereits in jungen Jahren ein Buch gewidmet hatte, stellte sein poetisches Denken und Wirken sogar die Grundlage der italienischen Gegenwartslyrik dar. Wie sein Lehrer, der Bologneser Universitätsprofessor Giosuè Carducci, verband Pascoli die Universitätslaufbahn mit der Berufung des Dichters. Sein Werk umfaßt Oden und Hymnen ebenso wie spirituell gefärbte Verse; die exaltierten Züge des Fin de siècle spiegeln sich darin und lassen doch Raum für das Privat-Alltägliche, Erlebte, »Nicht-zu-Erfindende« (Pascoli). (...)

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Primavera-Lévy, Elisa

1/2023 | »Die Geheimnisse der Prosa sind von stillerer Art.« Gespräch mit Wolfgang Kohlhaase und Matthias Weichelt

MATTHIAS WEICHELT: Herr Kohlhaase, Sie haben eine Wohnung in Ihrer Geburtsstadt Berlin, wohnen mit Ihrer Frau Emöke Pöstenyi aber seit den sechziger Jahren auch in diesem Haus in Neu Reichenwalde, fernab der Literatur und Filmkreise. Damals waren Sie als Drehbuchautor in der DDR schon sehr bekannt. Wie hat man Sie hier auf dem Land als Zugezogenen, als Städter aufgenommen? WOLFGANG KOHLHAASE: Ziemlich am Anfang war ich noch viel in Berlin, einmal bin ich mit dem Rad hier rausgekommen und habe das dann stehenlassen. Ich wollte ausprobieren, wie lange es steht. Eine Art Check auf die (...)

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Prischwin, Michail

1/2018 | »Glücklich unsere Erben, die unsere Zeit nur lesen werden.« Aus dem Tagebuch 1930. Mit einer Vorbemerkung von Eveline Passet

Vorbemerkung Ich kann der Gesellschaft nur aus einem Abstand zu ihr in versunkenem Nachdenken nützlich sein.
1. Juni 1928 Wie soll man dagegen sein! Nur ein Verrückter kann sich unter die Lawine stellen und denken, daß er sie aufhält. Mir vormerken: In ein Umfeld gehen, wo aufgebaut und an etwas geglaubt wird.
28. Oktober 1929 Die Revolution beraubt den Menschen seines individuellen Schicksals.
24. Dezember 1930 Michail Prischwin (1873 –1954) ist dem Leser, in Rußland wie jenseits seiner Grenzen, vor allem als Kinderbuchautor bekannt und als »Sänger der russischen (...)

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Prochasko, Jurko

4/2008 | Mein Fenster zur Welt. Dankrede für den Friedrich-Gundolf-Preis

Es kam, wie es kommen mußte. Es kommt so: es kommt der Frühling, er ist noch jung. Der wilde Wein auf dem großen langen Balkon beginnt erst, Knospen zu treiben. Es ist ein ganz zartes Grün, ein blasser Schimmer vielmehr. Eine Ahnung. Die Rebe braucht ihre Zeit. Sie kommt spät. Junge Blätter an alten, faserigen Zweigen. Aber die Sonne ist schon stark genug, um die lange erwarteten Gerüche zum Leben zu erwecken: der warme körnige Verputz der Mauer, das alte Holz der Blumenkästen, die trockene, silbrige Erde in den Tontöpfen, der feine, spitze Staub auf der hölzernen Schwelle zwischen (...)

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