Herrmann-Neiße, Max
1/2015 | Die Kellnerin. Mit einer Vorbemerkung von Klaus Völker
I. Am Samstag Vormittag ging der Lokomotivführer Gustav Finger wieder in den Dienst. Zuerst hatte man beim Frühstück tüchtig Grund gelegt, wenig dazu gesprochen, daß der ersprießliche Vorgang nicht unnötigerweise gestört würde, auch war man ohnehin noch morgendlich maulfaul, zur unternehmungslustigen Wachheit des Tages nicht bereit. Hatten sich also die beiden Eheleute wie zwei faule, dampfende Massen einander gegenüber gelagert, der Mann auf dem Sofa, hemdsärmlig, vor sich auf rotbeblümter Tischdecke den tiefen Teller voll Aufgewärmtem, Suppe, Fleisch, Gemüse von gestern Mittag zu einem Brei verkocht, dicke Bissen Brotes nun noch hineingebrockt und das Rauchende dann in sich geschaufelt, an der anderen Seite des Tisches Frau Bertha, zottlige Haare unfrisiert um das frisch geaschte, verdunsene Gesicht, die Augen kindlich blöde blinzelnd, mit weißgestärkter, knallender Untertaille (...)
LeseprobeNagel, Ivan
4/2016 | Dieses Rätsel will ich leben. Im Gespräch mit Jens Malte Fischer und Wolfgang Hagen
JENS MALTE FISCHER: Sie haben einmal davon gesprochen, daß Sie auf dreifache Weise Minderheiten angehörten. Das hat mich an einen Gustav Mahler zugeschriebenen Satz erinnert, der gesagt haben soll: »Ich bin dreifach heimatlos, als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt.« Bei Ihnen lagen die Minderheitsprobleme etwas anders. IVAN NAGEL: Ich war Jude, Staatenloser, Homosexueller. Ich glaube, wir sollten jetzt nicht über die äußere Biographie reden, sondern über die innere Biographie. Wie konnte man mit dieser Situation der (...)
LeseprobeNeumann, Marion
1/2019 | Die Hoffnung der hoffnungslosen Fälle. Ein Gespräch mit Georg Stefan Troller über Heimat, Emigration und Verwandlung
MARION NEUMANN: In Ihrer Autobiographie »Selbstbeschreibung« von 2009 erzählen Sie vor allem von den Jahren 1938–45, auch vom Nachkrieg und von Ihrer Rückkehr nach Paris. Wie haben die Jahre des Exils Sie geprägt? Und hat sich diese Zeit auch auf Ihren Stil ausgewirkt? GEORG STEFAN TROLLER: Das ist nicht einfach zu beantworten. Jahrelang habe ich unter Zukunfts- und Lebensangst gelitten, auch unter der Minderwertigkeit, die mir so viele Jahre lang eingetrichtert wurde, und der eigenen Bedeutungslosigkeit: Es kommt nicht auf dich an. Ob du lebst oder stirbst ist der Welt (...)
LeseprobeNickel, Gunther
3/2012 | »Seite Ende, Brief Schluß, Herzlichst Peter«. Peter Hacks schreibt an Mamama
Die Entscheidung von Peter Hacks, im Sommer 1955 von Bayern in die DDR zu übersiedeln, muß seine Mutter schwer getroffen haben. Ihr erster Sohn Jakob wohnte mit seiner Familie zwar in Laufnähe, aber die »Mamama«, wie sie in der Familie genannt wurde (und noch heute genannt wird), hing doch sehr am jüngsten, mit dem sie nach dem Tod ihres Mannes im August 1950 allein in der Goethestraße 10 in Dachau lebte. Daß sie ihrem Sohn 1955 das Versprechen abnahm, ihr regelmäßig zu schreiben, gilt in der Familie als gesichert und ist angesichts des ausgeprägten Eigensinns, den Hacks schon in (...)
LeseprobeNikolić, Jovan
3/2015 | Letzte Worte
Die Kindheit Wie groß ist die Welt, wenn du klein bist. Die Menschen, der Hund, die Bäume und der Fluß. Der Himmel so fern und die Wolken ein so schöner und angenehmer Anblick, der ein unbestimmtes, aber grenzenloses Vertrauen zum Leben gibt. Die ganze Welt war vollständig hier, neben mir: meine Mutter, mein Vater und alle, die sich um mich kümmerten. Diese Welt, das waren auch unser Haus, mein Zimmer, darin mein Bett, mein Kopfkissen und meine Träume, grünes Gras und Blumen in der Ecke des Hofes, der Hund, ein Paar Katzen und mein Spielzeug. An gewissen Tagen, die vor Licht strahlten und unsere sonst so ruhige Straße mit Lärm füllten, hörte ich Gespräche zwischen Erwachsenen in einer mir vollkommen unverständlichen Sprache, und ich merkte (...)
LeseprobeNimtz-Köster, Renate
2/2024 | Tauben auf dem Arm, Tarnfleck auf den Straßen. Czernowitz im zweiten Kriegsjahr
Schon wieder Czernowitz? Ist nicht alles über diese Stadt in der ukrainischen Bukowina gesagt worden? Auf halbem Weg zwischen Kiew und Bukarest, Krakau und Odessa gelegen, galt sie einst als »heimliche Hauptstadt Europas«, schwärmte noch in den neunziger Jahren der Journalist Georg Heinzen. Mit Rosensträußen, wie er poetisierte, seien die Bürgersteige gefegt worden. Und es habe mehr Buchhandlungen als Bäckereien gegeben.
Dieses Verhältnis hat sich längst umgekehrt, es gibt zahllose Konditoreien feinster Güte, überschaubar ist hingegen die Zahl der Buchhandlungen. In deren (...)
Noll, Chaim
3/2010 | Die Metapher Wüste. Literatur als Annäherung an eine Landschaft
Die Wüste gehört zu den großen Siegern unserer Tage. Und es scheint, als wäre dieser Sieg für den Menschen nichts anderes als eine Katastrophe. Unaufhaltsam expandieren Wüsten, Trockengebiete und Steppen, jedes Jahr um eine Fläche, die ungefähr dem Territorium Deutschlands entspricht. Von Desertifikation, wie Wissenschaftler den Vorgang nennen, sollen weltweit etwa anderthalb Milliarden Menschen betroffen sein: in dem Sinne, daß die Erde, auf der und von der sie leben, sich in Steppe oder Wüste verwandelt. In den täglichen Katastrophennachrichten spielen die Heimsuchungen durch (...)
Leseprobe5/2015 | »Wo Juden sind, entsteht auch Literatur«. Gespräch mit Przemyslaw Sznurkowski
PRZEMYSŁAW SZNURKOWSKI: Sie zeichnen in Ihren Büchern ein differenziertes Bild der israelischen Gesellschaft. Besonders in Ihrem 2014 erschienenen Roman "Die Synagoge" lernt man Sie als aufmerksamen Beobachter der politischen Ereignisse und sozialen Zustände in Israel, vor allem aber auch als kritischen Bürger kennen. CHAIM NOLL: Kritik gilt hier in Israel als etwas vollkommen Normales. In Deutschland neigt man dazu, Konsens auf allen Gebieten herzustellen, man ist bemüht, möglichst immer einer Meinung zu sein, bis zur bösen Einheitlichkeit, die alle anderen Meinungen unterdrückt und totschweigt. So etwas ist hier unvorstellbar. Wenn man nach Israel kommt, (...)
LeseprobeNowka, Michael B.
5/2020 | Zweige verwandelt in Hände. Aus dem Tagebuch eines Kiefernharzsammlers (1983 –1990)
Beschreibung eines geheimen Berufs Wir Harzer in der DDR waren Leistungslöhner. Und Langstreckengeher. Zehn bis zwanzig Kilometer pro Tag und mehr, je nach Baumdichte. Ich ging in meinen Revieren oft über feinstengliges, weiches Waldgras. Die vorjährige Schmiele war verfilzt und bildete noch grüne, kräftezehrende Luftpolster. Schützenlöcher aus dem Zweiten Weltkrieg kreuzten die ausgetretenen, mit der Axt notdürftig gelichteten, kaum sichtbaren Arbeitspfade von Baum zu Baum. Fuchs- und Dachsbaue, Ameisenhaufen. Ich ging durch urwaldähnlichen Unterwuchs aus Vogelkirschen, (...)
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