Maar, Michael
1/2013 | Lieblingsstellen. Streifzug durch Martin Mosebachs Romane
Es ist Nicholson Baker, den ich mir bei meinem Streifzug als Cicerone denke. MeinLieblingsbuch von ihm trägt den wortspielerischen Titel »U and I«. Das »U« steht für John Updike, dem Baker in diesem Roman-Essay eine sehr persönliche Hommage macht, eine Hommage mit dem Blick des Anfängers – er hatte gerade seine ersten beiden Bücher veröffentlicht – auf den bewunderten und ein wenig beneideten Altmeister. Bakers Prinzip ist es, daß er sich nicht nur verbietet, Stellen in Updikes Werk nachzuschlagen, sondern sich auch vornimmt, nur auf seine Erinnerung zu hören. Das Prinzip hat (...)
LeseprobeManea, Norman
6/2010 | Begegnung mit Cioran
Die Sprache ist die Plazenta des Schriftstellers, dieses Exilanten par excellence. Mehr als jeder »Fremde« im eigenen Land muß sich der Schriftsteller die Sprache langsam oder auch im Überschwang erobern; sie ist ihm Legitimation, geistige Heimstatt. Durch die Sprache fühlt er sich verwurzelt und frei, nur durch sie ist er mit seinen Gesprächspartnern in der ganzen Welt verbunden. Die Sprache verkörpert die wahre Staatsbürgerschaft, den Sinn der Zugehörigkeit – Haus und Vaterland des Schriftstellers. Aus diesem letzten und wichtigsten Zufluchtsort verbannt zu sein, führt zur (...)
LeseprobeMarquard, Odo
5/2010 | Gespräch mit Jochen Rack. Über das Alter (2004)
JOCHEN RACK: Sie haben in Ihren philosophischen Essays immer wieder betont, daß Erfahrung für die Philosophie unersetzlich sei. Sie sind jetzt 76 und insofern durchaus qualifiziert, über das Altern zu sprechen. Wann beginnt es eigentlich? ODO MARQUARD: Man sagt, normalerweise um die fünfzig, aber für mich ist das kein Einschnitt gewesen. Der erste Einschnitt kam schon mit 28, als ich anfing, über mein Leben nachzudenken, ein anderer war natürlich die Emeritierung mit 65. Ich habe drei Jahre vor der Zeit aufgehört, weil ich mir sagte, es wird nicht lange dauern, bis ich (...)
LeseprobeMaugham, William Somerset
2/2013 | Betrachtungen über ein gewisses Buch. Kants »Kritik der Urteilskraft«
I. Pünktlich um fünf vor fünf wurde Professor Kant von seinem Diener Lampe geweckt, und um fünf setzte er sich, angetan mit Pantoffeln, Morgenrock und Nachtmütze, über welcher er seinen Dreispitz trug, in sein Studierzimmer zum Frühstück. Dies bestand aus einer Tasse dünnen Tees und einer Tabakspfeife. Die folgenden zwei Stunden beschäftigte er sich mit der Vorlesung, die er an diesem Morgen halten würde. Dann kleidete er sich an. Der Hörsaal befand sich im Erdgeschoß seines Hauses. Er las von sieben bis neun, und seine Vorlesungen waren so beliebt, daß jemand, der einen (...)
LeseprobeMayer, Manfred
3/2007 | Gespräch mit Inge und Walter Jens und Thomas Grimm
FRAGE: Sie beschäftigen sich schon so lange mit der Familie Mann, daß man fast sagen kann, sie gehört zu Ihrem Haushalt. Wie hat das eigentlich alles angefangen? INGE JENS: Eines Tages kam der Verleger Günther Neske mit einem Stapel Briefe von Thomas Mann an Ernst Bertram. Weiß der Teufel, woher er die hatte. Er sagte zu meinem Mann: »Das sollten Sie edieren.« Der guckte drauf und sagte: »Um Himmels willen! Handschriftlich! Nein, nicht mit mir.« Neske war etwas betreten, und da sagtest du: »Fragen Sie doch mal meine Frau.« Und der Verleger hat sich darauf eingelassen, (...)
LeseprobeMcCormick, John
1/2008 | Eine andere Musik
Diejenigen, die in relativ wohlhabenden westlichen Gesellschaften leben, vor allem aber wir Amerikaner, neigen dazu, sich zu ihren Ansichten über Gott, die Moral und die Wirtschaft zu beglückwünschen - eine Haltung, die es erlaubt, die weniger »Fortgeschrittenen« darüber zu belehren, wie sie ihr bedauernswertes Los verbessern könnten. Folglich sind wir die Herren der Wirklichkeit. Und wir haben die Bankkonten, die das belegen. Eine Schwachstelle in dieser Logik wird jedoch ausgespart, wenn es um das Problem des Alters geht. Wir mögen dem Alter mit seiner Häßlichkeit und seinem (...)
LeseprobeMeckel, Christoph
3/2011 | Russische Zone
Die letzten Tage des Kriegs und die ersten des Nachkriegs glichen einander grau in grau. Für das Wort Frieden war die Zeit zu früh, ich hatte es öfter im Krieg als danach gehört. Viel helle, harte Courage schien nötig, ein Weiterleben für menschenmöglich zu halten. Zukunft, das Wort war mager geworden wie die, die es riefen, es war in ihm kein Jubel und keine Gewißheit, es irrte herum ohne Zuständigkeit, alt geworden, kaputt wie alles und jeder, es war eine Last. Die Stadt Erfurt, in der wir am Leben waren – zwei kleine Brüder und ich, das Dienstmädchen Lucie und meine Mutter im (...)
Leseprobe3/2013 | Naftali Bezem, der Maler
Als ich Naftali Bezem zum erstenmal besuchte, hatte er neun oder zehn Jahre in Basel verbracht, in kaum nachvollziehbarer Weise wie in Verbannung allein, private Isolation, die keinen politischen Anlaß, keine künstlerische Notwendigkeit zu erkennen gab. Er arbeitete und wohnte in einem Backsteinkomplex voller Werkräume, Ateliers und Büros, nicht weit von der Rheinpromenade auf der Kleinseite Basels. Sein Studio und Privatraum war grau vom Nordlicht und Durcheinander der Dinge. Er hatte immer Zeit, war immer allein, gedrungene Gestalt, schwer beweglich, prallbäuchig, leicht schwankend auf (...)
LeseprobeMeerapfel, Jeanine
5/2023 | Eine Frau
Bei jedem Umzug – wenn die Fotoalben, die alten Schellackplatten, die Dokumente wieder aus den Schränken herausgenommen werden müssen – springt mich die Notwendigkeit an, Erinnerungen zu verarbeiten und eine endgültige Ordnung dafür zu finden. Vielleicht geht es darum, mich so lange zu erinnern, bis ich vergessen kann.
Ich erfinde immer neue Ordnungssysteme, die ich dann wieder verwerfe. Immer wieder stellt sich die Sehnsucht nach einer logischen Archivierung ein. Es ist, wie wenn die Dinge nach einer Erzählung verlangten, die sie in einen übersichtlichen Zusammenhang (...)
Mensching, Steffen
5/2023 | Das Wort. Eine Umkreisung in vier Runden
1
Im Archiv der Berliner Akademie der Künste liegt eine achtzig Seiten starke Broschüre, die 1932 im Verlag Ida Graetz in Berlin-Charlottenburg erschien. Der Titel lautet wenig spektakulär: »Das Wort«. Später ergänzte der Autor Rudolf Leonhard die Publikation um die Unterzeile »Versuch eines sinnlichen Wörterbuchs der deutschen Sprache« und behauptete, damit die »zärtlichste und lauterste Liebeserklärung, die je der deutschen Sprache gemacht worden ist«, verfaßt zu haben. Als er 1950 aus dem Exil zurückkehrte, steckte in seinem Gepäck ein Exemplar der Studie, die er in (...)
Michon, Pierre
6/2013 | Der Himmel ist ein sehr großer Mann
Übrigens hatte schon Swedenborg,
der eine weitaus größere Seele besaß,
uns gelehrt: Der Himmel ist ein sehr großer Mann.
Baudelaire
Es kommt selten vor, daß ich bete. Anfang September 2001 lag meine Mutter, die ihr Erwachsenenleben lang versucht hatte, mir Vater und Mutter zu sein und im hohen Alter meine Tochter hätte sein können, in der Kleinstadt G. im Sterben. Vor dem Fenster standen gewaltige Bäume, ein Blätterwall. Jeder Tag dieses Spätsommers war schön, die Sonne spielte auf der Mauer in immer neuen Variationen unter den Augen einer Sterbenden, die Bäume (...)
Mierau, Fritz
5/2009 | Koktebel - Blaues Siegel oder Erfindung einer Landschaft
Vor vierzig Jahren überwältigte mich der Anblick einer Küstenlandschaft am Schwarzen Meer. Auf meiner russischen Reise vom Sommer 1965 hatte ich den Osten der Krim erreicht: Homers Kimmererland, Kolonie von Milet, später von Genua, vor der Eroberung durch Rußland Chanat der Tataren, Hitlers geträumten »Gotengau«, heute Ferienparadies und gepriesene Weingegend der ukrainischen autonomen Republik Krim. In einer Bucht erhob sich unmittelbar am Meer vor dem Hintergrund schroffer kahler Berge ein Steinbau mit hohen Fenstern im Stil einer frühchristlichen Basilika. Seitlich Balkons, daran (...)
LeseprobeVogel, Debora
1/2017 | Die Wohnung in ihrer psychischen und sozialen Funktion. Mit einer Vorbemerkung von Anna Maja Misiak
Es gibt enorm viel Raum in der Welt: unnötigen,
unbeholfenen Raum.
O, die flachen langsamen Räume, langweilig wie
ein großer mit Lauge gescheuerter Bretterfußboden,
wie die runde Landschaft eines Kalendersonntags
mit Menschen, die für etliche Stunden ihr Schicksal
irgendwo verlegt haben. Und die bummeln.
Debora Vogel, Akazien blühen
Die 1900 in Bursztyn bei Lemberg geborene Schriftstellerin Debora Vogel gestand ihren Brieffreunden immer wieder ihre Sehnsucht »nach dem Fahren«. Es zog sie »besonders in große Städte, aus jenen Städten heraus, in (...)
Mosebach, Martin
1/2009 | Ein Winter in Shio Mghvime
I.
Das Kloster Shio Mghvime liegt in der Nähe der alten georgischen Königsstadt Mzcheta. Der heilige Einsiedler Shio, ein syrischer Mönch, hauste hier in einer Höhle und sammelte einen Kreis von Nachfolgern um sich, der nach seinem Tod beständig wuchs; im ersten nachchristlichen Jahrtausend haben in manchen Zeiten mehr als zweitausend Mönche in den Höhlen gelebt, die sie in die Steilhänge gruben. So darf Shio Mghvime, das heißt »Shios Höhle«, sich zu den frühesten Klöstern der Christenheit zählen. Und tatsächlich kommt die bergige Landschaft, in der das Kloster liegt, (...)
1/2011 | Wer einen Roman schreibt - sollte der wissen, was ein Roman ist?
Ich war dreißig Jahre alt und hatte soeben meine juristischen Studien mehr schlecht als recht abgeschlossen und noch keine der kleinen Erzählungen und Stilexperimente aus meiner Referendarzeit veröffentlicht, als mich die Lektorin eines Verlages, die die Manuskripte gelesen hatte, fragte, ob ich nicht auch einen Roman schreiben könne. Ich hatte bisher noch keinen Gedanken auf einen eigenen Roman verwandt und zögerte dennoch keinen Augenblick, ja zu sagen, wie ich mehr oder weniger zu allen Zumutungen oder Versuchungen in meinem Leben ja gesagt habe. Ich hatte trotz meiner Neigung zur (...)
Leseprobe1/2014 | Der Feind
Ein junger Autor fragte einmal Ernst Jünger um Rat; er plane einen Essay mit dem Thema »Die Insel« – Jünger riet ab, das Thema sei nicht in den Griff zu bekommen, es sei zu groß. Für einen Aufsatz über den Feind müßte dasselbe gelten, schon gar in einer Kultur, in deren Grundfesten ein Bewußtsein von ewiger, unüberwindlicher Feindschaft eingemauert ist: der Glaube an den Satan, den Menschenmörder und Menschenfeind schlechthin. Große mythische Erzählungen berichten von seinem Aufstand gegen Gott, von der Eifersucht eines der ersten unter den Engeln, von seinem Sturz aus dem (...)
Leseprobe3/2018 | Wiedersehen mit Rom
Mit fünfzehn Jahren habe ich Rom zum ersten Mal betreten, eine Schwester meiner Mutter lud mich ein; wir wohnten in einem kleinen Hotel nahe der Via Nomentana und waren von morgens bis abends auf den Beinen, denn ich hatte die Absicht, »alles« zu sehen, und reiste auch in der Überzeugung ab, nun »alles« gesehen zu haben. Es dauerte noch einige Jahre, bis mir dämmerte, daß ich niemals »alles« in Rom würde gesehen haben, und brächte ich auch mein restliches Leben vorwiegend mit seiner Erforschung zu. Wer nach dem Krieg im westlichen Teil Deutschlands aufgewachsen ist, in unseren (...)
LeseprobeMüller-Waldeck, Gunnar
1/2008 | Woyzeck in Umea
Reisen erweitert den Horizont, ist aber teuer und daher mehr etwas für Wohlhabende. Goethe in Italien, Humboldt in Südamerika, Schliemann in Kleinasien, Griechenland, Ägypten. Die Finanzierung ihrer Unternehmungen bereitete diesen Reisenden kaum Kopfzerbrechen. Nicht jeder konnte sich das leisten. Doch auch viele Plebejer brachten es auf beachtliche Kilometerzahlen. Ihr Herumreisen in der Welt war freilich nicht Bildungsidealen und geistigen Interessen geschuldet, sondern allein ihrem Stand - sofern sie etwa Bedienstete oder Soldaten waren. Ein solch militärischer und damit eher (...)
Leseprobe3/2015 | Ein expressionistischer Dichter namens Wolfgang Koeppen
Die Antwort des Bertolt Brecht – befragt nach dem Einfluß des Expressionismus auf seine frühe Dichtung – ist berühmt. Sie war verächtlich und lautete: "Gab’s damals in Augsburg nicht". (Daß es diesen Einfluß gleichwohl gab, steht auf einem anderen Blatt!) Sein acht Jahre jüngerer Bewunderer Wolfgang Koeppen hätte nicht so lakonisch über sich und seine Geburtsstadt sprechen können. Zum einen war der literarische Expressionismus für ihn die Eintrittspforte in die Literatur, zum andern gab es ihn in Greifswald durchaus. Genauer: Es hatte ihn gegeben, wenn auch nicht im Sinne einer Gruppe oder Schule. (...)
Matt, Peter von
2/2009 | Selbstvorstellung
Meine Damen und Herren, in der Literatur beschäftigen mich Sätze, und es beschäftigen mich Konflikte. Einerseits also die kleinste, andererseits die größte Einheit in einem Werk. Nach vielen Jahrzehnten professionellen Lesens bin ich zur Überzeugung gelangt, daß sich die Literatur wesentlich im einzelnen Satz verwirklicht. Das zeigt sich an einem merkwürdigen Phänomen. Wenn ein Buch etwas taugt, stößt man in ihm von Zeit zu Zeit auf einen Satz, der den Zusammenhang, in dem er steht, übersteigt. Aus dem Schreiben eines größeren Ganzen heraus geboren, ist er doch ein Ding (...)
Leseprobe2/2010 | Die Tumulte der Wissenschaft und die Ruhe der Bibliotheken
Faust, der bekannte Doktor, hat etwas gegen die Bücher. Karl Moor, der bekannte Räuber, hat etwas gegen die Tinte. Zwar wurde diese doppelte Abneigung sorgsam mit Tinte festgehalten und in Büchern gedruckt, aber das hinderte die beiden leidenschaftlichen Kulturrevolutionäre nicht an ihrer Verwerfung alles beschriebenen Papiers. Es teilt den schlechten Ruf von Tinte und Buch. Wie die Tinte als kalter Gegensatz zum heißen Blut gehandelt wird, so gilt das Papier als Gegensatz zu allem Lebendigen, »papieren« ist im Deutschen ein Schimpfwort. Als wäre es nicht die spirituellste Materie (...)
Leseprobe