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Heftarchiv – Leseproben

Labatut, Benjamín

2/2022 | Die tote Stadt

Vor einigen Jahren, im Oktober 2008, gestand der englische Physiker Freeman Dyson in einer Vorlesung, daß er ein bestimmtes Lied von Monique Morelli – »La ville morte« – nicht hören könne, ohne von heftigsten Gefühlen überwältigt zu werden, ein ihm selbst unerklärliches Phänomen. Die mit schmerzvoller Stimme gesungene Ballade, begleitet von den Klagelauten eines Akkordeons, besticht durch ergreifende Bilder: Als wir in die tote Stadt einzogen / Hielt ich Margot an der Hand / Ein Morgen, der nicht endete / schenkte uns sein totes Licht / Wir liefen durch die Straßen, von (...)

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Lange, I. M.

2/2013 | Mein Freund Walter Benjamin. Mit einer Vorbemerkung von Erdmut Wizisla

Vorbemerkung Immer wieder tauchen unbekannte Quellen zu Walter Benjamin auf. In den letzten zehn Jahren gehörten Briefe aus der Promotionszeit in Bern dazu, eine Postkarte an Ernst Bloch, Aufzeichnungen zum Spracherwerb seines Sohnes Stefan, ein umfangreiches Konvolut mit Notizen, Exzerpten und Briefentwürfen aus dem Pariser Exil, die unter Zeitungsausschnitten im Moskauer Sonderarchiv verborgen waren, und manches mehr. Die meisten Entdeckungen verdanken sich der Arbeit an der neuen kritischen Gesamtausgabe und werden dort auch zugänglich gemacht, was nicht heißt, daß ihr (...)

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Leetz, Michael

6/2016 | »Der erste, der wirklich alles verstanden hat«. Andrej Platonow, der Schriftsteller der Zukunft

Im Dezember 1934 bereitet den Redakteuren des Almanachs "Zwei Fünfjahrpläne" ein Beitrag großes Kopfzerbrechen. Er umfaßt nur wenige Seiten, doch sein Inhalt ist von großer Sprengkraft. Allein der Titel läßt den Text gefährlich erscheinen: "Über die erste sozialistische Tragödie". Die Sowjetunion befindet sich in ihrem dreizehnten Jahr. Es ist die Zeit des Zweiten Fünfjahrplans, der einen gewaltigen wirtschaftlichen Aufschwung herbeiführen soll. (...)

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Leggewie, Claus

5/2016 | Neue Briefe aus Paris. Eine Wende im literarisch-politischen Grenzverkehr

Für Rupert Neudeck,
den Frankreichkenner und Menschenretter
(1939 – 2016) Das Schmettern des gallischen Hahns Frankreich zieht deutsche Kulturschaffende seit der Revolution von 1789 in seinen Bann. Zu den Frankophilen des »Jungen Deutschland«, einer Kongregation freiheitsliebender Literaten im Vormärz, zählte Carl Ludwig Börne, 1786 als Juda Löb Baruch in der Frankfurter Judengasse (am heutigen Börneplatz) geboren und 1837 in Paris gestorben. Aus dem Exil schrieb er seiner Muse Jeanette Wahl »Briefe aus Paris«, deren zweiter (von insgesamt 115) vom 7. September 1830 (...)

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1/2020 | Auf den Spuren Wolfgang Koeppens in Washington

»Die Kasernen der geimpften Kreuzritter auf Europas Boden, der erneuerte Limes am Rhein, Raketenrampen im schwarzen Revier, Versorgungsbasen bei der hohen Schule von Salamanca, Bulldozer, Planierungsmaschinen, Höhlenbohrer, Verstecke für die Angst, Unterstände für die Torheit, die alten Weinberge den Göttern und den Heiligen und dem Umsatz geweiht, das deutsche Vorfeld, die germanische Mitte, des Erdteils gebrochenes Herz, Maginots wiedererstandene Illusionen, die Kolonien der Feldoffiziere und Sergeanten mit dem Indianergesicht, Nachbarschaft und Isolierung, die Main Street mitgebracht (...)

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Legro, Michelle

6/2014 | Eine Reise nach Japan in sechzehn Minuten. Sadakichi Hartmann und sein Kunstwerk der Düfte

Ezra Pound, Dichter im Exil, geistig verwirrter Faschist und unverdrossener Träumer, befand sich in der produktiven Phase eines Nervenzusammenbruchs, als er 1945 wegen Hochverrats verhaftet und in einem amerikanischen Lager nördlich von Pisa interniert wurde. Fast den ganzen Tag über in einen Käfig von zwei mal zwei Metern gesperrt – das von der Hitze ausgedörrte Gras hatte er im ruhelosen Auf- und Abgehen niedergetreten –, wurde Pound nach einem psychiatrischen Gutachten in ein Offizierszelt verlegt und begann das Pisa- Kapitel seiner »Cantos« zu schreiben, ein episches Gedicht (...)

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Lehr, Thomas

4/2018 | Der Künstlerbesuch

Ich besuche mich wie einen Kranken, mit einem Blumenstrauß, einer Schachtel Pralinen, mit Äpfeln, Bananen, Orangen, einem neuen Buch. Doch nichts davon kann ich annehmen. Mein Gesicht scheint gegen eine Wand gepreßt, und wenn ich den Kopf heben will, um etwas zu sehen, muß ich ihn weit ins Genick biegen. Gute Besserung! rufe ich mir zu, bin mir aber nicht sicher, ob dieser Satz aus dem Mund des Besuchten oder dem des Besuchers kommt. Meine Arme scheinen nach unten zu hängen. Beim mühevollen Blick hinab kann ich etwas Unruhiges, sich matt Bewegendes erkennen, schwarzes Wasser (...)

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5/2022 | Der Freund, der zuhören konnte. Totenrede für Friedrich Christian Delius

Wenn ich mutig wie Christian wäre, würde ich seine Totenrede mit einem Geständnis beginnen: Ich habe nicht alle seine Bücher gelesen! Schon sehe ich ihn schmunzeln, auf seine unnachahmliche Grandseigneur- Art, und es könnte sogar sein, daß er mir leicht und salopp mit der Hand auf die Schulter klopft.
»Allerdings«, würde er mir dann empfehlen, »solltest du dein Licht nicht unter den Scheffel stellen und also besser sagen: Ich habe nicht alle seine Bücher gelesen, aber von den wichtigen die meisten. Und füge locker hinzu: Ich habe sie auch verstanden.«
Zurückhaltend, (...)

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Lenhard, Philipp

4/2019 | Adornos letzte Postkarte

Ende Juli 1969 bricht Adorno mit seiner Frau Gretel in den Sommerurlaub in die Schweiz auf. Es liegen anstrengende Tage und Wochen hinter ihm. Mit Herbert Marcuse war es zu einem heftigen Streit über die Haltung zur Studentenrevolte gekommen. Im Sommersemester hatte Adornos Vorlesung aufgrund von permanenten Störaktionen abgebrochen werden müssen. Einige Mitglieder des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes Frankfurt hatten Ende Januar das Institut für Sozialforschung besetzt, und Adorno hatte es polizeilich räumen lassen. Sein Student Hans-Jürgen Krahl wurde als Rädelsführer (...)

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Lenya, Lotte

2/2022 | »Ich habe die Hosen voll, wenn ›ich an Deutschland denke in der Nacht‹«. Briefwechsel mit Theodor W. Adorno. Mit einer Vorbemerkung von Jens Rosteck

Vorbemerkung Kurt Weills plötzlicher Tod im einundfünfzigsten Lebensjahr, ausgelöst durch einen Herzinfarkt, am 3. April 1950 warf seine Ehefrau Lotte Lenya (ursprünglich Karoline Wilhelmine Charlotte Blamauer, 1898–1981) völlig aus der Bahn. Zweieinhalb stürmische Jahrzehnte hatten sie verbunden, ein bemerkenswertes Auf und Ab in Liebesdingen, eine veritable Schaffensexplosion, eine beispiellose Premierenserie in Berlin, die glorreiche wie mythenumrankte Brecht-Ära, die schwierige Emigration, der Neuanfang in den Vereinigten Staaten und gleich zwei Hochzeiten. Weills (...)

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Lenzen, Manuela

5/2019 | Der elektronische Spiegel

Der »Nächste Rembrandt«, neue Choräle im Stil von Johann Sebastian Bach, die sechste Staffel von »Game of Thrones«, eine Geschichte über Einhörner, aus zwei vorgegebenen Sätzen gesponnen: Seit Beginn der Künstliche-Intelligenz-Forschung bedienen sich auch Künstler der mehr oder weniger klugen Systeme und schaffen mit ihrer Hilfe Gedichte, Erzählungen, Theaterstücke, Performances, Bilder und Musik. Zum Teil erzielen sie damit abenteuerliche Preise – 432 000 Euro zahlte ein anonymer Sammler im letzten Jahr für das von einem Algorithmus errechnete »Portrait von Edmond Bellamy« (...)

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Lethen, Helmut

3/2019 | Unter dem Pflaster die Kanalisation. War das Böse das wirklich Reale der historischen Avantgarden?

Unter dem Pflaster ist die Kanalisation – mit diesem Titel visiere ich kein verborgenes Terrain an, kein unterirdisches System, durch das die Abfälle des oberirdischen Systems der sozialen oder moralischen Hygiene zuliebe abgeführt wurden. Im 20. Jahrhundert lag die finstere Kanalisation aufgedeckt vor uns, was auch eine Leistung der Avantgarden war. Dort befand sich keine geheime Tiefenstruktur mit Plantagen verbotener Drogen und versteckten Waffenlagern. Nein, das 20. Jahrhundert hatte den Vorteil, daß es im Scheinwerferlicht technisch hochmoderner Apparate den moralischen Untergrund (...)

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Lévi-Strauss, Claude

2/2009 | Die westliche Kontamination. Gespräch mit Boris Wiseman

BORIS WISEMAN: Sie gelten heute als Klassiker, und nicht selten reiht man Sie unter die größten Denker unserer Zeit ein. Was bedeutet Ihnen das?
CLAUDE LÉVI-STRAUSS: Es rührt mich, aber zugleich bringt es mich in Verlegenheit und ärgert mich.
WISEMAN: Warum?
LÉVI-STRAUSS: Weil ich glaube, daß es nicht wahr ist. Neben meinen großen Vorgängern empfinde ich mich als klein.
WISEMAN: Mir scheint, Sie haben niemals wirklich versucht eine Schule zu bilden oder, in der Art von Sartre, die Rolle eines »intellektuellen« Führers zu spielen. War das eine bewußte (...)

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Levy, Oscar

3/2007 | Die Exkommunizierung Adolf Hitlers. Ein Offener Brief

Mein Führer, es wird Sie erschüttern, bis ins Mark erschüttern, daß jemand, der noch nicht einmal deutscher Staatsbürger ist oder sich rühmen kann, einen Tropfen Ihres edlen arischen Blutes in seinen Adern zu haben, Sie in dieser Weise anredet. Doch ich muß Sie so anreden, weil wir dieselbe Weltanschauung haben, wir sind Brüder im Geiste, wir nennen uns beide stolz Schüler des Philosophen Friedrich Nietzsche. Zumindest werden Sie als ein solcher von Ihren deutschen Anhängern verehrt; sie bezeichnen Sie als seinen fleischgewordenen Geist, sie rühmen Sie als eine Annäherung an den (...)

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Lewitscharoff, Sibylle

2/2010 | Steine, die fliegen, Worte, die fallen. Literatur und menschliche Schuld

Nicht der Ostwind, nicht der Westwind, nicht Nord- noch Südwind haben mir die folgenden Ideen zugeweht oder ihnen zumindest aufgeholfen, vier Herren waren es. Vier Herren, vier Bücher: die »Philosophie des Traums« von Christoph Türcke, einem Philosophen, der höchst ergiebig über die Anfänge der Menschwerdung nachgedacht hat, sodann »Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz« von René Girard, einem Anthropologen, der genau das Buch zum Erweis der eminenten Botschaft des Christentums schrieb, welches die Theologen versäumt haben zu schreiben, ferner die Lektion über (...)

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4/2012 | Ich versus Wider-Ich. Selbstvorstellung in der Akademie der Künste

Hundert Euro für den, der überzeugend darlegen kann, daß er haarscharf als die Person nachts die Augen schließt und sich in die Kissen wühlt, von der gemeinhin angenommen wird, er sei ebendiese Person und keine andere. Was gemeinhin als eine bestimmte Person mit Namen, Lebensdaten, etcetera verstanden wird, ist natürlich das, was im Paß verzeichnet ist und in einem kurzgefaßten Lebenslauf stehen könnte, vor allem aber sind es die abertausend, vielleicht Millionen Blicke, die diese Person von anderen Personen empfangen hat, welche sie fortlaufend interpretiert, einige davon (...)

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Liebermann, Doris

4/2011 | Auf dem kalten Asphalt von Berlin. Über Vera Lourié

Vera Lourié war achtzig Jahre alt, als sie sich noch einmal leidenschaftlich verliebte: in eine jüngere Frau, die Gattin ihres Hausarztes. Dreißig Jahre lang hatte sie kein Gedicht mehr geschrieben, nun begann sie, Liebesgedichte auf deutsch zu verfassen. Die Angebetete erwiderte die fordernde, besitzergreifende Liebe nicht. Sie sah in Vera eine Freundin, sorgte sich um ihr Wohlergehen, brachte ihr Medikamente. Hin und wieder tranken die beiden ein Glas Champagner zusammen. Vera Lourié begann damals, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, in Form der hier erstmals veröffentlichten Briefe, (...)

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Llywelyn-Williams, Alun

1/2016 | In Berlin – August 1945. Gedichte. Mit einer Nachbemerkung von Wolfgang Schamoni

1. Lehrter Bahnhof   Heledd und Inge im roten Fackelschein – Inge oder Heledd, wer ist wer? Die Jahre betrügen uns – Sieh nur, wie dort, wo eilig Fäden ineinanderlaufen, wir fernen Reisenden zusammenkommen, durch Zufall unter der Uhr. Wirklich durch Zufall? Auf diesem Bahnhof beginnt keine Reise, es endet auch keine, es sei denn, man sieht in seinen zerborstenen Bahnsteigen das Ende aller Reisen. Kauft eure armselige Fahrkarte wohin auch immer; lang, lang ist das Warten dieser Menschenmenge, groß ihre Geduld und ohne Murren, weil das blinde Geschoß, das meinen tumben (...)

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Locke, John

6/2021 | Weihnachten in Deutschland (1665). Mit einer Vorbemerkung von Jürgen Overhoff

Vorbemerkung

Der englische Philosoph John Locke, der sein schriftstellerisches Hauptwerk innerhalb weniger Jahre an der Schwelle zum 18. Jahrhundert veröffentlichte, war einer der wichtigsten Vordenker und Stichwortgeber der Aufklärung. Deren Zielsetzungen und politische Diskurse prägte er so nachhaltig wie kaum jemand sonst. Ausgangs- und Bezugspunkt seiner gesellschaftsverändernden Überlegungen war die »Glorreiche Revolution« von 1688 / 89, die er als Gefolgsmann des neuen Monarchen William III. nach Kräften unterstützte. Diese Befreiung von der absolutistischen (...)

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Loschütz, Gert

1/2015 | Vom Schreiben über verlassene Orte

Zwei Schreib-Orte Einmal wohnte ich auf einer Insel in einem wunderschönen Haus, das ein Freund gemietet und mir für die Zeit, in der er es nicht brauchte, überlassen hatte. Es lag in einem großen Garten, in dem Äpfel, Wein und Aprikosen wuchsen. Dreimal in der Woche kam ein Gärtner, kippte einen Schalter neben der Terrassentür herunter, und schon schoß aus überall am Boden versteckten Düsen das Wasser. Es war im Frühsommer, Juni, so heiß, daß ich mich, wenn ich arbeiten wollte, in das kühlste Zimmer des Hauses zurückzog. Es lag im Erdgeschoß. Ich saß an einer Geschichte, einer Novelle, die ich zu Hause begonnen hatte und an der ich dort weiterschrieb. Wenn ich aufschaute, sah ich meine Frau und eine Freundin, die uns begleitete, im Liegestuhl am Swimmingpool. Und wenn ich den Blick wieder senkte, las ich die Sätze, die ich grade in die Maschine getippt hatte: (...)

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5/2018 | Herburgers Lachen

Seit langem überlege ich, was das ist: ein glückliches Leben. Oder ein geglücktes. Sagt man: Ein Leben war glücklich, wenn einer erreicht hat, was er sich in frühen Jahren vorgenommen hatte? Ist ein glückliches Leben also ein erfolgreiches? Oder ist es eins, in dem die glücklichen Tage überwiegen? Und: Welchen Zeitraum zieht man für diese Berechnung in Betracht? Welchen Lebensabschnitt? Nimmt man alle zusammen? Oder beschränkt man sich auf einen? Einen frühen? Einen mittleren? Den späten? Gar den letzten, der ja kaum jemals zu den glücklichen zählt? Nimmt man die letzten zehn (...)

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Primavera-Lévy, Elisa

1/2023 | »Die Geheimnisse der Prosa sind von stillerer Art.« Gespräch mit Wolfgang Kohlhaase und Matthias Weichelt

MATTHIAS WEICHELT: Herr Kohlhaase, Sie haben eine Wohnung in Ihrer Geburtsstadt Berlin, wohnen mit Ihrer Frau Emöke Pöstenyi aber seit den sechziger Jahren auch in diesem Haus in Neu Reichenwalde, fernab der Literatur und Filmkreise. Damals waren Sie als Drehbuchautor in der DDR schon sehr bekannt. Wie hat man Sie hier auf dem Land als Zugezogenen, als Städter aufgenommen? WOLFGANG KOHLHAASE: Ziemlich am Anfang war ich noch viel in Berlin, einmal bin ich mit dem Rad hier rausgekommen und habe das dann stehenlassen. Ich wollte ausprobieren, wie lange es steht. Eine Art Check auf die (...)

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