Habel, Sabrina
3/2017 | Wahrheitskunst. Brechts Anleitung zum richtigen Lesen
Für Bertolt Brecht ist Wahrheit nicht nur eine Frage der Gesinnung, sondern auch eine Frage des Könnens. Die Wahrheit, schreibt er, wird gesellschaftlich hergestellt und ihre genauen »Produktionsweisen « lassen sich beschreiben. Bemerkenswerterweise zieht Brecht daraus nicht den Schluß, daß es mehrere Wahrheiten gebe oder gar geben solle – wie Roland Barthes, der sagen wird, daß es für jede Begierde eine eigene Sprache geben soll. Brechts Verständnis von Wahrheit (und vielleicht auch von Begierde) ist einfacher: »Es gibt nur eine Wahrheit«, schreibt er, »nicht zwei oder ebenso viele, als es Interessengruppen gibt.« In diesem Sinne gibt es auch nur eine Sprache, allerdings in zwei Zuständen: einem, in dem sie die Wahrheit abbildet, und einem, in dem sie die Wahrheit verstellt. Es gibt nämlich auch Produktionsweisen des Unwahren. (...)
LeseprobeHagen, Wolfgang
4/2016 | Ivan Nagel, Dieses Rätsel will ich leben. Gespräch mit Jens Malte Fischer und Wolfgang Hagen
JENS MALTE FISCHER: Sie haben einmal davon gesprochen, daß Sie auf dreifache Weise Minderheiten angehörten. Das hat mich an einen Gustav Mahler zugeschriebenen Satz erinnert, der gesagt haben soll: »Ich bin dreifach heimatlos, als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt.« Bei Ihnen lagen die Minderheitsprobleme etwas anders. IVAN NAGEL: Ich war Jude, Staatenloser, Homosexueller. Ich glaube, wir sollten jetzt nicht über die äußere Biographie reden, sondern über die innere Biographie. Wie konnte man mit dieser (...)
LeseprobeHalbmayr, Alois
6/2017 | Die Theodizee und ihre Erben. Eine Erinnerung an Odo Marquard
Als Odo Marquard 2015 im Alter von 87 Jahren starb, war in den Nachrufen viel von seiner singulären Art und Weise die Rede, Philosophie zu betreiben; von seiner stupenden Kenntnis der Tradition, vor allem der Aufklärung; von seinem vehement vorgetragenen Plädoyer für einen »Abschied vom Prinzipiellen«. Natürlich wurde auch an seine vieldiskutierte These von den Geisteswissenschaften als Kompensationsunternehmen erinnert, an stilprägende Wortschöpfungen wie »Njet-Set« für die Vielflieger unter den Kritischen Theoretikern; »Wacht am Nein«; »Inkompetenzkompensationskompetenz«, (...)
LeseprobeHamblyn, Richard
3/2014 | Die Krakatau-Briefe von Gerard Manley Hopkins
(...) Wie die meisten Beobachter hatte Hopkins keine Ahnung von den Ursachen dieses Phänomens, doch er wurde von dem täglichen atmosphärischen Gepränge immer stärker fasziniert und verfolgte dessen wechselnde Ausformungen während jenes unruhigen Winters. Ende Dezember übertrug er seine Beobachtungen in ein merkwürdiges 2000-Wörter-Manuskript und sandte es an das führende Wissenschaftsjournal "Nature". Der im Januar 1884 veröffentlichte Text war ein Meisterwerk der Reportage, ein gesteigertes Prosagedicht, das literarisches Experimentieren mit enormer meteorologischer Exaktheit verband: "Über dem Grün wiederum erschien ein rotes Leuchten, breiter und gröber; es war zart gesprenkelt, und in den Rippen oder Streben war es mehr rosig, in den Kanälen, wo das Blau des Himmels hindurchschien, war es malvenfarben. Darüber war ein schwaches Lila. Das Rot sah man zuerst 45 Grad über dem Horizont, und darin waren Speichen oder Strahlen auszumachen, die ein Zuschauer mit einer offenen Hand verglich. Um 16.43 hatte Rot das Grün verdrängt und, sich mit dem restlichen Orange vermischend, den Horizont erreicht. (...)
LeseprobeHamburger, Maik
6/2012 | Mein Vater Rudolf Hamburger oder Die Abgründe des kurzen 20. Jahrhunderts
In frühester Erinnerung steht er vor mir, sportlich gekleidet in Jacke und Knickerbocker aus englischem Tweed. Der ruhige braune Ton des Pfeffer-und-Salz-Musters schien seine Persönlichkeit am besten zur Geltung zu bringen; der Stoff faßte sich weich, aber fest an, und die männlichen Schultern wirkten darin noch breiter. So kam er nachmittags von seiner Arbeitsstelle, einem Architektenbüro in Shanghai, um sich sogleich mit mir auf dem Rasen hinter dem Haus zu balgen. Heute bin ich bei nüchterner Berechnung erstaunt, wie kurz die Zeit des Zusammenseins in Wahrheit gewesen ist. Zweieinhalb Jahre in China, vier in Polen und der Schweiz, dazwischen lag schon eine Unterbrechung. Der sich dann 1939 für eine "kurze Zeit" vom Achtjährigen verabschiedete, verschwand für sechzehn Jahre. (...)
LeseprobeHamm, Claudia
6/2023 | Pandoras Blackbox. Zur Ersetzbarkeit von Übersetzern
»Das Gegenteil von Mensch ist nicht das Tier oder
das Ding, sondern sein Simulakrum: der Roboter.«
Emmanuel Carrère, Ich lebe und ihr seid tot
Als 2021 das Spoken-Words-Gedicht der jungen afroamerikanischen Autorin Amanda Gorman zur Amtseinführung des amerikanischen Präsidenten Joe Biden in verschiedene Sprachen übersetzt werden sollte, war die Aufregung groß, wer für diese Aufgabe die geeignete persönliche Erfahrung mitbringe. Zeugenschaft stand auf einmal gegen Empathie und Recherche, mangelnde gesellschaftliche Teilhabe und Fachkompetenz wurden zuweilen in eins gesetzt, (...)
Handke, Peter
5/2014 | Eine Ideal-Konkurrenz. Zum Briefwechsel zwischen Carlfriedrich Claus und Franz Mon
Ist’s nicht etwas Merkwürdiges, daß die Gestalten, die Gestalter, die Menschen, die Gestalter-Menschen, welche mich in der letzten Zeit in einer, in ihrer Weise dahin begeistert haben, mich auf meine Weise über sie zu äußern, ein jedesmal mir als Paare vor’s Leser-Auge getreten sind? So war’s vor einem Jahr mit dem gemeinsamen Tagebuch von Sophia und Nathaniel Hawthorne aus dem Jahr 1842, einem Paar, als Mann und Frau, wie’s nicht allein im Buche steht. So ist’s mir geschehen vor mehreren Monaten mit dem Briefwechselband, konzentriert auf die vier Jahre des Großen Kriegs (...)
LeseprobeHanshe, Rainer J.
5/2014 | Auftritt auf der Weltbühne. Miklós Szentkuthys »Ars Poetica«
[…] Szentkuthys zweites Buch »Az egyetlen metafora felé« (Auf zur einzigen Metapher), das 1935 erschien und 1985 wieder aufgelegt wurde, besteht aus einhundertzwölf numerierten Abschnitten, deren Länge von einem Satz bis zu mehreren Seiten reicht. Es ist ein in sich geschlossenes singuläres Werk, eine Art Kentaur, und zugleich der Humus für Szentkuthys spätere Arbeit. Der Text läßt sich keinem spezifischen Genre zuordnen, am ehesten trifft auf ihn vielleicht der Begriff Literatur in Blanchots umfassendem Sinn zu. Blanchot definiert Literatur als etwas, das die Unterscheidungen (...)
LeseprobeHarman, Mark
6/2008 | Wie Kafka sich Amerika vorstellte
Daß Karl Roßmann, der von seinen Eltern nach Amerika verbannte junge Held des Romans "Der Verschollene", Kafkas liebstes Alter ego war, ist so gut wie sicher. Als Kafka seiner späteren Verlobten Felice Bauer das erste Kapitel schickte, bat er sie: "Nimm den kleinen Jungen freundlich auf, setze ihn neben Dich nieder und lob' ihn, wie er es sich wünscht." Ich hoffe, daß Karl den Lesern ebenso ans Herz wächst wie mir beim Übersetzen des Buches und daß sie ein ganz anderes Bild von diesem ersten Roman Kafkas gewinnen, der immer noch viel zu sehr im Schatten seiner beiden späteren Romane steht. (...)
LeseprobeHartlaub, Felix
1/2014 | Platon und der Staat. Mit einer Vorbemerkung von Karl Corino
Vorbemerkung von Karl Corino Centenarfeiern für einen poeta absconditus wie Felix Hartlaub, der im Juni 2013 hundert geworden wäre, mögen in der breiten Öffentlichkeit ohne sichtbare Wirkung bleiben – für die literarhistorische Forschung können sie ein Anlaß sein, nach unbekannten Dokumenten zu suchen oder sich bislang unbeachteten Jugendwerken zuzuwenden, die in Archiven die Zeitläufte überdauert haben. Beides ist in seinem Fall geschehen: In den Beständen der Odenwaldschule wurde eine um 1932 entstandene umfangreiche Studie Hartlaubs über Platon entdeckt, und unter (...)
Leseprobe3/2017 | »In Neapel war ich sehr von der eigentlichen Ohnmacht der Kunst vor dem Leben überzeugt«. Briefe an die Familie aus Italien
Vorbemerkung Italien: Sehnsuchtsland der Deutschen. Nicht nur Touristen zieht es gen Süden, auch Schriftsteller konnten und können sich der Faszination des Landes nicht entziehen, wie sich an alpenähnlich hohen Bücherbergen zeigt. Während Goethe in Italiens Kunst und Landschaft noch Arkadien zu finden meinte, blickte mancher seiner Zeitgenossen schon kritisch auf das Land, wo die Zitronen blühn – zum Beispiel Johann Gottfried Seume, der auf seinem fast einjährigen »Spaziergang« durch Italien gerade auch dessen Schattenseiten beschreibt. Später setzte tatsächlich eine Art Italienverweigerung ein. Die Kritik entzündete sich unter anderem am Massentourismus, (...)
LeseprobeHartmann, Sadakichi
6/2014 | Im Land der Düfte
Leser moderner Literatur stutzen sicher öfters angesichts der ständigen Bemerkungen zum Einfluß von Gerüchen auf das menschliche Gefühlsleben und zur Möglichkeit, die Parfümkunde zu einer Kunst mit Anspruch zu erheben. Die Andeutungen der Schriftsteller sind zu spekulativ, als daß sie praktischen Wert hätten. Zumeist sind es bloß persönliche, durch den Genuß eines Parfüms entstandene Eindrücke oder vage Ideen, wie man dieses neue ästhetische Wirkungsfeld entwickeln könnte. Sie zeigen lediglich, daß es in fast allen Ländern ernstzunehmende Geister gibt, nach deren Ansicht der (...)
LeseprobeHartwig, Julia
2/2014 | Wohin gehöre ich. Amerikanische Gedichte
DIESER SONNENUNTERGANG
Dieser unvergleichliche Sonnenuntergang, dargebracht im täglichen Opfer.
Ite missa est. Der Tag ist vorüber. Der dunkelnde Ozean empfängt die Hostie.
Vögel, kluge Vögel, sagt, wo ich bin.
Im Fegefeuer des Nichtseins. Am Steilufer der Hoffnung.
(1971–74)
WACHEN AN DER BUCHT
Sie schlief ein aber selbst im Schlaf spülte der Ozean Sand an und rauschte
von allen Farben entblößt so wie sie ihn meist bei Tagesanbruch sah
Der Wind rüttelte an der Tür und schlug an die Fensterläden
Auf dem Stuhl ein (...)
Hauser, Heinrich
1/2012 | Die schlechten Mädchen von Hamburg. Texte aus dem Nachlaß
Vorbemerkung
Wir wissen nicht genau, wann Heinrich Hauser (1901–1955) diese Texte geschrieben hat, doch wir wissen, an wen sie gerichtet waren. »Mein Junge«, das ist Hausers Sohn Huc, der 1933 in Deutschland geboren wurde. Und wir wissen, weshalb Hauser sie auf englisch geschrieben hat: Huc Hauser hätte sie auf deutsch nicht verstanden. Der Vater mußte sich also einer fremden Sprache bedienen, um dem Sohn von seiner Vergangenheit zu erzählen. Wie kam das?
Wie so vieles hat das mit dem »Riß der Zeit« (Hertha Pauli) zu tun, jenem Riß, der sich 1933 auftat. Hauser war (...)
Hein, Christoph
5/2009 | Gespräch mit Ralph Schock
RAPLH SCHOCK: Vor mehr als 25 Jahren erschien Ihre Novelle »Der fremde Freund«. Sie fand große Resonanz. Wie denken Sie heute über diesen Text? CHRISTOPH HEIN: Tatsächlich habe ich ihn schon 1981 geschrieben, vor 28 Jahren. Das Buch war für mich sehr wichtig, da es viel übersetzt wurde und immer wieder überraschende Reaktionen hervorrief. Beim Wiederlesen bekommt man mit, was man geschafft, was man nicht geschafft hat. Man schaut mit dem Interesse eines sehr viel älteren Kollegen auf die Arbeit dieses jungen Menschen. SCHOCK: Sind Sie denn zufrieden mit der Arbeit des jungen (...)
LeseprobeHeinemann, Elke
4/2022 | Versuch über William Beckford im Jahr 2022
1
Social distancing, ein Schlagwort der Covid-19-Pandemie, läßt nicht von ungefähr an einen Mann denken, der 1760 in England geboren wurde und den größten Teil seines Lebens Abstand zu anderen gehalten hat. William Thomas Beckford, Schriftsteller, Baumeister, Komponist, Objektdesigner, Kunstsammler und Mäzen, im Brotberuf Millionenerbe, war ein Exzentriker, im Wortsinn ein »Sonderling«, wie der durch das britische Königreich tourende Exzentriker Hermann Graf von Pückler-Muskau 1828 zu berichten weiß: »eine Art Lord Byron in Prosa, der das prachtvollste Schloß in England (...)
Heißenbüttel, Helmut
6/2017 | Wiedersehen mit mir selbst in früherem Zustand. Knut Hamsun: Das letzte Kapitel
Aus dem Archiv der Akademie der Künste Als ich vor einiger Zeit im Schaufenster eines Antiquariats ein Buch von Svend Fleuron sah, war es, im Bruchteil von Sekunden eigentlich, genau in dem Moment, in dem ich Titel und Autor bewußt identifizierte, als ob ich weit zurück in die Zeit entführt würde, ins Vergangene, das bis zu diesem Moment ein Vergessenes gewesen war. Ich sah mich selbst, wie alt? sechs? sieben? acht? in einem großen Raum stehen, neben meinem Vater, der etwa Mitte Dreißig gewesen sein muß. Er beugte sich dem Schalterfenster zu, vor dem er stand, gab einen Zettel ab und (...)
LeseprobeHenneberg, Nicole
4/2014 | Sankt Petersburg und Berlin. Katharina Wagenbach-Wolff und die Friedenauer Presse
Literarische Leidenschaften und spektakuläre Entdeckungen prägen das Leben von Katharina Wagenbach-Wolff, in deren Biographie sich das zwanzigste Jahrhundert spiegelt: Ihre Großeltern erlebten den industriellen Aufschwung im Rußland der Jahrhundertwende, wurden nach der Oktoberrevolution enteignet und gingen nach Deutschland ins Exil – ihr Vater war damals fünfzehn Jahre alt. Sie selbst überstand den Bombenkrieg in Berlin und erfuhr später, als Buchhandels- und Verlagslehrling in Frankfurt, den Neubeginn der fünfziger Jahre. Zurück in Berlin, geriet sie mit ihrem damaligen Mann Klaus Wagenbach ins Zentrum der 68er Bewegung, lernte Ulrike Meinhof kennen und erlebte hautnah den politischen Sog der Roten-Armee-Fraktion. Sie lächelt, wenn man sie auf eine ihrer typischen Eigenschaften anspricht: ihren Eigensinn. (...)
LeseprobeHermlin, Stephan
1/1988 | Meinungen zu einem Streit - Von älteren Tönen
Im Sommer dieses Jahres erhielt ich einen dreizehnseitigen Brief. Der Schreiber ist mir seit langem bekannt. Er bedenkt mich in jedem Jahr mit ein oder zwei langen Briefen, die ich nicht beantworte. Ich bin im allgemeinen ein zuverlässiger Korrespondent. Hier mache ich eine Ausnahme. Meine Aversion gegen den Briefschreiber ist wohlbegründet, sie beruht u.a. auf meinem Widerwillen gegen Demagogie und Erpressung. (...)
LeseprobeHerrmann-Neiße, Max
1/2015 | Die Kellnerin. Mit einer Vorbemerkung von Klaus Völker
I. Am Samstag Vormittag ging der Lokomotivführer Gustav Finger wieder in den Dienst. Zuerst hatte man beim Frühstück tüchtig Grund gelegt, wenig dazu gesprochen, daß der ersprießliche Vorgang nicht unnötigerweise gestört würde, auch war man ohnehin noch morgendlich maulfaul, zur unternehmungslustigen Wachheit des Tages nicht bereit. Hatten sich also die beiden Eheleute wie zwei faule, dampfende Massen einander gegenüber gelagert, der Mann auf dem Sofa, hemdsärmlig, vor sich auf rotbeblümter Tischdecke den tiefen Teller voll Aufgewärmtem, Suppe, Fleisch, Gemüse von gestern Mittag zu einem Brei verkocht, dicke Bissen Brotes nun noch hineingebrockt und das Rauchende dann in sich geschaufelt, an der anderen Seite des Tisches Frau Bertha, zottlige Haare unfrisiert um das frisch geaschte, verdunsene Gesicht, die Augen kindlich blöde blinzelnd, mit weißgestärkter, knallender Untertaille (...)
LeseprobeHertmans, Stefan
2/2016 | »Wir leben in einer Zeit der Übergänge.« Gespräch mit Achim Engelberg
ACHIM ENGELBERG: Mit Ihrem letzten Roman »Der Himmel meines Großvaters« gelang Ihnen der internationale Durchbruch. In mindestens neunzehn Sprachen ist oder wird das Buch verlegt. Sie reisen den Übersetzungen hinterher. Kommen Sie – jenseits von kleineren Arbeiten – noch zum Schreiben? STEFAN HERTMANS: Ich beende gerade einen Roman, der im 11. Jahrhundert spielt und auf einem alten sephardisch-hebräischen Manuskript beruht, das sich in einer Sammlung in Cambridge befindet. Auf meine Protagonistin stieß ich durch ein Buch des Historikers Simon Schama. Nach drei Jahren (...)
Leseprobe2/2016 | Zwischen Gedenken und Erinnern. Über individuelle und kollektive Identität
Befristetes Angebot:
Den gesamten Beitrag kostenlos als PDF herunterladen.
»Der Himmel meines Großvaters« basiert auf der Geschichte, genauer den Aufzeichnungen meines Großvaters mütterlicherseits, in deren Mittelpunkt seine Erfahrungen und Erlebnisse im Ersten Weltkrieg stehen. Er hat diese im wesentlichen zwischen 1963 und 1979 niedergeschrieben – also fast ein halbes Jahrhundert später, (...)
Hiemer, Horst
5/2012 | Theaterleben. Geschichten und Erfahrungen
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs versachlichte sich die Theaterarbeit. Auch die Bühnenbilder änderten sich, und der Souffleurkasten, der kleine Hügel in der Mitte des Proszeniums, Relikt des alten Hoftheaters, angestammter Platz der Souffleuse, er verschwand. Sie saß nun, je nach Bühnenbau, in der Gasse neben dem Feuerwehrmann, in der Seitenloge oder sogar in der ersten Reihe. In den sechziger Jahren inszenierte Benno Besson am Deutschen Theater Sophokles’ "Ödipus, Tyrann" in einer Neuübersetzung von Heiner Müller. (...)
LeseprobeHilbig, Wolfgang
1/2019 | »Aber lassen wir die Ironie, es geht ums Heiligste.« Briefe an Ursula Großmann. Mit unveröffentlichten Gedichten. Mit einer Vorbemerkung von Michael Opitz
Vorbemerkung Wenn 2020 der siebente und zugleich letzte Band der Werkausgabe Wolfgang Hilbigs erscheint, werden in erster Linie seine zu Lebzeiten veröffentlichten lyrischen, erzählerischen und essayistischen Texte vorliegen. Editorisch noch weitgehend unerschlossen sind hingegen das unveröffentlichte Werk und die umfangreiche Brief- und Postkartenkorrespondenz des 1941 im thüringischen Meuselwitz geborenen Autors. Der gelernte Bohrwerkdreher, der viele Jahre als Heizer arbeitete, war ein eifriger Briefeschreiber, noch häufiger verschickte er Postkarten, besonders Kunstpostkarten. (...)
LeseprobeHonigmann, Barbara
4/2012 | Jüdisches Schicksal? Über Elisabeth Langgässer
Commystis commito. Ist es eine Widmung oder ein Motto, das Elisabeth Langgässer ihrem Roman "Das unauslöschliche Siegel" voranstellt? Es heißt auf deutsch: den Miteingeweihten gewidmet. Die mystes sind die Eingeweihten. Das ist es, was mir die Lektüre von Elisabeth Langgässers Texten so schwermacht, ich fühle mich nicht als Mit-Eingeweihte, also als eine, der das Buch gewidmet, für die es geschrieben worden ist. (...)
LeseprobeHorn, Eva
4/2015 | Air Conditioning. Die Zähmung des Klimas als Projekt der Moderne
Ankunft in Changi Airport, Singapur. Ich betrete eine luxuriöse Teppichlandschaft mit großen Orchideeninseln, kühl und geordnet, die Abfertigung verläuft zügig. Dann öffnen sich die Glastüren nach draußen. Es sind nur ein paar hundert Meter bis zum Taxistand. Ich trete in etwas ein, das nicht Luft, sondern ein kompaktes Medium zu sein scheint. Etwas, das sich zwar atmen läßt, aber meinen Körper wie eine Art Gelee umschließt. Durch diese feucht-heiße Dichte zerre ich mein Gepäck, ungeduldig, eilig, zunehmend kurzatmig und mit pochendem Schädel. Ich schwitze und werde innerhalb von Minuten schlapp und dumpf, der Kopf dröhnt, Finger und Gesicht sind geschwollen. Als ich mich schließlich ins klimatisierte Taxi fallenlasse, schnappe ich nach Luft (...)
Leseprobe6/2020 | Was vom Tag übrigbleibt. Über Selfies, Tagebücher und andere Dokumentationszwänge
Ich war immer ziemlich unfähig, Selfies zu machen. Von unten aufgenommen sieht man ein Doppelkinn, das ich sonst nicht habe, frontal die Stirnfalten, und ich glänze ungut. Von leicht oben sehe ich etwas mitleiderregend aus, schutzbedürftig, großäugig, nicht besonders schlau. Also, das habe ich schnell gelernt: am besten im diffusen Licht und freundlich gucken. Am Fehlen jenes Narzißmus, der Selfiemachern von allen Seiten vorgeworfen wird, kann es nicht liegen; eher an der technischen und visuellen Unbegabtheit meiner Generation, die ihr erstes Smartphone erst mit vierzig in der Hand (...)
Leseprobe5/2023 | Das Ende des Frühjahrs. Verschwinden und Wiederkehr der Jahreszeiten
Wer heute »vier Jahreszeiten« googelt, findet entweder Vivaldi oder eine Hotelkette, schlimmstenfalls auch noch ein paar handgestrickte Gedichte oder Bildmotive mit fallenden Blättern. Jahreszeiten sind banal wie Wettergespräche, peinlich wie die Rede vom »Wonnemonat Mai«, langweilig wie alles, was so erwartbar ist wie Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Gelegentlich ist die Rede von untypischen Jahreszeiten, aber das ist mittlerweile so unoriginell wie der Reflex, jedes schlechte Wetter auf den Klimawandel zu schieben. Immerhin hat es der Frühling im Sommer 2022 mal in die (...)
LeseprobeHorstmann, Ulrich
5/2012 | Wider das Herumdoktern an den Notausgängen. Selbstmord und Sterbehilfe. Eine Polemik
Nach knapp zwei Jahrtausenden scheinen wir angesichts der offenbar unausrottbaren menschlichen Neigung, die biologische Aufenthaltserlaubnis vorzeitig zurückzugeben, wieder bei der stoischen Liberalität eines Seneca angekommen zu sein. Inzwischen verbietet den Advokaten des selbstbestimmten Todes niemand mehr den Mund. Sie haben uneingeschränktes Rederecht; Gebrauchsanleitungen zum Selbstmord werden im Buchhandel vertrieben oder sind per Internet abrufbar, Organisationen wie EXIT oder DGHS können medienwirksam für ihre Sache eintreten. Warum sich also die Stunde des Triumphs vergällen (...)
LeseprobeHübner, Anja S. und Schöttker, Detlev
5/2013 | Der brasilianische Korrespondent. Auf der Suche nach Otto Storch
In einer der Aufzeichnungen über den Begriff der Geschichte, an denen Walter Benjamin bis kurz vor seinem Tod im September 1940 arbeitete, steht ein aphoristischer Satz, den der israelische Bildhauer Dani Karavan in Benjamins spanischem Sterbeort Port Bou am Ende eines Stahltunnels vor dem freien Fall ins Meer auf eine Glasplatte gravieren ließ: »Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten.« Dieser Gedanke wird zur konkreten Erfahrung, wenn man die Biographie des kommunistischen Pressefotografen Otto Storch nachzuzeichnen versucht, mit dem sich (...)
LeseprobeHuebschmann, Heinrich
2/2012 | »Wissen Sie noch einen Ausweg?« Gespräche mit Eduard Spranger, Carl Friedrich von Weizsäcker, Gustav von Bergmann, Wilhelm Westphal, Wilhelm Bitter, Viktor von Weizsäcker, Theodor Litt und Werner Leibbrand (1942)
Gespräche mit Eduard Spranger, Carl Friedrich von Weizsäcker, Gustav von Bergmann, Wilhelm Westphal, Wilhelm Bitter, Viktor von Weizsäcker, Theodor Litt und Werner Leibbrand (1942)
Vorbemerkung
Im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen hatte der Heidelberger »Arzt für Innere und Erinnerungsmedizin« Heinrich Huebschmann (1913–1995) eine klare Handschrift, eine, die man beschwingt nennen konnte. Und so klar und beschwingt war auch das, was er schrieb und sagte, und es war von bemerkenswerter Originalität: »Die Sprechstunde ist heute zur Stechstunde entartet« oder (...)
Huysmans, Joris-Karl
2/2017 | »Man muß gelebt haben, um schreiben zu können«. Paul Verlaines religiöse Gedichte
Ich habe auf diesen wenigen Seiten keineswegs vor, das Werk Verlaines aus literarischer Sicht zu behandeln. Diese Arbeit ist schon oft geleistet worden, und ich selbst habe vor langer Zeit, als sich niemand um den sturmverschlagenen Dichter bekümmerte, auf das einzigartige Werk dieses Mannes, der, nach Victor Hugo, Baudelaire und Leconte de Lisle, die Dichter unserer Zeit am nachhaltigsten geprägt hat, 1884 in "Gegen den Strich" Bezug genommen und es zu erklären versucht. Heute, aus Anlaß einer rein religiösen Verssammlung mit Auszügen aus den Bänden "Weisheit", "Liebe", "Glück" und "Intime Liturgien" sowie einigen posthumen Stücken, möchte ich mich allein aus katholischer Sicht mit Verlaine beschäftigen, (...)
Leseprobe4/2019 | In Hamburg und Lübeck
Hamburg Der in Paris so langweilige Regen ist anderen Orten eine Zierde. Fällt er in Europas Norden aus aschfarbenem Himmel hartnäckig und fein auf die großen, dem Handel geweihten Städte, so mildert er das grobe, manchmal unheimliche Aussehen ihrer Fabriken und Häfen; er läßt sie unter dem dünnen Flor seiner Fäden verschwimmen, dient als sachter Schleier, der allzu vulgäre und zu markante Gesichtszüge veredelt. Solche Gedanken kommen mir oft, wenn Böen die Fenster zum Klirren bringen, und dann entsinne ich mich eines riesigen, im Nebel verlorenen, von Schauern verschrammten (...)
LeseprobeThun-Hohenstein, Franziska
4/2008 | Gespräch mit Daniil Granin und Friedrich Schorlemmer
(…) DANIIL GRANIN: Am 17. Juni 1941 befand ich mich mit den Resten meines Regiments auf dem Rückzug. Bei Leningrad wurden wir von den Deutschen bombardiert. Alle liefen durcheinander, auseinander und davon. Ich auch; ich rannte nach Hause und habe meiner Schwester gesagt, gleich kommen die Deutschen, bleib am Fenster, und wenn sie kommen, weck mich. Ich war todmüde und überzeugt, daß die Deutschen bald in die Stadt kämen. Aber sie kamen nicht. Das ist mir bis heute ein Rätsel. Wir hatten wirklich keine Verteidigung, die Stadt war absolut offen. Als ich zu schreiben (...)
Leseprobe