Edwards, Jorge
4/2006 | Das Zeitalter der Briefe und andere Betrachtungen
Das Zeitalter der Briefe Die Kommunikation zwischen den Schriftstellern unserer Sprache war, wie wir bei einem literarischen Treffen feststellten, in den Sechzigern und Anfang der Siebziger viel besser als jetzt. Weshalb? Einer von mehreren Gründen liegt darin, daß es ergiebiger war, Briefe zu schreiben, als bloß zu telefonieren, zu mailen und was der Neuheiten mehr sind. Man erhielt und schrieb Briefe, manchmal mit Verspätung, oft in trägem Rhythmus, und doch war das Resultat in bezug auf Information, Freundschaftspflege, Nachdenken und Kritik dem heutigen überlegen. Wir in Chile (...)
LeseprobeEhrsam, Thomas
1/2017 | »Aber mich selbst anzulügen gelingt mir nicht«. Mopsa Sternheim, Versuch eines Porträts
Gescheitert – so hat sich Mopsa Sternheim, ihr Leben bilanzierend, immer wieder gesehen. Gescheitert vor allem deshalb, weil es ihr, die lebenslang in deutschen und französischen Künstlerkreisen verkehrte, nicht gelang, ein Werk zu schaffen, ihren Roman zu vollenden. Trotz dieser Selbsteinschätzung lohnt sich ein Blick auf diese Frau und ihr Leben. Dabei soll es weniger um ihre zahlreichen Affären und Bekanntschaften als um ihr intellektuelles Profil gehen, ihren Mut (und Hochmut), mit dem sie auch in verzweifelten Lagen immer an einem trotzigen Dennoch festgehalten hat. Mopsa (...)
LeseprobeEich, Günter
5/2015 | Das Wolburg-Fragment (1945). Mit einer Vorbemerkung von Axel Vieregg
Vorbemerkung
Am 25. April 1946 schrieb Günter Eich an Karl Krolow, der ihn anscheinend um einen Prosa-Beitrag für ein "eigenes Zeitschriften-Projekt" gebeten hatte: "Ansonsten hätte ich noch einen Dramenakt aus einem aufgegebenen Stück. Schreiben Sie mir, ob es überhaupt in Frage kommt, dann würde ich es überarbeiten. (Es ist eine erste Niederschrift. Prosa. Zeithintergrund: Inflation.)" Zur Veröffentlichung und damit Überarbeitung kam es nicht. Auch wurde das Fragment, dessen Bedeutung von den Herausgebern damals nicht erkannt worden war, wie einige andere Texte auch, weder in die erste Ausgabe von Eichs Gesammelten Werken (1973) noch in die revidierte Ausgabe von 1991 aufgenommen und geriet so in Vergessenheit. (...)
Eilers, Alexander
1/2020 | Kiesel. Aphorismen
Horch! Da braust das Malmen
Der Kiesel, die Wellen zurücksaugen, und
–Wiedergekehrt – an den hohen Strand schleudern,
Das ertönt, erstirbt und wiederum ertönt,
Langsam, mit bebender Kadenz, und
Den ewigen Klang der Trauer mit sich führt.
Matthew Arnold, »Dover Beach« (1867)
Realismus: Boden ohne Faß.
Dem Spiegelbild das Ich anbieten.
Eine stehengebliebene Uhr zeigt das Wesen der Zeit an.
Was uns einzigartig macht, verdanken wir unseren Wiederholungen.
Das Kratzen im Hals hat die Todesangst verdrängt.
Nichts Junges wirkt alterslos.
Bücher (...)
Eissler, Kurt R.
4/2008 | Über das Wiederlesen großer Werke
Es ist immer wieder gesagt geworden, eine literarische oder auch sonstige Kritik Shakespeares müsse zuvorderst bedenken, daß er für das Theater schrieb. Mit Blick auf dieses Medium meint man viele Eigenarten, die etliche Literaturkritiker zu wahrlich recht abwegigen Interpretationen verleitet haben, allein mit dem Hinweis auf seine überragenden dramaturgischen Fähigkeiten, das heißt mit seinem Sinn für Publikumswirkung, erklären zu können. Dieser These habe ich in der vorliegenden Studie des öfteren widersprochen, da sie nicht berücksichtigt, was der Zuschauer eigentlich bemerkt. (...)
LeseprobeEngelberg, Achim
2/2016 | »Wir leben in einer Zeit der Übergänge.« Gespräch mit Stefan Hertmans
ACHIM ENGELBERG: Etliche Autoren, die über den Völkermord an den europäischen Juden oder die Schrecken der Lagerwelt des 20. Jahrhunderts schrieben, begingen Selbstmord, etwa Primo Levi oder Jean Améry. Andere wie Jorge Semprún brauchten einen zeitlichen Abstand, um von ihren Leiden erzählen zu können. Nach dem Tod von Imre Kertész sind Sie einer der letzten, die die Schoah in den Mittelpunkt ihres Werkes stellen. AHARON APPELFELD: Mit Kertész war ich eng befreundet. Ich konnte kein Ungarisch und er kein Hebräisch, aber unsere gemeinsame Sprache war Deutsch, wir (...)
Leseprobe2/2018 | »Deutsch sollte meine Sprache sein, sie wurde es leider nicht«. Ein Gespräch mit Aharon Appelfeld über Literatur, Vergangenheit und Gegenwart
ACHIM ENGELBERG: Etliche Autoren, die über den Völkermord an den europäischen Juden oder die Schrecken der Lagerwelt des 20. Jahrhunderts schrieben, begingen Selbstmord, etwa Primo Levi oder Jean Améry. Andere wie Jorge Semprún brauchten einen zeitlichen Abstand, um von ihren Leiden erzählen zu können. Nach dem Tod von Imre Kertész sind Sie einer der letzten, die die Schoah in den Mittelpunkt ihres Werkes stellen. AHARON APPELFELD: Mit Kertész war ich eng befreundet. Ich konnte kein Ungarisch und er kein Hebräisch, aber unsere gemeinsame Sprache war Deutsch, (...)
LeseprobeEnzensberger, Hans Magnus
5/2021 | »Sie sollten sich über diesen Ungeist wirklich einmal orientieren«. Briefwechsel mit Theodor W. Adorno 1955 – 66. Mit einer Vorbemerkung von Jan Bürger
Vorbemerkung Mitte der sechziger Jahre prägten Hans Magnus Enzensberger und Theodor W. Adorno den noch vergleichsweise kleinen Suhrkamp Verlag wie eine Doppelspitze. Beide waren auf unterschiedliche Weise Identifikationsfiguren, beide rückten mit ihrem Sensorium für politische, soziale, kulturelle und künstlerische Probleme die Wirtschaftswunder- Gesellschaft gewissermaßen zurecht: Der 1903 in Frankfurt geborene und 1934 ins Exil gegangene Adorno stellte durch seinen intellektuellen Anspruch, die Ausnahmerolle des Remigranten und nicht zuletzt durch seine Präsenz im (...)
LeseprobeErnst, Rudolf
4/2022 | Die verlorene Mitgift der Tony Buddenbrook
Tony Buddenbrook mit ihrer charmanten Naivität und ihrem ausgeprägten Standesbewußtsein ist für viele Leser von Thomas Manns »Buddenbrooks« die heimliche Heldin des Romans. Der Verlust ihrer großzügigen Mitgift als Folge des »Bankerotts« ihres Ehemanns ist für sie, die sich in so hohem Maße über ihren Status und das Vermögen ihrer Familie definiert, ein Schicksalsschlag. Daher sind die Hintergründe dieses Wendepunkts in ihrem Leben von besonderem Interesse. Sie erklären sich durch reale Vorgänge, denen die Romanhandlung nachgebildet wurde. Bisher blieb die Frage offen, wie es (...)
LeseprobeEskin, Michael
3/2011 | Tauchen mit Descartes. Gespräch mit Durs Grünbein
MICHAEL ESKIN: Sie haben einmal gesagt, "Der cartesische Taucher" sei Ihr vielleicht wichtigstes Buch. Könnten Sie das näher erläutern? DURS GRÜNBEIN: Dieses Buch ist im Grunde ein ,Kommentar’ – zu dem Buch, das mir am meisten am Herzen liegt, dem Erzählpoem "Vom Schnee oder Descartes in Deutschland". Mit ihm habe ich mich als Dichter am weitesten vorgewagt, den größten Abstand zu unserer Gegenwart gewonnen und sie so, aus der barocken Vogelperspektive, zum ersten Mal deutlich gesehen: als die gewaltige Neuzeit, die sie ist. Das ist der Sinn meiner cartesischen Expedition. (...)
LeseprobeEstis, Alexander
1/2021 | Keinen Roman schreiben. Miniaturen
Keinen Roman schreiben Die erste Voraussetzung, um keinen Roman zu schreiben, ist eine rege Phantasie. Ein Mensch mit schwacher Vorstellungskraft verfällt leicht auf die Idee, sich einen Roman ausdenken zu müssen. Das ist verständlich; so viele schreiben Romane. Unzählbar sind die Anleitungen, wie man einen Roman schreibt, keine einzige rät, wie man sich dessen enthält. Denn es gibt hierzu keinen Königsweg, keine sichere Methode. Man ist auf sich gestellt, an den Schreibtisch geworfen, vor das leere Blatt, das zum Roman verführt. Jetzt hilft es nicht, sich unterm Tisch zu verstecken; (...)
LeseprobeEtte, Wolfram
6/2018 | Automaten des Glücks
I. Es gab in der Kindheit diese Kaugummiautomaten. Sie waren auf unserer Augenhöhe angebracht, dort, wo die Erwachsenen selten hinsahen, weil sich dort nichts für sie Wichtiges befand. Wie Schwalbennester klebten sie an den Häuserwänden, ein rotes oder blaues Metallgehäuse umgab eine Dose aus meist milchig gewordenem Plastik, die die begehrte, schlecht sichtbare Ware enthielt. Die Automaten funktionierten mit Hilfe eines Drehmechanismus. Man legte zehn Pfennig quer in eine dafür vorgesehene Öffnung. Dann ließ sich der Griff nach rechts drehen – schon das Knacken, mit dem die Münze (...)
LeseprobeGal-Ed, Efrat
6/2016 | Das unbekannte Jiddischland. Ein Gespräch mit Ruth Renée Reif über Itzik Manger
RUTH RENÉE REIF: Der "Prinz der jiddischen Ballade" wurde Itzik Manger genannt. Isaac Bashevis Singer sah in ihm einen "jiddischen Baudelaire", einen der größten Dichter jiddischer Sprache. In Ihrer Biographie entwerfen Sie ein lebendiges Bild seines Schaffens und seiner jiddischen Lebenswelt. Wie bewerten Sie aus heutiger Perspektive die Bedeutung seines Werks? EFRAT GAL-ED: Itzik Manger war ein überaus origineller Künstler. Er schaffte es, eine eigene Stimme zu entwickeln, indem er verschiedene Formen der europäischen Literatur mit dem Jiddischen verschmolz.(...)
Leseprobe