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Heftarchiv – Leseproben

Bauman, Zygmunt

4/2011 | Leben und Konsum. Gespräch mit Jochen Rack

JOCHEN RACK: Sie haben sich in zwei kürzlich erschienenen Büchern mit der konsumistischen Gesellschaft auseinandergesetzt. Konsum als Königsweg zum Glück, sagen Sie, ist eine Illusion, die von der heutigen Zeit gefördert wird. Wie begründen Sie das?   ZYGMUNT BAUMAN: Zunächst muß ich sagen, daß ich mich weniger für den Konsum als für den Konsumismus, weniger für die Konsumgesellschaft als für die Gesellschaft der Konsumenten interessiere. Konsum als solcher ist ein banaler Aspekt des Lebens. Als menschliche Wesen sind wir aufgrund unserer Natur zwangsläufig Konsumenten: Wir (...)

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Beck, Herta

6/2021 | Besuch bei Erich Fried

»Wenn du schon nach London fährst, besuch Erich Fried. Gewinne ihn für unseren Beirat.« Mario gab mir die Adresse. 24, Dartmore Road.
Ich wollte in den Semesterferien nach London fahren und dort die Hausbesetzerszene kennenlernen. Wir hatten in Heidelberg mal eine Villa besetzt, die Frauengruppe, es sollte ein autonomes Frauenzentrum werden, statt Abriß. Ein Chaos, das nach wenigen Tagen mit der Räumung endete. Das ist nun fast ein halbes Jahrhundert her.
Fried gehörte zu einer Gruppe bekannter Linker, deren Namen man oft unter Resolutionen und Aufrufen las, wie Drewitz, (...)

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Becker, Jürgen

4/2013 | Was wir noch wissen. Journal der Augenblicke und Erinnerungen

Die Zeit vergeht, und Jörn wird alt. Er sagt, daß er in diesen Jahren noch einen Roman schreibt, vielleicht auch zwei oder drei, und jeder Roman besteht aus einem einzigen Satz, vielleicht auch aus zweien oder dreien.   Jetzt sitzt er auf einem Stuhl einer Bank gegenüber, die leer ist. Steht er auf und wechselt auf die Bank, sitzt er einem Stuhl gegenüber, der leer ist. (...)

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Beckford, William

4/2018 | Träume, Taggedanken und Wechselfälle des Lebens. Reise durch Deutschland (1780). Mit einer Vorbemerkung von Gernot Krämer

Vorbemerkung Mit einem einzigen Buch ist William Beckford in die Literaturgeschichte eingegangen, dem 1786 veröffentlichten orientalischen Roman »Vathek«, der nicht weniger als neunmal ins Deutsche übersetzt worden ist. Zu dessen Berühmtheit hat die exzentrische Gestalt des Autors sicherlich ebenso beigetragen wie die Legende, er habe ihn in einem drei Tage und zwei Nächte währenden Schaffensrausch niedergeschrieben (nach einer anderen Selbstaussage sogar in zwei Tagen und einer Nacht). Die anderen Werke Beckfords blieben gleichsam im Schatten dieses Romans, konnten aber zum Teil auch (...)

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Bender, Peter

5/2008 | Erinnern und Vergessen. Deutsche Geschichte 1945 und 1989

Vor zwölf Jahren legte der Althistoriker Christian Meier ein Forschungsergebnis vor, das einen Glaubenssatz der Bundesrepublik in Frage stellte. Allgemeine und unangefochtene Überzeugung ist: Um eine schlimme Vergangenheit zu "bewältigen", muß man die Erinnerung an sie ständig wachhalten. Meier berichtete, nicht Erinnern, sondern Vergessen sei das Heilmittel, mit dem alle früheren Zeiten versuchten, mit einer bösen Erbschaft fertig zu werden. Der Historiker war die Weltgeschichte durchgegangen, um herauszufinden, was die Menschen früher taten, wenn sie nach Kriegen oder Bürgerkriegen Versöhnung brauchten, um wieder zusammenleben zu können. Sein Befund war erstaunlich eindeutig. Allein die Juden schworen auf Erinnerung, und das nicht erst seit Hitlers Holocaust, sondern schon seit den Zeiten des Alten Testaments. Die übrige Welt setzte seit den alten Griechen auf Vergessen: "Immer wieder wird beschlossen, vereinbart, eingeschärft, daß Vergessen sein soll, Vergessen von vielerlei Unrecht, Grausamkeit, Bösem aller Art." (...)

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Benn, Gottfried

1/2016 | Gottfried Benn, Friedrich Wilhelm Oelze. »Alles, was ich zu wünschen vermag, gilt Ihnen«. Aus dem Briefwechsel 1945. Mit einer Vorbemerkung von Matthias Weichelt

Widerhall ohne Widerspruch. Eine Vorbemerkung Nach der Feier seines fünfundsechzigsten Geburtstags, zu der sein Verlag im Mai 1951 nach Wiesbaden eingeladen hatte, schrieb Gottfried Benn seinem Brieffreund Friedrich Wilhelm Oelze: »Der Eindruck, den Sie gemacht haben, war allgemein groß. Wollen Sie wissen, was meine Tochter, deren Gedanken sich viel mit Ihnen beschäftigen, unter Anderem sagte? ›Eine unheimliche Erscheinung! Man muß damit rechnen (!), daß er nachts ein schwarzes Trikot anzieht u. auf Einbruch geht‹. Nun? Wenn das kein Effekt ist!« Wenn der Bremer (...)

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Bielefeld, Claus-Ulrich

4/2010 | Gespräch mit Wilhelm Genazino

CLAUS-ULRICH BIELEFELD: In Ihrem Roman "Das Glück in glücksfernen Zeiten" erzählen Sie aus dem Leben des 41jährigen Gerhard Warlich. Der hat über Heidegger promoviert, arbeitet aber als Geschäftsführer einer Großwäscherei. Und er verspürt den Drang, seine Mitmenschen manchmal "über die allgemeine Ödnis des Wirklichen" aufzuklären. Die Ödnis des Wirklichen, ist das der Stachel, der im Fleische Gerhard Warlichs steckt und auch in dem Ihrer anderen Helden? WILHELM GENAZINO: Das kann man so sagen. Die Ödnis des Wirklichen ist nicht nur der innerste Kern dessen, was meine Protagonisten sehen, sondern auch dessen, was ich sehe, worüber ich mich nicht beruhigen kann. (...)

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Blubacher, Thomas

5/2019 | »Der Schock war gewaltig«. Carson McCullers schreibt Ruth Landshoff-Yorck über Annemarie Schwarzenbach

Verstaubte Kartons voller Notizbücher und Agenden, Zeitungsausschnitte und Belegexemplare, die Ruth Landshoff-Yorck – in den sechziger Jahren von ihren jungen amerikanischen, meist schwulen Kollegen als die »Poet Lady von Greenwich Village« verehrt – aus Platzmangel im Haus ihres Protegés und Mäzens Kenward Elmslie im New Yorker Künstlerviertel deponiert und die über ein halbes Jahrhundert keiner mehr durchgesehen hatte. Ein Glücksfund bei der Recherche zur Biographie der 1966 verstorbenen, vorübergehend in Vergessenheit geratenen Schriftstellerin: bündelweise (...)

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Bönt, Ralf

5/2022 | Über Unwissende. Versuch zum Verlust der Gegenwart

Das Ende der Vormoderne:
Die Erosion der Kirche und die Notwendigkeit von Religion

Schon bevor der russische Präsident seinen heillosen Krieg gegen die Zukunft anfing, war auch im Westen die Vorstellung von ihr verlorengegangen. Mehr noch, mit den Kirchen und der Wissenschaft waren in Deutschland die vermeintlichen Vertreter von Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig unter Legitimationsdruck geraten, weil es am Verständnis dafür mangelt, worin der Unterschied zwischen beiden besteht. Inmitten einer Pandemie mit ihren bedrohlichen Unwägbarkeiten wendeten sich mehr (...)

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Borchardt, Rudolf

3/2023 | Fortsetzung der Lebenserinnerungen. Mit einer Vorbemerkung von Gerhard Schuster

Vorbemerkung Die Autobiographie »Rudolf Borchardts Leben von ihm selbst erzählt«, in fünf Folgen von den »Münchner Neuesten Nachrichten« 1927 und 1928 veröffentlicht, aber ungekürzt im Gesamtumfang von 120 Buchseiten unter dem vom Verfasser bei Georg Gottfried Gervinus geborgten Titel erst postum erschienen (Prosa VI 1990, zuletzt 2002 mit Nachwort von Gustav Seibt), galt bisher als »vollendet«, wenngleich im chronologischen Gerüst naturgemäß nicht abgeschlossen. Literarisch gleichrangig steht dieser Bericht über den Zeitraum zwischen 1877 und 1885 neben Walter Benjamins (...)

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Bormuth, Matthias

3/2016 | Die Ergänzung der eigenen Erfahrungen. Ein Gespräch über Schriftsteller und Editionen mit Inge Jens und Matthias Weichelt

MATTHIAS WEICHELT: Frau Jens, Sie haben sich vor allem als Herausgeberin einen Namen gemacht, seit Sie in den frühen sechziger Jahren die Briefe Thomas Manns an den Philologen Ernst Bertram veröffentlichten. In den nächsten Jahrzehnten folgten dann weitere Editionen, die Werke des Literaturhistorikers und Schriftstellers Max Kommerell, die Briefe und Aufzeichnungen der Geschwister Scholl und ihres Freundes Willi Graf, die Tagebücher des Komponisten Ralph Benatzky und immer wieder die Familie Mann. Wie kamen Sie – ohne von einer Institution getragen zu sein – zu diesen ganz (...)

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Bosworth, David

2/2017 | Gewissenhaftes Denken und die Transformation der modernen Wissenschaften

Eine gleichsam post-moderne Denkweise hat unsere Wissenschaften reformiert, mit Folgen, die wir uns noch vor Augen führen müssen. Trotz der Verschiedenheit der betroffenen Bereiche sind viele dieser Veränderungen, die dramatische Vorschläge in der Kosmologie und eine verblüffende Wiederbelebung lamarckistischer Prinzipien in der Evolutionsbiologie einschließen, ihrer Natur nach gleichgestimmt. Und obwohl sie das darstellen, was Thomas Kuhn 1962 als "Paradigmenwechsel " in der Auffassung der wissenschaftlichen Gemeinschaft bezeichnet hat, spiegeln sie überdies eine viel ausgeprägtere Neuordnung des kulturellen Common Sense. Mehr als bloß Merkmale einer signifikanten Revision in der präferenziellen Logik der Naturphilosophie (wie man die Wissenschaft einst nannte), markieren sie die weitere Artikulierung einer sich ausformenden Weltsicht, einer, die auch die sozialen Annahmen der Modernität in Frage stellt. (...)

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Bott, Marie-Luise

6/2017 | Ruhelos. Zwetajewa, von Wolfgang Hilbig in die europäische Moderne übersetzt

Aus dem Zyklus »Schlaflosigkeit« lagen 1988 wie heute nur Nr. 6 und Nr. 10 auf deutsch vor, übersetzt von Elke Erb ("Heut Nacht bin ich in dieser Nacht allein …«) und von Maria Razumovsky ("Aus dem Fenster dort / dringt noch Lampenschein …«). Dabei hat das Thema, beginnend 1830 mit Alexander Puschkins »Versen, in schlafloser Nach verfaßt«, in der russischen Lyrik eine große Tradition. Anna Achmatowa verbindet es 1912 in ihrem Gedicht »Schlaflosigkeit « mit der Liebesthematik und geht nach kurzer Vorrede des weiblichen »ich« unmittelbar in die Anrede der personifizierten (...)

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Bouton, Christophe

4/2007 | Die Furie der Zerstörung. Hegel und das Phänomen des Fanatismus

Der Fanatismus gehört zu Extremformen menschlicher Konflikte, weil er anders als der Krieg weder Waffenstillstand noch Frieden kennt, sondern für absolute, unversöhnliche Gegnerschaft steht. Der Fanatiker will seinen Gegner nicht überwinden, er will ihn auslöschen. Die jüngsten Ereignisse haben den Fanatismus erschreckend aktuell gemacht. Aber wie jeder weiß, gibt es das Phänomen nicht erst seit dem 11. September, obwohl es an diesem Tag seinen furchtbaren Höhepunkt erreichte. Es ist so alt wie die Zivilisation, deren Geschichte es immer wieder brandmarkt. Hier ergeben sich mehrere (...)

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Brandes, Georg

4/2012 | Vom Lesen

Ziemlich regelmäßig sieht man in ausländischen Blättern die Frage gestellt, welches wohl die besten hundert Bücher seien, die sich anschaffen sollte, wer eine ausgezeichnete Büchersammlung aufbauen will. Und die Antworten gehen ein: die Bibel und Robinson, Homer und Horaz, Dante und Shakespeare, Holberg und Oehlenschläger, Goethe und Mickiewicz, Racine und Pascal, Arany und Petöfi, Cervantes und Calderón, Björnson und Ibsen, Tegnér und Runeberg, verschieden je nach dem Land, wo die Frage gestellt wird, und den Personen, die Antwort geben. Aber den Fragenden wie auch den Antwortenden gemeinsam ist die Kindlichkeit zu glauben, es gebe hundert Bücher, die für alle und jeden die besten wären. Und doch zeigt die schlichteste Welterfahrung, daß dem nicht so ist, daß die vielleicht ausgezeichnete Arbeit, die den einen tief beeinflußt, den anderen völlig kaltläßt, und daß das Werk, das uns in der Jugend prägte, im reifen Alter gar keinen Wert mehr für uns hat. Es gibt fast nichts, das zu jeder Zeit für alle eine gute Lektüre wäre. (...)

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Brasch, Thomas

2/2012 | Aus den Tagebüchern 1972-74. Mit einer Vorbemerkung von Martina Hanf

Vorbemerkung
Thomas Brasch, 1945 als Kind jüdischer Emigranten in England geboren, in der DDR aufgewachsen, die er 1976 "zwecks einmaliger Ausreise" verließ, wollte zu keiner Zeit Memoiren schreiben. Um so bemerkenswerter ist das Vorhandensein autobiographischer Aufzeichnungen in seinem literarischen Nachlaß im Archiv der Akademie der Künste. Sie informieren aus erster Hand über das Leben, die Denk- und Arbeitsweise und die Entstehung der Werke des Dichters, Dramatikers, Übersetzers und Filmemachers. (...)

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Tellkamp, Uwe

4/2009 | Gespräch mit Michael Braun

MICHAEL BRAUN: Herr Tellkamp, deutschsprachige Romane mit fast tausend Seiten sind heutzutage etwas Seltenes. Was hat Sie dazu gebracht, den Stoff in diesem Umfang zu bearbeiten? Stand das von Anfang an fest? UWE TELLKAMP: Ich hatte beim "Turm" zwei Arbeitsphasen. In der ersten entstanden etwa siebzig Seiten. Da habe ich gemerkt, daß der Duktus, die Sprachbewegung so langsam sind, daß es keine kürzere Geschichte werden kann, und habe das Schreiben wegen anderer Projekte unterbrochen. Erst später habe ich weitergearbeitet. Denn daß es umfangreicher werden würde, war mir nach diesen ersten Kapiteln klar. Es vergehen 250 Seiten und noch immer ist der erste Tag nicht verstrichen. Aber das sind Äußerlichkeiten, das Buch versucht schließlich auch, einige Aspekte der damaligen Gesellschaft zu schildern – ich verwende das Wort DDR nicht so gerne, auch im Buch wird es eher vermieden. Es heißt nicht von ungefähr "Der Turm", (...)

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Brecht, Bertolt

4/2016 | Ich, Berthold Brecht, alt: 20 Jahre. Mit einer Vorbemerkung von Erdmut Wizisla

Vorbemerkung Es mag überraschen, daß Bertolt Brecht, als dessen ausgemachtes Thema die dritte Sache gilt, offenbar kaum Schwierigkeiten hatte, in der ersten Person zu sprechen. Mehr als einhundert seiner Gedichte beginnen mit dem Wort »ich«. Streicht man Texte weg, in denen ein Dienstmädchen, der Glücksgott, der Sperling, ein Grammophonbesitzer oder eine gewisse Katharina im Spital zu Wort kommen, Reden von Figuren also, bleiben immer noch etliche, wo hinter dem Ich die Person Bertolt Brecht angenommen werden kann, zumal ihnen ab und an noch sein Name eingeschrieben ist. Das berühmteste Beispiel beginnt mit der Zeile »Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern«, entstand am 26. April 1922, wurde später verändert in »Bertolt Brechts Hauspostille« aufgenommen und leistet bereits in der Überschrift einen Beitrag zur Etablierung einer Marke: »Vom armen B. B.« Ein Rollengedicht auch dieses?

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2/2024 | »Solchen menschlichen Regungen sind Klassiker, glaube ich, gar nicht zugänglich.« Briefwechsel mit Käthe Reichel. Mit einer Vorbemerkung von Helene Herold

Vorbemerkung

Helene Weigel empfiehlt Bertolt Brecht 1950 eine junge talentierte Schauspielerin. Sie hat Waltraut Reichelt im Februar in Rostock in der Inszenierung »Herr Puntila und sein Knecht Matti« unter der Regie von Egon Monk gesehen. Brecht engagiert Käthe Reichel, wie sie sich später nennt, nach einem kurzen Vorsprechen im Oktober 1950 für das Berliner Ensemble. Er ist zu dem Zeitpunkt zweiundfünfzig Jahre alt, ist ein gefeierter Dichter, Schriftsteller und Theatermann und hat lange Exiljahre überstanden. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland versucht er in (...)

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Breisky, Arthur

5/2020 | Harlekin – kosmischer Clown. Eine Einführung in das Leben der Dichter. Mit einer Vorbemerkung von Hans-Gerd Koch

Der verschollene Arthur Breisky. Eine Vorbemerkung Amerika war für den jungen Franz Kafka ein verlockendes Ziel. Reiseberichte und Erzählungen von Verwandten, die dorthin gereist oder gar ausgewandert waren, regten seine Phantasie an. Schon in jungen Jahren versuchte er sich an einer Erzählung, die in Amerika spielen sollte: »Einmal hatte ich einen Roman vor, in dem zwei Brüder gegeneinander kämpften, von denen einer nach Amerika fuhr, während der andere in einem europäischen Gefängnis blieb. (…) In den paar Zeilen war in der Hauptsache der Korridor des Gefängnisses (...)

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Brombert, Victor

6/2009 | Gespräch mit Richard Schroetter. »Wir ahnten nicht, was kommen würde«

(...) BROMBERT: Einmal erlebte ich, wie zwei Demonstrationszüge aufeinander zumarschierten, Kommunisten gegen Nazis, beide mit Transparenten, Knüppeln und Marschliedern. Nach ein paar Minuten war die Straße übersät mit Verwundeten, und überall war Blut. Das hat mich geprägt, seitdem verabscheue ich Kundgebungen und Menschenmassen. Andere Erinnerungen an Leipzig habe ich wohl einfach ausgeblendet. Im nachhinein wird mir klar, daß das nicht nur am Frankreich-Erlebnis lag, das alles überstrahlte. Ich habe diese Zeit als bedrohlich erlebt und auf meine Weise darauf reagiert. Mit der Sprache machte ich es ein paar Jahre später ähnlich: Ich tat so, als könne ich kein Deutsch, oder machte den französischen Akzent nach. (...)

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Buch, Hans Christoph

2/2015 | Als werde ein Buch erwartet. Erinnerungen an den Literaturbetrieb (I)

1 "Ein Schriftsteller ist eine Person, die sich der Illusion hingibt, es werde ein weiteres Buch von ihr erwartet." Diese Definition der literarischen Tätigkeit stammt von Reinhard Lettau, der seine "creative writing"-Seminare in Kalifornien mit den Sätzen zu eröffnen pflegte: "Wer von ihnen interessiert sich für Kriminalromane oder für Science Fiction? Alle, die sich gemeldet haben, verlassen sofort den Saal, denn ich unterrichte nur Literatur!" Damit waren Kleist und Kafka gemeint, sowie drei oder vier Werke der Weltliteratur: Von "Werthers Leiden" über "Heinrich von Ofterdingen" bis zu "Peter Schlemihls wundersamer Geschichte". Qualität war Reinhard Lettau wichtiger als Quantität, und seine eingangs zitierte Formel ist nicht nur witziger, sondern auch zutreffender als viele akademische Definitionen, weil sie den neuralgischen Punkt benennt, an dem sich spontanes Schreiben vom Beruf des Schriftstellers scheidet. (...)

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Bunge, Hans

6/2010 | Aus dem Nachlaß

Um zu erklären, warum gerade ich die Grabrede für Ruth Berlau hielt und warum ich jetzt dieses Buch mit Gesprächen veröffentliche, die ich vor zwanzig Jahren mit Ruth Berlau geführt habe, muß ich etwas ausholen und dem Leser einige autobiographische Details zumuten. Denn die Zusammenhänge sind merkwürdig genug, und die Begegnung zwischen uns war so wenig vorausbestimmbar, als hätten wir in zwei verschiedenen Zeitaltern gelebt. Bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr wäre das sogar eine korrekte Aussage. (...)

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Bürger, Peter

4/2017 | Die Leidenschaft des Denkens. Annäherungen an Rudolf Borchardt

Rudolf Borchardt ist ein Unzeitgemäßer. Er ist uns fremd, weil er sich mit einer Emphase, die uns irritiert, als Deutscher versteht, als deutscher Dichter und Wissenschaftler, dem es aufgegeben ist, die Kultur der Goethezeit der Jugend als lebendiges Erbe zu übergeben. Er stößt uns ab durch die Schärfe seiner Urteile, den unverhohlenen Anspruch auf geistige Führerschaft, vor allem aber durch seinen Antimodernismus. Er ist uns suspekt, weil er politisch für das steht, was wir überwunden haben oder zumindest überwunden zu haben meinen: ein leidenschaftliches Nationalgefühl, den deutschen Sonderweg, die Ablehnung der westlichen Demokratie und den Traum, die deutsche Kultur sei bestimmt, die Welt zu retten. Er zwingt uns eine Sicht der Moderne auf, gegen die wir uns mit allen Kräften wehren, auch wenn wir uns von einem undialektischen Fortschrittsbegriff längst verabschiedet haben: Moderne als Verfall. (...)

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Burmeister, Brigitte

1/1988 | Gespräch mit Alain Robbe-Grillet und Vincent von Wroblewsky

BURMEISTER/WROBLEWSKY: Alain Robbe-Grillet, Sie sind berühmt als Filmemacher, vor allem aber als Romanautor. Zweifellos gehören Sie zu denen, die die französische Literatur unseres Jahrhunderts geprägt haben. Das einzige Ihrer Bücher, das hier in der DDR veröffentlich wurde, ist »Ein Königsmord« - vielleicht das am wenigsten »Robbe-Grilletsche« von allen, in jedem Fall das erste, der Ausgangspunkt. Wie stehen Sie heute zu diesem  frühen Roman?   ROBBE-GRILLET: Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, »Ein Königsmord« sei der am wenigsten typische meiner Romane. Denn dort (...)

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Buselmeier, Michael

3/2016 | Heidelberg - Stadt der Dichter?

Das Thema erlaubt, ja verlangt es, wie jedes andere hinterfragt zu werden. »Heidelberg – Stadt der Dichter«, ohne Fragezeichen hingesetzt – kann man das ernsthaft behaupten? Gibt es tatsächlich vor Ort eine durch die Jahrhunderte sich fortzeugende literarische Tradition, die etwa von Goethe bis Hilde Domin reichen könnte und so lebendig, produktiv und untereinander bindend ist, daß sie das Attribut rechtfertigt? Wem aber »Stadt der Dichter« doch etwas hochstapelnd vorkommt, der könnte ja immer noch auf »Stadt der Poesie« ausweichen, das klingt allgemeiner, die Landschaft spielt (...)

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