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Heftarchiv – Themen und Debatten

Phantasiereisen

Ob wir in diesem Jahr noch verreisen werden? Wie kann man verordneter Seßhaftigkeit klug begegnen? Eine Antwort bietet von jeher die Literatur. Sie lädt zu imaginären Fahrten ein, weckt Neugier auf die Fremde und besänftigt sogar so manches Fernweh. Von einer Phantasiereise im engeren Sinn erzählt Tomás González in "Reise an die Küste" (5/2013). Meisterlich setzt die Familie eines dementen Patriarchen eine fünfundzwanzigstündige Eisenbahnreise quer durch Kolumbien in Szene, ohne daß jemand das Haus verläßt. "’Wann fahren wir endlich weiter?’ fragte Jesusita und wedelte sich mit ihrem Jungmädchenfächer – rote Rosen auf weißem Grund – etwas Luft zu. Emma hatte die Ventilatoren ausgeschaltet. ‚Ich geh aufs Klo und erkundige mich unterwegs’, sagte Don Rafael. Kurz darauf hörte Jesusita die Spülung im oberen Stockwerk und wie er die Treppe herunterkam und mit Leuten sprach, wahrscheinlich mit anderen Reisenden."

Über das riskante Unternehmen des deutsch-japanischen Dichters und Exzentrikers Sadakichi Hartmann, ein Broadway-Publikum mittels Duftempfindungen auf Weltreise zu schicken, berichtet Michelle Legro in "Eine Reise nach Japan in sechzehn Minuten" (6/2014): "Das Publikum hatte ein Instrument erwartet, das gleichzeitig Orchester und Ozeandampfer war. Etwas Großes, Elektrisches, Goldglänzendes, mit Schiffsglocken und Pfeifen, winzigen Schaltern und einem Mahagonisitz, auf dem dieser Mann hocken und mit Elfenbeinknöpfen hantieren würde, bis jeder sein Duftkonzert riechen könnte und über Land und See zu den Lavendelfeldern Frankreichs getragen würde, zu den Küsten des Ägäischen Meers und weiter. Doch kein solches Orchester war auf der Bühne zu sehen, kein einziges Instrument; dort standen nur zwei Mädchen mit dickem Make-up in Kimonos neben zwei Ventilatoren und zwei Kisten mit parfümgetränkten Laken."

Die ästhetische Chance aber, die im Verweilen an reizlosen oder auch zu vertrauten Orten liegt, beleuchtet Robert Louis Stevenson in "Über das Genießen unangenehmer Orte" (2/2017): "Wir sehen Orte durch unsere Stimmungen wie durch unterschiedlich gefärbte Augengläser. Wir sind selbst ein Term in der Gleichung, eine Note des Akkords, und erzeugen fast nach Belieben Dissonanz oder Harmonie (...). Auf diese Weise werden wir gewissermaßen zu einem Mittelpunkt von Schönheit; wir erwecken Schönheit, gleichwie eine freundliche, offene Art bei anderen Offenheit und Freundlichkeit erweckt."

TOMÁS GONZÁLEZ Reise an die Küste
Am nächsten Tag räumten Mutter und Tochter das Bett und die anderen Möbel aus dem Zimmer, von dem man auf die Mangobäume und die Gartenmauer dahinter schaute, und stellten zwei Reihen Stühle auf – so wurde es zum Eisenbahnwagen.
5/2013
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MICHELLE LEGRO Eine Reise nach Japan in sechzehn Minuten. Sadakichi Hartmann und sein Kunstwerk der Düfte
Jahrelang ging ihm ein Duft nicht aus dem Sinn – eher die Idee eines Duftes, ein leiser Hauch, der sich in der kühlen Nachtluft verflüchtigt. Dieser ließ Kontinente zusammenschmelzen und erlaubte ihm, wie ein über Eis schlitternder Schädel unermeßliche Ozeane zu überqueren. Er nannte diesen Duft sein "Parfümkonzert", die reinste ästhetische Erfahrung in seinem der Ästhetik gewidmeten Leben. Und dieser Duft trug ihn nach Hause.
6/2014 | zum Text

ROBERT LOUIS STEVENSON Über das Genießen unangenehmer Orte
Aus einem beliebigen Ort das Beste zu machen ist schwierig, und vieles liegt in unserer Macht. Was man geduldig Seite für Seite betrachtet, zeigt am Ende gewöhnlich auch eine, die schön ist. Vor ein paar Monaten wurde im "Portfolio" etwas über "enthaltsame Lebensführung in einer Scenerie" gesagt und solche Selbstzucht sodann als "heilsam und den Geschmack kräftigend" empfohlen. Das ist gleichsam der Text des vorliegenden Essays.
2/2017 | zum Text